Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Achtes Kapitel.

Jürgens Reise mußte so eingerichtet werden, daß sie stattfand, ehe die Schlittenfahrt aufhörte, denn die Tauzeit konnte bis Johannis dauern, und Pferdebeine auf den dann grundlosen Wegen aufs Spiel zu setzen, wäre doch Wahnwitz gewesen. Sollte er nicht eines ganzen Jahres verlustig gehen, dann mußte er bei Zeiten in die Stadt und sich zur Aufnahme in die Schule vorbereiten.

Er ging immer in tiefen Gedanken und Grübeleien über alles das umher, was er nun aufgeben mußte: Gewehr, Schlitten, Schneeschuhe, Drehbank, Werkzeuge, die auf und zwischen den Anhöhen aufgestellten Wind- und Wassermühlen, alles das mußte selbstverständlich jemand vermacht werden. Hier kam natürlicherweise Thea in erster Linie in Betracht, und dafür sollte sie alles gut aufbewahren, bis er einmal wieder nach Hause kam.

Hätte man ihn gefragt, was er am liebsten werden möchte, würde er geantwortet haben: Drechsler, Müller oder Schmied – das letzte, was in den Kreis seiner Vorstellungen getreten wäre, oder wozu er Trieb oder Neigung gefühlt hätte, wäre wohl die Erhebung in die höheren Regionen der Buchgelehrsamkeit gewesen. Allein Hellas und Latium lagen nun einmal wie ein unabweisbares Geschick in seinem Wege, so daß es nutzlos gewesen wäre, auch nur einen Gedanken an etwas andres zu verschwenden.

In den Taschen der neuen Kleider, die aus abgelegten des Hauptmanns hergestellt waren, steckte am Reisetage ein ganzer Pack geheimer Depeschen: erstens, ein vierzehn Seiten langer Brief, den Thinka bei nachtschlafender Zeit unter reichlichen Thränenergüssen an Inger-Iohanna geschrieben und worin sie alle Einzelheiten über Ursprung, Fortgang und hoffnungslose Entwickelung ihrer Liebe zu Ohs geschildert hatte. Sie besaß drei Erinnerungszeichen an ihn: eine kleine Vorstecknadel, ein Eau de Colognefläschchen, das er ihr einmal zu Weihnachten geschenkt und endlich den Brief mit der Haarlocke, den er ihr an dem Morgen gegeben hatte, als er aus der Schreibstube entlassen worden war. Und wenn sie nun auch nicht gegen ihre Eltern handeln, sondern lieber selbst unglücklich werden wollte, so habe sie ihm doch das unverbrüchliche Versprechen gegeben, ihn nie, nie zu vergessen – bis zu ihrem letzten Atemzuge an ihn zu denken.

Die zweite Depesche war von Ma an Tante Alette und enthielt – außer einigen ökonomischen Vorschlägen –einen kleinen Wink, Inger-Johanna vorsichtig auszuforschen, wann Hauptmann von Rönnow aus Paris zurückkehre. Ma könne in der letzten Zeit nicht recht klug aus ihr werden.

Daß nach Jörgens Abreise eine solche Leere im Hause entstehen würde, hätte der Hauptmann sich nie vorgestellt. Der Junge hatte den Tag auf seine Art ausgefüllt, Veranlassung zu mancherlei Gemütsbewegungen, zu vielen Anstrengungen und auch manchem Aerger gegeben und so viel zu einem gewissen raschen Blutumlauf beigetragen, so daß dem Hauptmann, jetzt, wo er fort war, ein heilsam wirkendes Element fehlte. Jetzt hatte er nichts mehr zum heimlichen Beobachten und Beaufsichtigen, zur Hebung seines Scharfblickes und zu einer gelegentlichen Ueberrumpelung – nur mit der ruhigen, nie zu Tadel Anlaß gebenden Thea konnte er Schule halten. Der Corpsarzt hatte ihm deshalb aus Vorsicht eine blutreinigende und blutverdünnende Löwenzahnkur angeraten.

Und als nun der Frühling kam, überall blendendhell und glänzend wie Wasser, mit schmelzenden Schneeflächen und seinen Vortruppen von roten Blumen an den steilen Bergwänden, da war Thinka schon mit dem Tischmesser draußen und stach Löwenzahnwurzeln. Sie waren noch klein, jung und hell, aber sie wurden von Tag zu Tag kräftiger.

Der Hauptmann leerte mit militärischer Pünktlichkeit jeden Morgen um sieben seine bestimmte Anzahl von Bechern und stürmte dann hinaus.

Heute schlug ihm ein schwerer, rauher, eiskalter, mit Hagel und Schnee vermischter Regenschauer in der Hausthür entgegen und drang weit in den Flur hinein, und die Bergabhänge lagen wieder weiß da. An den letzten Morgen hatte er die Richtung nach den neuangelegten Kartoffeläckern genommen, die jetzt umgepflügt werden sollten, aber in diesem Wetter! ...

»Wir müssen die Erdarbeiten aufgeben, Ola!« rief er befehlend in den Hof hinaus. »Es sieht ja gerade so aus, als ob wir die Gäule noch einmal an den Schneepflug spannen müßten.«

Dann watete er weiter, denn das war kein Wetter, wo man ruhig an einem Fleck stehen bleiben durfte. Gegen die Fenster der Wohnstube trieb und strömte es in ganzen Schauern und drang hinein, so daß es notwendig war, unaufhörlich aufzuwischen und Tücher auf die Fensterbänke zu legen. Drinnen im trüben Tageslicht standen Ma und Thinka über den Früchten ihrer gemeinsamen Winterarbeit am Webstuhl, einem Stück noch ungebleichten Drells, das sie ausmaßen und berechneten, wie es sich am vorteilhaftesten zu Tischtüchern und Servietten verarbeiten lasse. Plötzlich ging die Thür weit auf und die dicke, nasse, in einen Mantel gehüllte Gestalt des Hauptmanns wurde sichtbar.

»Ich habe da unten jemand getroffen, der etwas für dich hatte, Thinka ... in Wachstuch gepackt. Weißt du, von wem das ist?«

Thinka ließ den Drell fallen, errötete tief und trat einen Schritt auf ihren Vater zu, verneinte aber gleichzeitig die Frage durch ein entschiedenes Kopfschütteln.

»Rejerstadt, der Pfändungsgaul, hatte das bei sich auf einer Reise hier herauf und hatte den Auftrag, es hier abzugeben.«

Der Hauptmann hatte unterdes das Paket genauer betrachtet.

»Das ist ja das Siegel des Vogts – gebt 'mal die Schere her!«

In seinem Eifer nahm er sich nicht einmal die Zeit, abzulegen.

»Ein Son–nen–schirm... ein sehr schöner ... neuer ..!« rief Thinka aus und starrte ihn regungslos an,

»Nun seh' mir einer den alten ... Schwernöter an! Der Vogt strengt sich ja gewaltig für dich an, Thinka.«

»Siehst du denn nicht, hier steht ›Vielliebchen‹ auf dem Zettel,« rief Ma lachend, um ihrer verlegenen Tochter zu Hilfe zu kommen.

»Ja, richtig: ich habe ihm ein Vielliebchen abgewonnen... am Neujahrstag, als Vater und ich bei Pastor Horn zu Mittag aßen – nach der Kirche. Ich hatte das rein vergessen,« sprach Thinka tonlos, erhob den Blick halb vom Boden und sah ihre Eltern an. Dann ging sie still hinaus und ließ den Sonnenschirm auf dem Tische liegen. »Hm, es will mir fast scheinen, als könntest du den neuen Drell zu einer Aussteuer nötig haben, Ma,« meinte der Hauptmann händereibend und warf seinen Mantel mit einem gewissen Schwung ab. »Was sagst du zum Vogt als Schwiegersohn hier auf Gilje?«

»Thinka ist fortgelaufen, das hast du doch gesehen, Jäger,« antwortete Ma mit leicht bebender Stimme. »Es scheint ihr wohl, als ob es noch nicht sehr lange her sei, seit er seine Frau ins Grab gelegt hat. ... Thinka ist so seelengut und möchte sich so gerne fügen, aber alles hat doch auch seine Grenzen, und man darf nicht zu viel verlangen.«

Als sie sich dem Drell wieder zuwandte, lag etwas Hastiges in ihren Bewegungen, das auf einen inneren Aufruhr schließen ließ. »Aber der Vogt, Ma! – Ist denn der etwa keine gute Partie? Ein netter, hübscher Mann in den besten Jahren. Ich weiß ums Leben nicht, was ihr Frauenzimmer eigentlich wollt... und Gitta,« fuhr er mit etwas bewegter Stimme fort, »es sind gewöhnlich die Männer, die in ihrer ersten Ehe am glücklichsten gewesen sind, die sich am schnellsten wieder verheiraten,« – –

Mit reißender Schnelligkeit ging es auf Johannis los. Frühlingsgärung erfüllte Luft und Wasser. Die Feldflur lag feucht und naß, Hügel auf, Hügel ab in tiefem Grün, wie eine üppige Weide. Die angeschwollenen Bäche brausten und rauschten in ihren frisch erblühten Ufern; sie schäumten gleichsam über von denselben Lebenskräften und -säften, die die Knospen der Erlen, Weiden und Birken fast mit einem hörbaren Knall aufsprengten und deren Wirkung auch in den kraftvollen, lebendigen Bewegungen, der raschen Sprache und den lebhaft blickenden Augen der Hochlandsbursche zu Tage trat.

Im Anfang des Sommers traf auch ein Brief von Inger-Johanna ein, dessen Inhalt den Gedanken des Hauptmanns eine neue Richtung gab:

»Christiania, 14. Juni 18 ...

Liebe Eltern!

»Endlich ein kleiner Augenblick, um an Euch zu schreiben. Hauptmann von Rönnow ist gestern wieder abgereist, und ich habe mich von den ununterbrochenen gesellschaftlichen Anstrengungen während der zwei, drei Wochen seines Hierseins noch nicht erholen können.

»Wie schön wird es nach alledem sein, wenn wir nächste Woche nach Tilderöd gehen, denn es fangt schon an, recht heiß und dumpfig in der Stadt zu werden.«

»Kein Tag ist vergangen, wo wir nicht in Gesellschaft waren, entweder zum Diner, oder abends, aber die Perle von allem waren doch Tantes eigene kleine Mittagessen, die berühmt sind und bei denen wir fast ausschließlich französisch sprachen. Die Unterhaltung ging so flott; es stehen einem ja da ganz andre Ausdrücke zu Gebote, und die Gedanken jagen einander, noch ehe sie ganz ausgesprochen sind. Rönnow spricht aber auch ein glänzendes Französisch!«

»Ein Mann, der sich so zu benehmen versteht wie er, macht einen gewissen vornehmen Eindruck; man fühlt sich in eine Atmosphäre ritterlicher, männlicher Würde erhoben und hört Sporen klirren –ich hätte fast gesagt, musikalisch – man vergißt ganz, daß es Leute gibt, die schwere Tritte haben.«

»Wenn ich die plumpen Schmeicheleien, die ich auf den Bällen anhören muß und die mir beinahe wie ein Schlag ins Gesicht klatschen, mit Hauptmann von Rönnows Art und Weise, etwas zu sagen, oder nicht zu sagen, und doch eine Sache klar zu machen, zusammenhalte, dann kann ich nicht in Abrede stellen, daß ich in seiner Nähe das Gefühl eines gewissen unbestimmten Wohlbehagens empfinde. Er behauptete, er habe eine Art Traumgesicht gehabt, während er mir gegenüber am Tische saß. Ich gliche ganz außerordentlich einem Bildnis, das er im Louvre gesehen habe, dem einer Dame mit geschichtlichem Namen und die natürlich schwarzhaarig war, den Nacken hochmütig trug und mit einem Ausdruck vor sich hinlächelte, daß man darunter schreiben könnte: ›Ich warte – und teile Körbe aus – bis der kommt, der mich auf den rechten Platz stellen kann!‹«

»Nun, wenn er Freude daran findet, sich etwas Derartiges auszudenken, dann will ich solche Schmeicheleien gern hinnehmen. Es gibt ja Paten und Onkel, die rein vernarrt in ihre Patenkinder oder Nichten sind und sie mit Redensarten und Leckereien verziehen. Ich fürchte, Herr von Rönnow ist ein bißchen vernarrt in mich, denn so verständig und gehalten er sonst auch ist, so wird er doch, wenn von mir die Rede ist, immer etwas überschwenglich, und ich kann ja nicht anders, ich muß ja einsehen, daß das sowohl schmeichelhaft, als auch unterhaltend für mich ist, wenn er immerzu versichert, ich sei gerade wie dazu geschaffen, in einem Hause, wo Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft verkehren, die Honneurs zu machen. Er muß eine viel höhere Meinung von mir haben, als ich verdiene, weil er sieht, daß ich wohl ein bißchen aufrichtiger und mehr geradeaus bin, als andre, und es nicht in meiner Natur liegt, mit meiner Meinung hinterm Berge zu halten, selbst in Gesellschaft nicht.

»Ja, ja, das ist nun Euer Dank dafür, daß Ihr mich beständig verzogen habt. Auf alle Fälle verkrieche ich mich nicht gleich unter einen Stuhl, sondern versuche solange als möglich sitzen zu bleiben, wo ich sitze.

»Aber warum hat sich denn ein solcher Mann nicht verheiratet? Wäre er jünger und ich ein bißchen empfänglicher gewesen, dann hätte er mir gefährlich werden können. Sein Haar ist noch sehr hübsch und schwarz; ein bißchen dünn auf dem Scheitel und mit vieler Sorgfalt gepflegt ist es ja freilich. Aber eins kann ich nicht begreifen: daß die Leute ihr Alter zu verheimlichen suchen ...«

Der Hauptmann kratzte sich an der Perücke.

»Na, wenn man auf Freiersfüßen geht! Was meinst du, Ma?«

Zwei Posttage später kam er mit einem langen Briefe von Tante Alette an Ma nach Hause. Tante Alette stand nicht gerade in hoher Gunst bei ihm, denn erstens war sie ihm »zu belesen und gebildet«, ferner war sie zu »süßlich«, und endlich war sie eine alte Jungfer.

Mit entsagungsvoller Miene und über dem Magen gefalteten Händen ließ er sich auf dem Lehnstuhl nieder und bat Ma, ihm das Schriftstück vorzulesen, das er augenscheinlich als ein saures Aktenstück betrachtete:

»Meine liebe Gitta!

Es ist wahrlich kein leichter Auftrag, sondern ein recht verwickelter und schwieriger, den Du damals auf die Schultern einer alten Jungfer geladen hast – wenn es auch Deine Dich nie im Stiche lassende, treueste Tante Alette ist. Könnten wir nur einmal zusammen sprechen, dann würdest Du alles leicht begreifen: aber nun bleibt mir kein andrer Ausweg, mein Gewissen zu erleichtern, als zu schreiben, bis endlich alles heraus ist, was ich auf dem Herzen habe.

»Du weißt ja wohl noch, daß die Stiftsamtmännin nicht gerade eine von meinen Leuten ist, und wenn nicht das gewesen wäre, was Du mir schriebst, als Du Inger-Johanna hierher schicktest, dann hatte ich meine alten Knochen gewißlich nicht aus der Altstadt, wo ich meine paar festen Freundschaften habe, herausgeschleppt, um der Stiftsamtmännin meinen Staatsbesuch zu machen, obgleich sie immer über alle Maßen freundlich gegen mich ist und es wohl auch aufrichtig meint.«

»Zuerst und vor allen Dingen muß ich Dir jedoch sagen, daß Inger-Johanna in jeder Beziehung eine Dame ist, aber doch mit mehr Kraft und Saft in sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, und auch mit einem stärkeren Willen begabt, als unsre arme Eleonore! Eins ist sicher: daß sie in mancher Hinsicht Deiner Schwägerin Achtung abnötigt, um nicht zu sagen, sie beherrscht, trotzdem diese sonst für streng und absprechend gilt. Und deshalb muß Deine Schwägerin auch in vielen Dingen ihre Zuflucht zu Schleichwegen nehmen, weil sie einsieht, daß sie ihr Spiel nicht offen vor Inger-Johannas Augen aufdecken darf, und das hat sie meiner festen Ueberzeugung nach gerade in Hinsicht auf den Hauptmann gethan. Er ist diesmal von seiner Pariser Reise ganz bestimmt mit dem Gedanken hierher gekommen, seine Werbung zu Ende zu bringen, nachdem er wie ein kluger Feldherr das Gelände zuerst mit eigenen Augen erkundet hatte. Schon allein die Art und Weise, wie er immer mit ihr verkehrte und ihr aufwartete, hätte einen Blinden überzeugen können.«

»Ungeachtet sie auf tausenderlei Weise angegriffen wird, ist der Gegenstand selbst, dem diese Angriffe gelten, die einzige, die nichts zu merken scheint. Sie sitzt unbefangen inmitten der Weihrauchwolken, in Wahrheit beschützt gegen die Schlangenweisheit der Welt durch ihre natürliche Unschuld, über die man sich nicht genug wundern kann, und die alte Tante Alette sagt jetzt auch bewundern, denn das Mädchen hat doch einen ganz ungewöhnlich scharfen Verstand.«

»Ganz davon freisprechen, daß all der Weihrauch, womit er und auch Deine Schwägerin sie unaufhörlich umhüllen (und womit ältere und erfahrenere Menschen keine Nachsicht haben, und was sie einem jungen Mädchen nie vergeben), ihr nicht den Kopf etwas verdrehe, will ich sie ja nicht, aber der Schwindel geht nicht in der gewünschten Richtung, nämlich er führt nicht zum Verlieben, sondern nur dazu, ihr Bewußtsein als Dame zu erhöhen, und sie beschränkt sich darauf, in ihm den ritterlichen Kavalier und – ihres Vaters hochgeschätzten Freund zu verehren.

»Das ist es, was ihn für diesmal, sozusagen, zurückgeschlagen hat, so daß er unverrichteter Sache wieder abgereist ist, und zwar gewiß auf den Rat Deiner Schwägerin. Wenn meine alten Augen mich nicht täuschen – und ein klein wenig haben wir ja in dieser Welt gesehen und erlebt, sowohl jede für sich, als auch gemeinsam, liebe Gitta! – ist Inger-Johanna noch nicht reif für eine Liebeswerbung, da ihre Eitelkeit und ihr Stolz bisher eine andre Empfindung nicht haben aufkommen lassen ...«

Ein tiefes Schnarchen ertönte vom Lehnstuhl, und sie fuhr mit leiserer Stimme fort:

»Sie mag wohl danach trachten, und vielleicht ziemlich heiß, in einem feinen Salon zu herrschen, aber sie ist gewiß noch nicht zu der Einsicht gekommen, daß sie dann auch den Herrn nehmen muß, dem besagter Salon gehört. In ihrem offenen Wesen liegt etwas, was den Graben zwischen diesen zwei Fragezeichen für zu breit hält, als daß selbst ein Reiterhauptmann ihn nehmen könnte. Gott segne sie dafür!

»Mit der Liebe kommt ein Erwachen, ohne das man nichts von ihrer heiligen Sprache versteht, und wehe denjenigen, die sie zu spät kennen lernen, wenn sie sich schon in sogenannte Pflichtbande haben schlagen lassen! Von unsrer Inger-Johanna glaube ich zuversichtlich, daß die Liebe bei ihr noch nicht erwacht ist – möge ein guter Engel sie beschützen!«

»Larifari! So 'ne alte Jungfer!« rief der Hauptmann erwachend. »Weiter ... weiter ... kommt noch mehr?«

»Ob der junge Student, der eine Stelle auf der Schreibstube des Stiftsamtmanns hat, in irgend einer Weise diesen Plänen hinderlich werden kann, darüber kann ich weder nach der einen, noch nach der andern Richtung etwas sagen; daß aber die Stiftsamtmännin etwas fürchtet, davon bin ich nach der ganzen Art und Weise, wie sie ihn letzthin behandelt hat, unerschütterlich überzeugt, wenn sie auch viel zu abgefeimt ist, Inger-Johanna auch nur den geringsten Schatten ihrer wahren Beweggründe sehen zu lassen.

»Ich habe es ja deutlich gemerkt, als ich am Sonntag, vor ihrer Abreise nach Tilderöd zum Kaffee da war und sie sich durch das Mädchen verleugnen ließ, als er gemeldet wurde; und nachher sprach sie in keineswegs gnädigen Ausdrücken von seinen ›Sonntagsvorlesungen über rabulistische Gedanken‹, wie sie es nannte«.

»Ich nehme an, daß das etwas von der Art ist, wofür auch ich in meiner Jugend geschwärmt habe, als ich Rousseaus Emile las, der mich sehr anzog und selbst jetzt noch meine Gedanken teilweise beschäftigen kann. Sie erwähnte als eine seiner Hauptanschauungen, daß er in seiner thörichten Blindheit glaube, die Welt vereinfachen und darin zuerst und vor allem die Erziehung auf einzelne, ganz wenige, natürliche Lehren oder sogenannte Grundsätze zurückführen zu können. Und Du weißt ja, wie wir – aber ich werde zu weitschweifig. Um mich kurz zu fassen: als Inger-Johanna anfing, ihn mit Heftigkeit zu verteidigen, sprach sie von ihm nur noch als dem Sohne des verrückten ›Kadetten von Lurlejken‹, wie er genannt wird, eine der im ganzen Lande wohlbekannten lächerlichen Persönlichkeiten; er aber sei, außer mit seines Vaters verdrehten Ideen, noch mit einer besonderen Fähigkeit ausgerüstet, die gefürchtetste Waffe zu handhaben: die Satire – voilà, das Blendwerk Grip!«

»Jugendliche Studentenideen könnten als pikanter Unterhaltungsstoff möglicherweise ganz brauchbar sein, aber von da bis zu seiner thörichten und Aufsehen erregenden Art, sie ohne Achtung vor der Ansicht älterer Leute ausführen zu wollen, sei denn doch ein gewaltiger Schritt; es sei Ueberhebung und verrate etwas Unreifes, Neugenerationsmäßiges, das unter keinen Umständen geduldet werden dürfe.«

»Das alles habe ich so weitläufig ausgeführt, um Dir aus den Aeußerungen selbst zu beweisen, daß hier hinlänglich viel Baumwolle in der Leinwand steckt, wie man sagt. Und da ich mein Herzinnerstes ans Tageslicht bringen muß, will ich Dir noch sagen, daß er, Grip, mir so aussieht, wie ein vertrauenswerter, wahrheitsgetreuer junger Mann, der so spricht, wie es seine Natur verlangt, und nicht anders, auch trägt er den schönen Stempel der Wahrheit in seinem Angesicht und ganzen Wesen! Ob er möglicherweise das Wort vergißt: ›Mein Sohn, wenn du in der Welt vorwärts kommen willst, dann lerne, dich zu bücken,‹ weiß ich nicht, aber das wäre ja auch am schlimmsten für ihn selbst und macht ihm keine Schande, das wissen wir.

»Mit ihm zu sprechen, war für mich auch eine wahre Erquickung, als ob ich in das Reich der Jugend blickte, und es erweckte mancherlei Gedanken in mir. Die Gelegenheit dazu fand sich, als er mich, die für ihn wohl wenig anziehende alte Jungfer, an zwei Abenden diesen Winter den weiten Weg von Stiftsamtmanns nach der Altstadt begleitete, den ich sonst nur mit Furcht und Zittern mit meinem Mädchen und meiner Laterne zurücklege.« »Ach was! Der thut keiner was!« brummte der Hauptmann schläfrig.


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