Meinrad Lienert
Das Glöcklein auf Rain
Meinrad Lienert

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VII.

Die Fahrt nach Hergisau zum ewigen Jahrzeitgedächtnis war dasmal dem Bauer Hansbaschi Hochrütiner auf Rain nicht gut bekommen. Sonst hatte er sich immer auf diesen Tag gefreut, an dem man in frommem Gedenken an die jahrzeitstiftende Ahne und an die Ahnen überhaupt in dem traulichen Kirchlein des ländlichen Dorfes verwandtschaftlich sich zusammenfand und nach dem Seelenamt im alten Gasthaus zur »Roten Traube« für eine Stunde herzliche Gemeinschaft, Rückschau und Umschau hielt. Das war freilich mehr in seinen Knabenjahren gewesen, denn damals nahm man auch die Jugend zu diesem Trauergedächtnis mit, das nach der Kirche zu einem bescheidenen Freudenfestchen im Alltag wurde. Man mußte dann nicht zur Schule und konnte sich mit landesbräuchlichen Kräpflein und Eieröhrchen nach bestem Vermögen vollstopfen. Später, als der Hänsel und die Brigitt groß geworden und zu einem eigenen Hausstand gekommen waren, ließ man die Jungen zu Hause, um, wie der Langhänsel sagte, die Trauerjahrzeit nicht in eine übermütige Kirchweih ausarten zu lassen. 293 In Wirklichkeit war es ihm darum zu tun, die Kosten der Ürte, die er auch mittragen mußte, möglichst einzuschränken. Es war also nach und nach auf dieser Jahrzeit immer ruhiger, aber auch frostiger geworden. Die Geschwister rückten innerlich völlig von einander ab und nur Hansbaschi, der Bauer auf Rain, war dann redlich bemüht, die Verwandten einigermaßen auch freundschaftlich zusammenzuhalten, denn von geschwisterlicher Herzlichkeit war längst keine Spur mehr zu finden. Es ging aber immer noch, man setzte sich nach der Gedächtnismesse in die »Rote Traube« und tat so, als ob man doch wüßte und bedächte, wie nahe man sich verwandt sei. Da aber die Jugend fehlte, war das Liebesmahl dann nur immer eine kurze Komödie, bei der man an allen Ecken und Enden hinter die trostlosen Kulissen sehen konnte. Aber trotzdem war's noch angegangen, denn wenigstens der Ludi hatte mit seinem bodenlosen Leichtsinnn immer wieder ein wenig Unterhaltung in die kurze Zeit des Beisammenseins gebracht, indem er den Bajazzo machte oder eine Reihe seiner beim Gang um die Kundschaft gesammelten mehr oder weniger reinlichen Witze auftischte. Hingegen der letzte Hock in der »Roten Traube« war nun nicht bloß kühl und im übrigen aber wie sonst harmlos verlaufen, wenigstens nicht für den Bauer auf Rain. Tiefbedrückt war er heimgekommen und den ganzen Tag hatte er nur das 294 Notwendigste gesprochen, dafür aber sich mit Arbeiten fast übertan.

Seine junge Frau, das Apelluneli, war ganz erschrocken ob seines wunderlichen, so ganz ungewohnten Wesens. Wohl hatte sie ihn in der letzten Zeit immer stiller, ja ernster werden sehen, was sie aber nicht sehr beunruhigte. Sie dachte, das sei etwas Natürliches bei einem alternden und mit soviel Arbeit für Kopf und Arm belasteten Mann. Es sei gewiß so, daß man mit den Jahren immer bedächtiger werde, in sich gehe und mehr und mehr innerhalb lebe, gleich dem Schneck, der sich ja auch, wenn er den Winter merkt, völlig in seine Behausung zurückziehe. Immerhin, nach dieser Jahrzeit zu Hergisau, zu der sie nicht hatte mitgehen können und bei der Kälte, die sie aus dem verwandtschaftlichen äußern Gehaben ganz wohl durchscheinen sah, auch nicht gern gegangen wäre, war ihr Mann merkwürdig still heimgekommen. Er hatte sie so seltsam angesehen, als käme sie ihm zum erstenmal unter die Augen, und alsdann war er den ganzen Tag karglautig und versonnen, fast düster geblieben. Seither wurde es, ja fast von Tag zu Tag, schlimmer. Was mochte wohl auf jener Gedächtnisfeier zu Hergisau an ihn gekommen sein? Aber nein, daran konnte es doch wohl nicht liegen, denn als sie ihn einige Tage nachher fragte, was man denn mit ihm bei jenem Beisammensein in Hergisau gehabt 295 habe, hatte er gezwungen aufgelacht und gesagt, Rotwein, Käse und Brot und noch etwas Knusperiges, Süßes dazu habe man zusammen mit ihm gehabt. Damit mußte sie sich abfinden lassen. Es konnte ja auch wirklich nicht sein, daß der Rainler, ihr sonst so starker Mann, nur so von einem Stündlein Zusammenhocken mit seinen nächsten Verwandten her ein ganz anderer, ein schwermütiger, ja ein kranker Mensch geworden sein sollte. Und doch war's grad als hätte ihn damals eine böse Hornisse gestochen, ihm das Blut verdorben und ins Schwären gebracht.

Und als es gar nicht bessern wollte, obwohl sie ihn mit ihrer ganzen Zärtlichkeit und Sorge betreute, und ihn, wie eine Nußschale den werdenden Kern, immer fester umschloß, beunruhigte sie sich nach und nach gewaltig. Sie gab sich mit seinem abweisenden Gebaren nicht mehr zufrieden, sie drängte sich ihm mit ihrer ganzen Liebe auf und beschwor ihn, ihr doch zu sagen, was und wo es ihm fehle. Er magere ja immer mehr ab und fange an, bei all seiner hünenhaften Gestalt, so durchsichtig, schwammig zu werden. Sie wolle ihm ihren grauen, vertrauten Doktor von Hochwil kommen lassen. Der werde ihr schon sagen, wo es ihm fehle. Und dann, wenn man einmal wisse, wo das Übel sitze, werde man ihm schon beikommen und es vertreiben, heilen können. Für das wolle sie dann schon besorgt sein mit Leib und Seele und aus 296 allen ihren Kräften. Aber da hatte sie der Bauer so finster, fast unheimlich angeschaut, daß es sie durchschauerte bis in die Zehen hinunter. »Wenn du mir den Doktor kommen lassest«, hatte er sie angeschnörzt, »so sind wir geschiedene Leute.«

Das hatte die junge Frau nochmals still gemacht, ja für kurze Zeit beruhigt. Als es jedoch mit ihrem Mann erst recht nicht bessern wollte, als er nach und nach geradezu dahinzusiechen begann und auch im Betrieb seines großen Hofes immer lässiger, gleichgültiger wurde, bekam sie's mit der Angst. Sie vermutete nun ein schleichendes, ganz böses Leiden in ihm. Und so stand denn eines Tags der graue Hochwiler Doktor doch vor dem Bauer auf Rain mitten in der großen Stube. Da mußte er gute Miene machen, denn er konnte und mochte dem weitbekannten und geschätzten Arzt nicht grob kommen, im eigenen Haus schon gar nicht. Er ließ sich also allseitig untersuchen und ging darnach, ohne aber mit seiner Frau ein Wort zu reden, zu den Stallungen hinüber, aus denen das Bäggen einer hochträchtigen Kuh kam.

Und als nun die junge Bäuerin auf Rain, das Apelluneli, sich vom Arzt auf der steinernen Vortreppe verabschiedete und dabei wissen wollte, was es mit ihrem Manne sei und wo sein Übel stecke, sagte er zu ihrem Erstaunen, dem Hansbaschi Hochrütiner fehle körperlich nichts, es scheine bei ihm alles in Ordnung 297 zu sein, dagegen im Gemüt müsse es irgendwie nicht stimmen, denn wenn er sich nicht ganz irre, so sei das an der Verelendung des Gesamtwesens ihres Gatten schuld. Es dürfe auch nicht so weitergehen, sonst könnte der Wurm, der irgendwo an ihm unsichtbar nage, das starke Gebälk, in dem seine Seele hause, doch noch zum Einsturz bringen.

Diese Auskunft des alten Arztes, die sie so ganz und gar nicht erwartet hatte, erschreckte und verwunderte die junge Frau aufs höchste. Sie nahm sich heilig vor, an ihren Mann zu kommen und in sein innerstes, so rundum als es der Liebe möglich, hineinzuzünden. Wie konnte es sein, was mochte ihn denn in seinem freilich tiefen, aber sonst so geruhsamen Gemüt plagen, was hatte ihn so selbstquälerisch werden lassen? Sie zersann sich den Kopf, aber nein, sie konnte zu keiner Erkenntnis gelangen.

Und als sie ihm nun doch Tag und Nacht anzuliegen, inständig anzuhalten begann, er möchte ihr doch sagen, was ihn plage, denn der Doktor habe ihr zu wissen getan, es müsse ihm irgendwie im Gemüt fehlen, wies er sie meistens barsch, aber etwa auch mit großer Güte, ja Zärtlichkeit ab, über die sie dann erst recht staunen und nachsinnen mußte. Nein, es wollte all ihr Mühen um ihn, ihre Tränen, ihre Liebkosungen nichts bei ihm fruchten. Immer mehr schien er sich zu verschließen, je enger, 298 eindringlicher sie sich an ihn machte. Auch nicht mit einem einzigen Blick ließ er sich ins Herz hineinwundern.

Das machte sie völlig mutlos, denn sie sah ihren Mann zerfallen, an den sie sonst hatte emporschauen können, wie zu einem Berg, wie zu jenem Berg, von dem uns Hilfe kommt, wie sie den Pfarrer einst so schön hatte predigen hören und womit er freilich den lieben Gott gemeint hatte. Und nun, als ihr menschliches Mühen um ihn nichts helfen wollte, blickte sie auch zu diesem Berg Gottes auf und bestürmte ihn mit heißen Bitten um Beistand. Sie versprach eine Wallfahrt nach Maria Einsiedlen, wenn es ihrem Manne bessere oder auch nur, wenn es ihr gelinge, ihm ins Herz, in seine Gedanken ganz hineinzusehen. »Ach«, klagte sie dabei, »wie haben doch diese Bauern Panzer um ihr Inneres und sieht doch alles so hirthemdlich aus. Heilige Maria Muttergottes, hilf mir!«

Nein, der Bauer auf Rain, der Hansbaschi Hochrütiner, konnte sich seiner Frau, die er ja wohl liebte, mehr als Himmel, Erde, Luft und Meer, nicht offenbaren. Um keinen Preis. Eher hätte er sich zerreißen lassen als daß er ihr aufgezeigt haben würde, was in ihm seit jener Jahrzeitfeier zu Hergisau so gefährlich, so schmerzhaft über alle Begriffe schwärte, was seine Ruhe fraß, wie der Graswurm den blühenden Garten und was ihn noch aushöhlen müsse, wie der Holzwurm den starken Balten. Er hatte ja zu 299 Hergisau in der »Roten Traube« vernommen, worauf er sonst ewig nie gekommen wäre, daß seine lieben, so zartfühlenden Verwandten ihm die kleine Witfrau in der Molkerei nur deshalb so überaus eifrig als Haushälterin zugehalten hatten, damit er sie allenfalls statt einer andern heirate, weil sie wußten, daß er von ihr keine Kinder bekomme, weil sie wußten, daß alsdann ihnen oder ihren Nachkommen der Hof auf Rain zufallen würde. Das aber hätte ihn noch keineswegs untergekriegt oder gar zermürbt. Seine Geschwister hatten ihn ja nach und nach dazu gebracht, daß er von ihnen nichts Gutes, eher Übelwollen erwartete, wenn auch nicht gar so weitgehendes, in sein Eigenleben eindringendes. Das alles hätte er nach zäher Bauernart, die für dergleichen grobkörnige Anwürfe des Lebens ein gutes Mühlwerk ist, das ja auch mit Hagelsteinen fertig werden muß, noch ertragen können. Es war dann aber auf einmal aus dieser Saat der Verwandtschaft der Gedanke herausgewachsen, wie ein nicht auszurottendes Unkraut, seine Frau, das Apelluneli, könnte vielleicht die Absicht seiner Geschwister erkannt, ja gewußt und ihn trotzdem geheiratet haben. Es mochte ja wohl auch sein, daß sie ihn dennoch aus Liebe hatte nehmen wollen, denn bis zu jenem Tag in Hergisau hatte er an ihrer Liebe zu ihm keinen Augenblick gezweifelt, alle Eide hätte er auf die Echtheit und Tiefgründigkeit 300 dieser Liebe abgelegt. Nach und nach aber hatten sich die aufgewühlten Gedanken wie Graswürmer auch an diese Blume gemacht, an die Blume ihrer Liebe, und hatten sie zu zerfressen angefangen. Am End war ja doch alles nur Spiel, das Spiel eines argen, abgefeimten Bauernmädchens aus dem Hochland, auch dessen Liebe. Es hieß ja immer, jene Bauern mit den taubensanften Augen bergaufwärts seien hinterhältig wie Luchse, man solle sich vor ihnen nur in acht nehmen, sonst sei man erwischt. Er hatte das nie glauben können, denn in Handel und Wandel hatten sie sich wohl überaus schlau, doch auch durchs Band weg einem einmal gegebenen Wort treu erwiesen. Aber nun seine Frau, das Apelluneli? Nein, er traute ihr nicht mehr, denn gewiß hatte sie wohl gemerkt, wohin seine Verwandten mit ihr bei der Heirat mit ihm zielten. Und ja, wer weiß, sie hatte ihn genommen, auf daß er in die Dornen säe, auf daß die liebe Verwandtschaft zu Bohlishusen und am Rotenbach ihn verspotten und sich eines Tages warm und weich und für allezeit auf seinem schönen Hof einhäuseln und heimisch machen könne. Nein, er brachte diese Gedanken nicht mehr aus sich heraus, so sehr er sich gegen sie immer wieder gewehrt, so sehr er gestrebt und an sich gearbeitet hatte, sich ihrer zu entledigen, sie zu verdrängen und für immer und ewig unschädlich zu machen. Sie waren und blieben in ihm. Und wenn er in einer Stunde 301 fürchterlichen Wühlens meinte, diese peinigenden Gedanken aus zergrübeltem Herzen, wie aufwachsende Sperber, aus dem Nest genommen, erwürgt und in alle Winde für immer zerstreut zu haben, fühlte er gleich darnach wieder all ihre Krallen im innersten und eine dutzendfältige Brut dazu. Er war alledem gegenüber immer widerstandsloser, ohnmächtiger geworden. So hatte er zu kränkeln begonnen und also kam er allmählich herab und wurde müde, giltmirgleich allem gegenüber; das Leben freute ihn nicht mehr. Wohl lag ihm sein Weib in einem fort am Herzen und immer trostloser, unglücklicher. Er sah es nur zu gut, wie sie sich quälte und wie ihre schönen Augen ihren Goldglanz zu verlieren anfingen, immer dunkler wurden. Das tat ihm trotz all seinem Argwohn gegen sie weh und vermehrte seine Unruhe, sein Leid. Aber nein, er konnte sich ihr nicht offenbaren, denn alsdann müßten sie auseinander. Sie müßte fort vom Hof und er hätte also ihr Leben, ihre Hoffnungen, die sie ja wohl auf den reichen Besitz geführt haben mochten, zerstört. Er würde dadurch noch unglücklicher, falls man noch unglücklicher werden konnte. Sollte sie aber von der Absicht seiner Verwandten nichts gewußt haben, noch wissen, so würde sie von seinen Mitteilungen unausdenkbar schwer getroffen werden und sich grämen, daß er ihr so etwas zutraute, ja nachtrug und ins 302 Blut kommen ließ. Und zu Tod müßte sie sich alsdann kränken, daß sie keine Kinder gebären konnte, da sie, wie er ja immer wieder zu sehen meinte, sich so schon deswegen genug plagte.

Eines Tages aber sah der Bauer auf Rain, daß es mit ihm so nicht mehr weitergehen konnte. Er begann, sich immer zerschlagener, apathischer zu fühlen, war zu Zeiten gar bettlägerig, stand zu früh wieder auf und wurde alsdann noch rascher matt und gleichgültig gegen alles was seinen landwirtschaftlichen Großbetrieb anging. Er, der sonst außergewöhnlich kraftvoll dem anspruchsvollen Alltag seines Bauernhofes vorgestanden und nichts außer Augs gelassen hatte. Niemand konnte begreifen, wie das mit ihm unter kurzer Zeit also hatte ändern können. Dabei war der Hansuoli immer grauer, aber auch schwergängiger und übelhöriger geworden, und der Oswald, den der Rainler als Meisterknecht hatte nachrücken lassen wollen, denn der Küher war ein ernsthafter und weitum brauchbarer Mann, hatte doch keinen rechten Mut dazu. Er ließ seine Soldatenmütze immer tiefer herabrutschen, wenn man ihm davon redete und schützte seinen Magen vor, von dem er behauptete, er wäre ihm schon längst zusammengeschmort wie eine Dürrbirne, wenn ihn die Köchin Kresenz mit ihren Geheimmitteln nicht so angelegentlich betreuen würde.

So beschloß denn der Bauer, einen neuen 303 Meisterknecht anzustellen. Als er das aber seiner Frau sagte, stand das Apelluneli entschieden dagegen auf. Sie behauptete, man dürfe den alten Hansuoli ganz gut noch ein Jahr, auch zwei, schalten und walten lassen und alsdann sagte sie, sie selber gedenke sich inskünftig im ganzen Betrieb, auch im landwirtschaftlichen, mehr als bisher anzunehmen. Sie habe ja sowieso nirgends Ruhe. Und als ihr Mann einwandte, daß sie das zu sehr anstrengen werde, sie habe schon jetzt genug zu schaffen, entgegnete sie, das sei eben grad, was sie sich gewünscht habe, daß sie mehr draußen ins Grüne und an die Luft komme. Es werde ihr gut tun und sie hoffe, dabei auch ihm etwas, ja allerlei abnehmen zu können.

Das rührte den Bauer, und er konnte nicht an sich halten, als er seine kleine Frau so aufrecht, so tapfer vor sich stehen sah, bereit, sich seinem Heimwesen ganz zu opfern und ihm womöglich alles Schwere abzunehmen, er mußte sie umarmen. Und er umarmte sie mit aller Inbrunst einer heißen Liebe.

Da hing sie sich aufschluchzend an seinen Hals und beschwor ihn, ihr doch um Gott und aller Heiligen willen endlich einmal zu sagen, was ihn so schrecklich plage und ihn so ganz herunterbringe und sie am End mit ihm. Aber er drängte sie wieder, erst sänftiglich, und als es nicht helfen wollte rasch und unwiderstehlich von sich ab und sagte: »Ich will also den Hansuoli 304 noch ein Jahr behalten, jedoch keinen Augenblick länger. Auch er muß seine Rast auf die alten Tage haben. Du aber darfst mir keinen Spließen und kein Kernlein auf dem Hof mehr anlangen als bisher, Frau. Du übertust dich so schon und«, er sagte es mit mutloser Stimme, »siehst auch immer weniger gut, herbstnebliger aus. Es ist wohl wahr, du solltest künftig mehr an die Luft, aber spaziersweise, und in den Garten, dem du ja so viel angetan hast, und zu den Bienen, die es mit dir so gut können und die uns, wie nie zuvor, die Honighafen anfüllen.«

Da hatte sie sich nochmals innig an ihn geschmiegt: »Hansbaschi, liebster, bester Hansbaschi, sag mir's, bei deiner seligen Mutter Augen sag's mir, was ist's, daß du so drunten bist, was ist's, daß du dich«, sie umhalste ihn weinend, »von mir immer weiter wegschleichst und dich so einsam machst? Red, sag's! Ist's«, und nun wurde sie leise wie ein Läublein im abendlichen Tauwind, »ist's etwa, weil wir keine Kinder bekommen?«

Jetzt wurde es in ihm wie eine mächtige Feuersbrunst. Es wollte hinausschießen, zu Augen und Mund wollte es hinausflammen wie zu den Fenstern eines vom Blitz getroffenen Hauses. Er meinte aufschreien und ihr seinen Jammer wie eine Feuergarbe ins Gesicht schleudern zu müssen. Fast wütend krampfte er sie an sich und stöhnte: »Apelluneli, o Frau . . .« Aber jählings brach er ab, und sein Antlitz wurde 305 dunkel, tief dunkel wie die Nacht nach einem Wetterleuchten. O nein, in Ewigkeit nicht, er konnte, er durfte es ihr nicht sagen, lieber sterben. Er drängte die in höchster Aufregung und Spannung zu ihm aufblickende Frau von sich ab, und nun sprach er mit seiner nun immer so müden Stimme, die aber jetzt etwas so Geheimnisträchtiges hatte: »Frau, tu doch nicht so einfältig, töricht! Laß mich nur meiner Wege gehen. Sei getrost, es wird mit mir schon wieder besser, es kann wohl sein. Ich hab's dir schon oft gesagt«, und nun wurde er fast heftig, »und ich sag's dir, Frau, komm mir nicht noch einmal so, laß mich in Ruhe, es fehlt mir weiter nichts, und wenn wir keine Kinder bekommen«, jetzt aber wurde er leiser und schaute von ihr weg, »so wird das eben in den Sternen geschrieben stehen, wie man so sagt, oder sonstwo.« Mit einem merkwürdigen, fast häßlichen Zug um den Mund sagte er das. »Also sei mir nur ruhig! Und damit du siehst, daß ich es auch für diesen Fall, wenn keine bluteigenen Nachfahren auf den Hof kommen, doch auch mit anderer Leute Kindern recht meine und nicht dünkelhaft denke, wir seien allein auf der Welt und hätten als wohlhabende Großbauern nur unserm Brauch und Bauch zu leben, will ich nun auf dem Raingütsch da oben ein Ferienheim für ältere Dienstboten bauen lassen. Sie sind ja auch einmal Kinder gewesen, und viele davon bleiben es zeitlebens, und 306 alle werden es eben wieder, wenn's ins ewige Vaterhaus heimgeht. He, nicht wahr, ich habe dir ja von dieser meiner Absicht auch schon gesprochen, und du weißt, daß ich damit dem Hof nicht viel wegnehme. Ich hätte es auch getan, wenn eigene Kinder dagewesen wären. Nun habe ich ja dieses Ferienheim für alternde Dienstleute bei den Gemeinderäten von Bohlishusen, Hergisau, Ruslangen und Hochwil und der Enden angeregt, und man ist, wenn auch nicht mit tausend Freuden, drauf eingetreten, als ich ihnen versprach, den Bauplatz samt einem schönen Rundum Mattland und einem Bestand alter Bäume unentgeltlich für den Fall der Erbauung eines solchen Ferienheimes abzutreten. Vielleicht haben sie dabei auch erwogen, daß ihnen ihre bewährten Dienstboten nach wohlbekömmlichen Ferien auch haltbarer werden. Kurz, man ist mit meinem Plan einverstanden. Es handelt sich ja um keinen Palast, aber um ein ansehnliches Gebäude und um eine wohltätige Einrichtung für tüchtige Menschen, die uns Bauern und Dörflern ein Leben lang Knecht und Magd in Treue machen müssen. Was sagst du, Frau, reut dich etwa der Raingütsch und der Fetzen Wald dahinter nicht doch?«

Er schaute ihr bis in ihr Innerstes hinein.

Aber nein; sie sah ihn lieb und warm an, ach so warm. Es wurde ihm wohl wie in einer Föhnwelle im Winter. Sie freue sich dieses Ferienheimes für 307 die Dienstboten, sagte sie, und sie gedenke dem Heim Vorschub zu leisten, soviel ihr etwa zustehe. Man könne ja dann, wenn's ihm recht sei, an dieses Ferienheim auch die Milch billiger abgeben. Am meisten aber freue sie sich bei alledem seines guten Herzens. Sie sei überglücklich im Gedanken, daß sie auf seinen großen Hof habe kommen können, wo sie ihm nun gar helfen dürfe, so etwas Gutes zu tun. Der Hof auf Rain werde dadurch, auch dafür gedenke sie vorzusorgen und sich einzusetzen, keineswegs zu Schaden kommen.

Nach einem ziemlich mißtrauischen, im Tiefen suchenden Blick war der Bauer davongegangen und hatte im Abgang mit spöttischen, fast lachenden Augen gemurmelt: »Das kann jetzt auf unserm Raingütsch oben über dem Hotel ›Alpenblick‹ zu Gerisbüel und dem Restaurant ›Alpenblicker‹ zu Hochwil doch noch der ›Alpenblickester‹ werden, wie der Ludi gemeint hat, dieses Ferienheim.«

Seine Frau aber hatte ihm trostlos nachgeschaut und fast mutlos die Hände gerungen, als er in der Scheune verschwunden war. Ach, wenn's doch Gottes Wille wäre, dachte sie, daß ich ihm helfen könnte! Was mag ihm denn nur fehlen? Es ist fürchterlich, und wer kann's fassen, was diese Bauern für Köpfe haben können. Lieber, lieber Hansbaschi, wenn ich doch das Scheiblein zu finden vermöchte, das in dein Herz geht; denn in den Augen kann's unmöglich sein. Ich bin 308 ja tagaus, tagein davorgestanden und habe hineingesperbert. Wenn uns der liebe Gott doch nur ein Kind schenken täte; das, meine ich, müßte ihn doch ein wenig aufrichten. Ach, wenn ich nur wüßte, wo's dem lieben, guten Mann fehlt! Er wird mir fast von Woche zu Woche älter aussehend, und ich habe so Angst um ihn, so Angst. Heilige Mutter Gottes, heilige Mutter St. Anna und all ihr lieben Heiligen und Märtyrer und all ihr armen Seelen, bittet für uns!«

 

»Also das ist nun dieser Große, dieser Hansbaschi«, sagte der Langhänsel in seinem billigen Laden zur Holzhändlerin, seiner Schwester, die eben zwei Sensen samt Wetzsteinen und Steinfäßchen bei ihm eingekauft hatte, »geht er nicht und tritt den Narren, diesen Torenbuben, die auf dem Raingütsch ein Ferienhaus für alternde Knechte und Mägde errichten wollen, den Boden umsonst ab, ohne einen roten Rappen, Brigitt, und einen Fetzen schlagreifes Holz dazu auch noch. Alles um ein leeres Vergelt's Gott, Brigitt. Ich habe ja schon länger etwas munkeln hören von diesem Ferienheim und von der Absicht unseres Großen; aber ich hab's natürlich nicht geglaubt. So etwas kann doch unsereiner, selbst wenn er noch an den St. Klaus und das Weihnachtskindlein glauben sollte, nie und nimmer für wahr halten, oder nicht? Auch habe ich den Hansbaschi denn doch nicht für so dumm gehalten, 309 daß er das Geld, ja das Geld, unser Geld und Gut sozusagen, einfach für so eine unnütze Anstalt, für eine Faulenzerbude, Brigitt, wegwirft! Die werden sich zu Bohlishusen, Hergisau, Ruslangen und der Enden ins Fäustchen lachen. Ich weiß nicht, was dem Großen in den Sinn gekommen ist, daß er sich von unseres Vaters Heimwesen ein ansehnliches Stück Boden, wenn auch den rainigsten, unergiebigsten allerdings, und aber gar noch Holz, Schwester Holzhändlerin, eine ganze Reihe Trämelholz, hat abschwatzen lassen. Nein, da komme ich nicht nach; so was ist doch, beim Eid, nicht unsere Art.«

»He«, machte trocken die Holzhändlerin, »ein wenig kann ich's schon verstehen, wenn auch freilich nicht so ganz. Ich nehme aber an, der Große werde nun auf einmal so freigebig, weil er keine Kinder bekommt und sehen muß, daß er nur für seine Verwandtschaft auf Rain haust und schafft. Das, meine ich, macht ihn jetzt so gemeinnützig.«

»Ja, sackerlot, daß mir das nicht eingefallen ist«, eiferte der andere; »ja, beim Strahl, das mag sein. So hat er also deswegen angefangen, die Sache, unsere Sache, Brigitt, wenn man's recht betrachtet, zu vertun. Ah, ah, ah! Dem Ludi möchte ich's schon noch gönnen, dem kaiben Lump. Wir würden ihn ja sowieso bei der Erbteilung mit einem Trinkgeld abfertigen; denn ein Trinkgeld würde es bei dem auch dann noch, wenn er 310 eine Torfzaine Gold ebenvoll bekäme. Aber daß der Große unser Gut so schmälert, das kann ich nicht verputzen. Ist doch wohl ein dummer Zottel. Ja, was kann man da machen? Man wird der Sache den Gang lassen müssen. Es ist ja, scheint es, schon die Landabtretung gekanzleiet, und das Ferienhaus wird demnächst gebaut. Nun aber heißt's aufgepaßt, daß uns der Herr Bruder auf Rain keine weitern Streiche und Striche durch die Rechnung macht, sonst, heja, weiß ich schon, was wir zu tun haben. Weißt du was, Brigitt, bevogten lassen wir den Großen.«

Die Holzhändlerin war ja auch nicht zufrieden mit ihres Bruders, des Rainlers, Vorgehen, ja, sie war erzürnt darüber. Was brauchte der Großhans von ihrer Väter Land zu verschenken und gar sich ein Ferienhaus voll mehr oder weniger abgewerkten Dienstenvolks auf den Raingütsch stellen zu lassen. Hingegen so in die Sätze, wie ihren Bruder, den Langhänsel, brachte sie das doch nicht. Sie begriff dessen heilige Entrüstung zwar sehr wohl; denn der Große hatte ihm den Gütsch, den er selber zu gern für die Erbauung eines Kurhauses gehabt hätte, ja, auf den er für seine Töchter sicher und heilig rechnete, so unersinnet vor der Nase weg verschenkt. Das war's eben, was den mehr als genauen, immer, wie die Krähen im Winter, nach einem guten Bissen rundumspähenden Hänsel so scharf gemacht hatte. Darin aber waren sie 311 beide einig, daß es ein unbeschlafener Streich, eine Dummheit, ja eine Ungerechtigkeit ihnen gegenüber von Hansbaschi gewesen sei, von ihres Vaters Gut den so froh und schön in die Welt hinausschauenden Raingütsch mit all seinen Möglichkeiten wegzugeben.

»Am End«, meinte der Langhänsel, »hat uns der Große das zuleid tun wollen, weil er als ein Grübler erster Qualität vielleicht doch herausgemerkt hat, daß wir uns freuen, daß der Storch nicht auf seinem Dache nisten will.«

»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete die Schwester, »daran denkt der Hansbaschi nicht, dazu ist er viel zu vertrauensselig. Freilich wird's ihn genug plagen, daß er auf seinen großen Hof keine Nachkommenschaft in Aussicht hat, und heja«, sie ließ über ihr glattes, hartes Gesicht einen Augenblick aufheitern, »was wir ja am besten wissen können, auch sicher keine bekommt; aber das nun uns anzukreiden, fällt dem Großen nicht im Traume ein. Wohl, warum nicht gar. Er kann ja nicht wissen, daß wir's wissen und was wir hiefür zusammengewerkt haben. Übrigens gefällt mir der Bruder auf Rain schon lange nicht mehr. Er ist nicht mehr der bäumige, kernhafte Mann wie vordem. Irgend etwas ist in ihm los. Er kränkelt. Und letzthin, als ich ihn bei einer Holzgant angetroffen habe, bin ich doch schier erschrocken, so übel hat er ausgesehen; um zehn Jahre ist er mir älter 312 vorgekommen seit dem letzten Frühling auf der Jahrzeit zu Hergisau.«

»Ja, das ist mir mit ihm auch so ergangen«, stimmte der Langhänsel bei. »Er hat sich so verstellt und ist plumper, so auf eine Art schwammig geworden. Wie ein windschiefer Torfschopf ist er am vergangenen Viehmarkt vor der Stadt draußen auf der Allmend gestanden, und dazu hat er die ganze Zeit nur so vor sich hingestaunt, als ob er einen Meineid verwerken müsse. Etwas ist nicht in Ordnung mit ihm. Immerhin, zu meinen gibt's da einstweilen noch nicht viel. Wir Hochrütiner sind zähes Holz, und der Hansbaschi ist der Erstgeborene.«

»Heja, und wir wünschen ihm ja auch alles Gute«, sagte kurz die Holzhändlerin; »er hat's notwendig, daß er gesund und werktätig bleibt. Sein Hof ist groß, und wenn er auch ein tüchtiges Weiblein an der Hand hat, und das hat er, so kann es ein solches Bauerngut ohne einen rechten Meister doch nicht machen. Zudem hat mir die Putzerin Theres gesagt, die ja jetzt für immer auf Rain ist, es wolle sie bedünken, seit der Bauer kränkle und zusammengehe, sei's auch mit dem Apelluneli nicht so ganz mehr im Blei. Es fange so merkwürdig die Farbe zu verlieren an, auch sei sie nicht mehr so völlig umtunlich wie einst, obwohl sie das nicht merken lassen möchte und drauflosgewerbe wie immer. Jedenfalls mache man im schönen 313 Hinterstübchen schon lange keine Musik mehr. Sogar der Melker Wysel getraue sich nicht mehr recht wie sonst, Sonntags und etwa abends seine Handorgel tanzaufspielen zu lassen. Man könne es ja freilich schon begreifen, daß es dem Frauchen zusetze, den Mann so abgehend werden zu sehen, ohne dabei zu wissen, und das sei das Verwunderliche, wo's ihm eigentlich fehle. »Also, Bruder«, machte die Holzhändlerin, »adieu! Der Hansbaschi ist da bei dieser Schenkung des obern Raingütsches ein dummer Hagel gewesen; aber das täte mich nicht zu sehr plagen. Der Gütsch, von dem zudem nur so die Kappe weg ist, ist nicht alles. Es hat auf Rain noch Welt und Weite genug. Wir brauchen deswegen mit unserer Nachkommenschaft auch nicht auf die Bäume zu klettern wie zu Noahs Zeiten; wir können, wenn's uns wohl will – und es will uns wohl, da hab ich keinen Kummer –, alleweil wieder festen Stand gewinnen.«

»Ja, ja«, gab der andere mißmutig, die Schwester zur Ladentüre begleitend, zurück, »aber es wurmt mich doch, ja es ist zum Verwilden, diesen Raingütsch so verschenken zu sehen, den Gütsch, den ich doch sicher und heilig für . . .« Er brach ab, es schien ihm etwas einzufallen. »Also, lebwohl und komm gut heimzu. O, dieser dumme Hansbaschi, so unsere Sache zu verwirtschaften!«

Nein, die Leute im Dorf Bohlishusen unten und 314 allüberall im Land waren völlig anderer Ansicht über die Schenkung des Bodens für ein Ferienhaus als die Geschwister des Rainlers, von denen es der Chemifeger am leichtesten nahm. Sie freuten sich und lobten den Hansbaschi Hochrütiner so viel sie konnten. Es wunderte sie und tat ihnen wohl, daß ein Nachkomme der gar haushälterischen Herrenbauern auf Rain, ein Bruder des geizigen Langhänsels und der fast ebenso rappenspalterischen Holzhändlerin Brigitt Anderbalm, sich so gemeinnützig zeigte. Man konnte das fast nicht fassen. Und als nun das Ferienheim für Dienstboten eines Tages wirklich auf dem Raingütsch stand und weit in die Lande bis auf den See und die nahen Alpen hinschaute, konnte es sich die Bohlishuser Feldmusik nicht versagen, dem Hansbaschi Hochrütiner auf seinem Hof, unter Anteilnahme der Bevölkerung des Dorfes und besonders aller Dienenden, ein Abendständchen zu bringen und ihm so zu bezeugen, wie sehr man seine Wohltätigkeit zu schätzen wisse.

Als der Bauer auf Rain aber einige Zeit darnach einer Abordnung Arbeiter der Baumwollenfabrik vor dem Dorf Bohlishusen versprach, er wolle ihr Ansuchen um ein Stück Land für billige Kleinbauten bedenken und er sei nicht abgeneigt, ihrem Wunsche nachzukommen, stand den Leuten der Verstand schier still. Sie konnten es einfach nicht glauben, daß ein Bauer, wenn's nicht grad ein Bußgelübde zugunsten 315 einer Kirche anging, so freigebig zu werden vermöchte, sich von seinem Heimwesen einen doch ziemlich umfänglichen Strich Landes gutwillig und gar spottbillig dazu abtrennen zu lassen. Was fiel denn diesem Hansbaschi Hochrütiner ein? Wie kam er dazu, etwas so Ganzungewohntes zu tun? Er, sonst in allem ein Bauer von altem Schlag, sollte nun hierin ein völlig anderer sein als seine bäuerlichen Landsgenossen, die jeden Schuh Boden, den sie etwa für eine Straße an die Gemeinde abgeben mußten, mit Gold überlegt haben wollten, denen in solchen Fällen jede Erdscholle ihres Grund und Bodens so kostbar wird, daß es scheint, sie ständen am liebsten, wie ein Reiher auf einem Bein, zeitlebens drauf. Nein, man verstand diesen Rainler nicht. Er hatte wohl ganz besondere Gründe, mit seinem Land, wovon er ja allerdings ein kleines Fürstentum zu eigen hatte, so freigebig, oder wie die nachbarlichen Bauern dachten, so leichtsinnig großtuerisch umzugehen. Man machte sich aber auch unter den andern Leuten, besonders unten im Bohlishuser Dorf, Gedanken über die Beweggründe der Spenderfreude des Bauers auf Rain. Also kamen viele dazu, daß sie sagten, der Hansbaschi habe eben keine Kinder und allem Anschein nach bekomme er auch keine, wie ja seine Verwandten immer sagen. So werde er's mit seinem Hab und Gut eben nicht mehr so genau nehmen, und man könne das ja auch 316 verstehen. Er müßte ja närrisch sein, wenn er für die lachenden Erben, den wohlhabenden Krämer und Geschäftleinmacher Langhänsel zum billigen Laden und die hoffärtige Schwester Holzhändlerin in der Wydlen, einfach den Meisterknecht auf Rain machen würde. Jedoch es mochte am Ende nur so eine Ausrede vom Bauer sein, als er zu den Arbeitern sagte, er wolle sich ihr Ansuchen überlegen. Wenn's drauf und dran kommt, dachten die Leute, besinnt er sich doch anders, denn Erben hin, Erben her, das weiß man ja im ganzen Land: ein Bauer hat nie zuviel Boden, sobald er davon etwas abgeben soll.

Wie war man aber weitherum, besonders die Dörfler, freudig überrascht, als es hieß, der Rainler habe nicht nur einen ansehnlichen Umschwung Boden von seinem Gut an die Arbeitergenossenschaft von Bohlishusen für die vorgesehenen Kleinbauten abgetreten, er habe ihn auch ganz und gar geschenkt.

Das war weit mehr als man erwartet hatte. Es handelte sich ja freilich um sauren Boden, den die Arbeiter bekommen hatten, um fast den dritten Teil des großen Riedes, das sich um den ansehnlichen Weiher, das Rainseelein, und gegen das Dorf hinzog. Aber der Bauer hatte der Genossenschaft die Entwässerung des überladenen Grundstückes auf seine Kosten zugesagt, so daß die Fabrikarbeiter bis in ein paar Jahren auf einem annehmbaren Grund sitzen 317 und in ihren kleinen Gärten alle möglichen Gemüse und Zwergobstbäume ziehen könnten.

Wie freute die Werkleute der Baumwollenfabrik diese vornehme, große Schenkung! O, da hatte man nun endlich das heimlich von Kindsbeinen an ersehnte Eigenheim in Aussicht. Man kommt sogar zu einem Garten. Und wenn das alles auch klein sein wird, so kann man sich dann immerhin in seinem Eigenen so recht zu Hause, auf seinem Stuhl oben am Tisch König, Zaunkönig ja, aber doch König fühlen. Man wird endlich am Feierabend einen Schritt vors Haus tun können, ohne gleich auf anderer Leute Boden und ihnen sozusagen überall auf die Hühneraugen zu treten. Die Arbeitergenossenschaft schickte nun ihre Abordnung wieder auf Rain, aber dasmal mit einer Dankesurkunde, die eines ihrer Mitglieder, das gut zeichnen konnte, gemacht hatte. Sie zeigte ob den gedruckten Dankesworten den hl. Martin, wie er seinen Rock mit dem Schwert teilt und die eine Hälfte einem halbnackten Armen am Weg schenkt. Auch die Dorfleute zu Bohlishusen, vorab die Handwerksleute, hatten ihre Freude an der schönen Vergabung, denn nun gab's wieder zu bauen und alles konnte dabei etwas verdienen, sogar der Langhänsel, der ja in seinem Laden auch Eisenbeschläge für Fenster und Türen feil hielt. Selbst die Holzhändlerin vom Rotenbach, als die Schwester des Bauers auf Rain, 318 wird gewiß der Genossenschaft Bauholz liefern können.

Hingegen der Langhänsel Hochrütiner und seine Schwester Brigitt in der Wydlen waren über diese Belieferungs- und Verdienstmöglichkeiten anläßlich des Baues der Genossenschaftshäuschen keineswegs entzückt. Ganz im Gegenteil regte diese zweite Schenkung Bruder und Schwester, ja selbst den Ludi Hochrütiner, also auf, daß sie sich in ihrem ersten Zorn nicht zu lassen und zu fassen wußten. Sie schimpften und wetterten über den himmeltraurigen Verschwender auf Rain drauflos, daß es von allen Ecken und Enden der Dorfschaften Bohlishusen, Hergisau, Ruslangen, Hochwil und noch weitherum, bis in die Stadt am Bergsee hinein Echo gab.

Der Langhänsel wieherte und tat geradezu vor Empörung wie ein Roß, dem man den Haber vor dem Maul wegnimmt, und die Holzhändlerin Brigitt, die sich sonst wohl besann, bis sie ein Wort zu reden gedachte, und die es dann meistens erst recht für sich behielt, gab dem Bruder Hansbaschi Titel, die in einem Narrenhaus, selbst in einem Zuchthaus Aufsehen erregt hätten. Am schlechtesten kam die junge Frau auf Rain, dieses Schloomaitli, dieses armselige Täschlein, wie sie so sagte, weg, denn sie war es ja sicher und heilig, die den Großen, diesen gutmütigen Laffen, zu dergleichen Narreteien verleitete. »Dieses 319 Flünklein will eben die Großartige, die gute Frau spielen«, schimpfte sie, »indem sie das Hab und Gut vertut und vergeudet, das ihr ja gar nicht gehört, in das sie nur durch die Gnade der Verwandten ihres Hansbaschis hat hineinsitzen können.«

Dabei ärgerten sich Bruder und Schwester blutig, daß ihre Töchter und Söhne an ihrer haushohen Entrüstung so gar keinen Anteil nehmen wollten, daß sie sogar fanden, ihr Oheim und die kleine, nette, immer so freundliche Base auf Rain haben recht gehandelt. Der Vetter habe ein gutes Werk getan, sowohl am Ferienheim auf dem Raingütsch als auch mit der Landvergabung an die Fabrikler, und es wäre gut, wenn sich andere Leute ein Beispiel an ihm nehmen würden, hatten sie ihnen ins Gesicht zu sagen gewagt.

Der Langhänsel hatte seinem Roseli eine Ohrfeige gegeben, als es ihm das sagte, und die Holzhändlerin nannte ihren altern Sohn Ferdi, den Rekruten, der ihr anempfahl, auf einen solchen Bruder stolz zu sein, einen Torenbuben, der nicht zu wissen scheine, daß man Boden notwendig habe und viel Boden, wenn man drauf Brot und aber auch die Butter dazu machen wolle. Auch sagte sie zu ihm, daß nichts in der Welt einem so ein Hochgefühl und so rundum Ellbogenweite gebe, wie ein großer Bauernhof. Ihr wäre kein Hof zu groß, selbst wenn er über alle Berge hinaus und bis ans Meer ginge. Nur der Alex hörte 320 einigermaßen auf seiner Mutter Klagelieder, wenn er an deren Ton auch keinen Gefallen fand. Sie ereiferte sich eben doch um das Land, das, und zwar zum zweitenmal, vom Hof wegkam, den sie für ihn vorgesehen hatte und der ihm auch wohl nach des Vetters Tod zukommen wird.

Während man aber zu Bohlishusen aus dem Staunen über diesen weißen Raben auf Rain fast nicht herauskam und den Hansbaschi Hochrütiner in den Gemeinderat und Kantonsrat wählen wollte, was er aber rundweg ablehnte, weil ihm hiefür die Zeit mangle, ließen seine Geschwister im ganzen Land das Gerücht umgehen, sie wollen beim Gemeinderat beantragen, daß man ihren Bruder auf Rain wegen Verschwendung bevormunde. Er müsse einen Vogt haben, sagten sie, sonst verwirtschafte und verschenke er noch seine ganze Welt, ihr Vaterheimwesen, zu dem sie doch, da er ja keine direkten Erben zu erwarten habe, auch noch etwas zu sagen hätten.

Das sollte nun eine Kanone sein, deren Knall und Widerhall im Land herum den Großen auf Rain erschrecken und von allen künftigen Stiftungen in diesem Ausmaß und wohl auch von andern Torheiten nach der Richtung für immer abhalten würde. Ihr liederlicher Bruder, der Ludi, der mehr um sich wichtig zu machen und sich als Abkömmling des Hofes auf Rain so recht ins Licht zu setzen, über den Bruder 321 schimpfte, war dazu bestimmt, diese Absicht Langhänsels und der Brigitt in der ganzen Gegend bekannt zu machen, also die große Kanone abzubrennen. Sie gaben ihm zu diesem Zwecke, wie er das ausdrückte, die nötige Munition. Eine Handvoll Saufgeld, wie es hingegen seine Geschwister nannten.

Damit machte er nun in allen Wirtschaften die Runde, wobei er ja zugleich seine Kundschaft besuchen und also, wie er allerwärts lachend verkündigte, das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden konnte. Da ihm aber des Hansbaschis Schenkerfreude, soweit sie andern zugut kam, im Grunde genommen gleichgültig war und weil er auch in sich eine großartige Spenderlust, aber freilich nur für sich, hatte, wurde er den Absichten seines Bruders und seiner Schwester keineswegs gerecht. In den ersten paar Wirtschaften tat er noch mit einer gewissen Wärme die Botschaft von der allfälligen Bevormundung des Fürsten auf Rain, wie er so sagte, kund, aber allmählich vergaß er ganz, für was er die Runde in den Wirtschaften und Kneipen zu Bohlishusen, zu Hergisau und andernorts machte. Indem er nun seine Handvoll Silber versoff, pries er den Wein seiner Großhandlung an und suchte den gelangweilten, etwa auch angeekelten Wirten allüberall zu erklären, wie sehr ein jedes Weinlein, das er vermittle, ein auserlesener, gottgewollter Tropfen sei und wie diese Weine 322 mit glänzendem Erfolg nicht nur alle nationalen und internationalen Ausstellungen, sondern auch die Analyse der hervorragendsten Chemiker passiert hätten.

Im Volk wurde aber die Nachricht, daß seine Geschwister den Hansbaschi Hochrütiner auf Rain zu bevogten gedenken, sehr ungut, ja mit Entrüstung aufgenommen. Man schalt den Langhänsel und die Holzhändlerin in der Wydlen eine habsüchtige Bande, die nie genug bekomme. Es fiel keinem Menschen ein, zu glauben, daß es auch nur von ferne zu einer Bevormundung des Rainlers kommen könnte. Ja, der Präsident des Waisenamtes zu Bohlishusen sagte es offen am Wirtstische, zwischen Kartenmischen und Austrumpfen, der Lange im billigen Laden und die Dicke am Rotenbach sollten ihm nur kommen und von so etwas reden wollen, er werde ihnen dann schon sagen, was des Landes Brauch sei und ihnen den Marsch gehörig machen.

Alle Leute aber meinten, es sei doch ewig schade, daß dieser Hansbaschi Hochrütiner keine Nachkommen von seinem eigenen Leben und Blut in Aussicht habe. Es würde sie schon deshalb freuen, wenn er Kinder hätte, weil dann der ewig auf einen guten Schick lauernde Langhänsel und die harthölzige Brigitt Anderbalm in der Wydlen der schönen Erbschaft auf Rain nachsehen müßten. Ein Schalk meinte gar, der Langhänsel, der so schon sein Gesicht, samt borstigem Pinsel, 323 herabhängen lasse wie ein alter Ziegenbock, würde dann vor Ärger auch noch die menschliche Stimme verlieren und nur noch meckern können, und die Dicke in der Wydlen täte einfach versteinern, sodaß man sie an den Weg auf die Allmend als Brunnenstock setzen könnte. Der graue Heizer aber in der Baumwollenspinnerei warf es dem Ludi ins Gesicht, als er ihm begegnete, er solle sich schämen, von einer Bevogtigung seines Bruders auf Rain auch nur ein Wort zu reden. Da sei nun endlich ein Bauer, der andern Leuten auch einen Schuh Boden mehr als nur fürs Grab gönnen möge. Das sei doch, beim Eid, ein Wunder, wenn man bedenke, daß diese Zipfelkappen die Erde sonst ganz allein für sich haben wollten, und zwar bis in den Himmel hinauf und in die Hölle hinunter. Es tue ihnen allweg leid genug, daß sie nicht auch noch in der Luft, ein jeder um die Grenzen seines Gutes, einen Hag machen und so den Luftschiffern den Paß verlegen und einen Durchgangszoll abknöpfen können.

So fand denn die Auskündigung einer Bevormundung des Bauers auf Rain nirgends im Land eine willige Aufnahme, auch bei den Bauern nicht. Übrigens glaubte niemand, daß diese Bevogtigung im Ernst gemeint sei. Es kam den Leuten schon in den Sinn, daß man mit diesem Gerücht nur die Geberfreude des Hansbaschi Hochrütiner von Seite 324 der so wenig zutunlichen Geschwister ein wenig einhagen möchte.

Der Rainler aber lachte nur müde, mäßig verdrossen auf, als man ihm das angebliche Vorhaben seiner nächsten Verwandten kundgab. Er verstand sie jetzt ganz gut. So sagte er denn zu seinem Altersgenossen, zum Seckelmeister von Bohlishusen, der dem steuerentrichtenden Bauer von dem Gerücht gesprochen hatte, einfach: »Schau, Franz, es freut mich natürlich nicht, daß meine Geschwister im Land herum haben gehen lassen, sie werden mich allenfalls bevogten. Was sie aber damit wollen, weiß ich, und es ist nicht schön, nicht recht von ihnen. Es soll mich jedoch weiter nicht plagen. Auch will ich's den Herren Brüdern und der zärtlichen Schwester am Rotenbach nicht zu sehr verübeln, obwohl ich mir's freilich hinter die Ohren geschrieben habe. Es ist eben, scheint's, ein jeder wie er ist, und mein Bruder Hänsel und meine Schwester am Rotenbach sind gewiß tüchtige Geschäftsleute. Sie halten die Faust fest auf dem Sack und wenn sie selbe doch aufmachen, so ist's zum Hineingreifen in anderer Leute Säcke. Es ist ein scharfes Wort, was ich da rede, und früher wäre ich jedem wüst gekommen, der mir von meinen Allernächsten sowas behauptet hätte. Ich habe ihnen, bei all ihrer Eigensucht, doch noch mehr Herz zugetraut. Heute fallen mir ein wenig, wenn ich an sie denke, Josef und seine Brüder ein und es 325 ist mir dann, man versenkte mich auch am liebsten in einer Grube, aus der ich aber nicht mehr herauskönnte. Sage ich zuviel? Es täte mir leid. Ich kann eben in Hänsel und in der Schwester nur noch kalte Händler sehen. Alles, was nicht Geschäft heißt, zählt bei ihnen nicht. Vom Ludi rede ich überhaupt nicht. Ein Bruder ist ihnen allen dreien wie ein fremder Hund vor der Tür im Winter, aber ja, für die eigenen Katzen in der Stube haben sie noch Ofenwärme in Hülle und Fülle. Also wollen wir sie machen lassen. Gerade gescheit haben sie übrigens nicht daran getan, daß sie ausgaben, sie wollen mir einen Vogt setzen. Obwohl sie sicher drauf rechnen, nach meinem Ableben nochmals auf Rain zum Erbteilen zu kommen, so ist doch auch eine Frau da, und sowieso weiß man nie genau, wo der Vogel am End noch hinfliegt, auch wenn er die Richtung gegen Abend nimmt.«

Der Seckelmeister von Bohlishusen, der ja keineswegs das Gelübde ewigen Schweigens abgelegt hatte, erzählte also des Rainlers Antwort beim nächsten Kreuzjaß im Wirtshaus zum »Blauen Falken«.

So dauerte es nicht lange, bis auch der Langhänsel und die Witfrau in der Wydlen von diesem kurzen Bescheid Wind bekamen. Der Krämer und Kleinspekulant zum billigen Laden, der sich immerhin warm in der Wolle sitzen fühlte, nahm diese Antwort seines Bruders auf Rain, die etwas rätselhaft tönte, zwar 326 mit vielem Unbehagen auf, aber er sann ihr weiter nicht nach. Bei einigem Nachdenken glaubte er daraus schließen zu dürfen, daß dem Großen ihre Drohung mit einer Bevormundung doch Eindruck gemacht habe und daß er jetzt nur so tue, als ob er nicht viel drauf gebe. »Auf jeden Fall«, sagte er zu Seraphine, seiner Frau, die an seinen Augen hing wie an der Angel, »der Hansbaschi kann jetzt da so tun und den Sorglosen uns gegenüber spielen wie er will, es hat ihn doch getroffen. Er wird sich nun schön hüten, ein drittes Mal von unseres Vaters Heimwesen, das uns ja doch zukommen muß, auch nur nagelsgroß Grund und Boden zu verschenken. Mit seinem Weiblein aus dem Schloo, so gewixt es ist, werden wir schon einig. Wenn wir sie alsdann auch nicht davonschicken können wie die Dirne vom Tanz, wie's einst zu Vaters Zeiten noch Gesetz gewesen wäre und es jetzt leider nicht mehr ist, so muß sie doch ab dem Hof und das Silber, das sie dann davonträgt, soll ihr nicht zu schwer werden. Kurz, ich wünsche dem Großen nichts Böses, aber ich und er müssen es nehmen wie's kommt. Also warten bringt mancherlei im Garten.«

Brigitt Anderbalm, die Schwester in der Wydlen aber, der ihr Bruder Ludi, in der Hoffnung auf ein paar Gläschen echten Kirsches vom Rotenbach und auf einen Fünffränkler Weggeld, des Rainlers Antwort auch mitgeteilt hatte, regte sich darüber erst recht 327 nicht auf. Sie war ganz der Ansicht Langhänsels. Auch sie glaubte bestimmt, die Botschaft von der Bevormundung habe den Hansbaschi doch gewarnt, sie werde ihn vorsichtig werden lassen. Der jungen Frau ihres Bruders auf Rain wegen, des Apellunelis, dieses unfruchtbaren Äckerleins wegen, machte sie sich schon gar keine Gedanken. Wohl, die wird froh sein, falls der Große mit Tod abgehen sollte, wenn sie eine schöne Aussteuer und einen Sack voll Bargeld davontragen kann. Sie freute sich sogar des umtunlichen, ankehrigen Weibleins, von dem ein wahrer Segen auf dem Hof auszugehen schien, obwohl nun der ja sonst auch umsichtige und starke Bruder sich der Sache nicht mehr wie früher annahm, wie man hörte. Es wurde wohl nie besser gewirtschaftet auf Rain. War man früher zu knapp, zu eng, ja zu ängstlich gewesen, besonders allem Neuem gegenüber, so hatte sich das auf dem großen Hof schon lange geändert. Es war unglaublich, was nun, wie ihr die Putzerin Theres sagte, allein aus der Hühnerfarm und aus den Gemüseplätzen gezogen wurde. Und dabei handelte es sich ja um Nebensächliches. Auch hatte sie selber gesehen, wie nun das Vieh eine ganz andere Vorstellung machte. Man hatte es einst doch zu sehr vernachlässigt. Jetzt weidete im Herbst immer noch ein Gehüt wohlgeratener, durchgängig braunrassiger Kühe mit Glinglanggleiren auf den Hausmatten des 328 Hofes, und das Rainhaus mit seinem Türmchen schien viel zuversichtlicher und unternehmender über die Landschaft hinwegzusehen als zu Vaters und Großvaters Zeiten. Nein, und jetzt mußte man auch nicht mehr, wie in ihren Kindertagen, befürchten, auf dem Hof in irgendeinem Jaucheloch umzukommen. Also, was auch diese weidliche Frau mit fortnehmen würde, der Hof wird es gar wohl aushalten, denn sie hatte ihn, zusammen mit der Tatkraft ihres Mannes, der ihr so ziemlich in allem zu Willen war, erst recht ertragreich, ja ungeahnt ergiebig zu machen verstanden. Übrigens, sagte sich die Holzhändlerin, will ich dann bei einer allfälligen Teilung auf Rain die Augen schon offen behalten, vor allem dem Hänsel gegenüber, der mir den Hof für meinen Alex wohl so weit als möglich im Preis heraufzuschrauben versuchen wird. Nun, sie fühlte sich auch diesem Bruder, wie jedermann, gewachsen. Wenn's dann halt zur Teilung kommt . . . Nein, an dem war's ja einstweilen doch noch nicht, obwohl es, allem Berichten nach, mit dem Großen immer mehr gesundheitlich abwärts ging. Er kam ja nicht einmal mehr nach Bohlishusen herunter zur Kirche. So scheu sei er geworden, seit er so zusammenzufallen anfange, daß er nach Hergisau zum Gottesdienst gehe. Auch mit seiner Frau, mit dem Apelluneli, soll's nicht in Ordnung sein. Das hatte sie vom Melker Wysel erfahren. Man habe den Doktor kommen 329 lassen, hatte er zu berichten gewußt, denn die Meisterin auf Rain sei bettlägerig und man sehe sie die letzte Zeit nicht mehr viel. Nun, das ließ sich schon verstehen, bei einem so närrisch weichmütigen Feinerlein, wie's dieses Apelluneli, bei all seinem sonstigen energischen Tudichum, innerhalb doch sein mochte. Die kinderlose Frau wird sich eben um ihren Mann, der immer mehr mit Abgang handelt, ängstigen, dachte die Holzhändlerin, wie's ja unsereiner in gleichen Schuhen auch täte. Sie wird halt mit Sorge dran denken, daß sie eines Tages allenfalls vom Hof müsse und wie's ihr darnach wohl ergehen möchte. Ja, ja, das Glöcklein auf Rain kann halt eines Tags, ehe man's denkt, wieder einmal Stimme bekommen.

Nein, auf Rain war gewiß nicht mehr alles in Ordnung. Der Bauer Hansbaschi Hochrütiner machte sich immer mehr aus den Leuten heraus; sogar seine Knechte mußten ihn oft mangeln. Er war nun so viel bei seiner Frau, der's offenbar gar nicht gut ging. Man bekam sie weder im Stall, noch im Feld, selten einmal im Garten zu sehen. Und das wollte etwas heißen. Der Hansuoli hatte die liebe Not, seinen Pflichten nachzukommen oder nachzuhinken, denn die Knechte, die ihm, solange er die kleine, festauftretende Meisterin hinter sich hatte, bisher immer wieder zu Willen gewesen waren, fingen nun an, bockig zu werden. Sogar der Küher Oswald tat nicht mehr 330 ganz so zuverlässig wie sonst. Er hockte mehr bei der Kresenz in der Küche als notwendig und erträglich erschien. Dabei redete er sich immer auf seinen Magen heraus, der eben schwächer werde und dem nichts mehr anschlagen wolle, sodaß der Wysel eines Tages unten im Dorf in der Molkerei lachend ausrief: »Es ist auf Rain bald alles übelzeitig und klagmarterisch, Mannsleute und Weiber. Nur ich bin noch fest am Stecken und gut bei Appetit. Ein Roß mit samt seinen Hufeisen möchte ich auffressen!«

Immerhin, es ging noch an. Aus dem Geleise, wie nach dem Tod der ersten Frau des Rainlers kam eigentlich nichts. Das Schlooapelluneli hatte Knechte und Mägde eben ganz anders in Gang gebracht. Und das Auffallende war, daß sich die Mägde bald wieder ganz gaben und einstellten, als wäre die Meisterin keinen Augenblick von ihnen weggegangen. Ja, es sah ganz aus, als ob sie noch mehr dran täten als sonst, auch waren sie mit einemmal so still, ja versonnen, was die Knechte hochgradig wunderte. Nur das Saubethli lachte und jauchzte alle Ecken und Enden des Hofes auf Rain aus, wie immer.

Auch die Leute zu Bohlishusen, unten im Dorf, beunruhigten sich allmählich bei den bedenklichen Nachrichten, die man vom Rainhof herab bekam.

Vom alten Arzt, der jetzt von Hochwil her in seinem Auto zuweilen auf Rain hinauffuhr, vernahm man 331 nichts. Es war gerade, als hätte man ihm droben im Rainhaus ein Schlößlein an den Mund gehängt. Nur einmal, als ihn der Ludi am Weg frug, was denn eigentlich auf Rain los sei, antwortete er, mit dem Bruder sei's gar nicht in Ordnung, er falle immer mehr aus der Hose, und seine kleine Frau aber könnte am End eine Infektion gehabt haben.

Diese Auskunft vertrug alsdann der Chemifeger in allen Wirtschaften herum. Dabei sagte er, daß es seinem Bruder, dem Großen, zwar ganz schlecht ergehe, daß jedoch möglicherweise seine Schwägerin, dessen junge Frau, ihm bald nachfolgen müsse, denn wenn eine so eine Infektion, vielleicht von einem giftigen Insekt oder so habe, so sei das grad als hätte sie den Tod als Zimmerherrn ins Haus genommen. Es gehe dann vielleicht schleichend, wie bei einer Schnecke, aber sicher und gewiß dem Grabe zu. Es sei daher mehr als verrückt, was letzthin das Saubethli in der Bärenmetzg erzählt habe, als sie mit dem Karrer Karlima eine Sau ins Dorf hinunter gefuhrwerkt habe. Nämlich, es sei zum Lachen, sagte der Ludi, diese Einfalt von einer Sauhirtin habe erzählt, sie habe vor einiger Zeit mit eigenen Ohren eines Abends, als sie einem verlaufenen Schwein hinterm Rainhaus nachgegangen sei, die Klarinette blasen hören, und zwar in der schönen kleinen Hinterstube. Das sei ihr ganz kurios vorgekommen, da kein Mensch von dort 332 seit langem einen Ton hätte vernehmen können. Wie sie nun überrascht zum erleuchteten Fenster hinaufgeschaut habe, sei sie vor Verwunderung fast über ihre Sau gefallen, denn der Meister sei im Licht gestanden und habe die Klarinette gespielt. Und es sei zum Auseinanderfallen gewesen, denn auf einmal habe er gar zu seinem eigenen Spiel zu tanzen angefangen. Es sei ihr ganz ungeheuerlich vorgekommen, den Bauer so zu sehen, der einem wohl ein Jahr lang keinen Blick mehr habe gönnen mögen. Ja, sie habe sich fast gar geschämt, daß ein sonst so ernsthafter und dazu noch kranker Mann so den Hollediho habe machen können. Sie stehe aber dazu, daß er's gewesen sei und lasse sich das von keinem und keiner ausreden.

Niemand wollte dem Saubethli diese Tanzgeschichte glauben, nicht einmal der Melker Wysel. Der Oswald gar, der Kuhhirte kratzte sich während der Erzählung Bethlis unter der blaugrauen Soldatenmütze und sagte, er halte dafür, daß die Saumagd von irgendeinem oder einer besprochen und verhext worden sei. Es habe ihr's einfach jemand angetan, so daß sie jetzt Gespenster sehen könne. Die Leute aber schüttelten die Köpfe und lachten das Bethli weidlich aus. Sie sagten, das könne schon deswegen keine wahre Geschichte sein, weil den Bauer Hansbaschi Hochrütiner noch kein Mensch habe tanzen sehen, nicht einmal 333 auf seinen beiden Hochzeiten, da er eben gar nicht tanzen könne. Es wäre höchstens möglich, daß der Bauer wie toll herumgesprungen sei und sich also aufgeführt habe, weil er von seiner Krankheit her und erst recht über seiner Frauen zunehmende Unpäßlichkeit nach und nach auch noch sich hintersinne und um den Verstand bringe. Es wäre ja gerade kein Wunder.

Dieser Ansicht waren nun auch seine Verwandten zu Bohlishusen und am Rotenbach. Der Langhänsel und die Brigitt, die innerhalb keineswegs trostlos, sondern fast wohlauf wurden bei diesem Geschichtlein, taten nun vor den Leuten höchst bekümmert, denn sie hielten dafür, es gebe auf Rain, noch bevor man's eigentlich erwartet hätte, eine große Änderung. Der Langhänsel ging nun immer hängenden Kopfes, wie ein schwermütiger Geißbock, im Dorf herum, und seine Frau Seraphine tat es, auf Wunsch ihres Mannes, allen Kunden, die in den Laden kamen, zu wissen, wie sehr man die traurige Lage der Verwandten auf Rain, ihre so bedenklichen Krankheiten beklage und wie hart es wäre, wenn der liebe, gute Schwager Hansbaschi so früh sterben sollte oder gar noch in ein Irrenhaus versorgt werden müssen, und wie man auch seine Frau, die ja auch immer übelzeitiger werde, bedaure, daß es nicht zum Sagen sei.

Niemand aber wollte zu Bohlishusen und der Enden so recht an die heiligscheinige Kümmernis dieser 334 nächsten Verwandten des Bauers auf Rain glauben, nicht einmal deren Kinder. Da nahm man schon eher des Ludis versoffenes Antlitz für echt, das, obwohl es aussah wie ein verwaschenes Bachbett, bei des Saubethlis Geschichte über und über aufheiterte. »Heja«, hatte er dazu gesagt, »es mag wohl sein, daß das Saubethli unsern Großen hat musizieren und tanzen sehen, denn es täte mich nicht einmal wundern, wenn so ein blutjunges Bethli die Grabsteine im Friedhof tanzen sähe. Es mag aber auch wohl sein, daß der Bruder Hansbaschi streckenweise verrückt geworden ist, denn wir sind es ja alle, nur mehr oder weniger.« 335


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