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Dritter Abschnitt.
Kunststudien

Goethe vernachlässigt seine Universitätsstudien. Seine Liebeslieder. Nimmt bei Oeser Zeichenstunde. Ausflug nach Dresden. Lernt in Kupfer stechen. Ernstliche Krankheit. Religiöse Zweifel. Kehrt nach Frankfurt zurück.

Frau Boehme starb. In ihr verlor Goethe eine mütterliche Freundin, die sein leichtsinniges Treiben einigermaßen in Schranken gehalten und ihn an die Gesellschaft geknüpft hatte. Ihr Mann war schon lange vorher kalt gegen ihn geworden, da er alle Hoffnung, einen zweiten Heineccius aus ihm zu machen, aufgeben mußte. Eine solche Zierde der Jurisprudenz unrettbar verloren – wirklich, es war ein rechter Jammer! Ein Jüngling von so vorzüglicher Begabung und doch nicht fleißig die Collegia zu besuchen und in den Vorlesungen sich damit zu amüsiren, daß er in seine Hefte Carricaturen zeichnete von Würdenträgern des Rechts! Wahrlich, für Professoren war dies Treiben des Leipziger Studenten nicht eben viel versprechend, aber nun der Erfolg vor uns liegt, sehen wir wohl ein, wie viel besser Goethe sich beschäftigte, als wenn er hundert Hefte in den Vorlesungen fleißig voll geschrieben hätte. Er studirte viel, oberflächlich nämlich, wie es seine Art war; er las Molière und Corneille und fing eine Uebersetzung des »Lügner« an. Das Theater behauptete dauernd seine Anziehungskraft, und selbst die Unbehaglichkeit und der Mangel an Befriedigung in seinen Neigungen bildete ihn auf Wegen aus, die ihn ein Professor nie hätte führen können. Aber bedeutender als alles dieses war der Einfluß Shakespeare's, mit dem er damals zuerst durch Dodd's »Blumenlese« ( Beauties of Shakespeare) etwas bekannt wurde. Dies Werk, das in England nicht viel gilt, muß damals in Deutschland wie eine Offenbarung gewirkt haben. Die wunderbare Kraft und Schönheit der Sprache, der kühne und natürliche Bilderreichthum in den ausgewählten glänzenden Stellen, setzte die jungen Dichter jener Zeit in dieselbe staunende Bewegung, die wir bei den riesigen versteinerten Resten einer vorsündfluthlichen Thierwelt empfinden, und die einmal erregte Neigung fand ihre Befriedigung in der Wieland'schen Uebersetzung einiger Stücke in Prosa, die Goethe verschlang.

An dieser Stelle fehlt es an Material, um die Lücken der Goethe'schen Selbstbiographie zu füllen, und ich muß daher vieles unerörtert lassen. So z. B. erzählt er uns, das Liebesverhältniß zwischen Käthchen und ihm habe sich gelöst, und doch schrieb er an sie noch von Frankfurt in dem Tone eines Freundes, ja fast eines Liebhabers, und freundschaftlicher Verkehr, wissen wir, blieb auch ferner zwischen ihnen bestehen. Aber in Wahrheit und Dichtung findet sich darüber kein Wort. Auch über seine Bekanntschaft mit der Familie Breitkopf sind wir nur ungenau unterrichtet. Breitkopf war ein Leipziger Buchhändler, in dessen Hause viel Literatur und Musik getrieben wurde. Der älteste Sohn Bernhard war ein tüchtiger Musiker und componirte Goethe's Lieder, die im Jahre 1769 unter dem Titel: »Neue Lieder in Melodieen gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf« ohne den Namen des Dichters gedruckt wurden. Dies Leipziger Liederbuch enthält zwanzig Lieder, von denen Goethe später die meisten unter seine kleinen Poesien aufgenommen hat. Es sind Liebeslieder, aber so sehr in dem Geiste von Catull, Horaz und Wieland, daß es uns an einem Jüngling überraschen würde, wüßten wir nicht, daß die Jugend es liebt, sich blasirt zu stellen und sich das Ansehen tiefer Erfahrung zu geben. Der junge Dichter singt mit Behagen von Unbeständigkeit:

Da fühl' ich die Freuden der wechselnden Lust –

erklärt frischweg, daß, wenn die eine Geliebte ihn verlasse, eine andere ihn lieben werde, und

Es küßt sich so süße der Busen der Zweiten,
Als kaum sich der Busen der ersten geküßt. So die ursprüngliche Lesart.

Von unmittelbarstem und nachhaltigem Einfluß war die Bekanntschaft mit Oeser, dem Direktor der Zeichenakademie. Oeser war der Freund und Lehrer Winkelmann's gewesen und stand unter den Kunstkennern in hohem Ansehen. Goethe, der zu Hause etwas zeichnen gelernt hatte, nahm mit einigen Edelleuten, unter denen der nachherige preußische Staatskanzler Hardenberg war, bei ihm Privatstunden und that sein Möglichstes, um durch Fleiß zu erlangen, was nur dem Talente vergönnt ist. Wie er später selbst gestand, rückte er in der Ausübung der Kunst keinesweges weiter, aber Oeser's Unterricht hatte wenigstens den einen Erfolg: er lernte seine Augen gebrauchen. Ich werde später (im fünften Abschnitt des fünften Buches) Gelegenheit haben, genauer auf diesen Punkt einzugehen; für jetzt mag es genügen, aus seinen Briefen von der hohen Verehrung zu hören, die ihm Oeser einflößte. »Was bin ich Ihnen nicht alles schuldig (schreibt er am 9. Nov. 1768), daß Sie mir den Weg zum Wahren und Schönen gezeigt, daß Sie mein Herz gegen den Reiz fühlbar gemacht haben. Ich bin Ihnen mehr schuldig, als ich Ihnen danken könnte. Der Geschmack, den ich am Schönen habe, meine Kenntnisse, meine Einsichten, hab' ich die nicht alle durch Sie? Wie gewiß, wie einleuchtend wahr ist mir der seltsame, fast unbegreifliche Satz geworden, daß die Werkstatt eines großen Künstlers mehr den keimenden Philosophen, den keimenden Dichter entwickelt, als der Hörsaal des Weisen und des Kritikers … Sie wissen was ich war, als ich zu Ihnen kam, und was ich war, als ich von Ihnen ging. Der Unterschied ist Ihr Werk.« Und zwei Jahre später nennt er, in einem Briefe an einen Leipziger Freund, Oeser neben Shakespeare und Wieland den einzigen, den er für seinen ächten Lehrer erkennen könne. »Sein Unterricht wird auf mein ganzes Leben Folge haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille, und daraus folgt, daß kein Jüngling Meister werden könne.«

Die Theorie der Kunst lernte er von Oeser, aus Winkelmann und aus jener unvergleichlichen Abhandlung, die damals Lessing so leichthin in die Welt warf – dem Laokoon. Die Wirkung dieser Schrift auf Goethe kann nur der würdigen, der sie selbst früh im Leben kennen gelernt und erweiterten, gekräftigten, gehobenen Geistes aus der Hand gelegt hat. Einen »Lichtstrahl durch düstre Wolken« nennt Goethe die Schrift Lessings. »Aus der Region eines kümmerlichen Anschauens riß sie uns in die Gefilde des Gedankens hin. Das so lange mißverstandene: ut pictura poësis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammenstoßen mochten. Der bildende Künstler sollte sich innerhalb der Grenze des Schönen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch darüber hinauszuschweifen vergönnt wäre. Jener arbeitet für den äußeren Sinn, der nur durch das Schöne befriedigt wird, dieser für die Einbildungskraft, die sich wohl mit dem Häßlichen noch abfinden mag. Wie vor einem Blitz erleuchteten sich alle Folgen dieses herrlichen Gedankens und alle bisherige anleitende und urtheilende Kritik ward wie ein abgetragener Rock weggeworfen.«

Der Drang dieser neuen Gedanken erweckte in Goethe ein unendliches Verlangen nach entsprechender Anschauung; die Kunstwerke in Dresden lockten ihn an, und er reiste hinüber. Aber trotz Oeser, Winkelmann und Lessing, und trotz aller großen Worte über Kunst behauptete sich in Dresden die unbezwingliche Richtung seiner Natur; statt über die Bilder der großen italienischen Meister in Entzücken zu gerathen, nahm er, wie er selbst gesteht, ihren Werth mehr auf Treue und Glauben an, und ein wahrhaftes Vergnügen fand er nur an den Landschaften und den Niederländern, bei denen er den dargestellten Gegenstand mit der Natur selbst vergleichen konnte. Die Größe der italienischen Kunst empfand er noch nicht, und was er nicht empfand, wollte er auch nicht erheucheln.

Es verdient Erwähnung, daß er diesen Ausflug nach Dresden in tiefstem Geheimniß unternahm. Gerade wie er viele Jahre nachher sich nach Italien fortstahl, ohne daß seine Freunde auch nur eine Ahnung von seinem Plane hatten, so trat er auch diese Dresdner Reise an, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen. Wahrscheinlich hatte er beide Male denselben Grund: er wollte sehen, genießen, sich unterrichten, und dabei sollten ihn persönliche Rücksichten und anderer Leute Meinung nicht stören.

Nach der Rückkehr ging er sehr fleißig an's Zeichnen. Er machte die Bekanntschaft des Kupferstechers Stock (dessen Tochter nachher Körner, der Freund Schiller's und Vater des Dichters Theodor K. heirathete), und, wie immer geneigt in den Studien seiner Freunde sich ebenfalls zu versuchen, fing er sofort an, auch diese Kunst zu erlernen. In dem »Morgenblatt« für 1828 findet sich ein ausführlicher Bericht über zwei von ihm verfertigte Stiche; beide stellen Landschaften mit kleinen, von Felsen und Höhlen eingefaßten Wasserfällen dar; unter jedem stehen die Worte: peint par Theile, gravé par Goethe; eine Platte ist seinem Vater gewidmet – à Monsieur Goethe, Conseiller actuel de S. M. Impériale, par son fils très-obéissant. In dem Zimmer, welches im Goethe'schen Hause zu Frankfurt den Fremden gezeigt wird, befindet sich auch eine Probe seiner Stiche; die ist sehr dilettantenhaft; eine andere, die mir Goethe's Schwiegertochter zeigte, ist wirklich eine verdienstliche Arbeit.

Trübsinnig, wunderlich, launisch wie er damals war, ließ er Lessing durch Leipzig reisen, ohne einen Versuch zu machen, den so hoch bewunderten Mann zu sehen – eine Albernheit, die sich nachher bestrafte, da die Gelegenheit sich nie wieder bot. Seine Hypochondrie hatte zum Theil geistige, überwiegend aber körperliche Ursachen. Lockeres Leben, schlechte Diät, besonders das »schwere Merseburger Bier« und der Kaffee nach Tisch, endlich thörichte Versuche, die Rousseau'sche Lehre von der Rückkehr in den Naturzustand auszuführen, hatten seine Gesundheit ernstlich angegriffen. Die Krisis kam. Eines Nachts, im Sommer 1768, erwachte er mit einem heftigen Blutsturz; er hatte noch Kraft genug, seinen Stubennachbar zu wecken; ärztliche Hülfe war bald zur Stelle. Er wurde gerettet; doch die Freude an der Herstellung verbitterte ihm eine Geschwulst, die sich an der Seite des Halses gebildet hatte. Seine Genesung ging langsam von Statten, aber wie sich seine körperliche Natur selbst geholfen, so schien er auch geistig ein andrer Mensch geworden zu sein; er hatte eine größere Heiterkeit des Geistes gewonnen, als er lange nicht gekannt, und fühlte sich im Innern von allen bösen Geistern frei. Was ihn besonders rührte, war die Teilnahme, die ihm viele vorzügliche Männer bewiesen, die er doch, wie er fühlte, durchaus nicht verdient hatte; denn keiner war darunter, den er nicht durch Launen, Tollheiten, krankhaften Eigensinn und störrische Vernachlässigung verletzt hätte.

Einer von diesen Freunden, Langer (nachher Bibliothekar in Wolfenbüttel), war ihm besonders zu seiner geistigen Beschäftigung während der Genesung behülflich; er suchte den wieder erwachten, krankhaft reizbaren Heißhunger nach Kenntnissen durch deutliche Uebersichten zu beruhigen und wußte ihn geistig zu leiten. Der deutschen Literatur müde, wendete sich Goethe wieder den »geliebten Alten« zu und tauschte von Langer gegen »ganze Körbe deutscher Dichter und Kritiker eine Anzahl griechischer Autoren« ein. Auch auf Goethe's religiöse Ueberzeugung gewann Langer Einfluß. Fromm ohne dogmatisch zu sein, lehrte er seinen jungen Freund die Bibel nicht blos als ein Menschenwerk betrachten. Goethe hatte die Bibel lieb und werth; denn »fast ihr allein war er seine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei ihm eingedrückt und war auf eine oder die andere Weise wirksam gewesen.« Den Deisten, die damals Europa in Bewegung setzten, war er daher wenig zugethan, und obgleich er für die Rationalisten gegen die Mystiker stark Partei nahm, so wollte er doch nicht mit dem prophetischen auch den poetischen Gehalt der Bibel verloren gehen lassen. Mit einem Worte, er war in einem Zustande religiösen Zweifels – »des Glaubens leer, aber vor dem Skepticismus bange.«

Diese geistige Unruhe und diese körperliche Schwäche nahm er beim Abschied von Leipzig (September 1768) mit nach Frankfurt, wohin wir ihm jetzt folgen.



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