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Der Dichter

Der junge Dichter stand in seiner Dachkammer, bewegungslos, überflutet von der Abendsonne. Er hatte die Arme gekreuzt und bohrte den finsteren Blick in einen einzigen Punkt: in ein Loch seines zerrissenen Teppichs. Er durchdachte seinen dramatischen Plan.

Gewöhnlich schrieb zwar der junge Mann, von dem ich hier erzählen will, nur Aufsätze, Artikel, Bücherkritiken: Zeitungsware, die von Provinz- und Residenzblättern leidlich bezahlt wird. Er lebte von seiner Schriftstellerei. Zu etwas anderem taugte er nicht, und Vermögen hatte er keins. Er verfertigte also Zeitungsartikel.

Seit einigen Tagen konnte er sich aber den Genuß gestatten, wahr zu sein und seinem eigenen Stil zu schreiben. Er hatte sich mit seinem Frondienst 22 Mark erschrieben. Zweiundzwanzig Mark! An sich eine herzlich unbedeutende Summe, gewiß. Nur muß man dabei in Betracht ziehen, daß seine Miete bereits für den ganzen Monat vorausbezahlt war, 15 Mark, mit Bedienung 16. Zweitens besaß er noch für 11 Tage auch bereits bezahlte Eßmarken zu einem ganz genießbaren Mittagessen, für 50 Pfennige, in der Auguststraße. Wäsche hatte er auch erst bekommen – nun, auch mit Papierkragen käme man weit –; sodann waren 65 Mark an Mütterchen abgegangen; und ein Paket – Porto 50 Pfennige! – besprochene Gedichte und Romane an seine Schwester, die Lehrerin. Blieben also bare nette zweiundzwanzig Mark! »Nun, Kinder, bis diese Summe verzehrt und vertilgt ist – ein Dutzend Meisterwerke werf' ich euch ins Getümmel hinab! Für mein Geld! Was?! Nun sollen doch mal diese hochnäsigen Redakteure da unten, diese Journalisten mit den genialen Haarbüschen – pah, denen zuliebe wird nun kein Finger mehr gerührt! Verstanden?!« Dazu war man eben in zu guten Verhältnissen. Zweiundzwanzig Mark! »Jetzt erst fühlt man's nach,« meinte er, »wie's einem wirklich vermögenden Manne zumute ist. Alle Schopenhauerei, puh – weggeblasen! Weltschmerz mit zweiundzwanzig Mark in der Tasche?! –Hie Weltbejahung und Lebenslust! Hurra!« Und er brach in ein herausforderndes Lachen aus, schwang kampflustig die Arme und maß mit Kraftschritten, ein dröhnender Karl Moor, seinen engen Käfig ab.

Die Sonne hatte jenseits der Weltstadt den Charlottenburger Himmel in Brand gesteckt. Eine uferlose Glut! Ein immer wechselndes Licht-Durcheinander, ein Schillern und Spielen, ein Ausglühen und Verlöschen! Erst zog sich bräunlich dunstiger Horizont ganz unten in einem mächtigen Ring um das halbe Berlin herum; darüber kam Weißgelb; dann vom Zenit her Rosa, Violett und Orangegelb, in Riesenschichten über den Himmel geworfen, zwischen den schmächtigen, langen, überall angeglühten Wolken hin! ... Die kleine Literatenbude lag der Siegessäule zu. Jetzt schwamm sie in einer entzückenden Lichtfülle. Und jene Jungfrau dort draußen, die Siegesgöttin, trat auch heute abend grell und schwarz aus dem leuchtenden Hintergründe hervor. »He, Maidl!« ries der Süddeutsche, »mir deinen Kranz her!« Doch hatte er weiter keine Zeit – zweiundzwanzig Mark – sein inneres Feuer in begeisterten Anreden verflackern zu lassen. Er brauchte seine Flammen wo anders. So ließ er denn die stattliche Jungfrau im Abendrot ihren Goldkranz bereithalten, klappte den Schreibtisch aus und setzte sich vor seine Papiere. Während er, den Kopf in die Linke gestützt, schrieb und strich und sann und schrieb, ging der Tag mit einer verdoppelten Farbenfülle, nunmehr die ganze riesige Himmelshälfte, selbst eine Schicht des Osthimmels, in ein Meer von Purpur tauchend, unter. Droschken fuhren da unten und klingelnde Pferdebahnen unter dieser weiten leuchtenden Halle; die Berliner, verkommene Bummler, abgeplagte Beamte, Arbeiter, blasse und blühende Damen füllten die Straßen; das gediegenere Publikum, Minister, Reichstagsabgeordnete und Börsenmänner, Leute mit gewichtigen Taschen und vornehmen Sorgen, machten in dieser beruhigenden Abendlust ihre Droschkenfahrt durchs Brandenburger Tor – es war das alte bekannte ruhelose Gewimmel Berlins, das sich um einen unmodischen Dichter ja weiter nicht bekümmert.

* * *

»Herein!« Natürlich war's dies unglückselige Frauenzimmer! Potz Distel und Dornbusch! Just als er mitten in sausendem Schwunge war! Wie abgeschnitten lagen die Gedanken am Boden! förmlich mitten im Wort! Nein, so ein Weibsbild! Und was für einen Küchenduft sie wieder mit sich hereinbrachte!

Mit einem mißmutigen Puff klappte er die Feder auf den Tisch. »Nun, Fräulein?« fragte er aber gezwungen heiter, »was gibt's Neues aus der Erde da unten?«

Das welke, stille Frauenzimmerchen, das mit ihm den Himmel hier oben teilte, seine alte Wirtin, stellte gedrückt und verschüchtert wie immer die Lampe hin. »Ich will nur auch gleich den Kakao bringen«, sagte sie demütig und trippelte wieder hinaus. Dann trug sie in ihren schüchtern schlürfenden Hausschuhen behutsam und achtungsvoll die dampfende Tasse herein. Sie hielt dabei fast den Atem an, vor Ängstlichkeit und Hochachtung, um nur ja ihren geliebten Mieter in keiner Weise zu belästigen. Denn wenn auch der wieder wegzöge! Das letztemal hatte ihr Zimmer zwei Monate lang leer gestanden. Und sie war während dieser bösen Zeit um volle 7 Kilogramm leichter geworden; die sinnigsten Fastkuren hatte das eingetrocknete Geschöpfchen durchgemacht, sie und ihr zwölfjähriger Schlingel, ihr Neffe, wie sie sagte, er freilich nannte sie Mutter. Gegenwärtig erging's ihr ja wieder etwas besser. Aber dies vergessene Geschöpfchen blieb wunderbar mager, rührend mager!

Der reiche Franz Sturmegg – zweiundzwanzig Mark – schob mit einer kraftvollen Bewegung den Manuskriptenhaufen zurück. »Stellen Sie die Tasse hierher! – So!« Wie ein Gebirge lagerten jetzt die dramatischen Papiere umher. Aber auf dem freien Platze in ihrer Mitte erhob sich die Tasse, in die dämmerige Stube hinaufrauchend wie die Kamine am Sommerabend. Es wurde jetzt viel Feines gekocht, in Berlin da unten, bei Hiller und in den sonstigen Eßpalästen; hier oben aber lebte man von Luft, dem nahen Sonnenschein und einem bißchen Kakao. Als ihr der Literat vorsichtig die Tasse abnahm, blickte er dem Weibchen flüchtig ins Gesicht. Natürlich! selbst in dieser Dämmerung konnte man es erkennen: sie hatte wieder einmal geweint.

»Sagen Sie doch, Fräulein Reßler,« begann er daher gelassen, und rührte, vornehm zurückgelehnt, in seiner Tasse, »ich fürchte, Sie haben mit dem Kakao da noch Auslagen, wie? Ich meine, wir haben vielleicht den Preis für die Tasse zu niedrig gesetzt, wie?«

»O nein!« beruhigte ihn die Alte hastig, die gar nicht wußte, wo er hinaus wollte. »Gar nicht, Herr Sturmegg! Im Gegenteil!«

»Ich meine,« hob er von einer anderen Seite an, denn seine 22 Mark lagen ihm schwer in der Tasche, »ich wollte sagen, ich möchte Ihnen gleichsam als Beweis ... Sie haben ja da so einen kleinen Schlingel, den Neffen meine ich ...«

Sie seufzte. »Er macht mir Sorgen genug.«

»Nun ja, aber gönnen Sie sich mal etwas ... ich meine, dem Jungen ... Sie haben ja nächstens Geburtstag, nicht wahr?«

»Der war schon.«

»Oder war schon. Gut ... Kurz, ich bin zufällig in besonders guten Verhältnissen ...« Jetzt kriegte er mit Geschäftsmiene seinen Geldbeutel hervor, zog genial wie ein Mann, der mit Geld umzugehen weiß, fast gähnend vor gut geheuchelter Ungeniertheit, einen Taler heraus und streckte ihn dem sprachlosen Weiblein hin. »Hier! – Für den Jungen oder für Sie, einerlei ... Na, nehmen Sie nur!«

»Nein, aber ... bitte, Herr Sturmegg ...«

»Machen Sie mir keine Geschichten!« Er wurde fast grob. Und um abzulenken, meinte er: »Nehmen Sie dort meinen Überzieher mit, ich hab' meine Nadeln verlegt, und nähen Sie mir den Knopf an, er steckt in der Tasche.«

»Ich danke Ihnen auch recht sehr« – und jetzt kamen die Tränen. »Potz Flieder und Holunder! Wenn ich sie nur wieder draußen hätte!« Er kramte in der Schublade herum nach Schweizerkäse und Brot. Das Fräulein aber stand an der Türe, die abgeblaßte Schürze vor den Augen, schluchzend, unverständliche Dankworte stammelnd. Nichts konnte ihn mehr ärgern! Er sagte nur immer »na ja – na nu also – na ja«, bis sie endlich, immer schluchzend, die Türe hinter sich zugemacht hatte.

»Gott sei Dank!« sagte er und ging aufgeregt einige Male durchs Zimmer. Dann blieb er stehen. »Siehst du, Franz, so kriegst du gleich am ersten Tage dein Geld los. Gleich am ersten Tage drei Mark! Na, die Sache kann ja gut werden, das muß ich sagen – Bleiben also jämmerliche 19 Mark!«

Das notierte er sich gewissenhaft. Dann – Hurra! – klappte er sein Notizbuch zu, schob es mit fröhlicher Erwartungsfreude, wie ein Kind, in die Westentasche und machte sich hinter das leckere Abendbrot. Von dem großen, köstlich großen Zwanzig-Pfennig- Laib, den er aus der Schublade genommen, schnitt er eine kräftige Scheibe los – »wir können's uns heute leisten: 19 Mark!« – und wickelte dann mit Energie den Schweizerkäse aus dem knisternden Papiere. »Ei du liebes, glattes Gelb mit den feuchten, glänzenden Augen!« Mit dem Taschenmesser, das er in der Rechten kampflustig bereit hatte, machte er dann vor dem offen daliegenden Schweizer eine schlaue Schüttelbewegung. »Kerl, dich müssen wir jetzt einteilen! Nur nicht in den Tag hineinleben, Franz! ... Eins, zwei, drei – und ein halb. Für dreieinhalb Tage reicht's also! Gut. Ein Halb gibt's aber nicht, wenn man 19 Mark in der Tasche hat! Schlagen wir's demnach zur heutigen Portion! – So! Und jetzt das Hauptstück wieder mit Vorsicht eingewickelt; ein unnützes Blatt – ›Verein Freie Bühne: Die nächste Vorstellung findet' – schon gut! – als Unterlage für das abgeschnittene Stück; dann das braune Labsal, den Kakao, ganz nahe unter die Nase; und dazu so ein kräftiges norddeutsches Roggenbrot – potz Korn und Hafer, nun soll mal unser Kaiser mit mehr Appetit zu Nacht essen!«

* * *

Leser und Leserin haben mir bereits heimlich zugestanden, daß nicht leicht ein moderner Mensch mit mehr Seltsamkeit sein Dasein führen kann, mitten in Sorgen und Unruhe, als unser Sonderling vor seinem Kakao. Und doch gab es eine Zeit, wo dieser junge Mann glühte, kochte vor vulkanischer Himmelsstürmerei. Am ersten Ansturm, meinte der unreife Tor, würde er mit Frühlingsfrische die welken Anschauungen der »Decadence«, der Entartung, zum Teufel jagen! fort damit! weg von der modernen Bildfläche! gewesen! Und seine Fahne, die Fahne der großen, stolzen Gesundheit und inneren Freiheit, würde er aus die Trümmer pflanzen, daß sie von da hinausrausche über das gereinigte Deutschland, goldglänzend im neuen Lichte, wallend und winkend im reinen Maiwind: »O Landsleute, euer Siegfried ist da! Baldur, euer Lenzgott, ist eingezogen! Unter Sturm und Gewitter kam er an und brach mit Blumenlachen und Sonnenworten den Winter, der über deutschem Geiste lag! O Landsleute, um seine Fahnen schart euch, euer Herzog ist da!«

Nun gut. So ein unverbrauchter Kopf fördert ja allerlei Sturmwind zutage. Aber die Luft über diesem ungeheuren Sumpfe des Berlins vom »Jahrhundert-Ende« drückte ihn bald tief zu Boden. Als er zum ersten Male mit seinem waldfrischen Provinzgemüt anrannte an dieser weltstädtischen Unnatur, da stürmte er in Verzweiflung über das Unbegreifliche, das er in diesen Höhlen und Cafés, Cliquen und Vereinen an »deutschen Dichtern« – deutschen Dichtern! – sah, hinaus in die Sturmnacht des Tiergartens, und, unsinnig vor Empörung, suchte er nach dem einen archimedischen Punkte, von dem aus sich diese Lotterwelt mit einem gewaltigen Ruck aus den Kopf stellen ließe. Aber der archimedische Punkt fand sich nicht. Und nach einigen Wochen ununterbrochener Aufregung legte er sich die Frage vor: »Aber halt! Verdienst nicht du selbst am Ende mit deinen veralteten Anschauungen aus den Kopf gestellt zu werden? Diese Dichter und Kritiker, du alberner Waldmensch, nennst nur du mit deinen unreifen Hinterwäldler-Anschauungen verlottert; in Wirklichkeit sind die Edlen nicht verlumpt, sondern modern! Zum Modernsein gehört nämlich ein interessantes, blasiertes Verlumptsein wie der Dotter zum Ei. Der große Naturalist dort lebt mit seiner Kellnerin und studiert an ihr in wilder Ehe ›das Weib› – lieber Zunge, das ist modern. Der andere dort pumpt einen Kollegen im Café an und lächelt vergnügt: ›Ich schreibe Ihnen dafür auch eine gute Kritik› – das ist modern, lieber Junge! Der Dritte dort bringt es fertig, drei grundverschiedene Besprechungen über ein und dasselbe Werk zu schreiben, je nach der Tendenz des betreffenden Blattes – das ist modern, guter Junge! Und die alle miteinander, wie sie da beisammen sitzen in ihren Cafés und Vereinen, in ihren Redaktionen und Bierhäusern, ein unerhört philisterhaftes Großstadtdasein verbringend, unberührt von der stolzen Wald- und Bergluft der stolzen Weite – nicht entartet sind sie, nein, mein lieber Zunge, nur modern. Stadtklatsch, Weiber, Pikanterien, Geldverdienen, Erfolg haben, ein neues Richtungchen aushecken, Partei und Clique – Herr im Himmel, das ist ihre Welt! Das ist die Welt der Dichter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts! Welch ein Abstand von der sittlichen und geistigen Höhe eines Schiller oder Goethe, eines Walther oder Wolfram, eines Shakespeare, Dante, Michelangelo, Äschylos! ... Aber Ruhe, mein lieber Zunge, das ist nun einmal modern, und wir müssen wohl oder übel mitmachen!«

Er bemühte sich monatelang, »mitzumachen«. Es gelang nicht. Vor Überanstrengung wurde er schließlich krank. Denn seine verflucht ernste, fast puritanische Erziehung dort hinten im Wald, ein Brief seines Mütterleins, eine Karte seiner innig geliebten Schwester warf mit einem Ruck wieder über den Hausen, was er sich den Abend über in Schriftstellerkreisen eingepaukt hatte. Eine Art Verfolgungswahn stellte sich ein. Er saß nicht mehr beherrschend vor seinen Papieren; er las diese Modernen, den ganzen S. Fischerschen und W. Friedrichschen Verlag drei- und viermal durch; er schlug von Zolas roman expérimental bis zu den Aufsätzen in »Magazin«, »Gesellschaft« und »Freie Bühne« sämtliche naturalistische Theorien nach, um sich mit ganzer Willenskraft in diesen modernen Geist des nüchternen Materialismus einzuzwängen, der seiner lebendigen Waldnatur so völlig fremd war. Er bekam ein Fieber, wenn er auf einen Gesellschaftsabend sollte; er fühlte sich hier belächelt, dort als unmodern bekrittelt, dort wieder kalt übersehen. Selbst am stillen Arbeitstisch verließ ihn dieser Verfolgungswahn nicht: er dichtete nicht mehr, er polemisierte nur noch.

Endlich brach er zusammen. An einem Karfreitag war es. Er hatte aus alter Gewohnheit den Dom aufgesucht und sich wieder einmal, wie in süßer Kinderzeit, von dem heiligen Ernste des Tages durchschauern lassen. Er hatte da während der Predigt ein seltsam Gesicht: er sah mit seinen überreizten Nerven krankhaft deutlich den Körper des Heilands, wie ihn die Soldaten auf den kreuzweis zusammengenagelten Holzstamm warfen ... wie ihm dann einer dieser Fleischerknechte die Faust aufbrach und dem anderen, keuchend vor Eifer, zuschrie: »Jetzt!« Der aber, längst lauernd mit Hammer und Nagel, setzte den Nagel auf, den zuckenden Hammer hoch, und – o mein Gott!

Er wurde unwohl. Er mußte vom Kirchstuhl aufstehen, leichenblaß, von diesem Hammerschlage bis ins Innerste betäubt. Leichenblaß wankte er aus Orgelklang und Chorgesang hinaus in die frische Luft. Eine vollständige Veränderung war mit diesem ernüchterten Idealisten vorgegangen; ein geradezu körperlicher Menschenhaß stieg in ihm auf. Dieser Hammerschlag, Gott im Himmel, dieser Hammerschlag! Und jener Gottessohn, den sie dort unter den blutigen Händen hatten wie ein ... »O mein Gott!« Er preßte sich die Schläfen vor Entsetzen über diesen grellen Einblick in das Weltgetriebe. »Das ist seit Urvater Noah die Gattung Mensch! Das die göttliche Spezies, die sich sträubt, mit dem harmlosen Affen etwas gemein zu haben! O kommt mir nur!« Er starrte mit einem nahezu geisteskranken Blick den Leuten Unter den Linden in die Augen. Die Hände hatte er in den Überziehertaschen geballt, die Finger in das Futtertuch eingekrallt; seine Augen brannten von vielen Nachtwachen; und in einem fort, krampfhaft unwillkürlich, fuhr ihm das Wort heraus: »Tiere!« »Ja, Tiere! ihr alle da! Die paar Ausnahmen, die sich in der Tat über diese Welt hinaus entwickelt haben, werden ans Kreuz geschlagen oder als Schurken, Narren, Originale in ihrer Einsamkeit zu Tode gehungert, falls sie euch nicht zuvorkommen und euch als eure Eroberer niederzwingen! ... O wieviel, wieviel Scheiterhaufen, wieviel Bosheiten, Dummheiten und Ungerechtigkeiten, du Erdball, rauchten deine Schollen schwarz! ... Und dann kommen sie nachher, die Mörder, und bauen dem Gemordeten Denkmäler, gotische und romanische Dome! und lehren ihre Kinder zum Gekreuzigten beten – und käme er heute wieder, sie würden den abermals Verkannten aufs neue kreuzigen! – Ruhig, Franz! Tiere! Sie wissen nicht, was sie tun!«

Die Sache war für ihn abgetan. Er las nun Darwin und Haeckel und schwieg. Aber die alte Romantik, die heilige Glut da drinnen, wollte nicht zur Ruhe kommen. Wie ferne, hinreißend süße Musik in einer weichen Sommernacht, wie ein Fieber, das kein Arzt dieser Welt stillen kann, summte das alte Lied da drinnen, pochte, summte – bis er krank lag. »O mein Gott, nun muß ich sterben. Nun gehe ich unter – ohne Tat, ohne Frucht, ohne gewirkt, gelebt, geschaffen zu haben!« Nach sechs Wochen schwerer Krankheit war er ausgebrannt; dürr, leer und müde kehrte er in sein Stübchen zurück. Er war ein Mondberg, um dessen grellen Kegel kein bißchen Vegetation oder Atmosphäre mehr zu finden ist. Seine Tagebücher aus dieser traurigen Zeit, ordnungslose Blätter, aus denen er sich das Herz leicht schrieb, sind ein Beweis von diesem ergreifenden Seelenzustand.

* * *

»Was ist all euer ›Idealismus›, den mir mein Vater eingeprägt, dem ich anhing von Kind an? – Ausgeburt kranker Gehirne. Eure Genien, die ihr in den Himmel erhebt, Shakespeare, Kant, Schiller, Goethe, Homer und alle Heiligen eurer Kirche – Erde! Erzeugnisse dieses triebkräftigen Planeten. Infolge überfüllter Gehirne zum Entlasten gezwungen in Form wertlosen Spintisierens; und die große Tiermenge um sie herum ließ sich von diesen Narren, wie sie Lombroso mit Recht nennt, verblüffen und läuft den Geisteskranken nach ... Nun, wir Naturalisten machen nicht mehr mit. Uns ist Shakespeare genau so interessant oder uninteressant wie der Straßenkehrer da unten oder die Fliege an der Wand. Er ist ja auch nichts Besseres, er ist ja genau derselbe Stoff wie diese. Nein, wir machen nicht mehr mit. Wer sein Gehirn, dies rundliche Klümpchen Erde, zu ›Idealismus› und ›Dichtertaten› anstrengt, steckt in den Triebkräften der Erde drin und macht mit, so gut wie die Herde da unten ... Ich aber will frei sein!

»So werd' ich denn den Mut fassen, ich, Franz Sturmegg, der ganzen menschlichen Gesellschaft zum Trotze, frei zu sein! Rücksichtslos! Ich faulenze hier oben in meiner Dachkammer, nehme kein Amt an, glaube nichts, liebe nichts, fürchte nichts, hoffe nichts – und arbeite nur so viel, als ich zum Essen und Trinken brauche ... wie ein Rettich oder ein Waldpilz oder das einzige Genie Diogenes ganz gemächlich auf diesem Planeten liegend, mit ihm herumliegend, sieben Jahrzehnte lang oder, wenn's hoch kommt, acht ... Dann wuchern wir in Gottes Namen als Kirchhofgras weiter – – –

»Gesellschaften? – Ich hasse sie. Es ist mir unmöglich, Redensarten zu machen! Die Nerven, die man zu solcher Verlogenheit braucht, sind bei mir abgenutzt, aufgebraucht, fort! ... Da steh' ich, grell und nüchtern wie ein Pleinairbild, elektrische Beleuchtung um mich her nach langem religiösem und metaphysischem Halbdunkel ... Und käme selbst die ›schöne› Helena, die noch den Narren Faust foppte – ein Klümpchen Erde! Und Gleichen – ein medizinisches Objekt! – – –

Oh, was hat man uns getäuscht! Oh, Freunde, meine Freunde, was hat man uns in unserer Jugend getäuscht! Erst mit Ammenmärchen vom schönen, wilden Wald, nicht wahr, voll Elfen und Sagen; mit geflügelten Englein und einem Himmel voll Zuckerbroten; und mitten darin jener langbärtige, herzensgute Mann mit dem einzigen Sohne, der so viele Wunder tat und am Kreuze starb, aus Liebe zu uns; mit den schönen Bilderbüchern von guten Menschen – der böse wurde immer geduckt – und Gedichtlein von lauter herzigen, lieben, lieben Jungfrauen! ... O seht, wenn's im Gymnasium zum Verzweifeln war, hab' ich mein Hirn und meine Bibliothek mit diesen tröstlichen Lügen gefüllt und hab' mich gefreut wie ein Kind auf die Wanderjahre, wo ich die ganze schöne Welt absuchen dürfe nach jenem Wunderbaren, das mit flammender Sehnsucht in meinem Herzen glühte!

»Und als man mir nun mit heiligem Pastorenernste beibrachte, daß die Poesie eitel schöner Schein sei, dagegen die Religion – ich ließ den Mann gar nicht ausreden, ich verbrannte vor seinen Augen meine lieben, dicken, romantischen Jugendwerke und schlief nicht eine ganze Winternacht lang vor Seligkeit, nun endlich das einzig Große aus dieser Welt, den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht gesunden zu haben. Und dann mit Asketenglut hinein in die Theologie. In die Theologie! ...

»Heut' bin ich kalt wie Eis. Ausgebrannt. Wenn ich am Dom vorüberkomme und sehe die Gehröcke und Toiletten in das feierliche Bauwerk eilen – ich lache, lache, so laut mir's meine mageren Rippen gestatten! Und verirre ich mich in eine eurer literarischen Gesellschaften, wo sich ein gewähltes Publikum ... ›gewähltes Publikum›! ... von gediegenen Kräften ... ›gediegenen Kräften›! ... künstlich hinaufidealisieren läßt in eine ästhetische Welt des Dunstes – hinausgehen muß ich, damit mir nicht vor all den feinen Damen übel wird! ...

»›Eins ist not› ... Dies Wort hat mich furchtbar zum Narren gehalten! Wenn ich euch sagen würde, welch ein unglaublicher Tor ich war, Tag für Tag nach dem ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht zu jagen! Durch alle Bücher und Bibliotheken hindurch! Alle Frauenaugen danach fragend! Meinen Eltern weh zu tun, meinen sämtlichen Wohltätern! Meine Jugendgeliebte, weil sie für meine Phantasterei zu dumm war, von mir zu jagen ... O mein Herrgott da droben, du weißt alle Dinge auf dieser Welt, du weißt auch, daß ich dich ja suchte und liebte, als ich das tat, dich allein – – – ja so! einen Herrgott gibt's ja nicht mehr« ...

* * *

Das waren die trostlosen Blätter, die Sturmegg am dritten Abend nach jener Unterhaltung mit Fräulein Reßler wieder einmal überflog. »Sag' einmal,« fragte er sich verwundert, »es gab also eine Zeit, wo du wirklich solchen aufgeregten Unsinn zusammenschriebst?! – Unglaublich!« Und kopfschüttelnd legte er die Blätter wieder in die Lade und schaute von seinem einsamen Leuchtturm aus bedächtig über das Dächergewirr Berlins, wo jetzt die unzähligen Rauchwölkchen der abendlichen Kamine so friedlich in den klaren Himmel hinaufdunsteten. Zwei Tage lang hatte er gearbeitet und nur über Mittag einige Stunden sein Stübchen gelüftet. Seine 19 Mark lagen noch unversehrt in der Westentasche. Jetzt war er müde. Die Arbeit war ihm frisch und kräftig aus der Feder geflossen – »drum, Franz, mußt du heut' abend einmal mit Schwung und Kraft über die Stränge schlagen! Verstanden?!«

Gut. Zuvor aber sah er nachdenklich die Blumentöpfe des gegenüberliegenden Fensters an. »Soll ich in die ›Hütte› wandern? – Hm, aber da treff' ich Schriftsteller und kriege über Strindberg, Ibsen, Garborg, Zola, Maupassant, Bourget, Tolstoi und sämtliche anderen deutschen Dichter der wichtigen Gegenwart vorgepaukt. Oder ›Siechen›? – 30 Pfennige das Seidel ist zu viel für einen deutschen Dichter. Halt, da ist ja der Franziskaner! Das könnten wir uns allenfalls leisten! ... Auf alle Fälle aber – hinaus! Vorsichtshalber nahm er sein Zehnmarkstück heraus und versteckte es als Reservefonds in der untersten Ecke des Schrankes, mit drei Bänden von Pierers Konversationslexikon beschwert. So! Mit allen übrigen 9 Mark – »es ist immer besser, wenn man was Tüchtiges in der Tasche hat, man fühlt sich mehr als Mann!« – mit den übrigen 9 Mark machte er sich auf die Wanderschaft, um, wie verheißen, »einmal mit Schwung und Kraft über die Stränge zu schlagen«.

»Halt, junger Mann, zuvor aber wird Gewand und Schuh in Ordnung gebracht!« Eine frisch-fröhliche Aufregung überkam ihn. Die Lade auf, nach Schlips und dem abgetragenen – ach was, es ist ja Nacht! – Papierkragen gewühlt! Dann den einen Filzschuh, klatsch! in diese Ecke, den anderen, klatsch! in die andere, und nun höchst liebevoll, höchst zuvorkommend den überaus rücksichtsvoll behandelten guten Rock aus dem Schranke. »Gut! Jetzt kommen die Stiefel an die Reihe!« ... Oha! da überraschte ihn eine verdrießliche Entdeckung: die Absätze, besonders der rechte, waren etwas krummgetreten, ziemlich krumm, außerordentlich krumm! Er blieb ein Weilchen bekümmert auf dem Sofa sitzen, den rechten Stiefel in der Hand, sorgenvoll überlegend. »Wenn ich denn doch einmal gerade in guten Verhältnissen bin, könnt' ich sie ja sohlen lassen. Hm? Wer weiß, nachher, wenn sie ganz durch sind, kostet die Ausbesserung das Doppelte ... ja, ja, ja, die muß ich augenblicklich zum Schuster schicken!« Aber dann mußte ja der Spaziergang heut' abend ausfallen, denn er besaß nur dies eine Paar. Nicht um alles in der Welt! Auf diesen Ferienabend freute er sich ja wie ein Kind! »Ach was, Schuhe, hört mal: euch werd' ich so sachte, so kunstvoll sachte, so geradezu raffiniert sachte durch dieses Berlin tragen ... Hm, alle Wetter, es geht doch nicht! Der Absatz fällt ab!« Er tupfte höchst verdrießlich an der zerlotterten Sohle herum. »Könnte ich nicht am Ende selbst –?« Das war ein Gedanke! Er rannte nach dem Schreibtisch, Lade auf, Nägel heraus, spitze, gelbe, großartige Nägelchen, die er zum Annageln der Bilder und Karten gebraucht hatte; dann den eisernen Stiefelzieher unter dem Bett hervor, vorsichtig den guten Rock wieder aus – und plötzlich saß der Dichter mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich und schusterte seine Stiefel. Der Absatz war bald mit niedlichen Goldpünktchen übersäet. Da ihm das am rechten Stiefel so vorzüglich geglückt war, nahm er auch den linken vor. Schweißtriefend erhob er sich nach einer Viertelstunde, rieb sich das eingeschlafene Bein und schlüpfte mit einer ungewöhnlichen Befriedigung in das verjüngte Schuhwerk. »Was sagt ihr nun, Kinder?! Eigene Arbeit!« Jetzt wußte man doch, was man unter sich hatte! Zu äußerst gehobener Gemütsverfassung kletterte er daher seine vier Treppen hinunter.

* * *

Hier unten summte die alltägliche Welt, die Berliner Gesellschaft, die den Dichter da oben sitzen ließ, verachtet und mit dem Hunger kämpfend, jahraus und jahrein. Er mußte sich daher besinnen, ehe er auf die Straße trat, was man wohl eigentlich für ein Gesicht mache da draußen. Jedenfalls so etwas Gemessenes, Steifes, Reserviertes ... Er bemühte sich, das entsprechende Weltstadtgesicht fertigzubringen, und trat keck hinaus.

Den grauen Filz anständig auf dem Kopfe, die gelben Handschuhe anständig in der Linken – er zog sie aus Sparsamkeit niemals an –, den Olivenstock in der Rechten, in anständiger Kopfhaltung, ganz so, wie er andere Leute seines Alters gehen sah, so sah man nun einen ungewöhnlichen Menschen durch das gewöhnliche Gewimmel Berlins schreiten. Eine staubige Abendschwüle drückte ihm die Brust. Das Geschiebe dieser immer vorhandenen Menge, als brächten die Berliner Tag und Nacht auf der Straße zu, ging nur schwerfällig und abendlich matt durcheinander. Sie machten eine Pause im gegenseitigen Kampf ums Dasein, sie taten sich in diesem Augenblicke nichts. Aus den offenen Fenstern der Kellerkneipen schlug ihm ein unerträglicher Duft in die Nase, ein Gemisch von Bier-, Tabaks- und Speisegerüchen. Mitten darin die Kraftwalzer der hageren Klavierspieler ... »O du liederliche, saft- und kraftlose, abgehetzte Großstadtwelt!« Und diese Ausdünstung des Werktages, die wie ein fauler Nebel am Boden liegen bleibt, diese abgenützte Luft, die drei Millionen Lungen füttern soll! Nur wie verweinte Augen blicken die Laternen durch die dicke Lufthülle ...

Er faltete finster die Brauen, zwängte die Fäuste in die Taschen, so daß der Olivenknüttel drohend in die Höhe ragte, und kehrte seine Stacheln hervor. So schritt er weiter in seiner ärmlichen Kleidung, völlig fremd, völlig ablehnend, eine Welt für sich, durch dieses gutgekleidete Gewimmel der deutschen Reichshauptstadt.

Ecke der Karlstraße, Zigarrenladen ... »Hm. Nun hat man so lange dies Kraut entbehrt ... Wie wär's, wenn wir Dunst mit Dunst, Belial mit Beelzebub austrieben? ... Aber 19 Mark und erst am zweiten Akt – geht nicht!« Er gestattete sich den kleinen Genuß nicht.

Weidendammer Brücke ... Von dieser Höhe aus tut sich nun die Lichterfülle der Friedrichstraße auf. Unter dem Stadtbahnbogen hindurch, wie ein Tunnel, bohrt sich diese Riesenstraße mitten durch das Backsteingemäuer der Berliner Häusermasse. Eine unendliche Punktreihe Laternen macht dort die Nacht hell, eine nie versiegende Menschenmasse flutet an den vielen hellen Punkten vorüber, herauf nach dem Wedding, hinab nach dem Belle-Alliance-Platz. Das ist ein unaufhörliches Summen, Rasseln der Wagen, Surren der Gummiräder, Dröhnen und Klingeln, zu einem einzigen Tone zusammenfließend, dem Leitmotiv der Weltstadt.

Die Berliner in Zylindern oder zerdrückten Filzen, je nachdem sie Glück, Geschicklichkeit oder Gewissenhaftigkeit im allgemeinen Wettbewerb bedacht hatte, schlenderten ihren Sommernachtstrieben nach. Die Menschen mit den zerknitterten Filzen in dunstige Weißbierlokale, die Herren in den Zylindern in das Patschuli der Theater oder in Klubs, Cafés und weniger lobenswerte Vergnügungshäuser. Meist zu zweien. Ach, diese reizenden Sommernachtstoiletten der Damen! Dieses schmachtende Wesen, das an warmen Abenden das andere Geschlecht so lieb und zutraulich macht, so wunderlieb, wenn sie dem Begleiter fast laut seufzend vor Liebessehnsucht und mit diesen verzehrenden Blicken so innig im Arme hangen, sich in einlullendem Takte dahintragen lassend durch das völlig unbeachtete Gewimmel! ... »Die Glücklichen!« seufzte der Einsame. Und dann dieses gefährliche Zittern widerstandsschlaffer Nerven! Die viele Körperwärme, die in einer solchen Weltstadt ausströmt, die angesammelte Tageshitze, die jetzt vom Asphalt und allen Wänden widerstrahlt und die feste Sitte verwirrt! dieser Lärm, der das Gewissen betäubt! ... »Alles, alles läuft seinen Genüssen nach – ha, lieber Gott du im Himmel da oben, darf sich denn ein deutscher Dichter nicht auch etwas gönnen?!« Da oben, Bahnhof Friedrichstraße, pfiffen die Züge; dort kamen die Menschen an und fuhren wieder davon, aus der weiten Welt in die weite Welt, übers norddeutsche Flachland, über die feierliche Mondstille der märkischen Nacht, weit hinaus nach Italien, weit hinaus über den Ozean nach fernen Ländern! ... Herren sah er da, die fuhren immer erster Klasse, um die ganze Welt herum, wenn's sein mußte! denn sie hatten das Geld dazu, sie konnten sich ausbilden, sie konnten sehen, handeln, erleben, diesen Planeten durchforschen bis an den Rand der Welt, wie Byron am Ozean, in die ungeheure Nacht des Alls ... Er aber, der übersehene Dichter, mußte Tag für Tag mit seiner weichen Seele auf einer Dachkammer hocken, verkümmernd in dieser eindruckslosen Öde! neben dem Küchengeruch seiner verschrumpften Alten! körperlich und geistig erdrückt von Geldsorgen, von hundsgemeinen Geldsorgen! ...

Es fehlte nicht viel, so hätte der Gequälte laut hinausgeweint. Aber da rutschte er in seinem wütenden Weiterschreiten aus. Und holla – da fielen ihm die selbstgeschusterten Stiesel ein! »Franz, dies Ersparnis mußt du wettmachen! Hurra! auf das hin aber Hals über Kopf hinein ins Leben!« Seelenvergnügt, daß er seinem Gewissen mit so viel Ersparnis den Mund stopfen konnte, stürzte auch er seinem Genusse nach: er trat in den nächsten Zigarrenladen und erstand sich für 20 Pfennige Zigarren. »So, Kinder! jetzt ist die Welt harmonisch!«

* * *

Beim Weitergehen suchte er sein Gewissen niederzuschwatzen. »Sieh mal, mein lieber Franz,« erörterte er höchst diplomatisch, »du mußt nicht kleingläubig sein! Der liebe Gott läßt ja so viele feiste Kerls hier auf den Straßen herumlaufen, der kann doch sicherlich auch so einen Knirps wie dich füttern! Oder meinst du nicht?« Und er blies mit gläubigem Gemüte den Zigarrenrauch zu den goldenen Sternen hinaus, verständnisinnig, wie ein Verwandter, zu diesen vielen Lichtpunkten hinausblinzelnd, diesen gewaltigen Orionen und Sonnen des Weltalls ... »O ihr großen Sterne, die ihr über dieser Berliner Welt schwebt wie ein Trost aus einer anderen Welt! Dort das Ypsilon des Bootes, da oben Vega, Atair, dort der funkelnde Rigel im Orion, der Fixsternkoloß, dessen Glut uns auf zwanzig Millionen Meilen weit zerschmelzen würde, der mehr als dreißig Millionen mal so weit von uns entfernt ist als unsere Sonne! ... O ihr Inseln der Seligen, zu denen kein Boot führt! ... Und dann wieder das winzige Gekrabbel da in den Berliner Straßen! Diese feierlichen Zylinder, Toiletten, Monokel, Gigerl, Studentenmützen und geschminkte Damen, diese unendlich nichtigen Käfer, diese bejammernswerten Würmer, diese Maden und Knirpse – pah, kleiner Kerl, du wirst wieder einmal bissig.«

Da war der Steinitzsche Buchladen ... Fast hätte ihn seine alte Gewohnheit verleitet, vor dem Schaufenster stehen zu bleiben. Aber er besann sich zu rechter Zeit. »Was geht denn mich die ›deutsche› Literatur an?« Und er ging vorüber. Litfaßsäule! »Theater? – ›Fall Clemenceau› – pfui! ›Francillon› – hol' dich der Geier! ›Hüttenbesitzer› – ei pfui! ›Wintermärchen› – gern, lieber Shakespeare, gern! Aber ich hab' ja kein Geld! Fuldas ›Sklavin› – na!« Er machte, daß er weiterkam. »Wenn ich doch nur einmal einen Mann fände, einen Helden von Leidenschaft und Empfindung unter diesen Berliner Literaten! Donnerwetter ja, Deutsche, seid doch etwas! Lebt doch nach eurer Natur, schroff und stolz und eigensinnig! Und wenn euch die Zeit nicht aufkommen läßt, so sperrt euch in eure Dachkammer ein, beißt die Zähne zusammen und hungert! Es muß Frühling werden – und wenn auch nur in euch selbst, ihr einzelnen und Einsamen! Aber Waschlappen sollt ihr nicht werden! ... Pah, da regt sich wieder einer unnütz auf, und der heißt Franz Sturmegg.« Er dachte an seine Stiefel und lächelte. »Wartet nur, Kinder, künftig spar' ich mir auch den Schneider! Warum soll ein braver Dichter nicht auch zum Hosenflicken Talent haben?! Wie sagt Carlyle? Ein Held ist immer und in jeder Form ein Held, ob als Feldherr, Reformator, Dichter oder Prophet! Also! – Und wenn meine Schuhe vollends durch sind, so sohl' ich sie mit meinem Abziehriemen! Mein Rasierzeug ist ja doch überflüssig, denn ich lass' mir schlau genug den Bart stehen und prelle so den Friseur um wöchentlich zwei Groschen! Sehr gut!« Die Zigarre duftete großartig; man konnte sich, wie in eine Tarnkappe, in fortwährende blaue Rauchwolken hüllen, mitten in diesem langsamen Gedränge, in welchem nun der Dichter dahinschwamm wie Kolumbus durchs Weltmeer, wie ein fahrender Sänger durch die Wildnis. »Ein Stückchen Erde bin ich ja doch auch, so gut wie ihr vornehmen Damen und Herren um mich herum! so gut wie du dort in der Karosse! Fahr zu, Narr, am Kirchhof hol' ich dich ein!« ...

Ja, die Menschen, diese böse Spezies Mensch, sie gab ihm noch vieles zu denken. Da lag zum Beispiel ein Krüppel in einer Hausnische jenseits des »Café National« und bot Streichhölzer aus. Ein ungemein erbarmungswürdiges Geschöpf! Aber die Berliner gingen gelassen vorüber! Was ging sie der Krüppel an? ... Der Dachkammersohn stellte sich in der Nähe an ein Schaufenster, um zu beobachten, wie viele eigentlich seinen Kollegen bemerken würden. Er stand eine Weile. Keiner. Es fiel ihm ein, mit der Uhr in der Hand seine Beobachtungen fortzusetzen. Er stand nochmals fünf Minuten, kein Mensch sah den verkrüppelten Schurken. Natürlich mußte er da selber beispringen. Er öffnete, mit der Hand in der Hosentasche tastend, sein Portemonnaie, zwängte ein Geldstück heraus und ließ es beim Vorübergehen dem Krüppel in die Hand gleiten. Dann ging er mit möglichst unschuldigem Gesicht weiter, beinahe mit einem bösen Gewissen. Er fürchtete, einer dieser feingekleideten Herren könnte sein Mitleid bemerkt haben und ihn am Ende auslachen wegen dieser bauernhaften Gemütsregung. Noch unter dem Eindrucke dieser Verlegenheit, mit etwas warmem Kopfe, betrat er ein Restaurant.

Da hatte er's: Sedlmayr zu 30! »Einen Schnitt, bitte.« Er saß vor seinem Schnitt, rauchte und besah sich mit Behagen die bärtigen Bureaukraten- und Biergesichter seiner preußischen Stammesbrüder. Es war ihm alles immer wieder neu. Neben ihm erzählte man sonderbare Geschichten; er drückte sich zwischen die Überzieher und hörte zu. Dazwischen trank er und rauchte und trank, ungeheuer leichtsinnig!

Plötzlich fiel ihm der Krüppel ein! Er fuhr jäh in die Tasche und zählte nach: ein Zweimarkstück hatte er dem Unglücksmenschen gegeben! Alle Wetter! Dazu zwei Seidel und einen Schnitt, macht nahezu drei Mark! »Generaldonner – nun aber« ... Er war leichenblaß geworden vor Schrecken. »Nun aber an mein Drama wie ... wie ...« Kein Vergleich war ihm stark genug. Er zahlte, riß den Hut vom Nagel und rannte davon wie der Nachtwind! die Friedrichstraße hinauf, die Karlstraße hinein, vier Treppen hinauf und schweißtriefend vor den Schreibtisch! Um zwei Uhr morgens warf er noch immer Kraftsätze auf das Papier.

* * *

Der andere Morgen brachte eine Einladung. »Herr und Frau Geheimrat Weber geben sich die Ehre« ... »Ei der Kuckuck, und meine Glacéhandschuhe sind zerrissen! Selbstverständlich bin ich verhindert! selbstverständlich bin ich krank! selbstverständlich bin ich bettlägerig, todkrank und kann durchaus nicht aus der Stube!« Aber halt! am Ende war Fräulein Darnberg da, diese ruhvolle Schönheit mit dem blonden Haarkranz, die ihn letzthin bei Professors so mächtig gefesselt hatte – »ah! das könnte ja wieder ein herrlicher Abend werden! Ich muß hin!«

Aber ein Blick auf sein Zimmer ließ ihn wieder zusammenknicken. »Ich und die Liebe! ... ich und die Liebe!« ... Und er legte einen Absagebogen zurecht. Zunächst aber betrieb er die »Zerstörung Jerusalems« weiter, schrieb, ging hin und her, preßte finster die Lippen, jagte Römer ins Gefecht, schrieb. Und am Mittag, als er in anderer Stimmung den Bogen auf dem Tische liegen sah – nahm er dankend an. »Macht also 1,50 Mark für neue Glacéhandschuhe.« Die Mittagsonne lag grell über allen Dächern; das Gold der Siegessäule ging unter in dem glänzenden Weißlicht des Tages; die Stadtbahn rauchte und pustete vorüber. »Ja, ihr Berliner da unten mit euren Geldsäcken ... ihr habt gut lachen.« Die 1,50 Mark taten ihm mehr weh als die 2 Mark, die er dem Krüppel geschenkt, und als der Taler, den er an sein verwittertes Fräulein weggegeben hatte.

Sonnenlicht füllte die Stube. Die Karten und Bilder, welche die Tapete vom Fußboden bis fast zur niedrigen Decke verbargen, waren voll beleuchtet. Da hingen Bilder aus seiner engeren Heimat, da hing eine Karte von Deutschland, von Europa, von Deutsch-Ostafrika und eine Menge farbiger Völkertypen aus aller Herren Ländern; dazwischen wieder Photographien alter Meister, Landschaften in Holzschnitt und Aquarelle, mitten darin ein großes Ölbild des Kaisers. Auf dem Schranke stand eine Büste Bismarcks; daneben ein Totenkopf. An der Türe eine anatomische Abbildung des menschlichen Körpers, voll feiner blauer Adern und Venen. Und an der schrägen Wand (Dach) neben dem Fenster hing ein Plan von Berlin und Umgebung. Die Bücher hatte er in den Fächern des Schreibtisches untergebracht oder hoch aufgestapelt, oben drüber. Da lag Shakespeare, das spanische Theater, griechische Tragiker, Droste-Hülshoff, Kleist, Grabbe, Hebbel, Goethes Faust, Burns, Des Knaben Wunderhorn, Stifter und eine Menge deutscher Sagen- und Märchenbücher; etliche Literaturgeschichten; dahinter, wo schon die Unordnung anfing, Schiller, Uhland, Geibel, Klopstock, Lenau; darüber allerlei Reclambändchen. Unten, in den Fächern des aufgeklappten Schreibtisches, lag eine Bibel, das Nibelungenlied, Gudrun, Darwins Entstehung der Arten usw. Einiges von Bleibtreu, Hauptmann, Hart und anderen Neueren, einige Bände Nietzsche, einiges auch von Ibsen, das Rembrandtbuch (»Rembrandt als Erzieher«) und ein Zola. Neben dem Papierkorb waren Beckers Weltgeschichte und zahlreiche andere geschichtliche Werke aufgetürmt. Das Tischchen vor dem Sofa war zwei Dezimeter hoch mit kunterbunten Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren und Rezensionsexemplaren bedeckt. Dahinter stand das schwarzlederne, leider vielfach aufgerissene Sofa; und zwischen das Sofa und das schräge Dach – wo ein Christuskopf von Guido Reni hing – drängte sich die eiserne Bettlade. Ein überfülltes Zimmerchen, von der vielen Sonnenglut dunstig und ausgedörrt, Ärmlichkeitsduft überall, die Luft dick voll Sonnenstäubchen! »Na, die Gedanken werden wenigstens reif hier oben«, dachte Sturmegg. »Die Sonne sorgt dafür!«

Er saß in Hemdärmeln am Schreibtisch und beantwortete in gebildetem Satzbau den Einladebrief des Herrn Geheimrats.

* * *

Das wurde ein fürchterlicher Abend! Fräulein Darnberg war nicht da. Ein Kommerzienratstöchterchen in rotem Jäckchen und weißgeblümtem Rock, mit gewandtem Zungenwerk und koketten Augen, sollte er mit seinen Dachkammer-Anschauungen unterhalten. Rechts von ihr saß ein hübscher Leutnant. Natürlich war der ausgehungerte Witz des stillen Literaten von der lauten, rotwangigen Leutnantsweisheit im Augenblick totgemacht; die Uniform beherrschte die Ecke. Die Kommerzienratstochter sah ihren Tischherrn kaum an; höchstens ein herumgeworfenes beleidigendes »Wie?« Und einmal: »Sie dichten ja auch dramatische Sachen. Sind Sie schon aufgeführt, wenn ich fragen darf?« Der unberühmte und unaufgeführte Dichter sagte schließlich kein Wort mehr, gar kein Wort mehr. Er spielte mit dem Messerstühlchen, las die Etikette der Weinflasche Châuteau du Breuil, Bordeaux, ganz vereinsamt inmitten dieser laut redenden, laut lachenden Gesellschaft. Dann und wann sah er, um nicht aufzufallen, gleichfalls nach dem Leutnant hinüber und lachte mit. Aber ein knirschendes Weinen war ihm näher. Er hätte sich jetzt, wo er so unbeachtet dasaß, einmal gründlich sattessen können. Aber er wußte kaum das Bißchen, was er sich auf den Teller genommen hatte, hinunterzuwürgen.

Nach Tisch nahm sich eine sehr liebenswürdige alte Dame seiner an. Sie kannte seine Heimat. Es traf sich sogar, daß sie mit mehreren auch ihm bekannten Familien befreundet war. Das Herz ging ihm auf, so viel Freundlichkeit gegenüber. Fast eine halbe Stunde stand er in der lebhaftesten Unterhaltung bei ihr am Sofa. Beim Weggehen küßte er ihr die Hand, ungemein zärtlich, geradezu mit Inbrunst. »Die Menschen sind ja doch herzensgut, so gut! Munter, lieber Sturmegg! Frisch auf! Kopf hoch!«

Er war wieder mit der ganzen Welt versöhnt. Aber nachher, als die jüngeren Leute Pfänderspiele mit Handküssen und derlei galantem Unsinn anfingen, wurde er wieder finster. Damit wußte er nichts anzufangen. Wie die Seele eines Abgeschiedenen saß er in seiner Sofaecke und sah dem Treiben dieser fröhlichen Welt zu.

* * *

»Sie sehen so schlecht aus, Herr Sturmegg«, lispelte Fräulein Reßler am anderen Morgen, als sie ihn bleich und kraftlos auf die »Zerstörung Jerusalems« starren sah. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn bemitleidete. »Ich habe mir den Magen verdorben«, knurrte er und sah zum Fenster hinaus. Arbeiten konnte er nicht, zum Glück aber auch nicht essen. »Eine Marke gespart. Dafür kauf' ich mir ein bißchen Milch und Brot.« Fräulein Reßler besorgte ihm das. Die gute Alte seufzte aus tiefster Seele, blieb an der Türe stehen, nestelte an der Schürze herum und hätte ihrem lieben Mieter herzlich gerne geholfen. »Ich hab's schon immer gesagt: Herr Sturmegg arbeiten zu viel, das verträgt ja die stärkste Natur nicht!« Er wurde verdrießlich, »wird sich schon geben«, stieß den Stuhl herum und drehte ihr den Rücken zu. Betrübt schlich das kleine Fräulein hinaus.

In der großen Mittagsstille, in der nun der Einsiedler wie in einem Sonnenbade saß, zog eine tiefe Schwermut in seinen matten Körper ein. »Wozu bin ich denn eigentlich auf dieser Welt?« Er überdachte, schmerzlich den Kopf in die Hand gestützt, sein verlassenes Dasein. »Gymnasiast, Student und Literat, das sind meine Entwickelungsstufen. Ein verbummelter Mensch bin ich, eine namenlose Existenz ... Einst als Knabe die Hoffnung meines Vaters und vieler anderen ... Und der alte brave Bauersmann hat sich den letzten Pfennig am Munde abgehungert – daher kann ich so gut hungern: Vererbung! – um seinen Sohn etwas Ordentliches werden zu lassen ... Er ist darüber gestorben, er hat zu wenig gegessen ... Und die vielen Pastoren, Professoren und Verwandten, die alle so große Hoffnung auf mich gesetzt haben, mich zu einem tüchtigen Bürger im neuen Deutschen Reiche zu machen ... sie haben mich alle verloren ..., Gott helfe dem verkommenen Menschen!› sagten sie. Nur mein Mütterchen, das sitzt noch daheim und strickt mir Strümpfe und schickt mir Wäsche und Äpfel und Trauben und hofft, hofft, hofft« ...

Plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen. Er stand auf und schlich das Stübchen auf und ab. Er sah nichts mehr vor Tränen. Mit dem Taschentuche, das auf dem Tische lag, trocknete er sich die Augen und versuchte, in einer Art Scham vor sich selbst, energisch zu blicken. Aber es gelang ihm bei seiner großen Mattigkeit nicht. Er setzte sich auf das Sofa, legte die Arme auf die vielen Zeitschriften des Tischchens und weinte.

* * *

Am anderen Tage beschloß er, zu arbeiten wie nie zuvor. »Wie ein Zuchthaussträfling will ich arbeiten, und fasten will ich wie ein Karmeliter!« An diesem frischen Sommermorgen, wenn der Frühwind allen Rauch der Berliner Nacht verwehte, so daß der Himmel in edler Morgenklarheit in sein Dichterzimmer schaute, an diesem frischen Morgen schoß sein Bleistift in wunderbarer Tatkraft über das Papier. Er hatte ein ungeheures Lebenswerk vor, eine noch gar nicht übersehbare Reihe von Prosastücken, Lyrik und Dramen: Bilder aus der Weltgeschichte, aus den Vorgängen der Gegenwart, aus der Seelenfülle des Einzelmenschen, besonders des Deutschen, eine poetische Geschichte der Menschheit und besonders seines deutschen Volkes, zum Greifen deutlich, jedem Bürger verständlich in seiner frischen unmittelbaren Sprechweise – eine Weltanschauung in künstlerischen Formen! »Wie die Großen der alten Zeit, als die Dome aus der Erde wuchsen, wie Michelangelo und Phidias und Äschylos!« ... Einstweilen schrieb er eine Vorübung: »Die Zerstörung Jerusalems«. Die Gehirnerstarrung der fanatischen Israeliten, die sich in ihr Gesetz einnisteten, nur mitsamt dem Gesetz, mitsamt dem Tempel und der überfüllten Hauptstadt verbrennbar; das feste Soldatentum des Prinzen Titus mit der nüchternen Weltanschauung und dem strammen Drill der Römer; die erhabenen ersten Christen, innerlich frei von allen Satzungen jener entarteten Zeit, mit dem unirdischen Friedensblick des Heilandes, der über all diese Geschehnisse hinschaute wie von einem anderen Sterne aus ... Und dahinter, als Leitmotiv und gewaltige Grundstimmung des Dramas: die entsetzlichste aller weltgeschichtlichen Katastrophen, dieser niederdröhnende, ächzende, rauchende Menschenknäuel Jerusalem! »Ha, wartet nur, ihr leichten, ihr seichten Modernen da unten, die ihr Leidenschaft nicht mehr kennt, ha wart', euch werd' ich weisen, was Poesie ist! Euch will ich packen und auf das Papier da schleudern, daß – hm!« Mit einem Ruck brach er ab und bändigte seine überschießende Künstlerkraft. »Sturmegg, mein Junge, mir scheint, da wurde wieder einmal einer pathetisch! Was?« Und er lachte laut auf, rüttelte sich, rieb die Hände und ging, immer lachend, durchs Zimmer, wie ein Kind, das in Ermangelung von Spielkameraden mit sich selber Scherz treibt. Da fiel ihm der Totenkopf in die Augen. Er holte ihn herunter und spielte Ball damit. »O Welt, du Narrenwelt!« Aber rasch wurde er wieder besonnen, klappte den Schädel neben den Bismarck, warf den Hausrock ab, und: »Donnerwetter, nun wieder mit Leib und Seele Sturmangriff auf Jerusalem!«

* * *

Tagebuchblatt

Ja, schwatzt nur von Minne, von Wein!
Da hock' ich in meinem Kämmerlein
Und schreibe und knirsche und hungre allein –
Und sterbe allein!

Ihr schneidet derweil die Cour!
In eurer verlumpten Literatur,
In euren Salons und Theatern nur
La femme toujours!

Wohl, oft wenn ich müde bin
Und lege stöhnend mein Werkzeug hin –
Weiß Gott, auch mir flammt Seel' und Sinn
Zum Weibe hin!

Doch ha – wie müßte das sein
Eine Liebe so groß und stolz und rein!
Das ganze Weltall wäre zu klein!
Drum – bleib' ich allein.

O meine Kraft, halt aus!
An deinem Werk halt aus, halt aus!
Hier ist dein Beruf, dein Weib, dein Haus –
Meine Kraft, halt aus!

* * *

Und nun ging's zu Ende. Mit den 22 Mark nämlich, den Ferien, der goldenen Freiheit, wo er aufrichtig sein und seine eigene geniale Lebensweise führen durfte; wo er nicht zu fronden brauchte wie die Hunde da unten vor den Milchkarren, mit Hand und Kopf fronden, fronden fürs nichtswürdige Geld!

Dieser letzte Tag war überfüllt mit Wolken und Sturm, schwarz wie ein Novembertag. Im fahlen Nachmittagslichte stand er an der Gardine und zählte sein Geld. 2,80 Mark. Von der ganzen Herrlichkeit noch 2,80 Mark. Nun mußte er sich Eßmarken kaufen. Das reichte bis zum Ersten. Dann, wenn er jetzt fleißig schrieb, bekam er Honorar. Porto für einen Brief an das besorgte Mütterchen und für den »Berliner Brief« an das Provinzblatt brauchte er auch noch. Nun, dann also wieder hinein in die Rezensionsexemplare! wieder hinein in den Berliner Brief! hinein in die Feuilletons, Essays, Federzeichnungen, Nekrologe fürs liebe Geld ... fürs liebe Geld ... fürs liebe Geld.

Er sah auf sein Manuskript, dies trostlose dramatische Blättergewirr mit dem ungeschriebenen fünften Akt. Und auf diesen wilden letzten Akt hatte sich seine ganze Seele gefreut! Es kam ihm vor, als würde er mit Peitschenhieben aus einem lebensvollen Paradiese hinausgejagt, wo man in seiner Sprache redete, er und seine Menschen. »Mirjam, du mein süßes Mägdlein, ich darf ja nicht mehr bei dir bleiben ... Titus, teurer Freund, sieh doch, ich habe ja kein Geld mehr.« ... Er stand mit gekreuzten Armen und zuckenden Wimpern und sah seine Blätter an. Dann raffte er sich auf, warf die Papiere auf einen dicken Haufen, in die kreischende Schublade und schallend wieder zu. Da stand er nun vor dem verödeten Tische. Plötzlich – da halfen alle gepreßten Lippen und wütenden Gegenanstrengungen nichts – plötzlich standen dem empfindungsreichen, leidenschaftlichen Menschen wieder die Augen hell voll Wasser. Er ballte die Fäuste und trat ans Fenster, trotzdem er vor Tränen keinen Strich sah. »Da fahrt ihr nun da unten, ihr Tröpfe mit den Millionen in den Taschen! und eure Kutscher sind besser gekleidet als ich ... eine Handvoll, die ihr an einem Abend vergeudet und verschlemmt, würde mir genügen! ... Ich aber lebe hier oben wie ein Hund ... nicht einmal das bißchen elende Futter!« ... Er kehrte sich um und tastete, immer schluchzend, nach den Rezensionsexemplaren; statt seines Dramas bedeckte er mit diesen oft so qualvoll dilettantischen Reimereien und Novellen seinen Schreibtisch. Dann suchte er einen Bogen Papier, fuhr sich mit energischem Ruck über das nasse Gesicht, und mit festem Federzug machte er sich an die Arbeit.


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