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Ein schöner, herbstlicher Sonntagnachmittag. Irgendwo ist ein Läuten, wohl in der Ferne. Vielleicht kommt's gar von der nicht zu entlegenen Stadt am See her. Es ist ja so föhnheiter und die Alpen sind gar nahsichtig und spätherbstgoldig.
Bedächtig, in tiefes Sinnen versunken, schlenderte der Hansbaschi Hochrütiner, der Bauer auf Rain, von seinem hochgestellten Haus weg, an der gewaltigen, langen Scheune vorbei und allmählich hinab gegen das Rainseelein, das an einer sanft abfallenden Halde in das große Riedland hineingebettet ist. Er wollte, wie er sich vorgenommen hatte, nachsehen, wie's mit der Streue, die gestern gemäht wurde, stehe, denn morgen sollte sie, wenn immer möglich, zu Tristen aufgebaut werden.
Es war gleichwohl nicht die Streue, die ihn aus seiner heimeligen Hinterstube gezogen hatte, in der er zuerst eine Weile die Klarinette spielte und alsdann sich mit der Lesung eines Buches durch die sonntägliche Langweile zu helfen trachtete. Nein, es war nicht gegangen, er hatte das Buch weglegen müssen 156 und die hintere Stube, sonst seine Zuflucht und Freistatt, war ihm heute so unsäglich leer, so von allen guten Geistern verlassen vorgekommen.
Und nun schritt er gar bedächtig, als ob ihn eigentlich jeder Schritt reute, gegen den kleinen See oder großen Weiher im Moorland hinunter, der ihm mit freundlichem Blauauge durch den Obstwald herauf entgegenzukommen schien.
Ein Weilchen war ihm das wunderfitzige Seppeli, die kleine Nichte der alten Zille, hinterrücks nachgeschlichen, denn es wunderte sie, was der Meister habe, daß er ein so trauriges, verdrossenes Gesicht mache und wo er wohl hingehe. Als er sich aber einmal umschaute, freilich ohne sie gewahr zu werden, blieb sie zurück und gesellte sich wieder der zwischenzeitlichen Stubenmagd Theres zu. Und als das immer größer werdende, schmale Kind nun bei dieser im Garten saß und erzählte, wie der Meister so betrübt dreinschaue, den Kopf hängen lasse und wie ein Nachtwandler gegen den großen Weiher am Rain fürbaswandere, lachte die Teeres zu Seppelis Überraschung nur auf und sagte so vor sich hin: »Kind, das hat weiter nichts zu sagen, der Meister hat halt lange Zeit und dazu Heimweh nach irgendetwas, ich weiß schon nach was.« Da wurde das Seppeli ganz still und begann angelegentlich darüber nachzudenken, nach was der Meister wohl Heimweh haben könnte.
157 Hie und da fiel dem nidsichgehenden Bauern schon ein frühwelkes Blatt auf den unbedeckten, ein wenig angegrauten Kopf, auch zertrat er ein paarmal abgefallene Walnüsse. Er beachtete das nicht im mindesten. Er hatte jetzt allerlei anderes zu denken. Der alten Zille, die er vor einigen Tagen, anläßlich eines Geschäftes, in der Stadt besuchte, ging's gar nicht besser. Es sei eben so ein Hinsiechen, sagte ihm der Arzt, was sie selber aber nicht zu merken scheine. Sie werde ihm jedenfalls nicht mehr auf den Hof zurückkehren.
Das hatte ihm zu denken gegeben. Er war sie so gewohnt auf Rain und konnte sich sein Haus ohne sie immer weniger vorstellen. Die Putzerin Theres war ja in keiner Weise ein Ersatz für eine Haushälterin von den Eigenschaften und der Tüchtigkeit der Zille. Wohl eine getreue Person, eine rechte Putzerin und Wäscherin und nicht mehr. Er fühlte sich heute so verlassen, vereinsamter als jemals. Knechte und Mägde, alle auf seinem Hof hatten irgendwen, mit dem sie sich in ihrer Art einen guten Sonntag machen konnten. Irgendein Freudlein mit andern, an andern wußte ein jeder, eine jede sich zu schaffen. Er aber hatte, trotzdem Leute genug um ihn waren und mit ihm verkehren mußten, niemand. Seine Verwandten oder, wie etwa die Leute so gedankenlos sagten, die Nächsten, lebten alle nur für sich. Keinerlei 158 Anhänglichkeit, nichts dergleichen zeigte ihre Blutverwandtschaft. Das kam ihm jetzt, wenn er's so bedachte, geradezu unfaßbar, sündhaft vor. Würden nur alle Sippen im Lande zusammenhalten, sagte er sich, so hätten es die Menschen hundertmal leichter im Leben. Was der eine nicht besäße, hätte der andere. Und in so gar vielem könnten sie sich bei gutem Willen ergänzen, beistehen und mit vereinten Kräften zu guten Zielen helfen. Was hatte er denn an seinen Nächsten? Es bedünkte ihn ganz ungeheuerlich, was da für eine unabsehbare Wüste, eine eiskalte Nordpollandschaft zwischen ihm und seinen Verwandten lag. Nein, da kam niemand drüber hinweg, das ließ sich weder erkaufen, noch erfliegen. Mein Bruder Ludi ist ein Erzlump, sagte er sich, und ein Hanswurst dazu, ein Ärgernis für mich und das ganze Land. Da gibt's nichts mehr zu schönen. Und mein anderer Bruder, der Hänsel, ist ein Geschäftleinmacher, ein Zusammenscharrer, der's nicht so genau nimmt und sich eines verdächtigen Handels wegen weiter keine Mucken macht. Wo der nur den Hang zum Geiz herhaben mochte? Die Eltern waren ja wohl auch haushälterisch. Sie sagten nie Fränklein, wie dieser leichte, verrupfte Vogel, der Ludi, sie sagten Franken, und wie sie's sagten, war's ein gewichtiges Wort. Dabei waren sie aber keineswegs sparsam bis zum Geiz. Sie konnten sogar eine offene Hand 159 haben, wenn's ihnen notwendig erschien, bei aller bäuerlichen Vorsicht und Zurückhaltung im Ausgeben. Der Hänsel aber war ein Knauser, sogar ein Schmutzian. Er drückte sich von allem, was nach Wohltätigkeit aussah und ihn irgendwie verpflichten wollte, fast ängstlich. Auch an seiner schattenhaften Frau hatte man nichts. Sie lebte völlig nach ihres Mannes Willen, raschelte durch ihren billigen Laden und das Magazin wie eine Maus in der Falle, aber völlig zufrieden, ihrer Gefangenschaft unbewußt. Bei ihrer Kundschaft war sie die ewig süßliche Krämerin und mit ihren Töchtern eine närrische Mutter. Sie verzog sie ja in jeder Weise, indem sie ihnen alle Unarten nachsah und sie zu verschleckten Geschöpfen, zu Kleiderpuppen werden ließ. Ihr Mann, der Hänsel, schien das merkwürdigerweise gar nicht zu sehen, nicht sehen zu wollen. Seinen aufwachsenden Mädchen gegenüber war er wie ein umgekehrter Handschuh. Da war der Knauser immer wie weggeblasen und der Narr an seinem Blut Trumpf. Deswegen konnte es auch seine Frau, die ihren ewigen Nörgler von einem Mann fürchtete wie das Schwert, den Töchtern gehen lassen wie sie wollte. Sie durfte die drei Mädchen unter seinen Augen verpäppeln und veräffeln nach Mutterherzenslust. Hier war dieser Hänsel mit den Sperberaugen und den Fuchsenohren blind und taub. Hier ließ er auch sein Silberbrünnlein für alle 160 möglichen dörflichen Kleiderprächte ruhig fließen, er, der seiner Frau so genau auf die Finger sah im Laden und der ihr immer wieder vorhielt, sie sei eine dumme Gans, denn sie gebe den Leuten viel zu gutes Gewicht. Und der ihr selber keinen abständigen Fetzen Gewand gönnen mochte, er, der sonst alle Kniffe anwandte, an seinen Waren zweiseitig soviel als menschenmöglich zu verdienen. Er, dem kein Geschäft zu gering oder zu fraglich war, wenn dabei ein Profitlein herauszuschauen schien, konnte bei seinen Töchtern geuden.
Nein, an des Langhänsels hatte man nichts und aber an der Schwester, an der Brigitt in der Wydlen, ebensowenig. Immer wieder sagte sich der Bauer, wenn er sie zu sehen bekam, sie stelle doch ein annehmbares, stattliches Weibsbild dar und jammerschade sei's um sie, daß sie innerhalb dem Hänsel so sehr gleiche und nur so ein Sparhafen geworden sei. Es war freilich richtig, als ihr Mann so früh starb, tat sie gar wohl daran, zu allem zu schauen, die Sache zusammenzuhalten und achtzugeben, daß ihr nicht alles auseinanderging, wie die Milch aus der Pfanne. Es war da ja ein großes Holzgeschäft und ein ansehnlicher Bauernhof dazu. Auf allem aber lasteten gewichtige Hypotheken. Da hieß es freilich sperren und sich wehren. Und das tat die Brigitt auch. Sie legte sich mit mehr als Mannskraft ins Zeug und es gab für sie keine Dornhecken. Sie betrieb den 161 einträglichen Holzhandel weiter, machte es mit Sägern und auf dem Bauernwesen mit Knechten. Sie ging selber auf Holz aus, tat gar manchen wohlerwogenen, guten Zug mit Waldankäufen, stellte sich mit dem Kreisförster vertraulich, der ihr da und dort immer etwa wieder einen lohnenden Schick in Holz wußte, wobei er auch nicht mit leeren Händen heimzu mußte. Sie nahm auch selber an den Holzganten der ländlichen Genoßsamen teil. Sie war aber, und ist's ja alleweil noch, eine wohlabgerundete, anmächelige Frau, die es dem Männervolk zu Berg und Tal wohl zu vertreffen weiß, denn sie versteht's sogar, aus ihrem von Kindsbeinen an so fix und fertig gemeißelten, glatten Gesicht allenfalls recht einladende, kugelrunde Augen zu machen. So hatte sie ihren reichen Besitz nicht nur gehalten, sie hatte ihn auch entlastet und vermehrt und war nun die landauf, landab wohlbekannte, in der Wolle warme Frau Brigitt Anderbalm in der Wydlen am Rotenbach, die Kredit hatte. Früher war sie ja hie und da, selten genug, mußte sich der Bauer auf Rain sagen, zu ihm auf Besuch gekommen, denn er hatte ihr nach ihres Mannes Tod eine Zeitlang als Bürge anstehen müssen. Darnach aber bekam er sie fast nie mehr zu selben. Nun, sie hatte gar viel zu tun und zu denken. Als dann ihre Buben größer zu werden anfingen, zeigte sie sich überhaupt nicht mehr. Sie lebte nun immer mehr 162 nur noch ihren Jungen, die sie, im Gegensatz zum Langhänsel, streng zu erziehen suchte, wobei sie sich aber freilich nicht viel draus machte, wenn ihr die Buben etwa, wie die Forellen im Sägegekett, entschlüpften. An seiner Schwester hatte er auch nichts. Zwar hatte sie während der Krankheit seiner Frau einmal auf seinem Hof Nachschau gehalten, aber als dieser das Glöcklein auf Rain zu Grab läutete, konnte er ganz gut sehen, wie sie das alles, ganz wie den Hänsel, völlig kalt ließ.
»Nein, kein Bein, keine Seele habe ich«, redete er vor sich hin, rainabgehend, »jedes Huhn hat's besser.« Und nun war ja auch noch die Zille, die er so gewohnt war, weg. Sie wird ihm kaum jemals mehr auf den Hof kommen. Nein, so durfte und konnte es nicht weitergehen. Er mußte wieder jemand haben, und zwar jemand, der mit ihm Schritt halten, mit ihm in herzlicher Treue den Weg durchs Leben weiter machen würde. Er hatte sich einst vom Zusammensein mit seiner Frau selig so vieles versprochen. Sie hatte sich in der Verlobungszeit so zutunlich, so warm gegeben. Es war aber dann anders gekommen, also, daß sie neben ihm hinging wie etwa ein Wagenrad neben dem andern. So konnten sie nie recht zusammenkommen. Nun, das war wohl Schicksal, da war für diese Wegstrecke mit seiner Frau, wie bei der Eisenbahn, die Weiche eben so für sie gestellt worden. 163 Wie anders hatte er sich so ein Beisammenleben in jungen Jahren ausgemalt, wenn er etwa auf dem Raingütsch lag und in die Welt hinausträumte. Seine Frau war ja recht gewesen, wenn auch keine Bäuerin, wie man sie auf dem Rainhof hätte wünschen müssen. Sie machte ihm den Alltag so erträglich als sie's konnte, ging schweigsam, ja gleichgültig neben ihm her, wie es in ihrem Wesen lag. Er hatte nie vermocht, sie seinem Herzen näher zu bringen. Sie nahm und gab wie ein Briefträger. Das war nun wohl so ihre Art, und töricht wäre es, von einer Föhre Feigen zu verlangen. Daher kam es auch, daß niemand auf dem Hof diese Frau, die wie eine Nebelfrau war, viel beachtet hatte. Nun, Gott habe sie selig! Es würde sich ja vielleicht anders angelassen haben, wenn Kinder gekommen wären. Das hätte ganz gewiß manches ändern können. Besonders für ihn würde die Ankunft eines Kindes, gar eines gesunden Jungen, ein Osterfest, ja wahrhaftig, eine Auferstehung ins Leben geworden sein. Noch ganz anders hätte er sich seinem prächtigen Hof widmen wollen. Er würde alsdann gewußt haben, für wen er sich einsetzte. So wohl er seine Neffen und Nichten zu Bohlishusen unten und am Rotenbach leiden mochte, für sie konnte weder sein schwerer Tag, noch sein Hof gemeint sein, obwohl er zu sehen glaubte, was für nachdenkliche, ja begehrliche Augen seine Geschwister 164 Hänsel und Brigitt, die Brigitt voraus, immer wieder, wenn sie etwa auf Rain kamen, an Haus und Hof hin, über Feld und Wald machten.
Es mußte eine Aenderung auf dem Hofe geben. Nein, Schwester hin, Brüder her, für Leute, die ihm ferner stehen wollten als Knecht und Magd, ja als wildfremde Menschen, wollte er sich nicht mit dem anspruchsvollen Alltag geplagt, sich gewehrt, kurz, sich mit seiner ganzen Kraft umgetan haben und noch weiter umtun. Er möchte auch für sich noch etwas vom Leben haben.
Der Gedanke, daß es am Ende doch noch zum Guten ändern könnte, ließ den Bauer ruhiger, getroster werden.
Jetzt glitt aus dem Flötlein eines Rotkehlchens, wie ein Sonnenstrahl, ein Liedchen in sein Sinnen hinein. Die nebelige Düsternis, die um seine Augen war, verschwand und nun sah er auf einmal, daß er einen sonnenvollen Sonntagnachmittag um sich hatte. Sein Schritt wurde zuversichtlicher und bekam etwas Bauernherzogliches.
Er blieb stehen und schaute in den Obstwald hinein, der ihn umgab. Er mußte die schwerbeladenen Bäume nur so anstaunen. Äpfel, lauter herrliche Äpfel, goldig, rot, vielfarbig. Wie im Paradiese, und kein verbotener Baum darunter. Alles war sein. Wie er nun die Äpfel so betrachtete, fiel ihm jenes 165 Märchen von Alaeddins Wunderlampe ein, die einen Garten aufgetan hatte, in dem alle Bäume voll strumpfkugelgroßer Edelsteine hingen. Ja, mit Wonne hatte er einst jene Geschichte gelesen, aber da befand er sich ja auch in einem solchen Garten. Ohne Zauberlampe und Wünschelrute war er hineingekommen. Und es war alles sein und in der goldenen Sonne. Welcher Segen! Da hingen ob ihm Reinetten von einer unaussprechlichen Süße. Dort im grünkrausen Gezweige Goldparmänen, vornehmfarbig und hochwohlmundig. Und drüben lockte der Schöne von Boskop. Und waren das nicht Lederreinetten im dichten, hochgestellten Buschwerk vor ihm? Dieser Apfel, der sich braun, unscheinbar gab wie die Nachtigall unter den Vögeln. Und da, er las einen Apfel, auf den er fast getreten wäre, aus dem Fußweg auf; ein Apfel blutrot um und um. Und oben im Baum hängt's ebenso leuchtend rot, zu Hunderten, wie kostbare weihnachtliche Ampeln im Tempel Gottes. Er mußte in den Apfel beißen. Warum auch nicht, es gab ja in diesem abseitigen Paradies keine Schlangen oder dann doch nur ganz ungefährliche, harmlose. Er lachte auf. Sein dienendes Weibervolk war ihm eingefallen. Nein, er konnte den Apfel, den er in der Hand hielt, nicht genug bewundern. Was für eine köstliche Frucht! Ja, auch diesen Apfel hatte gewiß der Schöpfer angehaucht.
166 Unwillkürlich neigte er das schwere Haupt und dankte Gott in seinem Herzen für all die Wunder und Wohltaten, die er auf dem Gut, das er von ihm zu Lehen hatte, werden ließ und so herrlich vollendete.
Ja, bis hinunter zum großen Ried, fast bis ans Rainseelein, zog sich dieser schwer gesegnete Obstwald.
Der Bauer Hansbaschi Hochrütiner schritt weiter. Als er nun unter einem Teilersbirnenbaum, dessen abgefallene Früchte die Wespen eifrig und singend genossen, hervortrat, schien ihm sein blaues Wäldchen, das er vor einem Jahrzehnt an der Halde seitwärts des Obstwaldes angepflanzt hatte, entgegenzuwandern. Er betrachtete es mit Wohlgefallen. Die nachbarlichen Großbauern hatten die Köpfe geschüttelt beim Anblick dieser Aufforstung. Sie wußten eben, daß sich diese fremdländischen Tannchen nie zu saitengeraden, trämelgebenden Stämmen auswachsen würden, daß man nichts davon hatte als ein Gescheuch von blauen Besenreisern. Gleichwohl hatte er auf ein Stück abgeholzten Waldboden diese hochnordisch aussehenden Bäumchen einsetzen lassen. Es mochte ein kostspieliger, ein wenig einträglicher Baum sein, aber das blaue Wäldchen brachte nun seinen besondern Ton in das zu Zeiten etwas allzuaufdringliche Grün seiner Matten. Auch heute empfand er das mit vielem Vergnügen, obwohl der Spätherbst all seine Farben vom buchenumstandenen Raingütsch in den Tag hineinleuchten ließ.
167 Der Bauer heiterte völlig auf. Wie schön war's doch auf Gottes Erdboden! Aber da fiel ihm etwas ein. Er merkte, daß ihm die bösen Nebel wieder kommen und all die Herrlichkeit verdüstern wollten, denn, ach, in diesem Paradiese, das ja sein war, fehlte eben doch die Eva. Er versuchte tapfer, sich dieses Gedankens zu erwehren, er klagte sich des schwarzen Undanks gegen Gott an, er rief im Herzen alle Heiligen und guten Geister zu Hilfe, aber, nein, die Nebel überkamen ihn wieder, wie die Schleier der Dämmerung, wenn sie die Nacht vorbereiten.
Fast schrak er zusammen. Was war das, wie sollte an diesem Sonntagnachmittag jemand da herumsein? Und doch meinte er, nahebei eine Stimme, eine halblaute, heimlichtuende Stimme, vernommen zu haben.
Er trat unwillkürlich hinter einen mächtigen Birnbaum.
»Oho«, redete er für sich, »Obstfrevler!«
Eben waren da drüben zwei Knaben, die kleine Tragkörbe auf den Rücken hatten, aus dem blauen Wäldchen auf den sanften Wiesenhang herausgetreten. Sie sahen sich allseitig um und dann pfiff der eine so gedämpft als möglich.
Jetzt taten sich die Blautannchen wieder auf und es kamen drei Mägdlein, Schulkinder, die Armkörbe trugen und ein Kindchen an den Händen hatten, auf die göttlich besonnten Matten herausgeschlüpft. 168 Ängstlich sahen sie sich um, aber dann folgten sie, so rasch es anging, den zwei Knaben nach, die sich schon unter die Obstbäume gemacht hatten, wo sie gleich die abgefallenen Früchte aufzulesen begannen. Und nun beteiligten sich die zwei Kinder in ihren hellscheinigen, kurzen Röckchen an der Lese, während sich das ganz kleine Maiteli, das sie an einen Baumstamm zu den angelehnten Körben gesetzt hatten, mühsam erhob und mit unsichern Beinchen ebenfalls auf Obst ausging wobei es immer wieder umpurzelte.
Ei, wie diese Jungen und Mägdlein eilfertig waren! Aber all der Übersegen, der da unter den Bäumen lag, war ihnen wohl fast zu viel des Guten, unglaubliche Überfülle, denn sie versäumten nicht, immer wieder mit ängstlichen Augen allseitig, vorab gegen den Hof hin, zu sichern.
Jetzt trat der Hansbaschi Hochrütiner in seiner ganzen Größe und Gewichtigkeit hinter dem Baumstamm hervor.
Ein Aufschrei. »Ein Mann!« rief eines der Mädchen zum Tod erschrocken aus. »Der Bauer!« bestätigte weniger laut ein Knabe. Während sich nun die Buben in großen Ängsten daran machten, ihre Tragkörbe aufzunehmen, wobei ihnen die Hälfte der eingebrachten Äpfel wieder ins Gras rollten, sagte halblaut, weinerlich ein Mägdlein: »Ja, ja, es ist der Rainler selber. Ach Gott, wie sollen wir das Schwesterchen wegbringen?«
169 Jetzt machte sich das Schärlein der kleinen Obstfrevler wieder aufs blaue Wäldchen zu, das Kindchen, das tönte wie ein Ferkel, das der Landmann vom Markt heimträgt, verzweifelt mit sich schleppend.
»Kinder, was lauft ihr denn so? Bleibt nur ruhig hier!«
Nein, das war doch wohl unmöglich, sollte es wirklich dieser großmächtige Mann sein, der Bauer auf Rain, der das gerufen hatte? Dort stand er bei einem der Armkörblein, das sie in der Hast zurückgelassen hatten und winkte: »Kinder, kommt nur wieder hieher!«
Die beiden Knaben staken schon im Holz drin; die Mägdlein jedoch waren stehengeblieben und schauten jetzt forschend, ängstlich auf den Bauer. Eine Flucht gab's für sie mit ihrem Kleinchen ja doch nicht mehr.
Und als nun die freundliche, einladende Stimme nochmals durch die Obstbäume zu ihnen kam, machten sie sich, erst zögernd, dann herzhafter vom Wäldchen weg und zum Bauer hinüber. Jetzt ließen sich auch die zwei Knaben, die wohl auf der Lauer gelegen hatten, aus den Blautannchen heraus. Und da standen sie schon alle, mit ihrem jüngsten Schwesterlein, dem das gelbe Zöpfchen aufgegangen war, vor dem schweren Mann und sahen mit großen Augen zu ihm auf.
Nicht für lang, denn als er sie einlud, sie möchten nur getrost ihre Körbe mit dem abgefallenen Obst 170 anfüllen, fiel blitzschnell alle Beängstigung von ihnen ab. Sie warfen sich ohne weiteres wieder auf die Obstlese. Sie hätten noch mehr Hände brauchen können, so viel schöne Äpfel und saftstrotzende Birnen gab's da unter den Bäumen. Das kam wohl daher, daß das Saubethli und das Seppeli, des Gottesdienstes wegen, am heutigen Vormittag nicht dazu gekommen waren, das Obst zu sammeln.
Flugs hatte man Trag- und Armkörbe gehäuftvoll von landskräftigen Baumfrüchten. Und als sich die Kinder mit glänzenden Blicken, die dem Rainler als eine reiche Gegengabe erschienen, bedankten, sagte das kleine Schwesterlein: »Es kommt eine Frau!«
Überrascht, fast etwas ungehalten, schaute der Bauer den Fußweg hinab.
Wahrhaftig, da kam vom Rainseelein her irgendetwas Jüngferliches, Frauliches den Fußweg heraufgegangen. Wer mochte das sein? Nein, er konnte sich nicht erinnern, dieses nahende Gesicht jemals gesehen zu haben.
Aber die stille Wanderin schien sich um keinen Schritt zu beeilen als sie sah, daß ihr unversehens so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie ging ihres Wegs wie eine die weiß, wohin sie will. Sie schien aber mit vielem Vergnügen bemerkt zu haben, wie der Bauer mit den jugendlichen Obstbesuchern freundlich umgegangen war.
171 Der Bauer ließ sich noch etwas mehr aus den Bäumen hervor und die beschattende Hand an die Stirn legend, schaute er der Heraufkommenden immer neugieriger, interessierter entgegen.
Was mag die wohl auf Rain suchen? fragte er sich. Pressiert scheint sie nicht zu sein, daß sie den Weg so spazierweise vom Dorf her um das halbe Raingut macht. Ein einfach gekleidetes Frauenzimmer. Sollte sie eine Dienststelle bei mir suchen? Wie eine Magd sah sie aber auch wieder nicht aus bei all ihrem schlichten Aufrust. Auch war etwas in ihrem Gang, in ihrem Wesen, das sah man von weitem, das einen niemals nur so eine alltägliche Bauernfünfe erwarten ließ. Herrgott, wer kam denn da? Auf jeden Fall gab's jetzt auf Rain keine Stelle zu besetzen. Vielleicht war's aber eine Verwandte von einem oder einer seiner Dienstleute. Jetzt fiel ihm etwas ein und es wurde ihm warm, ja heiß, was ihn recht verlegen machte. Die da herankam konnte ja, beigott, die kleine Witfrau aus der Molkerei sein, die ihm seine Geschwister zuschicken, auf die Schau schicken wollten. Es war ja Sonntag, da mußte es ihr eben am besten passen, sich für eine Weile aus ihrem alltäglichen, auch zeitweise sonntäglichen Geschäftsbetrieb davonzumachen. Also das war sie am End.
Immer wacher schaute er dem Besuch entgegen, mit Sperberblicken. Schließlich, wenn's auch nur um die 172 Haushälterin ging, man muß doch zusammen sein, sich ertragen können. So nahe, wie diese Angestellte, kam einem von den Dienstleuten ja niemand. Ein schmuckes Weiblein, sagte er sich, wie sie nun immer gleichen, aber, wie ihn bedünkte, leichten Schrittes auf ihn zuhielt. Bei all ihrer offenbaren Behendigkeit zeigte sie doch auch ein selbstsicheres Auftreten und Tudichum. Man mußte nur zusehen, mit was für verwunderten Augen sie im Vorbeigehen über die paar Pflanzplätze hinschaute, die er dem zu wenig entwässerten Riedboden hatte abzwängen wollen und auf dem schon im Frühling alles erfroren war. Etwas klein war diese Witfrau ja, aber allem Anschein nach um so umtunlicher. Jetzt aber kam's ihm, daß er seine Gedanken auf einmal zu merken, zu erkennen begann. Sie machten ihn unruhig. Ja, was ist's denn mit mir?, ging's ihm durch den Sinn. Man sollte meinen, es wäre ein Wundertier im Anzug. Hansbaschi, nimm dich in acht vor dir! Diesem Fähnchen, das da so sieghaft aufzieht, brauchst du noch lange nicht ja zu sagen. Wohl, warum auch? Erst wiegen, dann wagen. Etwas zu nichtsig, zu zimpferlich schaut das anrückende Persönchen doch aus. Zwar, wenn sie in der Molkerei so gut wirtschaftet, – Immerhin abwarten. Sie wird gewiß Ansprüche machen und sich am End einbilden, sie brauche nur auf Rain zu kommen, so springen ihr alle Türen und Tore auf und sie könne von dort herab 173 das Wetter für die ganze Welt machen. He aber, kam's ihm plötzlich, vielleicht ist sie ja gar nicht die aus der Molkerei, sondern irgendeine andere. Das schien ihm aber auch wieder nicht zu passen; denn um ein weniges wurde bei diesem Gedanken sein volles, gesundes Gesicht länger.
Nein, er durfte nicht weiter werweisen; die Jugend um ihn wollte sich jetzt verabschieden. Die Kinder gaben ihm die Hand und schrien alle miteinander: »Vergelt's Gott!« Und das kaum recht gangbare Kindchen, dem er einen besonders schönen und großen Rosenapfel ins Schößlein gelegt hatte, wollte ihm durchaus einen Kuß geben. So hob er's auf und küßte es auf beide Wangen.
Aber jetzt schritt durch die abziehenden Kinder der frauliche Besuch geradewegs auf den Bauer zu. Und da hatte er ein hübsches, helläugiges Gesicht vor sich, das ihn freundlich, offen ansah und mit wohleingehender Stimme begrüßte. Es war, als ob sie zusammen schon jahrelang Guttaggruß und Willkommen ausgetauscht hätten.
Das berührte den Rainler nicht unangenehm; denn es gab sich das alles so natürlich, selbstverständlich, achtungsvoll, aber ohne jede Ziererei.
»Ihr seid wohl die Tochter des Franztoni Grütter aus dem obern Schloo?«
»Ja, die bin ich«, antwortete sie lächelnd, doch ein 174 wenig verblüfft darüber, daß er sie ohne weiteres erkannte; denn sie hielt es für ganz unwahrscheinlich, daß er sie vorher jemals zu sehen bekommen hatte. »Herr Hochrütiner, Ihr werdet es, denke ich, wohl wissen, weswegen ich heute auf Rain erscheine. Eure Schwester, die Frau Anderbalm in der Wydlen, mein Nachbar zum billigen Laden, Euer Bruder, und vielleicht gar auch noch der Herr Leodegar . . .«
»Wer?«
Der Bauer mußte auflachen und das Frauchen auch.
»Also auch Euer anderer Bruder schicken mich ja, wie sie mir sagten, auf Euern Wunsch auf Rain. Euer Bruder, der Weinreisende, ist gestern nach Betzeitglocke noch zu uns gekommen und hat mich dringend aufgefordert, doch endlich einmal zu Euch hinaufzugehen und mich vorzustellen, da Ihr mich erwartet.«
»Ja, der Ludi hat immer alles pressant, ohne das Zubettgehen und das Aufstehen.« Er schüttelte mißmutig ein wenig den Kopf; aber gleich wurden seine Augen wieder gut und klar. Freilich, es freue ihn, sagte er, sie sei wirklich erwartet. Es sei ja auch wahr, er brauche eine Haushälterin; denn, er wolle es ihr aufrichtig bekennen, länger könnte er's in seinem Großbetrieb ohne eine zuverlässige und willige Hilfe nicht mehr machen. Es sei ja auch dann noch kein leichtes, wie dieser oder jener Einfältige wohl glaube, der nur so an seinem Gut vorbeischlendere, einen Apfel oder 175 eine teige Birne auflese und dabei denke: Das alles fällt nun diesem glücklichen Hansbaschi vom Himmel, er braucht nur die Säcke zu rüsten.
Ja, meinte sie, das könne sie sich schon denken, daß er nach seiner Frauen Tod und der Erkrankung seiner alten, bewährten Stubenmagd, der Zille, wieder jemanden haben müsse. Deswegen sei sie nun da. Und wenn er willens sei, es mit ihr zu versuchen und sie sich zu verstehen vermögen – so was zeige sich ja bald –, so täte es sie recht freuen, bei ihm einzustehen und auf seinem schönen Hof ihm und seiner Sache, so gut sie's imstande sei, zu dienen.
Der Bauer schaute schweigend den am großen Weiher, am Rainseelein, vorbeijauchzenden, obstseligen Kindern nach. Alsdann aber bückte er sich und las einen goldenen, rotstrahligen Apfel aus dem Gras neben dem Fußweg auf, und ihn der ohne weiteres zugreifenden kleinen Frau übergebend, sprach er: »So seid mir, Frau Winterlin, glaube ich, heißt Ihr ja jetzt, auf Rain willkommen. Es ist mir, wir haben uns hier gleich am richtigen Platz angetroffen. Ich kann Euch von da aus den Hof so ziemlich zeigen. Wenn auch Haus und Hof, so im engern genommen, mit allem was dran und drum hängt, Euch mehr angehen als Wiese, Acker, Stall und der Enden, so bekommt Ihr doch einen Begriff von dem Boden und seiner Weite, auf den Ihr Euch zu stellen gedenkt, und von allem, was es da zu wirken, zu sorgen gibt, aber etwa auch, wie man sich an dem Vielerlei, das uns der Herrgott geraten läßt, freuen kann.«
Ja, das sei ihr gerade recht, sie möchte das Heimwesen von Grund auf und allseitig kennen lernen.
»Es ist ein großes Gut«, meinte er, »und wenn ich wollte, könnte ich's noch größer machen. Ich brauchte nur das Rainseelein da unten tieferzulegen.«
»Aber das tut Ihr kaum«, warf sie ein. »Es wäre ja jammerschade um das stille, lautere Wasser, und Eure Schwester am Rotenbach würde, denke ich, gewiß nicht zufrieden sein, wenn man ihr so die Wasserkraft für ihre Säge verminderte.«
»Ja, zwar Rechtsame hat sie nicht; auch hat der Rotenbach noch andere Zuflüsse.«
»Habt Ihr Fische im Seelein?«
»Fische?« fragte er fast verwundert. »Nein, an Fische habe ich nie gedacht; habe anderes zu tun, und zudem ist das Wasser da unten nur ein großer Weiher, auf dem freilich Seerosen wachsen.«
»Gleichwohl könnte man da Forellen einsetzen. Es ist ja, wie mir scheint, Quellwasser. So bekäme man eine Masse Forellen, die ja so schön gelten. Auch diese Fischzucht will freilich verstanden sein; jedoch eine Kunst ist's gewiß nicht.«
Der Rainler sagte nichts; aber diese Anregung zur Fischzucht überraschte und freute ihn. Dem Witfrauchen 177 da an meiner Seite scheint allerlei einzufallen, woran vielleicht ein Hansbaschi nicht oder zu spät denkt, dachte er.
Schweigend schlenderten sie nebeneinander dahin, sanft ansteigend und sich allmählich völlig auf die Sonnenseite des Hofes ziehend.
»Nein, aber so was!« rief die junge Frau aus und blieb stehen. Vor ihr lagen unversehens die weitumgehenden Ackerbreiten, die Kornfelder, die jetzt abgeerntet waren bis auf einen langen Strich Haber, der auf einem sauern, aber richtig dränierten Boden erstmals war angesät worden. »Was müssen diese Äcker erst für ein Anschauen im blühenden, im reifenden Zustande sein! Ja, da verstehe ich jetzt meinen Vater selig, der immer so eine Geschichte von diesem Rainhof machte und vom Segen seines Bodens. Es wundert mich nun auch nicht mehr, daß er dann immer so demütig, fast zaghaft durchs Scheiblein nach unserm bescheidenen Roggenstrich, den Kohlkopfplätzen und Erdäpfelgärten hinausschaute. Ich habe ja auch schon manches ansehnliche Gut unter Augen bekommen, es fehlt in diesem Hügelland vor den Alpen nicht an solchen, aber eine derartige Weite an Ackerland ist mir selten begegnet. Da kann's an Arbeit nicht mangeln.«
»Nein, Frau Winterlin«, antwortete der Bauer, »da täuscht Ihr Euch gewaltig. Es gibt in unsern Gegenden und auch in meiner Nachbarschaft und noch tiefer unten 178 Bauern, die noch ganz anders in Brotfrucht und anderem machen als unsereiner. Ihr seid eben früher nur unachtsamer, wie's ganz junges Volk hat, dran vorbeigegangen oder habt es in der Stadt doch ein wenig verschwitzt. Das kann ja wohl sein. Immerhin, zu tun haben wir mit diesen Äckern mehr als genug. Sie geben uns eigentlich das ganze Jahr durch Arbeit. Es geht nicht lange, so heißt's wieder pflügen.«
Ob er das alles auf alte Manier umackern lasse, ob er nicht drauf denken wolle, einen Traktor vor den Pflug, wie man dergleichen ja jetzt da und dort sehe, anzuschaffen?
Ja, antwortete er, er habe schon oft dran gedacht, sei auch schon drauf und dran gewesen, so ein neumodisches Zugtier zuzutun. Man könnte es ja auch ganz gut noch für dies und das und auch vors Jauchefaß brauchen. Bisher habe er's aber mit seinen starken, noch keineswegs abgewerkten Rossen gemacht und zu Zeiten den Stier beigezogen und es sei auch gegangen, wenn es auch freilich auf die Art mehr Zeit brauche als mit der Maschine. Die Rosse müsse er auf jeden Fall haben. Sein Karrer habe Arbeit genug und immer etwas zu fuhrwerken. So wolle er ja nächstens einen Bestand alter Tannen hinter dem Raingütsch schlagen lassen, den er seiner Schwester Brigitt versprochen habe. Er hätte es lieber nicht getan; denn sie zahle ihm ja doch nicht, was andere. Eigentlich 179 hätte er's drauf ankommen lassen sollen. Es schenke ihm ja auch niemand etwas, und die Verwandten erst recht nicht. Er sei aber in seiner ersten Jugendzeit so oft mit seiner Schwester unter jenen Tannen herumgelaufen und habe dabei mit ihr und den Brüdern Jagd und Versteckens gespielt, daß er ihr den Waldhang nicht habe absein können. Sie müsse ihm aber doch noch etwas höher mit ihrem Angebot, sonst werde er sich am End noch anders besinnen. Das Holz sei jetzt begehrt. Was das für Bäume seien, könne sie ja vielleicht gelegentlich noch sehen. Derartiges gebe es landauf, landab selten mehr; denn wenn heutzutage die Tannen sich anfangen rechtschaffen in die Höhe zu lassen und eine gehörige Ellenbogenweite bekommen, springt sie die Axt an wie der Luchs und fährt mit ihnen ab. Das sei aber jetzt schon zu verstehen. Zwar, wenn man das Balkenwerk auf Rain in Haus, Scheune, Schopf und Hütte betrachte, so könne man das nicht begreifen; denn das scheine alles für die Ewigkeit gebaut. Komme man aber in ein neuzeitliches Gebäude hinein, auch wenn es Villa heiße, so werde es einem fast unheimlich, wenn man auf die Winde komme und die Stangen sehe, die das Dach tragen und das Haus schirmen sollen, und dann wisse man auch, warum die Tannen jetzt so früh fallen müssen.
Seine Begleiterin schaute unter diesen Darlegungen des Bauers immer wieder über die Felder hin, die 180 sich bis vor die ersten Häuser von Bohlishusen hinabzogen. Der Schatten des hohen Kamins der freilich nicht großen Baumwollenfabrik, die dort vor dem Dorf stand, schien noch in des Rainlers Heimwesen hineinzulangen. Und jetzt sagte sie munter: »Es ist doch gutgründiges Land, wenigstens da oben, ein Boden wie gemacht für den Kornbau. Wenig abhäldig und nicht zu steinig. Übrigens bin ich auch schon hinter dem Pflug hergegangen, und zwar etwa bis an die Knie wenn's darnach war, und habe also erleben können, was das für eine Arbeit ist.«
»Du?« fuhr's dem Bauer heraus. »Nichts für ungut nehmt, das du ist mir grad so herausgewischt, Frau Winterlin«, sagte er etwas verlegen; »aber«, redete er bedachtsam weiter, mit einem messenden Blick auf ihr fast zierliches, wie ihm vorkommen wollte doch ziemlich leichtes Persönchen, »ich hätte Euch mir noch fast eher auf einem Reitschulrößlein an der Kirchweih als hinter einem Pflug vorstellen können.«
Sie lachte. »Ja, ich habe eben bei meiner Mutter Bruder, der's besser hat als wir, einmal eine Zeitlang, kurz nach meines Mannes Tod, einer Magd an die Hand gehen müssen, als die Base ein Kind bekam. Und da hat mich dieses rauhbaumwollige Weibervolk keineswegs geschont. Ich mußte mit dabeisein, auch mittun, hau's oder stech's, und auch Pflügen lernen, sonst hätte sie mich wahrhaftig beim Schopf 181 genommen. Das hat mir freilich nicht zugesagt, ich will's offen bekennen. Nicht der Mutter Erde wegen, die ich an meines Vetters schwerem Schuhwerk in die Küche hineintrug, sondern es war mir doch zu streng oder vielleicht noch mehr zu ungewohnt. Arbeiten habe ich ja auf unserem Heimwesen auch so ziemlich alles müssen; aber das Rauheste hat man mir erspart, und Heubürden brauchte ich auch keine auf die Scheune zu tragen.«
Sie waren allmählich rainauf gekommen. Und als sie beim steinernen Kreuz, das am Rainweg im Kleeacker stand, anlangten, fragte der Bauer seine Weggenossin, ob sie nicht ein wenig aufs Bänklein vor dem Kreuz absitzen wolle. Es sei das ein rechtes Luginsland.
Ja, meinte sie, nachdem sie sich bekreuzt hatte, da habe man über das Dorf weg eine ewige Weite Land vor sich, und was für gutes, gottgesegnetes Land! Und dann gar dahinter noch die Alpen, in denen der See, den man von da leider nicht zu erblicken vermöge, liege. Es sei ein herrlicher Anblick, und nur schade sei's, daß das Kamin der Fabrik im Dorf unten sie etwas zerschneide und wohl auch Werktags etwas verneble. Dieses Kamin sei ja wahrhaftig ein Strich durch die Rechnung. Immerhin, wundervoll sei die Aussicht trotzdem.
Nein, das Kamin mache sich freilich nicht gut und beeinträchtige die Schau ins Land stark, stimmte er 182 bei. Es komme ihm auch vor wie ein Drohfinger, der zu ihm auf Rain hinaufwarne: Sei nicht zu übermütig und danke Gott all und ein Tag, daß du's dort oben so gut hast und mehr oder weniger auf die Welt pfeifen kannst. Wir da unten sind aber auch Leute, die nicht wie du ein so riesenmäßiges Tischleindeckdich vor uns haben. Und schau, wir da unten in der Fabrik, die wir wie aus dem Käfig zu deiner Herrschaft und Herrlichkeit aufschauen müssen, hätten es auch gern besser; wir hätten auch lieber mehr Ellbogenweite und Freiheit über unsern Alltag. Wir wissen eigentlich nicht, weshalb grad du es anders haben und im Paradies und wir vor seiner Pforte leben und also eingeschachtelt in stinkender Luft uns plagen müssen.
Die junge Frau schaute den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann neben sich verwundert an, als ob sie ihn soeben zum erstenmal zu sehen bekommen hätte; aber dann sagte sie: »Meister Hochrütiner, da mögt Ihr manches schwer recht haben. Es kommt mir – nehmt's mir nicht ungut auf – geradezu unglaublich vor, daß ich so etwas aus dem Mund eines Großbauern höre. Ich weiß es ja nicht, aber es ist ganz unwahrscheinlich, daß Eure Nachbarn auf ihren Höfen auch solche Ansichten haben, daß ihnen etwas Derartiges überhaupt in den Sinn kommt. Sie nehmen diese verschiedene Lage der Leute für völlig selbstverständlich, so vom Schicksal angeordnet. Und wenn 183 sie noch solche Anschauungen hätten, wie Ihr, so behalten sie selbe doch sicher und heilig für sich. Und dann aber weiß ich wohl, und Ihr wißt's ja auch, daß es da, wo Sonne ist, an Schatten nicht fehlte. Ich will aber über das nicht zuviel reden. Das möchte ich jedoch noch sagen: wenn dieses Kamin da unten, das so frech und häßlich zu Euch hinauf und in alle Welt hineinraucht, gute Augen hätte, so würde es auch sehen, wie man da oben arbeiten muß, jahraus, jahrein; was Ihr mit Euern Leuten Sommer und Winter durch zu gehen, zu säen, zu ackern, zu rackern, zu schwitzen und zu dämpfen und Euch tagtäglich in aller Herrgottsfrühe für ein rauhes Tagwerk aufzubuckeln habt, und wie Ihr nie so recht zu einem Feierabend und zu einem ruhevollen Sonntag kommt. Wie Ihr im Sommer in einem fort das Barometer abklopfen und vor allerlei Unwetter und Schäden und Schädlein zittern müßt, und wie dabei, wenn's zum argen will, ein einziger Frostmorgen, ja ein Hagelschauer von fünf Minuten all Euere winter- und sommerlange Arbeit vernichten, in den Grunderdsboden hineinschlagen kann. Wie Ihr alsdann Euere leeren Hände anschauen und sie verwundert und bedrückt fragen könnt: Ja, für was haben wir eigentlich drauflosgewerkt? Und mag's sein wie's will, der Martinstag mit seinem Umgang nach Zins kommt auf jeden Fall zu Euch. Kurzum, die Fenster anschauen heißt noch nicht in die Stube sehen. 184 Ich will aber aufhören. Ihr, Meister, wißt es ja selber; ich wollte Euch nur daran erinnern und ein wenig zeigen, daß ich auch weiß, wie, wann und wo. Gleichwohl sage ich nochmals, es gefällt mir, daß Ihr für andere Leute ein Herz habt, die es, und es ist trotz allem doch wahr, nicht so gut haben wie Ihr; aber«, meinte sie ablenkend, weitergehend und über die Wiesen hinschauend, die in ihrem letzten Gras gar viele Maulwurfshügelchen zeigten, »seht, Meister Hochrütiner, ich muß mich wundern, wie viel Mäuse es hier auf Euren Hausmatten gibt. Überall haben sie gestoßen. So was könnte ich nicht ansehen, und mein Vater selig hätte das im Schloo nie geduldet.«
»Ja«, antwortete der Bauer lachend, »Euer Vater selig hat auf seinem Heimwesen den Mäusen eben nicht so weit herum Fallen richten müssen. Das Mausen hat er so nebenher zum Zeitvertreib während des langen Vorfrühlings ausüben können. Immerhin«, fügte er bei, »recht habt Ihr. Ich habe da die letzte Zeit hier und dorthin nicht mehr so geschaut, wie's sonst bei mir Brauch ist von Vater und Mutter her. Der Hansuoli scheint diese Maushaufen auch nicht gewahrgeworden zu sein. Nun, dem werden wir bald abgeholfen haben. Wir haben keine Zeit für so was, und der Schermauser von Altishausen verdient auch gern ein paar Franken. Ich sehe aber schon«, er schaute wohlgelaunt, schalkig auf das Frauchen an seiner Seite 185 hinab, »die Mäuse und die auf sie aufpassen sollten können sich vor Euch in acht nehmen.«
Sie kamen an einem dreilattigen Gehege vorbei, in dem einige Schafe mit ihren Jungen, schwarze geschorne und weiße, noch in der Wolle, eifrig das Spätgras abrupften.
»Ihr habt Schafe; das wundert mich.«
»Ja«, antwortete er, »nicht des Geschäftes wegen. Man hat nicht viel von ihnen, denn da müßten es schon andere Herden sein; aber es ist noch so eine altehrwürdige Gewohnheit, auf dem Rainhof ein bescheidenes Gehüt Schafe zu wissen. Man hat sie einst bei einer einfachern Bewirtschaftung des Landes zahlreicher gehalten. Die Wollkarden liegen immer noch in der Dienstenstube, und im Winter wird von den Mägden alleweil noch etwas Wolle gezaust.«
»Ja, ja«, sagte sie, »so Schafe sind sonst mehr ein Geläuf für eine Welt mit viel Weidland. Bei uns oben im Schloo wär's schon ein wenig günstiger, aber wir hatten Ziegen. Ich hab mich auch genug mit ihnen plagen müssen als ich noch ein Schulkind war.«
Vor der großen Scheune mit ihrem mächtigen Vordach und den beidseitigen Anhängseln des Einfahrschopfes und des Scheithauses hockten auf einer kurzen Bank vor dem Roßstall, ob sich an der Wand Kummet und anderes Roßgeschirr, der Karrer Karlima und in seiner blaugrauen Soldatenmütze Oswald, der Küher. 186 Im übrigen waren beide im Sonntagsrust, aber hemdärmlig. Sie rauchten ihre kurzen Pfeifen, und die Schwalben schossen ihnen durch den aufsteigenden Rauch fast an der Nase vorbei.
Wie sie nun den Meister mit seinem Frauenzimmer den Rainweg heraufkommen und auf den Hof zuhalten sahen, erhoben sie sich ungeahnt hurtig und machten sich in den Stall hinein. Auch der Melker Wysel, dem die Gesundheit fast aus den Backen blutete und der eben eine blecherne Milchtanse auf das Bänklein an der Kuhgadenwand hingestellt hatte, nahm die Stalltür wieder flink zuhanden. »Oho«, redete er halblaut, mit einem raschen, neugierigen Blick auf den anrückenden Meister und seine Begleiterin, »da kommt er ja jetzt mit ihr! Beim Eidhagel, das ist sie ja; das Schlooapelluneli ist's, wohl noch warm aus der Molkerei herauf. Also unsere allfällige Aufpasserin, anstatt der alten Zupfgeige, der Zille. Es heißt ja, sie komme auf Rain. Ein malefizrechtes Weibervölklein, das Apelluneli. Wie ich sie aber kenne, und außer mir kennt sie ja hier nur noch der Karlima, ist das kleine, nichtsig erscheinende Ding eine Weltskröte und allenfalls für einen bestandenen Meister ein Kastanienigel, bei dem's einem nicht so leicht wird, zum glatten, braunen Kugelchen zu kommen.«
Rasch, aber behutsam nahm er die Stalltüre zu, durch die das Muhen des Viehs gekommen war.
187 Im Rainhause aber gingen sachte, sachte Fenster und Fensterchen. Lag alles Weibliche auf der Lauer. Keine war heute ausgegangen und etwa ins Dorf hinunter, um sich einen rascher vergehenden Sonntagnachmittag zu machen. Alle wußten schon vom Besuch der jungen Witfrau aus der Molkerei. Die wollten sie aber einziehen sehen, sei's dann, daß sie zum Bleiben oder nur so zum Umschauen komme oder daß sie der Meister nicht wolle.
Es dauerte jedoch eine geraume Weile bis der Bauer mit seiner Begleiterin ins Haus kam. Er führte sie mit immer gewichtigerm Schritt vorerst zur Scheune, und es überraschte ihn, daß sein großer Bernhardiner, der Barri, sich nicht erhob und zu bellen anfing. Kaum rasselte die Kette ein wenig. Und als das junge Frauchen gar auf ihn zuging und ihn im weißroten Pelz kraulte, nahm er das ruhig an und schaute dabei gleichgültig und selbstbewußt ins Weite.
»Das läßt sich sonst der Barri kaum von jemandem gefallen, mit dem er nicht länger zusammengewesen ist, daß man ihm schöntut,« sagte der Rainler. Bei sich aber dachte er, das sei kein schlechtes Zeichen.
Alsdann machten sie sich miteinander in die Scheune hinein, wo das Apelluneli im Roßstall die starken Gäule, den Griß und den Vögi, aller Aufmerksamkeit wert fand. Sie klopfte den Rossen herzhaft auf die breiten Backen und lobte dem Karrer seinen Stall 188 bis aufs goldig glänzende Schlittengröll, das gar sichtig neben einem reingehaltenen Fensterscheiblein hing. Der Urmensch mit dem verwilderten grauen Krauskopf, der Karlima, der, das Pfeifchen im Mundwinkel, eben daran war, etwas Haber zu sieben, äugte fast etwas mißtrauisch die weibliche Stallvisite unter seinen überhängenden Brauen herauf an. Und als darnach der Bauer mit ihr auch den Kuhstall betrat, waren drin der Hirte Oswald samt dem Melker Wysel vorhanden. Der Wysel tat gleich recht vertraut mit der jungen Witfrau aus der Molkerei, der er meistens die Milch zuführte. Er ließ jedoch das angriffige Kinn ziemlich bald herab, als das Schlooapelluneli sich ihm gegenüber zwar durchaus freundlich, aber doch so verhielt, daß er den Gatter wohl merkte, der allenfalls zwischen ihm und ihr jeden Augenblick, wenn's ihr an der Zeit erscheinen sollte, zuklappen konnte.
Sie kamen nicht so schnell vom Kuhstall los, denn die kleine Frau beschaute die Kühe gar einläßlich und allseitig, als ob sie hier an einer Viehausstellung wäre und preisrichten müßte. Auch der ältere Herr, ein Stier von gewaltigem Umfange, mußte sich ihrer Schau anbequemen, was er auch mit einem kurzen heisern Brummen tat. Ebenso genau nahm sie's mit der Jungwar, den drei Rindern und dem Jährling. Und als sich der Bauer über dieses Examen wunderte 189 und es fast zu langwierig, ja eigentlich überflüssig fand, begann sie ihm seine neun Kühe also zu begutachten, daß er nur so aufmerken und zuhorchen mußte.
Nein, sie könne da beim besten Willen nicht gerade rühmen, meinte die junge Wirtschafterin aus der Molkerei. Es fehle ja nichts im Stall, sie habe noch selten einen Stall und eine so alte Scheune, in der offensichtlich immer wieder aus- und umgebaut worden sei, in annehmbarerm Zustand angetroffen. Man sehe, daß der Meister auf Ordnung halte und daß der Kuhhirte das begreife. Das Vieh wohne da nicht im Mist wie so vielenorts. Es sehe auch wie gestriegelt und gestrählt aus über und über. So könne es sich natürlich wohler fühlen als in Staub und Kuhkot und gerate auch darnach. Man solle es ihr aber nicht zürnen, es komme ihr fast merkwürdig vor, daß man ob der Stalltüre draußen so manches erst- und zweitklassige Prämienschildlein hängen habe, denn was sie da im Stall an Vieh sehe, würde noch nicht einmal die dritte Klasse verdienen. Da seien die paar Kühe in ihres Vaters Stall, aber erst das Senten ihres Oheims in den Bergen drüben, doch ein ganz anderes Anschauen gewesen; halt eine Kuh gutfärbiger und wohlgewachsener als die andere. Alles richtige, gutgeratsamte Prämienloben von bester Abstammung. Was man aber da im Kuhstall auf Rain zu sehen bekomme, sei ja nur so ein Mischmasch von Braun- 190 und Fleckvieh. Wie bei den Heidelschnecken gebe es da alle Farben. Es tue einem weh in den Augen. Etwas Unrassigeres könne sie sich nicht denken. Es sei schier ärger damit, als bei den Leuten in der Stadt und der Enden. Und was diese Kühe für Gestelle haben und was da für Laubsäcke drauf liegen! Nicht einmal ein ansehnliches Horn sei an allen zusammen zu finden. Es sei . . .
Auf einmal aber verstummte das eifernde Frauchen und wurde zündrot. Da hatte sie sich doch wohl arg fortreißen lassen. Nun wird's mit der Haushälterinstelle wohl hapern. Sie brauchte gewiß nicht mehr ins Haus hinüberzugehen, der Bauer auf Rain dürfte haufensgenug an ihr haben.
Ja, grad so zum Lachen schien's dem Hansbaschi Hochrütiner wirklich nicht zu sein. Sein Küher Oswald aber mußte nur so Mund und Augen aufreißen; das Pfeifchen ging ihm völlig aus.
Jedoch die feierliche Stille im Stall dauerte nicht lange, denn der Bauer, der sich fast ein wenig auf der Anklagebank dünkte, begann nun, sich dem angriffigen Weiblein gegenüber zu verteidigen. Er sagte ihr daß sie, wenn man's recht und mehr von ihrem berglerischen Standpunkt aus betrachte, zwar ein scharfes, aber ein zutreffendes Urteil über seine Kühe ausgesprochen habe. Es sei in Wahrheit ein Rassenmischmasch, eine Verbasterung, aus der so nach und 191 nach eine unansehnliche Viehgattung in den Stall gekommen sei. Man treibe aber eben auf Rain und noch weitherum in den Kornkammern dieser Gegend keine Viehzucht, wie in den höher gelegenen, innern Landschaften und gar wie auf ihres Oheims Alp. Die Prämienschildlein ob der Stalltüre kämen noch alle von seinem Großvater her, der zu seiner Zeit auch auf einen rassigen Viehstand gehalten habe, wohl weil man damals damit etwas machen und verdienen konnte und weil in seinen Tagen der Kornbau sich nicht mehr so recht habe lohnen wollen. Es soll damals viel Ackerland in Wiesland verändert worden sein. Sie werde im übrigen aber wohl wissen, daß man im Tiefland anders bauere als weiter oben. Sie habe es ja selber durchgemacht. Auch dürfe man nicht außer acht lassen, daß hier ein Grenzland sei, in dem zwei Viehrassen aufeinanderstoßen. Sowieso geben seine Kühe auch Milch und schön Milch, obwohl sie keine von einer Viehschaukommission genehmigte Landestracht anhaben. Und das scheine ihm aber die Hauptsache zu sein.
»Ja, das will ich meinen«, redete jetzt der Melker Wysel, an seiner schweren silbernen sonntäglichen Uhrenkette zupfend, an der eine Handvoll großer und kleiner Silbermünzen und ein silbergefaßtes Hörnchen hing. »Und was die Farbe anbelangt, über die jetzt so losgezogen worden ist, so muß ich sagen, daß mir noch 192 keine davon in die Milch geronnen ist.« Er lachte polternd auf. »Ich bin aber jedenfalls froh, wenn mir wenigstens nie rote Milch in den Eimer kommt.«
»Gleichwohl«, fuhr der Bauer zu reden fort, »ist's doch wahr, daß man mehr auf Rasse beim Vieh, auch in unsern Fruchtgegenden, halten sollte. Es mag eben wahr sein, daß die rassigen Kühe noch besser tun, auch in der Milch und daß sie gesünder und in allem gleichmäßiger sind. Ich verstehe das zu wenig. Jedenfalls, das muß ich sagen, sehe ich dieses Durcheinander verschiedener Rassen, diese Mischfarben am Vieh auch nicht gern. Es macht keine Gattung und man traut den Kühen nicht so recht. Es tut mir auch immer wohl, wenn ich in Alpengegenden da hintenoben ein Senten gerechter Rassenkühe an mir vorbeiziehen sehe. Es muß also doch was dran sein an dem, was uns das Schlooapelluneli sagt. Dieser Zustupf an uns kommt ja von einer Bauerntochter, deren Vetter ein großer Sentenbauer ist. Und wir alle wollen«, er lachte seine Besucherin fast herzlich an, »drauf trachten, hörst du's, Oswald«, er wandte sich seinem schweigsamen, ruhig aufschauenden Küher zu, »wenn nicht Prämienkühe – soweit können wir uns bei unserm andersartigen Betrieb kaum einlassen –, so doch wenigstens Vieh von einheitlicher Rasse und von guter Abstammung, Kühe, die man sehen lassen darf, im Stall zu haben. Was meinst, Oswald?«
193 Der krausbärtige, bestandene, etwas hagere Knecht antwortete nicht sogleich. Er lüftete erst seine Soldatenmütze ein wenig, schaute den bäumigen Stier an und alsdann aber nahm er das Tabakpfeifchen aus den Zähnen und sagte: »Ja, am End aller Enden, wenn man's recht betrachtet, so hat das Weibervölklein da nicht alles so unrecht. Es kommt drauf an, wie man eine Sache ansieht. Mir kann's gleich sein. Heißt das, wenn ich's reden will, wie ich's denke, so muß ich sagen, daß ich's auch lieber mit den Gutrassigen habe, nicht nur im Stall . . .«
»Sondern auch beim Weibervolk«, fiel der Melker Wysel lachend ein.
»Nein«, machte der Küher trocken, den krausen Bart vorwegend, »das ist's nicht einmal, was ich hab sagen wollen, sondern daß ich's auch bei den Äpfeln und Erdäpfeln lieber rassig habe. Also etwas Rechtes von einem Schlag Vieh im Stall, gut. Erstklassiges freilich würde ich kaum herausbringen, denn ich verstehe das zuwenig und das will aber, und gläublich schon von Kindsbeinen an, gekannt sein.«
Der Bauer und die junge Witfrau machten sich endlich aus dem Viehstall. Und das Schlooapelluneli ruhte nicht bis es alles und eins in der Scheune und um sie, bis auf den mächtigen Heustock, auch das mit buchenen Scheitern und Reisigwellen angefüllte Scheithaus, den Hühnerhof, an dem es ebenfalls allerlei 194 auszusetzen hatte und bis auf die verbrauchten Türen, Wagenräder und andern beseitigten Gerümpel und die frisch zugerüsteten Zaunpfähle und Haglatten im Schopf unter der Einfahr gesehen hatte.
Zuletzt gingen sie noch in den Schweinestall, wobei sie innerhalb der Türe fast über einen großen Molkenkübel gefallen wären. Doch, das Saubethli war vorhanden. Auch da wollte der kleinen Frau nicht alles zusagen. Sie fragte die junge Magd dies und das und aus alledem konnte der Bauer, aber auch das Bethli gar wohl erkennen, daß auch in diesem Stall nicht alles war wie es sein sollte. Vor allem wurden die Sautröge zwar saumäßig, aber auch für Säue zu saumäßig befunden. Die Magd, die mit Augen und Ohren zuhörte, schien aber nicht so recht nachzukommen. Sie gab wohl Bescheid auf jede Frage, dachte sich aber nicht grad viel dabei und hatte zu allem was sie sprach, einen nervösen Lachanhängsel. Das sprudelte immer wieder so stoßweise heraus, wie das Wasser aus einem halbverstopften Brunnen. Und als nun die Besucher seine Welt, in der dieses gute Saubethli lebte, verließen, schaute es ihnen, immer wieder lachend, und seinerseits völlig zufrieden mit sich und seiner stark, aber keineswegs wohlrüchigen Behausung, durch die halboffene Türe nach bis sie drüben um die steinerne Vortreppe des Hauses und die Hausecke im Garten verschwanden.
195 »Ei, potztausend«, rief das junge Weiblein aus, sich erfreut umsehend, als sie im Garten neben dem Rainhaus standen, »das ist schon mehr ein Herren- als ein Bauerngarten, obwohl es dort hinten beim Bienenstand auch nicht an Gemüseplätzen zu fehlen scheint. Und was für schöne krause Föhren und Lärchen da an der Mauer bis fast an die obersten Fenster hinaufgehen!« –
Es sah alles ein wenig verwildert aus. Es mochte der prächtigen Gartenanlage diesen Sommer über wohl nicht die nötige Ehre und Aufmerksamkeit angetan worden sein. Aber nein, es war zu schön.
»Ihr habt jedenfalls die Blumen gern, Herr Hochrütiner, das kann man wohl sehen. Sind ja gar viele Beete für sie da, wenn auch jetzt die meisten verödet ausschauen. Wir haben eben schon Spätherbst. Was das aber noch für prächtige Dahlien und Gladiolen sind und diese vielen Astern, die ich so gern leiden mag. Ihre vielfarbigen Strahlen lassen sich ja so anmutig nach und nach zu einem Nestlein heraus. Und da, nein, wie artig! gibt's runde Steintischchen, auf welche die absterbenden Sonnenblumen ihre Kerne hingestreut haben. Aber was sind denn das für wunderliche Tischchen, Meister Hochrütiner? Sie sehen grad aus wie alte Mühlsteine.«
Sie ließ sich auf die Bank nieder, die um ein steinernes Tischchen ging, das nahebei in den Blumen 196 noch einen Zwillingsbruder hatte. Eine weitumgehende Linde bedeckte das alles.
»Es sind ja auch Mühlsteine, diese Tischchen«, antwortete der Bauer. »Ich habe sie einem kleinen, verarmenden Müller abgenommen und hier in den Garten versetzt.«
»So viele Blumenbeete in einem Bauerngarten!«
»Ja, die Blumen können's mir auch. Ich habe nach und nach alle möglichen, auch seltene Wald- und Feldblumen im Garten zusammengetragen und eingesetzt als ich noch ein junger Bursche war. Man sieht jetzt kaum mehr etwas davon, aber jeder Frühling und Sommer bringt es mir aus. Und nicht nur ich, auch meine Leute, wenn sie sonst noch so hölzig sind und tuen, haben ihre Freude dran. Das Nichtlein der alten Zille, das Seppeli, ist geradezu vernarrt in den Garten und trägt mir etwa auch alles mögliche Unkraut aus Wald und Feld Sommersonntags hier zusammen.«
»Natürlich, das läßt sich denken, daß jedermann Freude an diesem Paradieslein hat und die Bienen, die dahinten an der Mauer daheim sind, werden erst recht glücklich drüber sein und Euch mit Honig danken.«
»Nur ist's dabei so, daß sich eigentlich so recht gern niemand mit dem Garten abgeben will,« sagte er, als sie nun zusammen in den Gemüsebeeten standen, die eine Brombeerhecke vom Blumengarten absonderte.
197 »Das mag wohl sein«, meinte sie, »so etwas muß einem eben auch auf eine Art im Blut liegen, man kann's nicht erzwingen, aber wenn's da ist, kann's in einem dann so allmählich geweckt werden. Übrigens«, setzte sie hinzu, »ich will da zwar nicht über alles meine Zwiebeln brennen, habe so schon mehr als genug geredet heute, wo's mich nichts angeht, – meine ich doch sagen zu sollen, daß auch die Gemüseplätze da herum Euern Leuten kaum stark am Herzen liegen. Man könnte daraus weit mehr machen, man sollte sich nicht nur so mit etwas Bohnen, gelben Rüben und Kohlköpfen begnügen. Kohlköpfe und Rüben von der und jener Sorte habe ich ja in den großen Pflanzplätzen unten genug zu sehen bekommen. So ließe sich hier noch allerlei Besonderes ziehen, was der Küche näher steht und fleißig auf den Tisch kommen sollte. Es müßten auch Tomaten, die doch so gesund sein sollen, da hinter dem Waschhaus gut aufkommen. Aber nehmt's mir nicht für ungut, Herr Hochrütiner, ich bin heute so vorlaut und führe mich auf, als ob ich da einer Sache schon nachzuschauen hätte.«
»Macht nur zu!« antwortete der Bauer. »Das gefällt mir nicht schlecht. Ich habe ja jetzt schon allerlei zu hören bekommen und hoffe, im Laufe der Zeit noch mehr zu vernehmen. Es ist eben wahr, daß zwei Augen zuweilen mehr sehen als ein Dutzend, 198 oft mehr und weiter als ein Ratssaal voll, ja als eine ganze Landsgemeinde. Nicht daß ich blind wäre, gar nicht, aber man hat ja ohnedies so ungleiche Augen und was die einen sehen, kann den andern entgehen, heißt's. Gewiß ist, daß ein kleiner Sperber, es kann ebensogut eine Sperberin sein, mehr sieht als ein Hahn, auch wenn er auf einem Miststock steht oder auf einem Kirchturm.«
»Grad ein Sperber oder eine Sperberin bin ich auch nicht«, lachte sie auf.
»Nicht, gar nicht, aber ein geschwindes Äuglein habt Ihr jedenfalls«, sprach er, ihr schelmisch zuzwinkernd.
So gelangten sie wieder zur steinernen Vortreppe am Haus und da standen sie auch schon auf seinem Flurboden.
Der Bauer führte den Besuch aber nicht zuerst in die Wohnung, sondern ins Hinterhaus, in die Diensten- oder eigentlich Mägdestube, einfach die hintere Kammer geheißen.
Wie er's sich dachte, hatten sich jetzt die Mägde richtig alle in der niedrigen, schlecht gelüfteten Hinterstube, die ein stark abgebräuntes, spaltenreiches Getäfer zeigte, zusammengelassen. Die eine strickte einen Strumpf, die andere nähte an einer Jacke, die dritte tat als läse sie in einem Kalender, alle schienen von irgendeinem sonntagnachmittäglichen Zeitvertreib 199 eingenommen. Soeben noch hatten sie sich aber zusammen über den Besuch auf Rain, über das Appelluneli aus dem Schloo, das ja ihre Aufsicht, oder gar, wer weiß, eines Tages ihre Meisterin werden könnte, unterhalten, und zwar aufs eifrigste. Sie hatten ja jetzt Köpfe wie Heiliggrabampeln. Sie waren auch schon ein wenig über die junge Witwe zu Gericht gesessen, obwohl nur die Putzerin Theres und das Seppeli, das etwa als Laufkind zu ihr in die Molkerei kam, etwas von ihr wußten. Auch das Saubethli war da, es hatte noch keineswegs genug von dem draufgängerischen Frauchen gesehen, das ihm so miteinemmal in sein eigenstes Gebiet, in den Schweinestall hineingekommen war.
Dieses Appelluneli, das nun allen so merkwürdig vorkommen wollte, gab sich auch unter den Mägden völlig ungezwungen. Es besah sich ein wenig die schon etwas dämmerige Stube und unterhielt sich eine Weile mit den Dienstleuten, besonders mit der Putzerin und Wäscherin Theres und auch mit Kresenz, der Köchin, die sich sichtlich mühte, einen guten Eindruck zu machen. So recht freundlich wollte ihr runzeliges Gesicht aber nicht werden; es sah aus, als ob das Lichte drauf durch ein Gitter käme. Das Saubethli hingegen mußte die so ungewohnte Visite in der Dienstenkammer aus verwunderten, muntern Augen nur alleweil so angleißen, während jetzt die Viehmagd 200 Karline anscheinend gleichgültig von Seppelis Armen Wollgarn zu einem Knäuel aufrollte. Das paßte dem ganz und gar nicht, denn all seine Aufmerksamkeit war beim Meister und dessen Begleiterin.
Jetzt aber machte sich der Bauer, der dem umtunlichen Weiblein schweigend, ein beständiges Lächeln auf dem breitbackigen Gesicht, zugesehen und zugehört hatte, mit ihr aus der großen, nüchternen Kammer.
Und nun führte er seinen Besuch im ganzen Hause herum und das Schlooapelluneli hatte seine helle Freude, die es ab und zu einfach mit kurzen Ausrufen bekannt geben mußte, an den vielen Räumen, an Küche, Keller und Vorratsspeichern, am ganzen stolzen Gebäude und seinem Balkenwerk, das aus dem Haus eine Festung machte.
Zuletzt gelangten sie sogar bis unters Hausdach hinauf. Nein, was das für eine Allmend von einer Winde war! Ei, da wußte man doch, wo man im Regenwetter bei der großen Wäsche die Sachen trocknen konnte. Ach, dort standen ja aus Urgroßmutters Zeiten in einem Winkel noch zwei Spinnräder und eine Haspel und dabei, es wurde der kleinen Frau so wunderlich ums Herz, gab's gar auch noch eine schöne Wiege mit allerlei Zierwerk in verstaubten, aber immer noch lebhaften Farben. Ja, und was war das für ein leuchtendes Reiflein, das da mitten auf der weiten Diele lag und Gold auszuatmen 201 schien? Ging denn davon nicht ein goldiges Licht dachwärts?
Neugierig näherte sie sich dem besonnten Plätzchen.
Da streifte ihr irgendetwas den Scheitel und als sie blitzgeschwind aufschaute, erblickte sie über sich in einem ziemlich engen, erhellten Hohlraum ein Glöcklein, von dem ein Strang herabhing. »Ei, sieh doch«, sagte sie und griff unwillkürlich darnach.
»Halt, halt!« rief der Bauer.
Es wäre nicht notwendig gewesen, denn noch viel geschwinder als sie nach dem Strang gelangt hatte, fuhr die Hand wieder zurück und mit wahrhaft erschrockenen Augen staunte die kleine Frau ins Türmchen hinauf, in dem das Glöcklein in der Abendsonne glänzte. »Nehmt mir's doch nicht für ungut«, rief sie aus, »um Gottes Willen, fast hätte ich etwas Dummes, nein, etwas ganz Schlimmes gemacht, bei einem Haar hätte ich geläutet. Das ist ja wohl das Glöcklein auf Rain, von dem man sich so Merkwürdiges erzählt.«
»Ja«, sagte jetzt der Rainler, dem man ansah, daß auch er erschrocken war, denn es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, daß jemand im Hause, in dem man es fast ängstlich vermied, dem Glöcklein nahezukommen, so ohne weiteres nach dessen Strang greifen könnte, »es hätte mir leid getan, wenn Ihr hieroben geläutet hättet, schon um Euretwillen. Es müßte Euch wohl geplagt haben, weil Euch am End 202 dieses Rainglöcklein, das nur für neues Leben und den Tod in unserm Hause geläutet wird, noch lange nachgegangen wäre. Wenigstens ist's mir, sowas könnte man nicht so bald loswerden.«
»Heiliges Verdienen, nehmt mir's nicht übel, Meister!«
»Wo denkt Ihr hin? Es war ja nur natürlich, daß Ihr nach dem Glockenstrang langtet, der so harmlos aus dem Türmchen da herabkommt und Euch gar über den Scheitel geglitten ist. Ich hätte Euch eben vorher drauf aufmerksam machen sollen, aber ich habe es ganz vergessen. Es war wie verhext. Es ist das erstemal, daß mir das passiert. Wenn ich sonst hausfremde Leute, etwa Kaminfeger und Dachdecker da auf die Winde steigen lasse, warne ich sie vorher immer und drohe ihnen fast mit dem Tod für den Fall, daß sie den Glockenstrang auch nur berühren, geschweige ziehen sollten. Nun,« er heiterte auf, »wollen wir hinunter gehen. Es ist ja, gottlob, gut abgelaufen. Kommt!«
Im Hinabsteigen aber sagte die junge Witfrau halblaut, um nur etwas Freundliches zu sagen: »Es ist ein wunderliches Glöcklein, dieses Glöcklein auf Rain, ich habe es bisher nur zum Grabe läuten hören. Nun wollen wir aber hoffen, es läute das nächstemal Leben ein.«
Der Bauer blieb still. Mit großem Unbehagen meinte das Apelluneli zu sehen, daß er tief 203 zudunkelte. Als sie aber unten auf dem weiten Flurboden ankamen, war sein Gesicht so heiter, ja noch freundlicher als vorher.
Er führte sie zuerst ins Heiligtum des Hauses, ins Hinterstübchen, das sie entzückte. Alsdann in die große Wohnstube, auf deren Langbank die Abendsonne die zwei farbigen Wappenscheiblein hingemalt hatte. Nein, was das doch für eine weite, helle und altehrwürdige Herrenbauernstube war! Wie konnte nur die Ahne da oben auf dem Gemälde so strenge Augen in dieses schöne Heim hinein machen.
Er hieß sie Platz nehmen, und als sie auf der Bank saß, ließ er sich gewichtig auf seinen Stuhl zu ihr oben am Tisch nieder und sprach: »So, so, Frau Winterlin, nun habe ich Euch den Hof auf Rain zu einem großen, allweg zum schönsten Teil gezeigt. Ihr wißt jetzt also wo, wie und wann, wenigstens so ungefähr, denn auch das, was man zu kennen meint, und oft das Allernächste, kann einem am nächsten Morgen wieder ein ganz anderes Gesicht weisen als heute, oder wir sehen es dann mit andern Augen an. Immerhin, so das gröbste habt Ihr gesehen. Das konnte ich ja schon gewahr werden, daß Ihr die Augen schön rundum gehen laßt, wie's im Lied vom Brünnelein heißt. Und das ist ja auch das, was man für den Posten, auf den Ihr Euch zu stellen im Sinn habt, notwendig braucht, sonst ist man 204 verkauft. Wie ich glaube gesehen zu haben, gefällt's Euch da oben auf Rain nicht so übel, gut gefällt's Euch. So will ich denn nicht noch lange Kalender und Rätsel mit Euch machen. Ich nehme also an, Ihr werdet demnächst bei mir eintreten, ja, heißt das, wenn's Euch nicht zuviel ist, das Haus und was damit zusammenhängt, in Ordnung zu halten. Es ist ja alles damit mehr oder weniger verbunden, bis auf das kuhkotige Schuhwerk und Gehöse der Knechte, bis auf die stinkige Tabakpfeife des Karrers, die üblen Zeiten des Weibervolks und die wetterprophezeiende große Zehe des alten Hansuoli. Und gerade diese Zehe mag auch nicht mehr so auf meinem ganzen Heimwesen herum wie früher und es kann auch da nichts schaden, wenn etwa dem braven Hinkebein ein gleitiges Füßlein zu Zeiten hinten nach oder noch eher vorausläuft. Und jetzt, was meint Ihr? Rückt nur herzhaft aus! Nicht, daß man's hierlands etwa gewohnt wäre, was die Gedanken angeht, wie man so sagt, gleich frisch vom Faß zu wirten. Man läßt seine Gedanken in der Regel durch lange Leitungen gehen, bis sie herauskommen, aber Euch, Apelluneli, sehe ich's an, daß Ihr's anders habt und das ist's, was mir an Euch gefällt, denn schaut, ich hab's auch so. Entweder halte ich meine Meinung bei mir oder dann sage ich sie grad heraus. Dabei brauchen einem die Gedanken keineswegs abzufallen wie 205 unreife Äpfel vom Baum. Und wenn sie auch hie und da nicht wohlmundig sein sollten und auch etwa nicht reif genug, so ist das alles doch besser, als wenn man die Gedanken wie die Äpfel faul werden läßt und sie den Leuten dann doch als Tafelobst serviert. Also, was ist's?«
»Ja, Meister Hochrütiner«, antwortete die junge Frau, »ich will gern bei Euch einstehen und das Amt, das mir da zukommen soll, freudig wagen. Es ist kein leichtes, aber wenn's mir zu leicht erschiene, wollte ich mich auch gar nicht dranhinmachen. Ein Bauernhof, gehäuft voll Arbeit für alle, die drauf werken wollen, das ist's, was ich mir fast vom ersten Fleißzettel in der Schule an gewünscht habe. Ihr müßt aber nun nicht meinen, jetzt komme ein neuer Besen auf Rain, vor dem sich in Haus, Stall, Tenne und Schopf kein Spinngeweblein mehr verbergen könne. Ich bin guten Willens und tue, was ich kann. Heja, und ich glaube auch etwas zu können,« machte sie, ihn mit sichern Augen ansehend, »denn ich bin früh in allerlei Betriebe hineingekommen und habe die Hände, aber auch die Augen nicht faulenzen lassen. Geduld müßt Ihr freilich dennoch mit mir haben, wie ich sie andern Leuten auch nie ab bin. Es kann ja sein und ich meine es, daß hie und da ein Schräublein auch bei mir etwas lose sitzt.«
»Ja«, antwortete er lachend, »man kann es dann ja allenfalls schon wieder andrehen.«
»Heja, Meister, und Euch muß ich doch auch noch kennen lernen, denn auf den ersten Blick können auch die besten Augen, nur so durchs Fenster, eine Stube nicht voll erfassen. Es kann drin dämmerige, ja dunkle Winkel geben, auch könnten die Fenster noch Vorfenster haben.«
Er lachte lautlos. »Wie ich es erachte«, sagte er, »würde Euch auch die graue Katze, und wenn sie unterm Ofen läge, kaum entgehen, wenn Ihr in eine Stube hineinwundert.«
»O«, gab sie zurück, »das meint man so. Übrigens will ich's Euch jetzt offen bekennen, damit Ihr seht, daß ich nötigenfalls auch hintenherum, so um die Ecke, zu meinen Zielen schleichen kann, daß ich schon am letzten Sonntag in der Stadt am See draußen bei der Zille, Eurer übelzeitigen Haushälterin, im Spital gewesen bin. Da habe ich mich um Euch, Meister Hochrütiner, gehörig umgetan und mich erkundigt, wie man's auf dem Hof halte und haben wolle, und heja, was Ihr selber für einer seid. Ihr werdet mir's doch nicht zürnen. Wißt, man hat schon manchen für den besten Säer ausgegeben und dann wenn's drauf angekommen ist, so ist doch kein Segen aus seiner Hand, wohl aber Unkraut haufenweise herausgekommen. Es mag aber sein, ja gewiß, wenn 207 ich Euch vorher so gesehen hätte, wäre ich, wenigstens Euretwegen, nicht zur Zille in die Stadt gegangen.«
»Gut, es ist mir alles recht, Ihr habt's recht gemacht. Und nun seid Ihr ja auch hier auf der Umschau gewesen und ich habe weder mich, noch meine Leute, noch sonst ein Ding hinter ein Gesims voll Blumenstöcke gestellt, wie ich auch nie ermangeln werde, wissen zu wollen, was mit mir und um mich herum geht. Es ist nicht die Kresenz in der Küche allein, der ich etwa in den Topf gucke, um zu sehen, wie's mit dem Butterverbrauch steht und was sie über dem Feuer hat.«
»Und dann«, redete sie ablenkend, »hat mir Eure alte Haushälterin im Krankenhaus gesagt, der Garbenspeicher, der Heustock und der Miststock seien Euch nicht alles, Ihr habt auch noch an diesem und jenem Freude, was sonst der Bauer nicht beachte, was dem Bauer für gewöhnlich nicht einmal das Letzte, sondern gar nichts sei. Ihr könnet Euch an allerlei Schönem freuen, hat sie gesagt, denn Ihr habet die Augen dafür, was ich ja heute auch schon innegeworden bin. Ihr sollt sogar musikalisch sein.«
»Ja, aber nicht gefährlich«, antwortete er, noch helläugiger werdend. »Ich blase ein wenig die Klarinette, halt so Sonntags gegen Abend, hinten in unserer Ahnen stillem Kämmerlein. Da bekommt mein Spiel niemand viel zu hören, und ich habe 208 mein Freudlein dran. Ihr aber sollt klavierspielen können, sagt man. Ist auch etwas Schönes, ich höre es gern, wenn man's gut kann und nicht nur so drauflos hackt. Leider komme ich fast nie zu schöner Musik. Letzthin aber war ich doch in der Stadt in einem Nachmittagskonzert. Als ich dann wieder aus dem Licht, das meine Augen blendete, und aus dem Wohlklang auf die Straße hinausgekommen bin, war ich ganz benommen. Ich hab' eine Zeitlang gar nicht recht gewußt, was mit mir los sei, so bin ich mit ganzer Seele dabeigewesen. Man sollte eben mehr gute Musik hören können. Ich bin freilich schon froh, wenn der Wysel abends hie und da seine Handorgel eine Weile Tanz aufspielen läßt. Wie müßte unsereinem, der zu so was ja einfach nicht kommt, erst ein schönes Klavierspiel wohltun.«
Sie wich aber wieder aus. »Auch hat mir die alte Zille gesagt«, sprach sie, »das könne sie wohl begreifen, daß der Meister nach einer neuen Haushälterin trachte, denn er müsse ja durchaus eine guttuende Gehilfin haben, die ihm in allem Ordnung halte. Auch wolle ihr ja der Meister ihre Last, die Arbeit, mit der sie's doch alleweil schwer gehabt habe, für immer abnehmen. Er habe schon oft davon getönt und dabei auch etwa von einem Feierabendbänklein geredet, das ihr auf die alten Tage werden solle. Wenn sie aber nochmals aufkomme, so wolle sie mir dann 209 jedenfalls gern auf dem Hof an die Hand gehen, so gut das etwa ein abgewerkter Mensch noch könne. Ich solle nur frohgemut auf Rain eine Sache und die Leute erst recht anschauen gehen. Sie wäre froh, wenn ich dort oben ankäme, denn ich könnte am End für den Hansbaschi Hochrütiner die Richtige sein. Ich solle mich nur auch an den Zustupf halten, den ihr einst ihre Großmutter auf den Weg gegeben habe. Jener Spruch habe geheißen: Ich wünsche dir, daß du mit den andern Leuten nicht zuwenig und mit dir nicht zuviel Geduld haben mögest. Außerdem habe der Meister ja jetzt niemand, mit dem er eine Sache besprechen könne.«
Der Rainler hatte sich erhoben und nach Seppeli und der Kresenz zur Tür hinausgerufen. Und als nun aber die einstweilige Aushilfe für die Stubenmagd, die Putzerin Theres, in die Stube trat, gebot er ihr, dem Gast etwas Vesperbrot aufzutischen.
Jedoch die Frau Apollonia Winterlin wollte durchaus nicht länger bleiben. Sie erhob sich, und sich bedankend, sagte sie zum Bauer, er solle ihr's nicht zürnen, daß sie nun gehe. Sie müsse in die Molkerei, nach der Wanduhr sei's sogar höchste Zeit, die Bauern werden bald mit der Abendmilch anrücken, und da es Sonntag sei, so habe sie nur einen Burschen zum Helfen.«
»Ja, dann will ich Euch natürlich nicht zurückhalten«, sagte der Bauer, sich ebenfalls in seiner 210 ganzen Höhe und Breite vom Tisch erhebend. »Ihr könntet aber jetzt dann grad, wenn Ihr noch ein wenig wartet, mit dem Melker ins Dorf hinabfahren. Er muß gleich mit der Milch weg. Es fängt ja schon zu dämmern an.«
»O nein, Meister Hochrütiner, das will ich jetzt nicht. Habe nun doch keine Ruhe, kein Bleiben mehr. Also vergelt's Gott und gute Nacht!«
»Bis wann kann ich auf Euch rechnen?«
»He«, antwortete sie, schon einen Steinwurf weit vom Hause weg, »das hätte ich jetzt bald vergessen. Nach etwa drei Wochen, Meister, werde ich auf Rain eintreten, wenn's Euch so recht ist.«
»Gut, so schlaft wohl und kommt gut hinunter!«
Hansbaschi Hochrütiner machte sich zu seinem Bernhardiner vor den Roßstall. Dort ließ er sich auf die Bank an der Wand nieder und schaute, den Barri, der sich mit rasselnder Kette zu ihm gemacht hatte, über den Kopf streichelnd, der abwärtsgehenden kleinen Witfrau nach. »Ja, ja, die Zille«, machte er so vor sich hin, »aber die Kleine da aus dem Schloo könnte auch recht werden oder dann sind meine Augen Narren. Und«, er wurde völlig hellscheinig, »jung ist ja das Frauchen zwar noch, und wie jung, aber für einen Fehler, einen Währschaftsmangel«, er ließ aus einem stillen Lächeln seine immer noch guten Zähne sehen, »kann ich das grad auch nicht nehmen.« 211