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Eine der sinnreichsten Erzählungen in Gösta Berlings Saga ist die Geschichte von dem Uhrmachergesellen Khevenhüller, der von der Waldfrau die Gabe empfangen hatte, mit seinen beiden Händen jedes Kunstwerk, das er wollte, auszuführen, aber »nur eines von jeder Art«. Selma Lagerlöf hat die Allegorie selbst gedeutet. Die Waldfrau ist der Genius, und der arme Uhrmachergeselle, der den Vorbehalt der Gabe nicht versteht, der Künstler. Wenn in dieser Erzählung ein klein wenig wehmütige Selbstironie lauerte, ein leiser Zweifel an der eigenen Künstlerschaft und an der Tragkraft ihrer Schwingen, nachdem die Verfasserin ihre Saga, ihrer Kindheit und Jugend Buch verwirklicht hatte, so erwiesen sich alle derartigen Befürchtungen bald als überflüssig. Selma Lagerlöfs zweites Buch »Unsichtbare Bande« ist in seiner Art noch größer und verheißungsvoller, als Gösta Berlings Saga – es ist es insofern, als die Verfasserin sich hier den ungleichartigsten Aufgaben gewachsen zeigt. In diesen neuen Geschichten spricht die tiefe, erschreckende Stimme der altnordischen Sage, aber auch das weiche kosende Stimmchen der Idylle, die Stimmung des Urwaldes und des Hausgärtchens finden sich Seite an Seite, mittelalterliche Legenden und moderne Novellistik. Es ist, als hätte die Verfasserin ihre Freude daran, ihren Bohrer an das verschiedenste Erdreich anzusetzen und überall den verborgenen Quell der Dichtung hervorzuzwingen. Ungleich ist diese Sammlung allerdings. Moderne Stadtthemen passen nicht zu Selma Lagerlöfs Naturell und Stil, und zuweilen, wie in der sehr langweiligen Erzählung »Frau Fastenzeit und Petter Nord« wird alle Kunst von bloßen Redensarten und Arabesken überwuchert. Aber welches Meisterstück einer vaterländischen Idylle, von schwedischem Humor durchhaucht, ist nicht »Das Fläumchen«, und ob wohl je die nordische Vorzeit so wunderbar und genialisch dargestellt wurde, wie in den Erzählungen »Das Hünengrab« und »Die Vogelfreien«, mit einem so großartigen Hauch des Urwesens der schwedischen Ödelandschaft?
Doch noch stärker als diese zerstreuten Erzählungen zeigte Selma Lagerlöfs zweites großes Prosa-Epos »Die Wunder des Antichrist«, daß ihre Genialität unabhängig von der lokalen Natur des Stoffes war, daß sie viel mehr ist als nur eine phantastische Memoirenerzählerin der Erinnerungen ihrer Jugend und der Überlieferungen ihrer Heimat. Sie, die so unglaublich schwedisch ist und deren Dichtung mit der schwedischen Erde selbst verwachsen schien, wagte da den Versuch, von einer Welt zu dichten, die der reine Gegensatz ihrer eigenen war; sie, die dem kulturellen Dasein so ferne stand, wagte ihre Zelte in einer urklassischen Landschaft aufzuschlagen und anstatt des Eisen- und Waldlandes oben im Norden Sizilien zu schildern. Es ist auch interessant zu verfolgen, wie dieses Wagestück ausgefallen ist, das sowohl die Weite wie die Grenzen ihrer dichterischen Begabung näher zeigt.
Die Gestalt des Antichrist selbst ist einer der wenigst bekannten Typen der biblischen Legendenwelt.
Von all den großen italienischen Renaissancekünstlern, die es versucht haben, in Farbe und Bild die angsterfüllten Schreckensvisionen darzustellen, die in den mittelalterlichen Sagen dem Weltuntergang vorhergehen und ihn begleiten, vom Stillestehen der Gewässer und dem Blutschweiß der Pflanzen, bis das Tuba mirum des jüngsten Gerichts durch den Weltenraum dröhnt, hat niemand außer Luca Signorelli die rätselvolle Erscheinung des Antichrist geschildert. Dunkel schimmert seine dämonische Gestalt in der Bibel hervor, der falsche Christus, der mit seinen unwahren Wundern die Menschheit zum Wahnwitz treiben wird, des Teufels letzter Ausgesandte im Kampfe um die Erde, der listigste und letzte König der Weltlichkeit, das Evangelium der Sünde und der Fleischlichkeit unter der Messiasmaske predigend. Die Gestalt ist, wie man sieht, der bildenden Kunst kaum zugänglich, wenigstens in naiv und unreflektiert formenden Zeiten. Sie ist, wie man gesagt hat, ein logischer Kontrast, »durch den der dualistische Glaube den Glanz seiner Lichtgestalten erhöhen wollte: sowie Christus Gottes Menschenwerdung ist, ist der Antichrist die des Teufels. Ist der Teufel Gottes Affe, so ist er in seiner Verwandlung in den bösen Idealmenschen der des Erlösers.« Roskoffs bekanntes Werk »Die Geschichte des Teufels« und viele andere Arbeiten über die mittelalterliche Legendenwelt lehren uns die Überlieferungen und Gedanken genauer kennen, die sich an den Antichrist knüpfen, aber immer steht er als ein verstandesmäßig konstruiertes Symbol da, als die letzte Inkarnation des bösen Prinzips im Kampfe gegen den Himmel, die Erfüllung der Zeiten kündend, gerade durch seine vermessenen Versuche, die Menschen mit jenen Zeichen und Gebärden irrezuführen, die dem Erlöser und Weltrichter zukommen.
Diese legendarische Gestalt eignet sich besser für die Dichtung als für die Kunst. Sie kam auch nicht selten in den Bibelspielen der Mysterien vor. Auf eine Kirchenwand gelangte sie erst durch Michel Angelos großen Vorgänger, Luca Signorelli, in seiner großen cyklischen Darstellung des jüngsten Gerichts in Orvieto, zu der er wahrscheinlich sowohl durch die Szenen auf den Schaubühnen der Mysterien wie durch die flammende Beredsamkeit der Bußprediger inspiriert worden war.
Aus den Fresken in Orvieto hat Selma Lagerlöf selbst die zusammenhaltende Idee und den Rahmen zu den Wundern des Antichrist erhalten. Mit einer modernen Umdeutung, die mehr geistreich als wirklich inhaltstief ist, läßt sie die Zeit des Antichrist die Zeit des Sozialismus sein, und das wundertätige Christusbild, das sein Kommen repräsentiert, trägt auf der Stirn das Losungswort der Glückstheorie »Mein Reich ist nur von dieser Welt.« In dem abschließenden Zwiegespräch zwischen dem heiligen Vater und dem treuherzig einfältigen Landpater, der das wundertätige Bild verbrennen wollte, wird dieser Gedankengang ins Prosaische gepreßt, indem die Verfasserin Leo des Dreizehnten bekannte Encyklika über die soziale Frage aufgreift und sie mit ihrem Gedankengang verbindet. Die Kombination ist geschickt, ja fein gemacht, und dennoch ist es, als verdünnte und verflüchtigte sich die Quintessenz der Legende in dieser Deutung. Im ganzen ist der Rahmen das wenigst Geglückte in diesem Buche. Die Einleitung ist geradezu langweilig. Die Verfasserin strebt da einen historischen Stil an, der nicht zu ihr paßt. Umsomehr freut man sich, hervorheben zu können, daß dieses ganze Außenwerk herzlich wenig für den Gesamteindruck des Buches zu bedeuten hat. Es ist eine prächtige, aber leere Schale um einen umso lebendigeren Kern – und dieser Kern sind die Geschichten vom Volk in Diamante.
Sowie »Gösta Berling« »Die Kavaliere auf Ekeby« hätte heißen müssen und die Verfasserin gar nie den Versuch gemacht haben sollte, aus seinen Geschichten eine organisch geschlossene Komposition zu machen, würden auch diesmal ihre Schilderungen durch die Weglassung der angestrengt und gekünstelt ausgesponnenen Intrigue gewonnen haben, deren Faden sich oft in der Unzahl kleiner Erzählungen, Novellen und Legenden verliert, die den wirklichen und auch außerordentlich fesselnden Inhalt des Werkes bilden. So wie in Gösta Berling ist die Hauptperson auch hier das wenigst interesseweckende. Dieser »letzte Alagona«, der sizilianische Bildschnitzer, der heranwächst, der Abgott seiner Heimatstadt wird und in Gesellschaft von Da Felice und Bosco als Aufrührer und Sozialist ins Gefängnis kommt, hat ebenso wie der dämonische Värmlandspoet einen Zug von »Helden« an sich, der von der naiven Bewunderung einer naiven Frauenphantasie spricht und an alte Romane nicht gerade vom allerbesten Schlage aus der Zeit der Straminstickereien und Korkzieherlocken gemahnt.
Umso meisterlicher hat die Verfasserin die Umgebung geschildert, in der er lebt, die Frauen, die ihn lieben, all die Hunderte Originale, die in seiner Heimatstadt, dem märchenromantischen Diamante leben und hausen. Kaum ist wohl je in der schwedischen Literatur – und übrigens auch nicht oft anderswo – der Süden und südländisches Naturell in so verliebtem Sonnenlicht gesehen, so bezaubernd, mit einer solchen Stimmung von Paradiesesfrühling geschildert worden. Da ist Sang und Duft, der berauschend durch klarblaue Luft strömt, und Herzen, die sich mit der Fülle großer erblühter Blumen erschließen.
Diamante ist ein kleines Städtchen wie Taormina oder irgend ein anderer Ort am Ätna.
Diamante ist eine Wunderstadt – all seine alten Kirchen und Paläste und Menschen sind so voll von Merkwürdigkeiten, Seltsamkeiten und bedeutungsvollen Lehren, daß man nirgends ihresgleichen findet. Glaube nicht, daß es irgend etwas in Diamante gibt, das nicht eine Geschichte birgt. Du und ich, wir würden es vielleicht nicht sehen, aber Selma Lagerlöf, sie weiß es, und man glaubt ihr. Diamante ist die bezauberndste und spannendste Stadt der Welt. Sie hat Helden, Schurken, Dichter und Wundertäter. Du schlägst den Baedeker auf, um diese sizilianische Märchenstadt zu finden, die von Palmenkronen und Mandelblüten umgeben, mit sonnefunkelnden Wetterfahnen und Zinnen, alles zu bergen scheint, was die Jugendpoesie an Legenden und Abenteuern geträumt hat – und du sehnst dich, die Glocken in ihrem Dom zu hören, dem ehrwürdigen San Pasquale.
Aber wenn all dies wie durch einen funkelnden Traumschleier gesehen wirkt, so ist die Unterlage darum nicht weniger wirklich. Diamante existiert, wie die Stadt auch in Wirklichkeit heißen mag, und all ihre Typen, Originale und Berühmtheiten auch: Die ruinierten Sprößlinge spanischer Granden, die mit der Zipfelmütze in den Kramläden stehen, aber in feierlichen Augenblicken ihr altes Blut verraten, die Improvisatoren und Märchenerzähler, die milden Geistlichen mit den Brevieren unter dem Arme, die Theaterdirektoren, die die Fahne der Kunst hoch halten und mit ihren Marionetten die Chronik von Carolus Magnus und die Passionsgeschichte spielen, die tiefsinnigen Bettler, die strebsamen Arbeiter, der Mann mit dem bösen Blick und all die anderen. Und noch stärker leben Diamantes Frauen, alte und junge, von der weisen Stadtvorsehung, Donna Elisa mit all ihren Erzählungen und Ratschlägen bis zu dem warmen jungen Blut, Donna Micaela, deren Liebesgeschichte die Haupthandlung des Buches ist, mit einer Innigkeit, einer Schönheit, einer Poesie der Natürlichkeit vorgetragen, der gegenüber alle Lobsprüche grob wirken, so durchzittert ist die Schilderung von allem, was ein Frauenherz schönstes und innigstes fühlen kann.
Dieses ganze Buch ist eine Hymne auf den Süden. Was diese Erzählungen schildern und preisen, ist das glückliche und naive Gemüt, die offene Natürlichkeit, die schlicht und stark fühlt und es versteht, die Gefühle mit der angeborenen Anmut von Lieblingskindern auszudrücken, denen es nie an klingenden Worten, schwärmerischen Bildern und noblen Gebärden gebricht. In all dies, was der linkischen und tastend schweren, der zögernden Hand des Nordens entgegengesetzt ist, hat Selma Lagerlöf sich verliebt. Sie ist eine Värmländerin, und die Värmlandsdichter haben als Angebinde von ihrer Heimat die Lust zum Fabulieren erhalten, die Freude am Erzählen, die Lebhaftigkeit des Vortrags und den im tiefsten Grunde munteren und offenen Sinn.
Der war ursprünglich sowohl bei Tegner wie bei Fröding Gustaf Fröding, hervorragender noch lebender schwedischer Dichter. vorhanden, und wenn der värmländische Dichter, wie Geijer, ein Grübler mit angeborener Schwermut ist, so hegt er doch in der Tiefe seines Herzens eine unerwiderte Neigung zum Lichte und zum Übermut. »Sorge ist Sünde, und das Innerste des Daseins ist Seligkeit,« hat Geijer geschrieben. Daran erinnert man sich, wenn man Selma Lagerlöf liest.
Über den Himmel Diamantes ziehen auch die düsteren Stunden nur wie weiße Sommerwölkchen, aber der Grund ist das klarste und tiefste Blau. Katholisch lebenswarm, katholisch menschenliebend und schönheitstrunken hat Selma Lagerlöf das südländische Leben wiedergegeben, mit des Nordländers Idealisierung einer Welt, deren Mängel sie nicht sieht oder nicht sehen will, bezaubert von der Mysterien- und Märchenstimmung, die noch unter Rebengeländen und Cypressen lebt.
Stil und Erzählungston sind auch glücklich mit dem Gegenstande zusammengestimmt. Sicherlich ist Selma Lagerlöf noch zu wortreich und plauderhaft, aber diese niemals innehaltende Suada mit ihrem Strom von Gleichnissen, Ausrufen und Fragen wirkt ebenfalls südländisch. Es ist, als hörte man eine Italienerin diese Geschichten und Legenden erzählen. Die Kinderphantasie der Verfasserin leiht ihr fast immer die rechten Farben: Purpur, Gold und Azur. Sie hat den Zauber eines primitiven Malers über ihren Heiligengeschichten, sie hat ihn wie von selbst ohne die geringste Anstrengung. Weiß Gott, wie es zugeht. Ich glaube, es ist die Madonna, die nachts an ihren Federn Wunder tut, wie einst in alten Tagen an den Schreibkielen und Pinseln der frommen Nonnen.
Um anzudeuten, was ich meine, will ich eine kleine Szene anführen. Donna Elisa aus Diamante fährt nach Catania, um der armen kleinen Giannita eine »Patenschwester« in der gleichalterigen reichen Micaela Palmieri zu verschaffen, die nach sizilianischer Sitte in Zukunft der »Patenschwester« zu Hilfe kommen soll. Es wird bewilligt, und die Ceremonie wird in folgender Weise geschildert:
»Man rief die junge Signorina herein. Sie war ein kleines Wunder aus rosa Seide, venetianischen Spitzen, großen schwarzen Augen und reichem krausem Haar. Ihr kleines Körperchen war schmal und dünn, so daß man es gar nicht beachtete. Giannita reichte ihr den Korb mit den Blumen, und sie nahm sie gnädig entgegen. Sie sah Giannita lange und nachdenklich an, ging rings um sie herum und verliebte sich in ihre glatten weichen Locken. Sowie sie sie gesehen hatte, lief sie fort, holte ein Messer, teilte den Granatapfel und gab Giannita die eine Hälfte. Während sie den Apfel aßen, hielten sie einander bei den Händen und sagten beide:
Schwester, Schwester, Schwesterlein!
Ich bin dein, und du bist mein,
Dein mein Haus, mein Trank und Speis',
Dein mein Glück und dein mein Preis,
Dein mein Platz im Paradeis!
Dann küßten sie sich und nannten sich Patenschwester.«
Wie lieblich ist nicht eine solche kleine Szene, wie leuchtet sie von jungem unschuldsvollem Reiz! Von solchen Stellen wimmelt es in den Wundern des Antichrist, Bilder, die in der rührenden Klarheit der Stimmung und ihrem kindlich schönen Phantasiespiel zeigen, daß die, welche sie gedichtet und gemalt, in ihrer Brust einen Strahl des Lichtes aus der Geschwisterzeit des Himmels und der Erde hatte, das über Fra Angelicos Engel leuchtete und Franz von Assisi seinen Sang an die Schwester Sonne und die Brüder Mond und Sterne dichten ließ.
Etwas ganz anderes ist die faktische Wahrheit des Buches, seine Glaubwürdigkeit als Schilderung des jetzigen Siziliens. Schon ein Vergleich mit den eigenen Schilderern des Landes in unserer Zeit – beispielsweise Verga in seinen düsteren leidenschaftlichen Novellen – zeigt, daß die schwedische Schriftstellerin die finstere harte Seite des sizilianischen Volks-Charakters kaum gesehen hat. Ein anderer Mangel in ihrem Werke, den auch ein Leser, der die Insel nie besucht hat, aber Theocritos kennt, merkt, ist das Fehlen der klassischen Linie in der Schilderung der Natur und der Menschen. Nie empfängt man den Eindruck einer klassischen Landschaft mit ihrem großen ruhigen Horizonte und ihrer monumentalen stillen Form. Alles bebt und bricht sich in dieser Märchenwelt, deren Lyrik trotz aller Berauschtheit vom Süden doch so nordisch ist. Man vergißt, daß man in der Gegend weilt, wo der Cyklop Polyphem in der Ruhe der Sommernacht auf der Syrinx seine Liebesklage um die Meernymphe Galathea spielte. Es ist die Gegend und das Motiv, aus denen der große Elegiker der Renaissance, Poussin, sein Symbol der seufzenden Sehnsucht einer unschönen Barbarenwelt nach dem ewig entfliehenden hellenischen Zeitalter formte.