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Selma Lagerlöf hat selbst die Entstehungsgeschichte ihres berühmten Erstlingswerks erzählt. Sie hat erzählt, wie diese merkwürdige Saga, die nun, so weit die schwedische Zunge reicht, und weit darüber hinaus, gekannt und geliebt ist, ihre ganze Kindheit umschwebte und ihr noch, als sie ein junges Mädchen war, auf allen Wegen und Stegen in Värmland entgegentrat. Die Saga war in ihrem eigenen Haus daheim und machte Eltern, Freunde und Besucher zu ihren Sprechern, stand auf den Schlittenkufen, wenn sie durch die weißen Wälder fuhr, klang von den alten Spinetten der Rittergüter, wenn sie zu Besuch kam, sang den ganzen lichten Sommer rings um den Fryken, den schönen See ihrer Heimat. Aber dennoch kam ihr nicht damals der Gedanke, die Saga selbst niederzuschreiben und in die Welt hinauszutragen. Viel später, auf einer Wanderung über die Malmskillnadsgasse in Stockholm, zwischen dem Hafengassenhügel und der Feuerwehrstation kam ihr die Idee, die Saga ihrer Heimat, der vaterländischen Landschaft, zu schreiben.
Die Stadt Stockholm sollte an einem der Häuser dort eine Kupfertafel mit einer auf den Vorfall bezüglichen Inschrift anbringen, um wenigstens eine vertrautere Erinnerung an Gösta Berlings und Jerusalems Verfasserin zu besitzen. Meines Wissens hat sie nie auch nur eine einzige Zeile über die Hauptstadt geschrieben und sicherlich recht daran getan. Aber die merkwürdige Promenade der kleinen Seminaristin über die Malmskillnadsgasse, die sonst selbst für einen orthodoxen Stockholmer nicht zu den besonders poetischen oder inspirierenden Straßen gezählt werden kann, sollte verewigt werden.
Doch zwischen diesem Augenblick der ersten Empfängnis und der Ausführung lagen lange Jahre. Selma Lagerlöf hat selbst eingestanden, wie schwer es ihr wurde, die rechte poetische Form für diese Bilder und Überlieferungen aus der Heimat zu finden, die sich doch immer mehr und mehr ihrer Phantasie bemächtigten und sich nach der Befreiung durch die Dichtung sehnten. Erst nachdem sie mit der Wirklichkeitsdichtung ihrer Zeit ihre Abrechnung gehalten und erkannt hatte, daß deren Bauart sich für ihre Phantasiewelt nicht eignete, begann Gösta Berlings Saga Gestalt anzunehmen. Bekannt ist es, wie Iduns Preisausschreibung 1890 die Saga und deren Erzählerin der Welt offenbarte und wie sie dann im Jahre 1891 endlich ihren langjährigen Traum verwirklichen und das Prosa-Epos des alten Värmlands schreiben konnte.
All dies hat Selma Lagerlöf selbst in ihrer eigentümlichen Weise in dem kleinen selbstbiographischen Aufsatz »Wie Gösta Berling entstand« Deutsch in der »Neuen Deutschen Rundschau« veröffentlicht. erzählt. Aber die Literaturgeschichte wird sich wohl kaum mit dieser lyrischen Schilderung und ihrer summarischen Konturierung der Entstehungsgeschichte des Buches begnügen. In den dreizehn Jahren, die seit dem Erscheinen des Buches verstrichen sind, ist Gösta Berlings Saga nicht nur ein klassisches Werk geworden, sondern es hat sich auch als ein Markstein in der Geschichte der schwedischen Dichtung erwiesen. Neben Verner von Heidenstams früher veröffentlichten »Wallfahrt und Wanderungsjahren« leitet es eine neue Epoche in unserer Literatur ein, die selten reiche und gehaltvolle Produktion der Neunziger Jahre. Über ein Buch, das so eigentümlich und genialisch, so bedeutungsvoll ist, will man genaueres wissen. Man will bis in alle Einzelheiten die Stellung der Verfasserin zu der Tradition kennen lernen, aus der sie ihre Dichtung geschaffen, und zu den lebenden Modellen, die sie möglicherweise für ihre Gestalten verwendet hat. Dies ist nicht nur von größtem Interesse für unsere Auffassung von Selma Lagerlöfs dichterischer Eigenart und ihrer Bedeutung als Repräsentantin der Volksphantastik in einer kritischen und reflektierten Zeit, sondern interessiert uns auch aus historischen Gründen. Das Värmland aus dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts, das in Gösta Berlings Saga geschildert wird, hat Schweden einige seiner allergrößten Persönlichkeiten und Poeten geschenkt. Mit Spannung fragen wir uns selbst, ist dies das romantische Värmland, das der junge Esaias Tegnér Esaias Tegnér, der große Dichter und Erik Gustaf Geijer, Schwedens großer Historiker, stammten beide aus Värmland und waren mit värmländischen Damen verheiratet. sah, als er mit den Myhrmanschen Mädchen zur Petersmesse nach Karlstad reiste und das an dem jungen Erik Gustav Geijer vorüberhuschte, wenn er durch den Schnee der Winternacht zwischen den alten Eisenwerken dahinfuhr und zu den Tönen von Boccherinis Quartetten, die eben beim Lichte der Wachskerzen erklungen waren, die jungen schönen Züge des Fräuleins Anna Lisa Liljebjörn vor sich sah?
Über das Verhältnis von Gösta Berlings Saga zur Wirklichkeit ist jedoch noch wenig bekannt. Birger Schöldström, als Preisrichter von Idun selbst einer der Entdecker von Selma Lagerlöfs Inkognito und Genialität, hat eine kleine Identifizierung der Topographie in Gösta Berlings Saga vorgenommen und bewiesen, wie fest die phantasievolle Dichtung in der Scholle wurzelt. Selma Lagerlöfs anscheinend von unerschöpflichem Sagenreichtum erfülltes Land ist der Sprengel Frykdal, der lange Löfvensee ist der Fryken, Värmlands Lago di Como, und die höchst wunderbaren Güter und Höfe an seinen Ufern können vom hohen Ekeby an mit wirklichen Namen genannt werden. Welche stumme Ahnung fühlt nicht der Leser von Gösta Berlings Saga bestätigt, wenn er findet, daß die vielleicht am schönsten, sicherlich am liebevollsten geschilderte all dieser Behausungen, Lilliecronas Heim, über dem der taufrische Morgenfriede einer neutestamentarischen Idylle ruht, in Wirklichkeit Mörbacka hieß und Selma Lagerlöfs eigenes Elternhaus und Kindheitsheim war!
Was die wirklichen Typen in Gösta Berlings Saga betrifft, so ist das einzige, was darüber vorliegt, ein kleiner Aufsatz der Landsmännin der Verfasserin, Eva Fryxell. Er ist flüchtig und unvollständig, aber gibt doch Aufschlüsse von Wert. Da erfährt man, daß in Gösta Berlings Saga kaum ein einziges wirkliches Porträt vorkommt – wenn nicht die Hauptmannsfrau auf Berga, die sanfte überspannte Romanleserin, die Eva Fryxell selbst an langen Winterabenden Geschichten erzählen gehört hat. Aber wenn in Selma Lagerlöfs värmländischer Menschengalerie keine einzige photographische Abbildung vorkommt, so findet man andrerseits dort auch keine einzige Gestalt, die nicht von irgend einem bestimmten Vorbild ausgegangen ist. Ein origineller Freidenker – erzählt z. B. Eva Fryxell – hatte wirklich ein Manuskript in der Svartsjöer Kirche deponiert, aber er hatte im übrigen nichts mit Onkel Eberhard gemein. Am interessantesten ist, was die Verfasserin über die Figur der Majorin selbst schreibt. »Wahr ist, daß eine alte Dame in der nördlichsten Gegend von Värmland sich höchst männlich kleidete, mit den Bauern feilschte, große Macht im Orte hatte und beinahe als Mann auftrat. Als Kind sah ich sie im Pfarrhof und erinnere mich noch an die grüne Saffianskaskette auf den grauen Locken.« Aus einer solchen kleinen Silhouette empfängt man einen possierlichen Eindruck, wie Wirklichkeit und Dichtung einander in Gösta Berlings Saga berühren. Aber wenn man gleichzeitig Selma Lagerlöfs grandiose und tiefsinnig gedachte Majorin lebendig vor sich sieht, dann ahnt man die ganze Größe der Dichterkraft, deren es bedurfte, um aus solchen Schattenspielpuppen der Erinnerung und der Anekdote die hochromantischen, wenn auch ein wenig märchenhaft umschleierten Gestalten des Buches zu schaffen.
Wer jedoch eine Wirklichkeitskontrolle dieser ganzen Welt haben will, die in phantastischer Beleuchtung aus Gösta Berlings Saga schimmert, der kann sie in gewissem Grade aus einigen kleinen vergessenen Büchern eines värmländischen Sittenschilderers erhalten, eines reinen Dilettanten, der in seinen alten Tagen seine Erinnerungen kunstlos und ohne Ansprüche niedergeschrieben hat. Das sind »Erinnerungen aus der Jugend« von Henrik Liljebjörn, einem Militär, der einem alten värmländischen der Familie Lagerlöf verwandten Geschlechte angehörte, Erik Gustaf Geijers Schwager. In seinen Aufzeichnungen lernt man die alltägliche Wirklichkeit aus Gösta Berlings Zeit kennen. Er schildert die alten düsteren Herrenhöfe mit ihren hohen in Absätzen gebauten Dächern, den eisernen Schornsteinen und den niedrigen, nahen, quadratischen Fenstern mit den kleinen oft in Blei gefaßten Scheiben. Große Flure gingen durch die Häuser, zu deren oberen Stockwerken »dunkle, steile und enge Treppenaufgänge« führten. »Die Wände waren mit ölgemalten Tapeten behangen, manchmal aus Goldleder und späterhin auch aus Papier mit vergoldeten Sternen oder Kronen auf dunklem Grund. Die Zimmer waren düster mit spärlichem Licht durch kleine grüne Scheiben, und mit Schränken und Lehnstühlen aus Eichenholz gewichtig möbliert. Die Kachelofen waren von dunkler Farbe, standen auf kleinen geschweiften Pfosten und boten so unter der Feuerstatt einen von Katzen und Schoßhunden sehr goûtierten Schlupfwinkel.« Stellt man sich nicht gerade so die Rittergutszimmer in Gösta Berlings Saga vor? Ebenso sieht man in diesen Aufzeichnungen die Menschen jener Zeit vor sich: die Herren mit großem »Coup de Vent« unter den schwarzen Castorhüten, weißen Vatermördern, Röcken mit kurzer Taille und langen schmalen Schößen, Krausen, von Busennadeln mit großen Solitären zusammengehalten; die Damen mit Korkzieherlocken an den Schläfen und großen verzierten Steckkämmen auf dem Scheitel, Kleidern in verbürgerlichtem Empire, die weich um die Gestalt flattern, hängenden Medaillons an Halsketten und weißen Strümpfen. Diese Menschen versammelten sich zu langen übermütigen Festivitäten bei Bowlen und Tanzmusik. »Es gab damals einen Arrak, der so aromatisch war, daß man vom bloßen Gerüche fröhlich wurde«, schreibt Liljebjörn. Ich will Selma Lagerlöf durchaus keine unnüchternen Gewohnheiten andichten, aber von diesem merkwürdigen Arrak, mit Citrone und Pomeranzen in ostindischen Bowlen gebraut, hat sie, glaube ich, gekostet. Denn sein Geist schwebt über dem Kavaliersflügel von Ekeby mit heißem südländischem Rausch. Die harte Winternatur rings umher beschleunigte den Puls und das Tempo des gesellschaftlichen Lebens, denn rings um die alten Güter erstreckten sich noch große Wälder, wo Wolf und Luchs hausten, die Finnen in Pelzfäustlingen und Hundsfellmützen wanderten, und die schwarzen Zigeuner umherzogen, deren Frauen ihre Kinder in gestohlenen Lumpen auf dem Rücken trugen. Aber nicht nur die Oberfläche der Erscheinungen stimmt bei dem alten värmländischen Soldaten und der modernen Schriftstellerin überein. Auch die Typen selbst haben ihre Ähnlichkeitszüge. Liljebjörn entwirft z.B. eine entzückte Schilderung einer in Värmland berühmten Schönheit, Ebba Aminoff, die so gefeiert und fêtiert war, daß eine neidische Dame der Umgegend einmal sagte, wenn man vom höchsten Wesen spreche, so glauben die Leute, man meine Frau Aminoff. Man lese die Schilderung dieser Schönheit, die mit Bernadotte korrespondierte und von einigen für seine Geliebte gehalten wurde, die vom Glanz der großen Welt umschwebt war und in Värmland buchstäblich die Sonne von Karlstad Die Hauptstadt von Värmland. wurde. Ihre Augen waren wunderbar, »mattgraubraunblau«, dem Teint sollte mit Kunst nachgeholfen sein, »aber wenn dies sich so verhielt, dann war es eine zur höchsten Vollendung getriebene Kunst, die den Geschmack des Meisters bewies«. Im Tanze berührten ihre Füße kaum den Boden, »sie schwamm auf den Wellen der Töne«. Rüschen und gouffrierte Volants umgaben »wie Wolken ihre zarte Erscheinung«. Liljebjörn gibt an, daß sie ebenso edel wie bezaubernd war. In diesem Falle scheint es dem Leser von Gösta Berling, könnte sie eine Schwester der Gräfin Märta Dohna gewesen sein.
Falun, 28. 5. 1904
Herren Bard, Marquardt & Cie.
Berlin
Hochgeehrte Herren!
Für Ihren Brief, in dem Sie mich davon benachrichtigen, dass Sie eine von Professor Levertin verfasste Monographie über mich herauszugeben beabsichtigen, danke ich Ihnen hierdurch, ebenso für die Ehre, die Sie mir hierdurch erweisen, und die ich wohl zu schätzen weiss. Ich sende heut mein Porträt mit Namensunterschrift, sowie ein Packet Postkarten mit Ansichten von Gösta Berlings Land, sowie ausserdem eine Zeitung, die einige Illustrationen von Jerusalem und der Heimat der Auswanderer in Dalekartien enthält. Vielleicht finden Sie hierunter etwas, was Sie gebrauchen können. Ich werde auch an meinen Verleger schreiben und ihn fragen, ob er Ihnen einige Bilder aus der illustrierten Gösta Berlings-Ausgabe senden will, die im vorigen Jahr erschien. Es ist ja selbstverständlich, dass ein Teil meiner kleinen Novellen auch illustriert wurde, als sie in Zeitschriften erschienen, aber wenige dieser Illustrationen haben irgendwelchen Wert. Ich habe sie jetzt nicht zur Hand, aber wenn Sie es wünschen, so will ich sie wohl herbeischaffen.
Als Stilprobe sende ich ein Stück aus meiner in diesen Tagen erscheinenden Novellensammlung »Christuslegenden«.
Ich will nun die Gelegenheit ergreifen, Ihnen meinen Dank auszusprechen für das Anerbieten, einen Beitrag für Ihre Zeitschrift zu senden, aber soweit ich ersehen kann, bewegt sich Ihre Zeitschrift auf einem Gebiet, auf dem ich meine Fähigkeiten kaum zu erproben wage, die bisher ausschliesslich erdichteten Personen gewidmet waren und sich nicht mit der Wirklichkeit beschäftigen kann.
Mit besonderer Hochachtung
Selma Lagerlöf
Aber all dies sind nur Andeutungen ohne irgendwelche Prätensionen. Die Absicht ist nur, die Wahrheit von Selma Lagerlöfs »Saga« zu zeigen. Sie hat die Traditionen und Erinnerungen des Lebens einer ganzen Provinz in sich eingesogen und dadurch auch die ganz besondere Ursprünglichkeit und genuine Kraft erhalten, welche jene Poesie auszeichnet, der das eigen ist, was man im Deutschen Erdgeruch nennt, der unzerrissene lokale Zusammenhang mit der Scholle, mit einer gewissen Landschaft und allen ihren lebendigen Säften.
Nach diesen kurzen Andeutungen über Selma Lagerlöfs Verhältnis zu ihrem Stoff kommt die Reihe an ihre eigenen literarischen Voraussetzungen. Interessant wäre es, etwas Näheres über die Lieblingsschriftsteller ihrer Jugend zu wissen und über welchen Büchern sie in ihren Entwicklungsjahren geträumt hat. Denn originell in dem kindlichen Sinne, daß sie nichts gelesen und nichts gelernt hat, ist weder sie noch irgend ein anderer Schriftsteller von Rang. Der große schwedische Dichter, dessen Name Gösta Berlings Saga sogleich auf vieler Lippen brachte, ist sicherlich nicht mit Unrecht als einer ihrer geistigen Vorväter genannt worden. Ähnlichkeiten mit Almquist, Johan Ludvig Almquist, großer romantischer schwedischer Dichter, dessen Arbeiten unter dem Titel »Das Buch der Dornenrose« herauskamen. Ihr Held heißt Richard Furumo. wahrscheinlich sowohl auf direkter Einwirkung wie auf innerer Verwandtschaft mit dem Dichter der Dornenrose beruhend, finden sich unleugbar in Gösta Berlings Saga. Selma Lagerlöf hat etwas von derselben phantasievollen Naturmystik und etwas von seinem Vermögen, die Stimmung einer Landschaft durch dieser seltsam zugehörige Phantasiewesen, Menschen oder Tiere illustrieren zu lassen. Das »Neuhof-Mädchen«, Gösta Berlings unglückliche, schwachsinnige Braut, ist eine solche Almquistsche Naturgestalt, halb Mensch, halb Personifikation. Eine gebundene düstere Natur, eine unentwickelte primitive Volksklasse ist in diesem Mädchen mit dem schwarzen Haar und dem regelmäßigen, aber seelenlosen Madonnengesicht unklar symbolisiert. Gösta Berlings rücksichtsloses Spiel mit diesem unseligen Wesen und seine herzlose Gleichgültigkeit bei ihrem Tode erinnert lebhaft an Richard Furumos neuromantisch überlegenen Mystifikationen. Übrigens hat wohl auch Gösta Berlings Gestalt etwas, das den Gedanken zu Almquist selbst führt. Dieser abgesetzte dämonische Pastor mit seiner erotischen Vielseitigkeit, seinem poetischen und musikalischen Genie, seiner passionierten Launenhaftigkeit und seiner Utopie, in einem idealisierten Bauern- und Ansiedlerleben in der Einsamkeit der värmländischen Natur Frieden zu finden, erinnert in vieler Weise an Almquist, obgleich ja auch die Verschiedenheiten groß sind. Die äußere Ungleichheit der Typen spricht schon ihre unverkennbare Sprache. Gösta Berling ist ein värmländischer Tenor, ein lichter, verbummelter Aladin, Almquist ein dunkler in seine eigene Rätselhaftigkeit verstrickter Nourreddin. Der große Dichter war nämlich auch ein tiefsinniger Denker, während der Gösta der Damen und Kavaliere niemals einen eigenen Gedanken in seinem goldlockigen Kopfe hatte – er wie die anderen Persönlichkeiten der Saga haben die glatten Gehirne von Kindern.
Von neueren Dichtern scheint mir nur ein einziger auf Selma Lagerlöf tieferen Eindruck gemacht zu haben – Björnson. Sein Einfluß liegt nicht auf der Oberfläche, aber er findet sich auf dem Grunde von Gösta Berlings Saga. Er tritt, scheint es mir, vielfach hervor, in der fröhlichen direkten Art, wie Motive und Menschen angepackt sind, in dem tändelnden, ein wenig kindlichen Märchenstil der Naturschilderung, in dem Gefühl für das Volk und die ursprünglichen Lebensmächte, in der Liebe zu Sage und Chronik, in dem moralisierenden Optimismus der Anschauung. Beide haben von den isländischen Erzählungen gelernt und können mitten in ihrem Wortreichtum durch einen großartigen Lakonismus wirken, beide fühlen sich als Volkserzieher, bei beiden herrscht gerne eine Stimmung von Sonntagsschule, beide sind nicht ganz frei von einem Anflug von Moralpredigerei. Ich müßte mich sehr irren, wenn nicht Almquists »Buch der Dornenrose« und Björnsons »Erzählungen« die Werke gewesen sind, die die Verfasserin von Gösta Berlings Saga am stärksten berührt haben.
Aber neben dieser Einwirkung und Wesensgleichheit findet man in Selma Lagerlöfs Erstlingswerk einen dritten Einfluß von viel schlechterer Beschaffenheit – nicht den Einfluß eines gewissen Schriftstellers oder eines gewissen Werks – sondern einer ganzen Literaturgattung. Ich möchte es Reminiszenzen aus der Leihbibliothek nennen. Ich bin überzeugt, daß Selma Lagerlöf all die alten Romane studiert hat, die die Hauptmannsfrau auf Berga im Bett zu lesen pflegte und noch andere kleine Oktavbände aus den alten Schloßbibliotheken. Ihr großes Erstlingsbuch ist nämlich nicht nur eine altertümliche Saga, es ist auch ein altertümlicher Roman, und darin nicht halb so gut. Die Saga und der Roman haben eine ganz verschiedene Art, mit den Dingen umzuspringen. Die Saga läßt alle Ereignisse, auch die unglaublichsten, gelten, wofür sie gelten können und es fällt ihr nicht ein, sie erklären zu wollen – der Roman will den Zusammenhang von Seelen und Taten zeigen. Unglücklicherweise begnügte sich die Romanliteratur, auf die ich hier anspiele – der Sensationsroman aus der Zeit zwischen 1830-1850, dessen typischer Vertreter in Frankreich Sue war und den bei uns in Schweden Frau Carlén und Blanche repräsentieren – mit einer Scheinpsychologie, deren Hauptregel war, daß jede Ursache die denkbar größte Wirkung haben mußte. Eine edle Frau wurde von ihrem Geliebten betrogen, schwupps mußte sie in den Schlamm hinabsinken und sich an dem ganzen Männergeschlecht als ein Vampyr rächen; ein Schurke wurde auf seinem verbrecherischen Pfad von der Unschuld eines Kindes entwaffnet und mit einem Zauberschlag in eine Lichtgestalt verwandelt. Billiger tat mans nicht. Die Extreme berührten sich stets in dieser Literatur, die immer mit Schwarz und Weiß, mit Teufeln und Engeln operiert, und wo die Menschen von ihren Leidenschaften auf und niedergeschleudert werden, wie Späne auf Sturmeswellen.
Selma Lagerlöf, die oft einen wunderbaren Instinkt hat und deren glückliche und unselige Wesen in großen Augenblicken so sprechen und denken, daß man vor vollkommener Clairvoyance zu stehen meint, wendet nicht selten diese melodramatische Psychologie an, mit ihrem konventionellen und gewaltsamen Karussel zwischen Liebe und Haß, Verrat und Aufopferung. Diese Gemütsart findet sich bei Gösta Berling selbst und wird als charakteristisch für sein Wesen hingestellt, aber auch bei vielen anderen Personen des Buches, Melchior Sinclaire, Anna Stjernhöök, der älteren Gräfin Dohna u. a. Doch tausendmal lieber akzeptiert man jede Bizarrerie der Saga als diese Talmipsychologie, an die man glauben soll, und ihre dämonischen Leidenschaften aus den schlechten Romanen aus der Jugendzeit unserer Eltern.
Im Zusammenhang mit dieser Romanhaftigkeit steht schließlich Selma Lagerlöfs Art, wohl die stärksten Dissonanzen anzuschlagen, sie aber doch immer in Harmonie aufzulösen. Diese alte Romanliteratur liebte die dunklen Seiten des Daseins, sie vertiefte sich in den Sturm und die Abgründe, aber sowohl Verfasser wie Leser hatten das sichere Gefühl, daß man schließlich aufs Trockene kommen würde. Die schwarze Sepia mochte immerhin in Strömen fließen, aber der Schluß sollte Sonne sein. So wollte es die Ästhetik der Zeit. Das Bürgertum, aus dem das Publikum sich rekrutierte, wollte vor der Grausigkeit des Daseins schaudern, aber dann die wohlbehagliche Ruhe seiner Kachelofenecke wiederfinden. Nachdem Selma Lagerlöf in zwei Bänden mit der ganzen Bewunderung einer Frau für Tollköpfe und ihrem ganzen Interesse für männliche Sünder die Unverbesserlichkeit der Kavaliere geschildert hat, bekehrt sie sie schließlich. Es liegt darin zu viel Herzenswärme und Pädagogik. Man denke sich Fredman und Mowitz Fredman und Mowitz, die Helden von Bellmans orgiastischen Trinkpoesien. jeden mit seinem Näpfchen Biermilch vor sich. Der Anblick wäre nicht erfreulich; und das schlimmste ist, daß so etwas nicht nur eine einzelne Episode verdirbt – in einem so außerordentlich reichen Buche wie Gösta Berlings Saga hätte das weniger zu bedeuten – aber es wirft einen Schatten über das ganze Werk und verringert die allgemeine Illusion der Szenen und Gestalten. Warum konnten die Kavaliere nicht unverbesserlich mit bleicher stolzer Stirn in ihren alten Wagen von Ekeby von dannen fahren und die Odyssee ihrer Lüste bis zum letzten fortsetzen? Warum mußte Sintram gestraft werden und zum Schlusse sterben? Stirbt der böse Sintram je?
In den obenstehenden Zeilen wird der äußere Stoff von Gösta Berlings Saga und die literarischen Voraussetzungen seiner Verfasserin berührt – das wichtigste erübrigt noch, das, was die Originalität und Größe des Werkes ausmacht, Selma Lagerlöfs Dichtergabe selbst. Von Natur gehört sie sicherlich zu den reichsten Dichtertemperamenten unserer Literatur. Schon von Anfang an finden sich in ihr drei selten friedlich zusammenhausende Gaben vereint: eine unerschrockene, visionäre Einbildungskraft, fließende ursprüngliche Erzählergabe und ein Reichtum des Gefühls, das alles, lebendes wie totes in einer Umarmung von tiefer milder Menschlichkeit umfangen muß.
Die Ursprünglichkeit und Kraft der Phantasie ist das, was uns in Gösta Berlings Saga zuerst und zuletzt erstaunt. Da spricht eine Phantasie ohne Spur von Anämie, die zügellose, muntere und spielerische Einbildung eines Naturkindes, die sich nicht an den Kammerwänden einer Stadtwohnung die Flügel wundgeschlagen hat oder sich in der Einförmigkeit der Stadtgassen müde gegangen ist, eine Einbildung, gewohnt an freie Fahrten durch eine von Sagen und Märchen bevölkerte Natur, und eine Natur ohne Einseitigkeit, weder ausschließlich von dunklem Wildnis-Charakter, der einer Vorstellungswelt für allezeit das Gepräge des Grauens und der Düsterkeit gibt, noch von der lächelnden Art, die die Traumbilder lyrisch und schwebend macht, ohne Eigentümlichkeit oder feste Gestaltung. Das Värmland, in dem sie aufgewachsen war, hatte tiefe finstere Wälder mit Raubtieren und Zigeunern, aber auch eine lichte Seelandschaft, und in der Luft über dem Ganzen schwebte die fröhliche Lügenhaftigkeit der Fabulierungskunst, die sie selbst gerne zum Charakterzug ihrer värmländischen Landsleute macht. Überall in Gösta Berlings Saga merkt man auch, wie ihre Phantasie es genossen hat, sich nach Herzenslust gütlich zu tun. Tugenden und Gebrechen sind überall in ihren Büchern ins Phantastische und Maßlose gesteigert. So wie die Schattenbilder des Abendlichtes werden ihre Personen gigantisch und verschwinden mit den Konturen in der Dunkelheit. Die alte Gräfin Dohna wird, wenn sie ihre Schwiegertochter quält, eine der bösen Königinnen und Stiefmütter des Märchens, und Melchior Sinclair dumm und böse wie ein Bergtroll. Wenn die Logik auch manchmal zu kurz kommt, so bekümmert das die Verfasserin wenig und auch – das muß zugestanden werden – den Leser, der seine Freude an diesem kühnen und freien Spiel der Phantasie hat. Selma Lagerlöfs innerer Gesichtssinn hat überdies eine bemerkenswerte Schärfe. Die visionäre Greifbarkeit und Macht der Bilder beschwichtigt oft alle prosaischen Einwände.
Zu dieser frischen Einbildungskraft gesellt sich eine angeborene Erzählergabe. Von Natur gehört Selma Lagerlöf zur Rasse der großen Erzähler. Wie diese dichtet sie episch und cyklisch, stets nach der Breite, ohne es je müde zu werden, Episode an Episode zu fügen. Wenn ihre Bücher schließen, so ist es, weil Bücher einmal schließen müssen, aber nie, weil der Stoff erschöpft ist. Ihre Versuche, alle Sagen und Erzählungen in einen gegebenen Rahmen zusammenzuzwingen, sind auch sehr linkisch, und vergebens sucht sie in ihren Werken eine eigentliche dramatische Entwicklung zu erzielen. Bei ihr gelten die gewöhnlichen Schwere- und Geschwindigkeitsgesetze nicht – das Tempo bleibt den ganzen Weg dasselbe. Wie bei allen reinen Epikern braust Welle auf Welle, und trotz der lyrischen Schreibweise liegt etwas Gleichmäßiges und Einförmiges über der Rhythmik ihrer Dichtung. Wahrscheinlich würde es für sie auch nicht die Mühe lohnen, eine geschlossene Kompositionsform aus einem Gusse anzustreben. Eine solche ist nicht möglich, wenn man sich auf einem und demselben Plan bewegt, in der Breitedimension, mit nebeneinander aufgereihten Bildern, anstatt sich auf der Tiefe zu bewegen und die Ereignisse sich kausal auseinander entwickeln zu lassen. Selma Lagerlöf muß sich damit begnügen so zu komponieren wie Homer – das ist ja gar nicht übel, und dann kann man, wie bekannt, bei dieser Methode hier und da ein wenig einnicken, ohne daß es das Ganze nennenswert zu stören braucht.
Der letzte bestimmende Zug in Selma Lagerlöfs dichterischem Temperament, der Gösta Berlings Saga seinen ganz besonderen Ton und Stil verliehen hat, ist ihre außerordentliche, subjektive Gefühlvollheit. Sie durchströmt das Werk von der ersten Zeile bis zur letzten. In den zwei dicken Teilen wird nicht einmal ein toter Gegenstand genannt, auf dem ihr Auge nicht liebevoll geruht hätte und über den sie nicht mit ihrer warmen Hand liebkosend gefahren zu sein scheint. Es ist diese Liebesfülle, die sie stets in ihren Erzählungen mitsprechen läßt und die sie dazu bringt, Ausrufungszeichen in größerer Menge anzuwenden, als vielleicht irgend ein anderer Schriftsteller. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man all dieser Interjektionen mit Ach und Oh müde wird und wünscht, daß die Darstellung zur Abwechslung manchmal Anlaß zu einem stillen – Gedankenstrich gäbe. Aber man kann sie nicht fortwünschen, denn mit ihnen hängt die ganze Eigentümlichkeit des Stils und des Tons zusammen. Das Eigentümlichste in ihrer Darstellungsart ist nämlich, was man mit einem Kunstwort ein beständiges Antropomorphisieren nennen möchte, ein stetes Vermenschlichen dessen, wovon sie spricht, Natur, Dinge, Lebensmächte sowohl wie abstrakter Begriffe. Alles, was den Menschen umgibt, lebt für Selma Lagerlöf das Leben des Menschen selbst, hat seine Vorstellungen, seine Gestalt. Die Sorge, die Mißgunst, der Hunger, der Tod haben für sie bestimmtes Aussehen und Tracht. Sie sieht sie vor ihrer Phantasie ebenso, wie sie ihre eigenen Anverwandten sieht oder wie historische Gestalten. Im Heim leben Hausrat und Möbel ihr geheimnisvolles Leben parallel mit dem der Besitzer und beeinflußt von den Wechselfällen und Schwankungen in deren Gemüt. Draußen in der Natur setzt sich der Kampf des Menschenlebens fort, klingt seine Sehnsucht wieder, und dabei gibt es keine Grenze zwischen Organischem und Unorganischem. Alles ist ein und dasselbe wundervolle Märchen. Wer in Menschenaugen lesen kann, der kann auch in Blumenkelchen lesen, und wer der Menschenstimme Offenbarung der Geheimnisse der Seele versteht, versteht auch Vogelzwitschern und Tannenrauschen.
Man pflegt eine solche Weltauffassung ursprünglich und märchenhaft zu nennen. Doch ist hierbei wohl zu unterscheiden, und über die verschiedene Art der Dichtung zu antropomorphisieren, ließe sich eine viele Seiten des menschlichen Seelenlebens beleuchtende Untersuchung schreiben. Hier will ich nur andeuten, daß wenn verschiedenes in einer solchen Gemütsverfassung wirklich primitiv ist, anderes wieder sentimentale Konstruktion genannt werden muß, wie sie gerade »Kindern später Zeiten« eigen ist. Niemand, der wirklich von der alten Volksdichtung ergriffen worden ist – der Ausdruck in dem Sinne angewendet, um im allgemeinen die Literatur jener Zeiten zu bezeichnen, die uns mit mehr oder weniger Berechtigung primitiv erscheinen – kann umhin, den Unterschied zwischen den mythischen Gestalten und Naturpersonifikationen der homerischen Welt oder den Phantasiegestalten der nordischen Volkssage und Selma Lagerlöfs halb allegorischen, selten mehr als ein Drittel lebensbeseelten Wesen gewahr zu werden. Wie üppig, wie konkret und stark ist nicht die Phantasie, die das Waldfräulein, den Troll und das Höllenpferd geschaffen hat gegen jene, die beispielsweise die Ebene und die Berge folgendermaßen miteinander sprechen läßt:
»Die Ebene beklagt sich, daß sie so wenig Platz und so schlechte Aussicht hat.
Du bist dumm, antworten die Berge, du solltest nur spüren, wie es hier unten am See weht. Da braucht man mindestens einen Felsenrücken und einen Tannenpelz, um derlei auszuhalten. Und übrigens kannst Du damit zufrieden sein, uns anzugucken.«
Solch kindliches Phantasiegetändel scheint mir von der wohlfeilsten Sorte zu sein, und von derartigem wimmelt es in Gösta Berlings Saga. Viel von der bereits erwähnten Geschwätzigkeit kommt von solchem schlappen mechanischen Märchenstil, der in jedem romanischen Lande unmöglich wäre und in der nordischen Dichtung nur zu viel zur Anwendung kommt. Damit soll aber nicht geleugnet werden, daß Selma Lagerlöf in tieferen und stärkeren Augenblicken mit ihrem poetischen Anthropomorphismus außerordentliche Resultate erreichen kann. Beispiele dafür finden sich die Menge in Gösta Berlings Saga und überall in ihren Werken. Einen Triumph dieser Schilderungskunst feiert sie in ihrer Erzählung »Eine Gutsgeschichte« mit ihrer von beinahe mystischer Stärke und Anschaulichkeit getragenen Darstellung der alten Frau Sorge, die man in schwarzem Crepeschleier und schwarzem Samtmantel auf den Hof eines schwedischen Gutes einfahren und im Salon anmelden sieht: das erscheint ebenso natürlich, wie wenn Frau Schulze käme.
Meine kurze Schilderung von Gösta Berlings Saga ist nur eine Konturenzeichnung; aber es will mir scheinen, als sollte sich die zukünftige Auslegung und Kritik der Arbeit in der oben angedeuteten Richtung bewegen. Aber trotzdem will ein Kritiker eine Studie über Gösta Berling gerne mit einem Vorbehalt gegen sich selbst abschließen. Selten sind Verdienste und Schwächen so unlöslich vereint wie in dieser Arbeit, und beide haben vielleicht gleich viel zu der außerordentlichen Beliebtheit des Werkes beigetragen. Mit ihren Schönheiten und Schönheitsflecken gehört Gösta Berlings Saga zu dem Schwedischsten, was je gedichtet worden ist. Geschmacklosigkeiten und puerile Stellen gibt es in dem Buche die Menge, aber auch Seiten, die zu den freien sonnengekrönten Höhen der wirklich großen Dichtung emporragen. Man konstatiert die ästhetischen Fehler der Arbeit wie die Fehler bei einem bezaubernden Wesen, das man sich ohne sie nicht denken kann – und darum auch nicht einmal anders wünschen will.