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»Darf ich die Herrschaften bekannt machen,« sagte Judith, »Doktor Falk – Herr Finsen, mein Impresario.«
»Große Ehre!« sagte Finsen und nahm den Hut ab.
»Willst du reisen, Judith?« fragte Hermann.
»Ja, wir gehen auf die Tournee nach Schweden.«
»Aber warum habe ich dich denn nicht gesehen? Bist du lange in Dänemark gewesen?«
»Nein, mein Freund, wir sind heute abend aus Deutschland gekommen.«
»Wir müssen einsteigen, der Zug geht ab«, sagte Finsen, und war Judith beim Einsteigen behilflich.
Der Eilzug führte sie in fliegender Hast gen Helsingör, von wo aus Judith mit der Dampffähre nach Schweden weiter wollte.
Sie saßen zu dreien im Abteil, und die Unterhaltung schleppte sich schwerfällig hin. Finsen sprach am meisten. Er konversierte wie ein Weltmann, sprach von Eisenbahnen und Restaurationswagen, von ein paar aufsehenerregenden Bildern, die er in Berlin in der Ausstellung gesehen hatte und von einem interessanten Prozeß in London. Er fragte, ob es geniere, wenn er rauche, zündete sich eine Zigarette an und warf sie im nächsten Augenblick zum Fenster hinaus. Dann notierte er ein wenig in sein Taschenbuch, betrachtete den Gepäckzettel und machte sich mit Judith zu schaffen. Er hüllte sie in die Reisedecke, holte ihre Handtasche aus dem Netz herunter, bürstete Staub von ihrem Mantel und nahm ihre Handschuhe auf, wenn sie sie auf den Boden des Abteils fallen ließ.
Er war in fortwährender Bewegung. Und in der schlechten Beleuchtung des Abteils glich er mit seinen ein wenig zu hohen Schultern, seinen schwerfälligen Gliedern und seinem großen Kopf einem unruhigen Kobold, der sich verspätet hat und den Eingang zu seiner Höhle nicht finden kann.
Zwischen Judith und Hermann wurden nur wenige Worte gewechselt, sie konnten nicht miteinander sprechen, wenn Finsen um sie herumkramte, aber sie saßen da und sahen sich an, und die einzelnen Worte, die sie sagten, erhielten eine größere Bedeutung für sie.
»Wie lange ist es her, seit wir uns nicht gesehen haben!« sagte Hermann und drückte Judiths Hand.
»Ja«, sagte Judith. Sie ließ die Hand in der seinen ruhen, und es war, als ob ihre Worte von ihrem Blut aufgesogen und mit dem Schlage des Herzens bis in die Fingerspitzen getrieben würden.
In ihrem Händedruck lagen Erinnerungen und Freude und Wehmut.
»Du wohnst wohl noch auf Brattsburg?«
»Ja, natürlich. Alles ist beim alten. Aber jetzt bin ich ganz allein.«
»Ja – jetzt bist du ganz allein.«
Sie saßen wieder schweigend da. Und sie wußten, daß sie jetzt beide an Hermanns Mutter dachten. In ihre Gedanken hinein schlich sich das Rasseln des Eisenbahnzuges, aber der sichere Takt der Stempelschläge ward zu einer alten Melodie, die sie beide kannten.
Judith strich sich mit der Hand über die Augen.
»Fahren Sie mit nach Helsingör?« ertönte plötzlich Finsens wunderlich klagende Stimme. Der Zug hielt jetzt bei der Station, wo Hermann aussteigen mußte.
»Freilich tut er das«, antwortete Judith.
Finsen setzte sich mit einem etwas hastigen Ruck in das andere Ende des Abteils und zündete eine Menge Zigarren an, um sie gleich wieder wegzuwerfen, während er auf die dunklen Wälder hinausstarrte, durch die sie fuhren.
Hermann beugte sich zu Judith hinüber und sagte:
»Alles steht daheim, wie du es verlassen hast. Es ist, als habe es nur auf dich gewartet. In den Zimmern sind dieselben Möbel, und der Flügel steht an dem Platz, aber selten rührt ihn jemand an. Und jetzt kehrst du zurück und nimmst das alles in Besitz.«
Judith sah ihn erstaunt an.
»Ich kehre zurück – woher weißt du das?«
»Hast du es nicht gesagt? Ich dachte doch.«
Judith wußte es nicht. Hatte sie es gesagt? Oder war es nur ein Gedanke, der ihr durch den Kopf gefahren war?
Aber das war ja Wahnsinn!
Da hinten im Dunkeln gewahrte sie undeutlich Finsens graue Gestalt, und sie saß hier in Reisetoilette, die Reisetasche schaukelte im Netz über ihrem Kopf, und im Gepäckwagen stand ihr großer Koffer mit den reichen Toiletten zu den Konzerten und mit den Kontrakten, Finsens Meisterwerken, durch die sich die Paragraphen so listig schlängelten, wie die Lianen in einem Urwald.
Und Judith mußte lächeln über den sonderbaren, unerfahrenen Hermann, der glaubte, daß alles abgemacht sei.
»Lieber Hermann, du glaubst gewiß, daß das Leben einer Künstlerin ihr selber gehört.« Sie sagte Künstlerin mit einer etwas hochmütigen Betonung des Wortes, die Hermann verletzte. »Nein, mein Freund, ich bin gekauft und verkauft. Ich muß singen, wenn ich soll, die Reise unterbrechen, wo der Kontrakt es verlangt, und weiterfahren, wenn es im voraus berechnet, verabredet, bezahlt ist. Du brauchst gar nicht so auszusehen, als wärest du aus den Wolken gefallen, denn es geht mir nicht anders als allen anderen.«
»Arme Judith!«
»Arme Judith – das darfst du nicht sagen.« Judith redete sich warm, und ihre lauten Worte veranlaßten Finsen, sich nach ihr umzuwenden und ihr zuzuhören. »Ich bin durchaus nicht zu beklagen, und ich habe das Leben gewählt, weil ich es von ganzem Herzen liebe. Jeder Tag bringt mir etwas Neues – neue Bücher, neue Menschen, neue Eindrücke. Warum sollte ich nicht leben, wie ich es tue?« Ihre Stimme verstieg sich zu einem hohen Diskant und klang nervös und unnatürlich. »Ich stehe ja außerhalb des Ganzen. Ein Ort ist mir ebenso lieb wie der andere.«
Und plötzlich tönte Finsens Stimme aus der andern Ecke zu ihnen herüber.
»Ganz recht, ganz recht. Oder vielmehr: ein Ort ist besser als der andere, weil das Neue immer besser ist als das Alte. Was sollte man in diesem kleinen Lande wohl anfangen? In Kopenhagen zwischen denselben langweiligen Menschen herumtraben, die einander belauern, beschwatzen und beneiden? Hier sind viel zu viele alte Jungfern und ledige Mannsleute in diesem Land und viel zu viel Telephone – an jedem Telephondraht hängt eine alte Jungfer und erteilt Rapporte. Nein, weg von dem allen. Keinen Klotz am Bein.«
Es war, als husche ein Schatten über Judiths Gesicht. Sie hatte etwas gesagt, was ihr halbwegs leid war, weil es Hermann verletzte, und es war ihr peinlich, daß Finsen ihr beistand und ihre Worte förmlich festnagelte.
Sie wandte sich an Finsen und sagte neckend:
»Da haben wir es. Klotz am Bein, nicht wahr, Finsen? Klotz am Bein – wollen Sie Herrn Falk das nicht ein wenig eingehender erklären?«
Wie ein Rasender fuhr Finsen auf Judith ein und brüllte ihr ins Gesicht:
»Ja, das will ich tun. Frau Finsen meine ich, Frau Alma Finsen mit ihrem ganzen Gelichter, die ich um Ihretwillen verlassen habe.«
Hermann sprang auf, packte Finsen beim Arm und warf ihn auf den Sitz zurück.
»Sind Sie verrückt, Mensch?«
Judith aber brach in ein Gelächter aus.
»Setze dich ruhig hin, Hermann. Er bellt, aber er beißt nicht.«
Es wurde plötzlich ganz still im Abteil. Hermann war wie gelähmt. Er verstand kein Wort von dem, was vor sich gegangen war. Es war ihm, als säße er plötzlich zwischen Menschen, die ihm wildfremd waren. Der Zug eilte von dannen, aber der Takt der Stempelschläge war wild und nervös.
Nach einer Weile sagte Judith:
»Du sollst nicht dasitzen und darüber nachdenken, Hermann. Wir beide können in einem Eisenbahnabteil nicht miteinander reden. Ich habe ringsumher in Europa so viele getroffen, mit denen ich mich während einer Bahnfahrt gut und lange unterhalten habe, aber wir beide können es nun einmal nicht. Kehre dich nicht an das mit Finsen, das war eine kleine, unschuldige Neckerei.«
»Jetzt sind wir da«, sagte Finsen.
Der Zug rollte auf den Bahnsteig von Helsingör. Finsen öffnete mit seinem Stock die Tür des Abteils, während der Zug noch in der Fahrt begriffen war. Er war der erste der Reisenden, der auf dem Bahnsteig stand. Mit großer Gewandtheit ordnete er alles.
»Wollen Sie sich der Handtasche und der Plaids annehmen, Herr Doktor, es sind im ganzen drei Teile. Sie müssen nach der Fähre hinunter, wollen Sie sich vielleicht in den Rauchsalon setzen. Bitte, hier ist meine Hand, gnädiges Fräulein. Herr Doktor begleitet Sie auf die Fähre, während ich für das Gepäck sorge. So – jetzt laufe ich –«
Und der kleine Mann glitt durch das Gewimmel.
Hermann bahnte sich langsam einen Weg, Judith am Arm führend. Er wollte tausend Dinge sagen, fragen, geloben, bitten. Gedanken und Pläne stürmten auf ihn ein, während er von allen Seiten gepufft wurde.
Als sie aus dem Bahngebäude herausgekommen waren und die Fähre vor sich liegen sahen, blieb er plötzlich stehen, und alle seine Fragen und Versprechungen und Gedanken und Pläne verdichteten sich zu dem einen Wort, das er Judith zuraunte, während er unwillkürlich ihre Hand ergriff:
»Bleibe!«
Judith zuckte zusammen.
»Bleiben – meinst du das wirklich?«
»Ja, so gewiß, wie ich je irgend etwas gemeint habe, was ich sagte.«
Judith stand einen Augenblick still, dann glitt ein Lächeln über ihr Antlitz.
»Und Finsen?«
Hermann trat mit ihr aus dem Gedränge.
»Bleibe, Judith, du mußt. Um aller unserer Erinnerungen willen mußt du bleiben. Und um meinetwillen – um meinetwillen – hörst du, Judith?«
Die Glocke der Dampffähre läutete. Mit einem dumpfen Schall von Eisen auf Stahl wurden die Eisenbahnwagen verladen. Die Reisenden eilten an Bord.
Hermann gab Judiths Arm frei und lief nach der Fähre. Er winkte Judith, daß sie bleiben solle. Sie stand im Finstern, noch immer lächelnd.
Hermann blieb bei der Landungsbrücke stehen. Jetzt sah er Finsen auf dem Verdeck, nach allen Seiten spähend; er winkte ihn zu sich heran und rief ihm zu:
»Haben Sie das gnädige Fräulein gesehen?«
»Nein«, rief Finsen.
»Ja, ich habe sie an Bord gebracht, aber sie ist in eins der durchgehenden Abteile gestiegen, es war windig.«
Die Passagiere waren an Bord. Hermann mußte seinen Platz verlassen, da die Landungsbrücke herabgelassen werden sollte.
»Ja, sie sitzt in dem Abteil. Nun ja, adieu, Herr Finsen, und auf Wiedersehen. Das gnädige Fräulein bat mich noch, Ihnen zu sagen, daß sie gern eine Tasse Tee haben möchte.«
»Das will ich schon besorgen. Adieu, Herr Doktor, habe mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Schnaubend setzte sich die Dampffähre mit ihrer schweren Last in Bewegung. In ausgelassener Laune nahm Hermann seinen Hut und schwenkte ihn.
Dann glitt die Fähre in die Dunkelheit hinein. Die elektrischen Lichter erloschen, und Finsens Gestalt wurde ausgelöscht.