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Nun war es Hochsommer geworden; auf den Bergen lag der flimmernde Duft der Hitze, und die fernen Spitzen sahen aus, als ob sie im Rauche schwebten.
Der Hauptmann stand nach beendigtem Mittagsschläfchen unten am Acker und sah zu, wie Stor-Ola mit den Pferden das alte Brachland, das in diesem Jahre besät werden sollte, umpflügte.
Die Hummeln summten im Garten, und Thinka und Inger-Johanna machten am Steintisch in der Laube, wo sie tief über zerlesene, blau eingebundene Bücher gebeugt saßen, deren zerknitterte Blätter starke Fingerspuren zeigten, dieselbe eintönige Musik. Mit aufgestemmten Ellbogen, die Köpfe dicht nebeneinander, lernten sie den Katechismus mit Erklärungen. Sie mußten bis zum Vesperbrot von Seite 84 bis Seite 87 lernen und hatten sich die Finger in die Ohren gesteckt, um sich nicht gegenseitig zu stören.
Plötzlich fiel ein Schatten von der andern Seite des Gartenzauns in die Laube, allein sie sahen und hörten nichts, bis sich jemand lustig räusperte.
»Ist es erlaubt, die jungen Damen mit einem irdischen Anliegen zu stören?«
Sie blickten beide gleichzeitig in die Höhe. Das lichte Hopfenlaub an der Laube war noch nicht vollständig an den Bindfaden in die Höhe geklettert und versperrte die Aussicht nicht.
Mit den Armen auf den Gitterzaun gelehnt, stand ein junger Mensch da; sein Kopf war mit einer fast schirmlosen flachen Mütze auf starkem braunen Haar bedeckt, sein Gesicht von der Sonne verbrannt und geschwollen; aber ein Paar gräßliche, verschmitzte Augen starrten die jungen Mädchen an!
Weiter hatten sie nichts gesehen. Wie auf Verabredung sprangen sie beim Anblick der Erscheinung auf und rannten, die Bücher im Stiche lassend, voll Schrecken durch die Pforte der Laube die Treppe hinan zu Ma, die in der Küche mit dem Schneiden des Vesperbrotes beschäftigt war.
»Da stand einer – da war einer – draußen am Gartenzaune – das war aber nicht so einer, wie sie immer hier umhergehen und betteln.«
»Lauf 'mal hin, Jörgen, und hör, was er will,« sprach Ma, die die Sachlage rasch erkannt hatte, »nimm den Weg durch die Beischlagthür. Du mußt so thun, als ob du ganz zufällig kämest.«
Die beiden jungen Mädchen sprangen an die Fenster der großen Stube und guckten unter den Vorhängen hinaus.
Der Fremde kam gerade mit Jörgen die Haustreppe herauf, wo dieser von ihm fort in die Küche lief.
Die kleine Thea stand mit ihrem Butterbrot an der Thür der Wohnstube. Sie hatte die Klinke in der Hand, hielt die Thür halb offen und starrte den Fremden an.
»Ist dein Vater daheim?«
»Ja, aber du mußt den Weg durch die Küche nehmen, hörst du – und warten, bis wir unser Vesperbrot gegessen haben; vorher geht Vater nicht aufs Dienstzimmer.« Sie glaubte, es wäre ein Militärpflichtiger, der sich in die Stammrolle eintragen lassen wollte.
»Aber ich will gar nicht aufs Dienstzimmer, siehst du ...«
Jetzt trat Ma, die in der Hast eine Haube, aber etwas schief aufgesetzt hatte, selbst aus der Küche.
»Ein junger Mensch, der, wie ich sehe, heute einen weiten Weg gemacht hat ... Seien Sie so gut und treten Sie ein.«
Ihr Lächeln war wohlwollend, aber ihr Auge blickte scharf, wie das eines musternden Offiziers. Da waren Löcher und augenscheinlich erst vor kurzem mit grobem Zwirn gestopfte Stellen, auch Risse in Menge, und es war nicht leicht, sich eines gewissen Mißtrauens, daß man ein etwas zweifelhaftes Wesen vor sich habe, zu erwehren, um so mehr, als er beim Eintreten gleich die Bemerkung machte: »Ich komme wie ein Landstreicher aus den Bergen und muß sehr um Verzeihung bitten.«
Mas prüfender Blick war inzwischen durch die Schale gedrungen. Der weiße Rand oben unter der Mütze, wo die Haut nicht von der Sonne verbrannt war, und sein ganzes Gebaren bestimmten sie, ihn sehr genau anzusehen.
»Wollen Sie nicht, bitte, Platz nehmen? Mein Mann wird gleich kommen,« sprach sie und ging wie zufällig an ihm vorbei an den Nähtisch, um diesen zu schließen. »Ich werde mir einstweilen erlauben, Ihnen einen Schluck Milch anzubieten.«
Sie ging hinaus, und gleich darauf trat eine Magd mit einer großen Schale ein, die sie ihm vorsetzte, worauf sie wieder verschwand.
Er trank, maß mit den Augen aus, wie viel er getrunken hatte, trank wieder und maß noch einmal.
»Das ist köstlich ... gleicht der Hausfrau durchaus nicht... denn die sah ziemlich blausauer aus und« – er stieß einen tiefen Seufzer aus – »furchtbar ehrwürdig.«
Er trank noch einmal.
»Ja, nun müßte man wohl eigentlich aufhören, aber sintemal und alldieweil...«
Er trank noch einmal und setzte die nun leere Schale auf den Teller.
»Das beste wäre wohl, wenn ich ihn gleich damit überfiele! ...Reisegeld ganz alle geworden....Wollen Sie mir auf mein ehrliches Gesicht vier...nein, das klingt schlecht... besser gleich fünf Thaler leihen, so daß ich nach Christiania zurückkommen kann?«
Die kleinen Augen blinzelten rasch ein paarmal, und wäre der Hauptmann jetzt eingetreten...
Er starrte wie geistesabwesend vor sich hin, wiederholte innerlich die Rede, die er halten wollte, und änderte sie fortwährend, bis er wieder vor dem kitzlichen Punkte stand, dem Betrag! Er überlegte, ob es wohl genügte, wenn er nur um vier bäte, oder um drei!
Jetzt knurrte es draußen auf dem Gange, und der Hund sprang bellend hinaus. Das war gewiß der Hauptmann.
Der junge Mann stand auf, setzte sich aber wieder hin, jedoch in einer Haltung, der man ansah, daß er bereit war, wie eine Feder vom Stuhle emporzuschnellen,
»In der Stube? Ein junger Mensch, der mit mir reden will?« Das wurde draußen auf der Treppe gesprochen, und nach wenigen Augenblicken erschien der Hauptmann in der Stubenthür.
»Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, Herr Hauptmann; ich bin unglücklicherweise... unglücklicherweise...«
Er fing an zu stammeln. Das Unheil wollte, daß eins von den jungen Mädchen, die draußen in der Laube gesessen hatten, das mit den dunklen Haaren, hinter dem Vater eintrat, und da ging es doch nicht an...
»...von oben aus den Bergen gekommen,« fuhr er demnach fort. »Sie werden es begreifen, daß man sich da nicht in seiner besten Verfassung vorstellen kann.« Die letzten Worte sprach er in einem gezwungen lustigen Tone, aber der Hauptmann sah nach dieser Einleitung nicht gerade freudig überrascht aus.
»Mein Name ist Arent Grip...«
»Arent Grip?« rief der Hauptmann und sah ihn an. »Grip? ... Ganz dasselbe Gesicht und die gleichen Augen!. .. Doch nicht am Ende gar der Sohn des Perpetuum? Des Kadetten auf Lurlejken? Der ist Landwirt oder Gutsbesitzer, wie er sich wohl nennt, irgendwo da unten am Fjord.«
»Das ist mein Vater, Herr Hauptmann,«
»Treibt er es denn immer noch so mit seinen mechanischen Ideen?« fragte Jäger. »Er hatte ja wohl einmal den Bach durch das Dach des Stallgebäudes geleitet, so daß das Vieh ein Sturzbad bekam, als die Rinne undicht wurde.«
Inger-Johanna gewahrte eine entrüstete Bewegung, als ob der Fremde plötzlich nach der Mütze greifen wolle.
»Schade... schade... daß in jener Zeit ein Mann, wie mein Vater einer ist, sich nicht die nötigen Vorkenntnisse verschaffen konnte.«
Das sprach er mit einem so tiefen Ernst, daß man meinte, er habe seine Umgebung vergessen.
»So, so, also das ist Ihr Herr Vater! Nun müssen Sie aber zum Vesper bei uns bleiben, ehe Sie weiter wandern. Sag doch Ma, Inger-Johanna, daß sie einen Schluck zu trinken und etwas Butterbrot hereinschicken soll. Wenn Sie aus den Bergen kommen, werden Sie hungrig sein. Setzen Sie sich doch. – Und was ist denn Ihre Anstellung... oder Ihr Beruf auf dieser Welt, wenn ich mir die Frage erlauben darf?« fuhr der Hauptmann fort.
»Student! – Und, Herr Hauptmann!« – er verschluckte sich in seiner Hast, den Augenblick zu benutzen, während sie allein waren – »wenn ich so frei... war, so ohne weiteres zu kommen, ohne Sie zu kennen...«
»Student!« wiederholte der Hauptmann. »Ja, das habe ich mir gleich gedacht... auf den ersten Blick... aber dann kam es mir wieder so vor...« Er räusperte sich verlegen. »Na ja, Ihrem Herrn Vater machten diese Examina auch Schmerzen,« fuhr er gutmütig zögernd fort.
»Ich habe nicht einen Bruchteil von meines Vaters Kopf, aber für das, was ich habe, ist mir doch im vergangenen Jahre das laudabilis prae ceteris gegeben worden.«
»Sohn meines alten Freundes Fin Arentzen Grip! – Ihr Herr Vater war im Grund ein guter Kopf, man könnte fast sagen – ein Genie... und daß das beim Offiziersexamen nicht so ganz klappte, daran waren seine unklaren Ideen schuld. ... Also von dem sind Sie ein Sohn? Ja, ja, der hat mir manchen norwegischen Aufsatz gemacht... mit dem norwegischen Stil haperte das immer ein bißchen bei mir, wissen Sie...«
»...Und, Herr Hauptmann!« sprach der junge Mann mit festerer Stimme, in der Absicht, diesmal unbeirrt auf sein Ziel loszugehen, »wenn ich mich so ohne weiteres vertrauensvoll an Sie wende...«
»Sag doch Ma,« rief der Hauptmann, als Inger-Johanna in diesem Augenblick mit ihrer älteren Schwester eintrat, »sag doch Ma, es sei der Herr Studiosus Arent Grip, der Sohn meines alten lustigen Kameraden von der Kriegsschule.«
Die Folge der letzten Botschaft war, daß sich das bescheidene Tellerchen mit einem kleinen Gläschen Branntwein und einem Butterbrot in eine ausgiebige Vespermahlzeit auf einem Theebrett für ihn und den Hauptmann verwandelte.
Der alte rotlackierte Brotkorb war mit Schnitten sauren Schwarzbrotes gefüllt, dessen Kruste sich abgetrennt hatte. Es wäre leider im Ofen mißraten, erklärte Ma entschuldigend, und der Student bewies seine Nachsicht mit diesem Mangel dadurch, daß er einen förmlich mörderischen Hunger entwickelte. Die Salzklumpen, womit die Butter aus Sparsamkeit durchsetzt war und die mit perlenden Thränen in reichlicher Menge aus der Oberfläche hervorragten, entfernte er mit raschem Kunstgriff, der den beobachtenden Augen keineswegs entging, durch einen einzigen Schlag seines Messers auf die Unterseite der Schnitten, so daß es Salzklumpen auf den Teller regnete und hagelte.
»Möchten Sie nicht noch etwas Rauchfleisch nehmen? Sie werden wohl heute nicht sehr viel gegessen haben... hol noch etwas herein, Thinka... Einen kleinen Schluck zum Käse? Wie? Sie können sich denken, daß wir manchen guten alten Käse auf der Bude Ihres Herrn Vaters versucht haben – und erst die Aepfel von Bergen, die er scheffelweise mit den Schiffen von Hause erhielt. Er war ein so gutmütiger und unerfahrener Landjunge – viel zu gutmütig für solches Rackerzeug, wie wir waren. Ja, ja, wie haben wir seinen Schrank und seine Kisten und Kästen heimgesucht! Und dann ließen wir uns zum Dank die Aufsätze von ihm machen; es waren immer nur die seinigen, die der Lehrer von der ganzen Klasse erhielt und durchsehen mußte.«
Der Hauptmann trank den Rest seines zweiten Glases Branntwein aus. »Brr!« machte er und hielt das Glas gegen das Tageslicht, wie er das zu thun pflegte. »Aber er hatte doch etwas Wunderliches an sich, – Nun, das liegt ja auf der Hand, daß sich so ein Landjunge nicht so mir nichts dir nichts auf einmal in neue Verhältnisse findet... , Ich vergesse niemals, wie er uns das erste Mal einen Vortrag über das Perpetuum hielt! Das wurde bekannt und das war es, was ihn eigentlich zu Grunde richtete. Die Leute kamen dahinter – nun, das werden Sie sich ja denken können, wie das zuging – sie hielten sich auf, machten sich über ihn lustig und hatten ihren Spaß mit ihm, und das schadete ihm im Examen.«
Der Student rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, und der Beobachtung der jungen Mädchen, die mit ihrer Näherei am Fenster saßen, entging es nicht, daß er sich jetzt vergaß – bisher hatte er sich bemüht, zu verbergen, daß an einem seiner Stiefel die Sohle himmelschreiend vom Oberleder abstand. Sie waren in sehr lustiger Stimmung und getrauten sich nicht, einander anzusehen. Es war aber auch zu toll: der Sohn eines Mannes, der Perpetuum hieß, Kadett gewesen war – und dem Vieh Schauerbäder gab! Vater war doch zu gelungen, wenn Fremde da waren!
»Daß er gute Ideen hatte, konnte nicht einen Augenblick bezweifelt werden, allein es war etwas eigentümlich Halsstarriges an ihm. Wenn einer wie er vom Bauernhof in die Stadt kommt und dann gleich anfängt, sich mit den Lehrern über das, was in den Büchern steht, herumzuzanken, das geht doch nicht – und nun gar auf der Kriegsschule und in der Physik – und das gab denn, wie Sie sich denken können, eine schöne Komödie!«
»Mag sein, Herr Hauptmann, aber ich wette meinen Kopf, daß es nicht mein Vater war, der unrecht hatte.«
»Hm, hm... ja, natürlicherweise... ganz wie der Vater,« murmelte er. »Hm... nun, Sie haben ja trotzdem das ceteris erworben! ... Wollen Sie nicht noch ein halbes Gläschen trinken?« fragte er gastfrei, um die Unterhaltung auf ein andres Gebiet zu lenken.
»Nein, ich danke, aber ich will Ihnen sagen, wie es meinem Vater ergangen ist. Genau so, wie einem Jagdhunde, den der Kreisschreiber bekommen hatte. Es steckte viel Rasse und Blut in ihm, aber eines Tages biß er ein Schaf, und das sollte ihm ausgetrieben werden. Das ließ sich wohl am leichtesten bewerkstelligen, wenn man ihn zu den Schafen in den Stall sperrte. Da stand er nun allein dem Leitbock und allen Schafen gegenüber, und er meinte, das könnte einen Hauptjux geben. Der Widder kam auf ihn losgefahren und rannte ihn über den Haufen – nun, das that nicht viel – aber ehe er sich wieder aufrichten konnte, kamen alle fünfzig Schafe angetrippelt und liefen über ihn hinweg, so daß er gar nicht wußte, wie ihm geschah. Wieder standen sie sich gegenüber, wieder rannte der Bock den Hund um, und trip, trip, trip, trip, folgte die ganze Herde ihrem Führer über ihn hinweg. So ging das wohl zwei Stunden lang, bis der Hund ganz still und betäubt dalag. Es war ihm ausgetrieben, und er hat nie wieder ein Schaf gebissen, aber es war ihm auch noch etwas andres ausgetrieben worden, denn ob er nachher noch zu etwas taugte, wollen wir lieber nicht erörtern – er hatte die Kriegsschule durchgemacht, Herr Hauptmann.«
Als er nun aufschaute, sah er die dunklen nachdenklichen Augen der Hausfrau auf sich gerichtet, allein ihr Kopf beugte sich gleich wieder auf ihre Näharbeit.
Der Hauptmann hatte mit steigendem Anteil zugehört. Die Behandlung des Jagdhundes interessierte ihn, und erst die letzten Worte machten ihm klar, daß etwas hinter der Geschichte steckte.
»Hm ... mein lieber Grip ... ja, ja, das meinen Sie wohl. Hm, darin stimme ich doch nicht mit Ihnen überein ... wir hatten tüchtige Lehrer und ... ho ho, wir waren keine Schafe, mein Freund ... ho ho, ho ho, noch weniger Wölfe ... es war ganz gut mit uns auskommen. ... Aber das muß ich einräumen, die Kur war niederträchtig gegen den braven Hund, und insoweit. ... Nun, wie wär's denn mit noch einem halben Gläschen?«
»Bitte, Herr Hauptmann.«
»Aber was für einen Marsch haben Sie denn heute gemacht?«
Mit der Stillung des Hungers und der genossenen Herzstärkung war neues Leben in den jungen Mann gekommen. Er wies auf seine Kleider und war sogar so kühn, seine Füße mit den schadhaften Stiefeln vorzustrecken.
»Ich könnte mich als Vogelscheuche in die Erbsen stellen, als Warnung für alle, die von der Landstraße abweichen wollen; das kommt alles davon, daß ich auf der Poststation einen Renntierjäger traf. – Er wußte so viel davon zu erzählen, wie schön es droben im Hochland sei, daß ich Lust bekam, mit ihm zu gehen.«
»Ueber alle Maßen vernünftig,« murmelte der Hauptmann, »wenn man Geld für einen Sohn in Christiania daran wendet.«
»Ja, sehen Sie, ich war neugierig geworden, und so wanderte ich denn landeinwärts,«
»Ist der nun nicht noch verrückter, als sein Vater? So aufs Geratewohl in das düstere, unwegsame Hochland hinein zu wandern!«
»Ueber Stock und Stein ging es bergauf, aber ich weiß nicht, wie das ist da oben im Hochland, gerade als wenn die Beine nichts zu tragen brauchten, ich hätte auf den Händen laufen mögen, und da hatte sich niemand in der ganzen weiten Welt drum zu kümmern, denn ich war über ihr, ich saß ihr sozusagen auf dem Dache. Und nie in meinem Leben habe ich ein solches Bild gesehen, wie es vor uns lag, als wir am Nachmittag den höchsten Kamm des Gebirges erreicht hatten. Nichts als kalter, weißer, schimmernder Schnee und darüber ein tiefblauer Himmel, Bergspitze über Bergspitze in blendendem Glanze, so weit das Auge reichte.«
»Ja, Schnee haben wir hier freilich genug, Freundchen, der liegt hier den ganzen langen Winter bis hoch an den Mauern hinauf, so weiß und kalt, wie man's nur verlangen kann. Wir sehen uns über und über satt daran ... da ist mir doch eine schöne grüne Wiese oder ein richtiger Kornacker lieber. – Sie haben also das prae ceteris gemacht, sagten Sie, mein Freund? Ja, ja, ja, ja. Wie wäre es denn nun, wenn wir den Schuster veranlaßten, Ihnen heute abend einen kleinen Riester auf den Stiefel zu setzen?«
Das war mit andern Worten eine Einladung, über Nacht zu bleiben – und eine große Versuchung, die Bitte um Geld bis morgen zu vertagen.
»Danke, Herr Hauptmann, ich kann nicht leugnen, daß das ungemein praktisch wäre.«
»Lauf 'mal zum Schuster, Jörgen, und sag ihm, daß er sie in Arbeit nehmen solle, sobald er die Absatzeisen unter die Stiefel geschlagen hat, die ich morgen zur Wegebesichtigung tragen will.«
»Aha!« überlegte Grip innerlich. »Da wird er also morgen sehr zeitig aufbrechen – und ich muß mein Anliegen doch noch heute vorbringen. Nun, die Töchter beginnen den Tisch abzuräumen, und es wäre am besten, wenn ich den Augenblick ...«
Der Hauptmann erhob sich und trippelte im Zimmer auf und ab.
»Ja, ja ... ja, ja, – Wollen Sie 'mal meine schönen Schweine sehen, Grip?«
Der Student sprang sofort auf und ergriff seine Mütze. Ein Aufschub! »Haben Sie viele, Herr Hauptmann?« fragte er mit eifrigem Interesse.
»Kommen Sie ... der Weg geht durch die Küche; hier hinaus über die Beischlagtreppe. ... Sehen Sie die helle Stelle da oben im Walde? Da haben wir vor zwei Jahren das Holz zum Kuhstall und zum Schweinekoben geschlagen.«
Er trat im bloßen Kopfe auf den Hof hinaus.
»Marit, Marit!« rief er. »Hier ist jemand, der deine Schweine sehen will. Jetzt wird Musterung gehalten. Es ist eine Muttersau mit sieben. ... Sehen Sie! Aber die Grundmauer, sehen Sie die 'mal an. Es war gerade ein Sumpfpfuhl hier, das Wasser sickerte oben vom Bache her durch. Und nun sehen Sie die Rinne dort ... trocken wie Zunder ...«
Jetzt oder nie mußte der Angriff gemacht werden.
»... und nun leben sie alle zusammen da drinnen wie die großen Herren,« fuhr der Hauptmann fort.
»Alle sieben Thaler ... aber was rede ich! Alle fünf Schweine?«
»Was?«
»Hier ist deine Kappe, Vater!« rief Jörgen, der aus dem Hause kam. »Und da sind ein paar Leute, die kommen da unten von Fosser.«
»So? ... Na, dann wollen wir rasch 'mal in den Stall gucken.«
Da standen der Rappe und der Braune eben abgeschirrt. Nach der schweren Arbeit des Pflügens waren ihnen die Haare vom Schweiß zusammengeklebt.
»Schöner Stall, wie? – Und ganz hell; die Pferde werden nicht geblendet, wenn sie heraus kommen. Holla, Schwarzer, schwitzest du noch?«
Ein warmer, behaglicher Stallduft umgab sie, und endlich ...
»Aber Ola!« rief der Hauptmann. »Was ist denn das mit der Krippe des Braunen? Ich kann Fliesen nicht leiden; er beißt doch nicht hinein.«
»Ha, ha, ha, ... i, wo wird er wohl?« Ola verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, denn in Gegenwart eines Fremden wollte er nicht zugeben, daß der neue Braune ein Krippenbeißer sei.
Der Hauptmann war ganz rot geworden, er nahm die Mütze ab und trat hastig näher. »So'n Halunke von einem Pferdehändler!«
Das war nicht der geeignete Zeitpunkt für sein Anliegen, wie gleich noch deutlicher wurde, denn in diesem Augenblick traten die beiden Leute, die Jörgen angemeldet hatte, aus dem Abendschatten an der Scheunenwand hervor.
»Ist das die Tageszeit, wo man einen aufsucht?« fuhr er sie an. »Na ja, geht nur aufs Dienstzimmer.« Damit eilte er über den Hof, warf erst einen Blick in den Brunnen und machte einen Umweg ans Fenster der Wohnstube.
»Kinder! Inger-Johanna, Thinka! Zeigt doch dem Studenten den Garten, und er kann sich ein paar Johannisbeeren pflücken,« rief er hinein, ehe er die Treppe zum Dienstzimmer hinanstieg.
Nun konnte man wohl eine gute Stunde lang Arent Grips dickhaariges braunes Haupt mit der knappen, flachen Mütze neben dem kleinen blonden Köpfchen Thinkas zwischen den Johannisbeersträuchern sehen. Anfänglich plauderte er sehr eifrig, und seine lebhaften, glänzenden braunen Augen waren gar nicht boshaft, wie es Thinka schien; sie begann sich ziemlich warm für ihn zu interessieren.
Am nächsten Morgen fand er seine Stiefel ausgebessert vor seinem Bett und eine Platte mit Kaffee und Frühstück wurde ihm herausgebracht, denn er hatte gesagt, er müsse bei Zeiten aufbrechen.
Nun galt es aber, mit geschlossenen Augen, blindlings das Anliegen vorzubringen.
Als er herunterkam, stand der Hauptmann, seine Pfeife rauchend, auf der Treppe. Ueber dem fetten Nacken kamen graue Haarbüschel unter der fuchsigen Perücke zum Vorschein. Er blickte ein wenig verdrießlich vor sich in den Morgennebel hinein und suchte sich darüber klar zu werden, ob dieser sich zum Regen verdichten oder fallen werde, so daß er mit der Heuernte beginnen könne.
»Nun, wollen Sie sich auf den Weg machen, Freundchen?«
»Herr Hauptmann ... können ... wollen Sie mir .. .« in seinem ersten kühnen Morgenmut hatte er fünf gedacht, aber schon auf der Treppe waren sie auf vier gesunken, und jetzt, wo er dem Hauptmann gegenüberstand ... »drei Thaler leihen? Ich muß nach Christiania zurück, habe aber den letzten Schilling ausgegeben. Ich schicke Ihnen den Betrag umgehend mit der Post zurück.«
Der Hauptmann hüstelte verlegen. Er hatte gestern etwas Derartiges auf dem Gesicht des jungen Fremden zu lesen geglaubt. Ja, so ein Student, der war der Richtige, das Geld umgehend zurückzuschicken.
Ein mißmutiges Lächeln flog über seine Züge, allein es machte gleich einem gutmütigen Ausdruck Platz.
»Drei Thaler sagen Sie? – Habe ich die wohl selbst im Hause? Hier ist im Sommer das bare Geld rein wie weggeblasen, Freundchen!«
Er steckte die freie Hand in die Brust seiner Uniform und sah ratlos in die Luft.
»Nun, nun, hm, hm!« machte er nach einer verlegenen Pause. »Wenn ich sicher wüßte, daß ich sie wieder kriegte, würde ich 'mal sehen, ob sich nicht drei oder vier Orte in Mas Haushaltungskasse auftreiben ließen ... so viel, daß Sie bis zum Vogt oder dem Amtsrichter kämen ... das sind prächtige Menschen; die helfen Ihnen sofort.«
Der Hauptmann ging, dichte Rauchwolken ausstoßend, in die Küche, um Ma aufzusuchen, die in der Speisekammer das Frühstück zurecht machte; die Heuernte und die ganze Außenwirtschaft lagen auf ihren Schultern.
»Na, was meinen Sie wohl,« sprach er, als er sehr bald zurückkehrte, »Ma hatte wirklich noch drei Thaler; die habe ich ihr für Sie abgeknöpft. Und nun leben Sie wohl, glückliche Reise, lassen Sie uns hören, daß Sie wohlbehalten heimgekommen sind.«
»Sie sollen umgehend von mir hören!« rief der Student und machte sich seelenvergnügt auf den Weg.
Ma hatte freilich zuerst die Lippen zusammengekniffen, dann aber erklärt, wenn der Hauptmann überhaupt helfen wollte, könne er es nur mit dem vollen Betrag von drei Thalern thun. Der Student sähe nicht wie ein leichtsinniger Vogel aus, und es gehe doch nicht an, ihn zum Amtsrichter oder Vogt zu schicken und vielleicht auch noch zum Pfarrer und dort merken zu lassen, daß er auf Gilje nicht mehr als drei Orte geliehen bekommen konnte. – –
Thinka erzählte ein über das andre Mal, was sie und der Student alles zusammen geplaudert hätten.
»Was hat er denn gesagt?« drängte Inger-Johanna.
»Ach, er war fast die ganze Zeit lustig; ich habe nie jemand so lustig gesehen.«
»Ja, aber du mußt dich doch erinnern, was er gesagt hat?«
»Ach ... ja freilich. Er fragte, wozu du französisch lerntest. Du solltest wohl abgerichtet werden wie eine Papagei, meinte er, damit du mitschwätzen könntest, wenn du in die Stadt kommst.«
»So? Woher wußte er denn, daß ich in die Stadt soll?«
»Er fragte auch, wie alt du wärst, und da habe ich ihm gesagt, daß du konfirmiert würdest und dann hin solltest. Er kennt Stiftsamtmanns ganz gut, denn er arbeitet auf Onkels Amtsstube.«
»Ach ... so 'ne Art von Bekanntschaft!«
»Aber du paßtest gar nicht dahin, sagte er – und weißt du auch warum?«
»Nun?«
»Du wärst zu eigensinnig.«
»Was hat er gesagt?« Sie zog die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn, so daß Thinka schleunig hinzufügte: »Wer dahin käme, der müsse sich wie ein Bindfaden um die Frau Stiftsamtmann winden, sagte er, und das sei Sünd' und Schade um deinen schönen Hals, wenn der so früh schon geknickt würde.»
Inger-Johanna warf den Kopf in den Nacken.
»Hast du jemals so 'nen frechen Menschen gehört?«
Thinka war nach Ryfylke abgereist. Ihr Platz am Tische, in der Stube, im Schlafzimmer war Luft. Mehr als einmal vergaß sich der Hauptmann und rief nach ihr, und nun war auch der letzte Nachmittag vor Inger-Johannas Abreise gekommen.
Der Seehundsfellkoffer, mit neuen Eisenbändern beschlagen, stand zur Aufnahme der Sachen bereit offen oben im Gange, und der Hauptmann hatte den ganzen Tag fürchterlich geschafft, denn das Packen verstand kein Mensch so wie er.
Ma reichte ihm umständlich ein Stück des neuen kostbaren Zeugs nach dem andern – Wäsche von Gilje brauchte das Auge der Stiftsamtmännin nicht zu scheuen.
Aber es war ein Unglück, daß Jäger das Blut so zu Kopfe stieg, wenn er sich bückte.
»Holla! Recht so! – Ich begreife nicht, wo du die Gedanken hast, Ma! Mit dieser ganzen Masse von baumwollenen Strümpfen auf einmal zu kommen! Das, das, das und das will ich haben.«
Natürlicherweise, so reiseerfahren wie er war! »Aber du darfst dich nicht soviel bücken, Jäger!«
Er richtete sich hastig auf.
»Meinst du, daß Stor-Ola von selbst daran denken wird, den Rappen am Widerrist mit Rigaer Balsam einzureiben und die Flasche mitzunehmen? Hätte ich jetzt nicht daran gedacht, dann hätte der Rappe ohne das traben müssen. Spring 'mal hin, Thea, und sag's ihm. – Ach nein, laß,« er holte tief Atem, »ich will doch lieber selber gehen und sehen, daß es richtig gemacht wird.« Es entstand eine Pause, bis der letzte seiner Schritte auf der Treppe verhallt war, und nun machte sich Ma an die Arbeit und packte in eiliger Hast. Lage um Lage stieg der Inhalt des Koffers an, bis zuletzt eine weiße Serviette aufgelegt wurde, die das Ganze bedeckte, und nur noch übrig blieb, daß sie sich auf den Deckel setzte und den Schlüssel umdrehte.
Gegen Abend war die größte Arbeit und Unruhe vorüber. Mas feine Buttergrütze mit Himbeersaft stand auf dem Tische und erinnerte in ihrer Festlichkeit daran, daß der gewohnte Kreis sich um ein zweites Glied vermindern sollte.
Sie speisten in tiefer Stille, die durch keinen andern Ton, als das Klirren der Löffel unterbrochen wurde. »Da, mein Kind, nimm meine große Tasse!« Der Hauptmann reichte der Scheidenden seine große Tasse mit Himbeersaft.
»Nimm nur, was dein Vater dir anbietet.«
Er seufzte beklommen tief auf, schob den Teller zurück, und Thränen stürzten aus Inger-Johannas Augen.
Sie sollten zum zweitenmale nehmen, aber ...
Nun stand er auf, ging pfeifend im Zimmer umher und starrte zu Boden. Es war schmerzlich, Vater so vom Kummer bedrückt zu sehen.
»Du mußt jeden Monat schreiben, Kind ... ausführlich und über alles, hörst du? – damit dein Vater etwas hat, woran er sich erfreuen kann,« mahnte Ma, während sie den Tisch abräumte. »Und hör 'mal, Inger-Johanna,« fuhr sie fort, als sie allein mit ihr in der Speisekammer war, »wenn du findest, daß die Stiftsamtmännin deine Briefe lesen will, dann setze ein kleines Kreuz hinter die Unterschrift... Wenn aber etwas Ernstliches vorfällt, dann sprich mit der alten Tante Alette draußen in Bischofsgarten, dann höre ich es, wenn Stor-Ola zum Warenholen nach der Stadt kommt. Du weißt, Vater kann Unannehmlichkeiten nicht vertragen.«
»Die Frau Stiftsamtmännin soll lesen, was ich an dich oder Vater schreibe? Das wollen wir doch 'mal sehen!«
»Du mußt dich ihren Wünschen fügen, Kind. Wenn du nur willst, wird dir das ganz leicht werden. Und Tante ist so ungeheuer freundlich und gut gegen alle, die sie gern hat, wenn man thut, was sie haben will. Du weißt, wie viel davon abhängen kann, wenn sie Neigung zu dir faßt und ... du verstehst mich wohl ... dich lieb gewinnt. Sie hätte dich gewiß nicht in die Stadt eingeladen, wenn sie nicht im stillen daran dächte, dich an Kindesstatt anzunehmen.«
»Ich andrer Leute Tochter? Mich dir und Vater wegnehmen? Nein, dann will ich lieber gar nicht reisen!«
Sie setzte sich auf den Deckel der Mehlkiste und fing an zu schluchzen.
»Nun, nun, Inger-Johanna, liebes Kind!« sprach die Mutter und streichelte ihr die Haare. »Wir wollen dich ja nicht weggeben, das weißt du doch,« fuhr sie mit bebender Stimme fort. »Es ist ja zu deinem eignen Besten, Kind. Was glaubst du wohl, was ihr Mädchen 'mal zu erwarten habt, wenn Vater uns genommen werden sollte? Wir müssen sehr froh sein, wenn sich für eine von euch ein Unterschlupf findet, und uns wohl hüten, so etwas auszuschlagen ... daran mußt du denken, Inger-Johanna! Du hast Verstand genug; nun mußt du auch lernen, deinen Willen zu beherrschen. Dein Eigenwille ist deine Gefahr, mein liebes Kind.«
Inger-Johanna blickte mit dem Ausdruck der Angst zu ihrer Mutter empor. Sie rang schmerzlich nach Fassung, denn gerade an der wurde sie plötzlich irre, bei der sie bisher gewöhnt war, sich Rat zu holen. –
»Ich kann die Kleine heute abend wirklich keinen Augenblick entbehren – und nun laßt ihr mich dadrin allein,« rief der Hauptmann und öffnete die knarrende Thür. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie öde und einsam das für mich werden wird, Ma.«
»Jetzt gehen wir alle hinein ... und vielleicht singt uns Vater nachher ein Liedchen,« sprach Ma ermunternd, denn des Hauptmanns kräftiger, jetzt aber etwas eingerosteter Baß war sein Stolz und in seiner Jugend eine Berühmtheit gewesen.
Das Klavier wurde von Büchern und Papieren befreit, weil der Deckel ganz aufgeschlagen werden mußte, wenn Vater singen sollte.
Da stand es nun mit seinen gelben Zähnen, seinem dünnen, scharfen Tone und seinen vier stummen Tasten. Ma mußte begleiten, wobei sie immer hier oder da liegen blieb wie ein Sack, der vom Wagen gefallen ist, während die Pferde unverdrossen auf dem Wege weiter trotten. Seine Ungeduld ertrug sie mit gelassener Ruhe.
Heute abend wurde nur »Heimkringlas panna du höga Nord« und »Wikingsbalken« angefangen und dann folgte: »Sieh, dort kommt der Jagdtroß! Armer Frithjof, schau nicht hin. Wie ein Stern vor einer lichten Wolke sitzt sie auf dem Roß!«
Er sang, daß die Fensterscheiben klirrten.