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Vierter Abschnitt.
Mannigfache Studien

Abzug der Franzosen und Wiederaufnahme der Studien. Der Roman in mehren Sprachen. Biblische Studien. Einfluß des Fräulein von Klettenberg. Erste Liebe; Gretchen. Enttäuschung. Der Zauber, den Goethe ausübte.

Endlich, im Juni 1761, verließen die Franzosen Frankfurt, und es ging wieder ernstlich ans Studiren. Unter der Leitung des Vaters fing Wolfgang Mathematik, Musik und Zeichnen an. Für Mathematik hatte er kein Talent, für Musik nur wenig; er lernte Klavier und später Cello spielen, aber etwas Rechtes wurde nie daraus. Zeichnen blieb sein Leben lang eine angenehme Uebung, aber auch nicht mehr.

In der Stille unterbrochener Studien machte er nun riesige Fortschritte. Selbst die Stunden der Erholung füllte er. mit nützlicher Beschäftigung aus. Seinen Sprachschatz vermehrte er durch das Englische, und um all die Sprachen, die er kannte, lebendig zu erhalten, erfand er einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die in der Welt zerstreut sich wechselseitig Bericht erstatten. Der älteste Bruder erzählt in gutem Deutsch von allen Erlebnissen seiner Reisen; die Schwester antwortet in einem »frauenzimmerlichen Stil«, mit lauter Punkten und in kurzen Sätzen, ungefähr wie nachher Siegwart geschrieben wurde. Der zweite Bruder studirt Theologie und schreibt daher lateinisch mit griechischen Nachschriften. Ein dritter und vierter Handlungsdiener in Hamburg und Marseille, korrespondiren englisch und französisch; das Italienische fällt einem Musikus zu, und der Jüngste, »eine Art von naseweisem Nestquackelchen«, legt sich aufs Judendeutsch. Dieser Roman nöthigte ihn zu einem genaueren Studium der Geographie. Da er die sieben Geschwister in verschiedene Gegenden versetzt hatte, so ruhte er nicht, bis er von diesen Oertlichkeiten eine klare Anschauung gewann, damit die Gegenstände und Ereignisse in den Briefen einigermaßen der Wirklichkeit entsprächen. Der barocke Versuch mit dem Judendeutsch führte ihn zum Studium des Hebräischen. Als Ursprache des alten Testaments schien ihm die Kenntniß desselben eine Nothwendigkeit; der Vater erlaubte ihm, Privatstunden zu nehmen, und obgleich er von der schweren Sprache keine gründliche Kenntniß erlangte, so trat ihm doch durch das Lesen, Uebersetzen und Auswendiglernen aus der Bibel, der Inhalt lebhafter entgegen – eine Erfahrung, die man leicht begreifen wird, wenn man die dauernde Wirkung der mühsamen Lektüre des Sallust und Livius in unsern Schulen mit der vergleicht, die das rasche Durchfliegen von Geschichtswerken in unserer Muttersprache hat. Die Bibel machte einen tiefen Eindruck auf den jungen Goethe. Auf einen Knaben von so nachdenklicher Sinnesart mußte das ernste Studium eines solchen Buches einen tiefen und durchgreifenden Einfluß üben, und zu gleicher Zeit konnte es nicht verfehlen, in ihm, der schon so gewöhnt war, für sich selbst zu denken, gewisse Zweifel zu erwecken »Schon vorher, erzählt er, waren mir die Widersprüche der Ueberlieferung mit dem Wirklichen und Möglichen sehr auffallend gewesen, und ich hatte meine Hauslehrer durch die Sonne, die zu Gideon, und den Mond, der im Thal Ajalon still stand, in manche Noth versetzt, gewisser anderer Unwahrscheinlichkeiten und Inconsequenzen nicht zu gedenken. Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem Hebräischen Meister zu werden, mit dem alten Testament ausschließlich beschäftigte und solches nicht mehr in Luther's Uebersetzung, sondern in der wörtlichen beigedruckten Version des Sebastian Schmid durchstudirte.«

Eine Frucht dieser hebräischen Studien war ein biblisches Gedicht über Joseph und seine Brüder; er diktirte es einem armen, halb blödsinnigen Menschen, der in seines Vaters Hause als Mündel wohnte und sich am liebsten damit beschäftigte, abzuschreiben oder sich diktiren zu lassen. Goethe fand es bald sehr bequem, zu diktiren, und von da an blieb es sein Leben lang die Lieblingsmethode bei seiner schriftstellerischen Thätigkeit. Was er, sagt er selbst, Gutes finde in Ueberlegung, Gedanken, ja sogar im Ausdruck, das komme ihm meist im Gehen; sitzend sei er zu nichts aufgelegt.

Im Zusammenhange mit diesen biblischen Studien und seiner Einsegnung, welche 1763 stattfand, können wir einen Blick werfen auf Fräulein von Klettenberg, deren Briefe und Gespräche er nachher im Wilhelm Meister zu den »Bekenntnissen einer schönen Seele« verarbeitete. Ihr Einfluß war eingestandener Maßen, sowohl damals als späterhin, sehr groß; nicht so sehr wegen der Wirkung ihrer Belehrung als wegen der Einsicht, die er in eine tief religiöse Natur erhielt. Die Klettenberg war weder bigott noch prüde. Ihr Glaube war ein inneres Licht, das milden Glanz um sie her strahlte. Durch ihren Einfluß bewogen, schrieb er eine Reihe geistlicher Oden nach dem damaligen Geschmack und erfreute damit seinen Vater höchlich, als er sie ihm reinlich abgeschrieben in einem Quartbande überreichte. Jedes Jahr solle er einen solchen Quartanten liefern, meinte der.

Eine ganz andere Art von weiblicher Einwirkung ist gleich daneben zu besprechen. In jener Zeit fühlte sein Herz die ersten Regungen der Liebe. Er war noch nicht fünfzehnjährig, als Gretchen, die Schwester eines leichtfertigen Kameraden, seine Phantasie zuerst mit ihren Reizen beunruhigte. Die Geschichte ist kurz diese. Er gerieth mit jungen Leuten von niederer Herkunft und einigermaßen bedenklichem Charakter in Bekanntschaft und machte auf ihren Antrieb sein poetisches Talent praktisch nutzbar: er schrieb Hochzeits- und Leichengedichte, deren Ertrag in heitern Vergnügungen drauf ging. So kam er fast täglich mit Gretchen zusammen; aber, so freundlich sie gegen ihn war, behandelte sie ihn doch nur als Kind und erlaubte ihm niemals die geringste Vertraulichkeit. Die Gesellschaft führte ein lustiges Leben, mit Picknicks und vergnüglichen Gelagen, und die Krönung Joseph's II. zum Römischen König (die Goethe so umständlich beschreibt) gab noch zu erhöhter Lustbarkeit Anlaß. Eines Abends, nachdem man sich den Tag über müde gesehen, vergaß das lustige Volk der Zeit, und Mitternacht überraschte sie unversehens. Zu seinem Schrecken fand Wolfgang, daß er den Hausschlüssel nicht bei sich hatte, mittelst dessen ihm bisher gelungen war, sein nächtliches Treiben den Augen des Vaters zu verbergen. Gretchen machte den Vorschlag, die Gesellschaft solle beisammen bleiben und die Nacht verplaudern. Das wurde angenommen, aber wie es in solchen Fällen immer zu gehen pflegt, der Versuch mißlang: die Augenlider senkten sich müde und schwer; das Gespräch ging allmälig aus; zwei fremde Gäste entschlummerten zuerst; ein Freund mit seiner Schönen, ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, saß in einer Ecke; ein anderer hatte die Arme auf dem Tische übereinandergelegt und schlief mit aufliegendem Gesichte. Es war still geworden in dem lauten Gemach. Gretchen und ihr kleiner Freund saßen in der Fensterecke und unterhielten sich leise. Endlich übermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte das Köpfchen an seine Schulter und war gleich eingeschlummert. Zärtlich und stolz stützte er die reizende Last, bis auch er der Müdigkeit erlag. Als er wieder erwachte, war es heller Tag. Gretchen stand vor dem Spiegel und rückte sich das Häubchen zurecht. Liebenswürdiger als je lächelte sie ihn an und drückte ihm beim Scheiden herzlich die Hand. Aber nun, wo er ihr näher zu kommen hoffte, trat auch drohend die Lösung dieses Verhältnisses heran. Einige von jenen lustigen Gesellen hatten schlechte Streiche gemacht, Handschriften gefälscht u. dergl. Gretchen und ihr Bruder wurden auch in die Anklage verwickelt, aber mit Unrecht. Wolfgang hatte eine strenge Untersuchung zu bestehen; da er durchaus schuldlos war, so kümmerte ihn das wenig, aber ein großer Kummer war es ihm, daß Gretchen in ihrer Aussage erklärte, sie könne nicht leugnen, daß sie ihn oft und gern gesehen, aber sie habe ihn immer als ein Kind betrachtet und ihre Neigung zu ihm sei wahrhaft schwesterlich gewesen. Man kann sich denken, wie entsetzlich übel er das nahm. Für einen Knaben, der gern für einen Mann gelten möchte, ist es wohl das Bitterste, wenn ein Mädchen, das er mit seiner Huldigung beehrt, ihn als Kind behandelt. Er litt schwer darunter, seinen Liebesroman so zerstört zu sehen; sein nächtliches Lager benetzte er mit Thränen, der Genuß von Speise und Trank war ihm schmerzlich, das Leben war ihm öde und leer.

Aber Stolz kam ihm zu Hülfe – Stolz und jene Beweglichkeit der Jugend, welche die übergroße Reizbarkeit durch eine besondere Zugabe von leichtem Sinn und glücklicher Vergessenheit ausgleicht. Er warf sich auf die Studien, namentlich auf das der Philosophie; ein Privatlehrer, eine Art von Wagner neben diesem jugendlichen Faust, gab ihm dabei Anleitung. Diesen Lehrer, der einen staubigen Quartanten jeder Landschaft vorzog, wußte er tief in die Einsamkeit des Waldes zu locken, in »jene schönen belaubten Haine, wo ein armes verwundetes Herz sich verbergen kann«, und er mußte sich dafür den Spott gefallen lassen, er erweise sich wie ein wahrer Deutscher, da schon unsere Urväter, wie Tacitus erzähle, an den Gefühlen sich erbaut hätten, welche uns die Natur in solchen Einsamkeiten so herrlich vorbereitet. Aber der Spott verleidete ihm seine Naturfreuden nicht. Er schwelgte in seinem ersten Schmerze; die Wollust der Melancholie, das Wahngebild von einer verlornen Existenz trieb ihn in die Einsamkeit.

Oft machte er weitere Ausflüge in die Umgegend. In jenem Gebirge, das von frühester Kindheit auf so fern und ernsthaft vor ihm gestanden, fand er nun die Plätze seiner stillen Freuden. Homburg, Kronburg, Königstein, Wiesbaden, Schwalbach, Biberich und andere Orte wurden besucht; sein Geist füllte sich mit lieblichen Bildern – Knospen künftiger dichterischer Blüthen.

Daneben wurden ernstere Studien nicht vernachlässigt. Seinem Vater zu gefallen, gab er sich fleißig mit der Jurisprudenz ab, und sich selbst zu Liebe war er noch fleißiger in der Literatur. Morhof's Polyhistor, Geßner's Isagoge und Bayle's kritisches Wörterbuch erfüllten ihn mit einem neuen Ehrgeiz – er wollte Universitäts-Professor werden! Es zeigt sich darin, wie auch sonst in seinem Leben, die seltsame Bestimmbarkeit seiner Natur, dem Chamäleon vergleichbar, das seine Farbe von jedem Baum annimmt, unter dem es gerade ruht.

Jener Anfall von Trübsinn dauerte nicht lange. Ein Kreis lebenslustiger Freunde – unter ihnen Horn, von dem wir gleich hören werden – zog ihn wieder in die Fröhlichkeit hinein. Ihre Meinung von seinen Talenten scheint außerordentlich groß gewesen zu sein, und ihre Liebe zu ihm, ihre Theilnahme an all' seinem Thun war ein Vorspiel dessen, was er das ganze Leben hindurch erfahren sollte. In den wildesten Tagen seiner Universitätsjahre, in der übermüthigen Genieperiode, und in der Geheimrathszeit – mochte seine Laune sein, wie sie wollte, mochte er Anstoß geben, welchen er wollte, immer wurde alles vergeben und vergessen über dem unwiderstehlichen Zauber seiner Natur. Das Geheimniß dieses Zaubers war seine eigene überströmende Liebesfülle und seine wahrhafte Theilnahme für jede noch so entgegengesetzte Individualität.

Mit diesen flüchtigen Blicken auf seine Jugendzeit schließen wir dieses Buch, um die Zeit, wo er die Universität Leipzig bezog. Ehe wir ganz von dieser Periode scheiden, fassen wir, zur Orientirung für unsere weitere Darstellung, die Hauptzüge seines Charakters übersichtlich zusammen.



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