Gustav Leutelt
Der Glaswald
Gustav Leutelt

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4.

Die Schlängelspur des Pfades irrt zwischen dem Jungwuchs einher, kommt wie ohne Anfang und geht irgendwo ins Ungewisse hinein zwischen die wedelnden Ebereschen und die struppigen Fichtenbäumlein. Weiches Waldgras dämpft die Tritte und an jeder sonnigen Lücke steigt der Jasminduft des wohlriechenden Labkrautes empor.

Aber nun scheint der Steig wirklich zuende und es gilt, ins Dickicht einzubrechen, dessen Jungfichten mit abgestorbenen Ästlein bewehrt sind. Vor den eindringenden Kindern splittern diese wie Glas und ihre hellen Bruchflächen halten dem Kundigen die Spur noch tagelang fest.

Hier ist anderes Waldgebiet. Die schwellenden Moospolster, die sich draußen an den Pfad schoben, sind unter der braunen Nadelstreu verkümmert. Rings um die Stämmchen häuft sich die zu kleinen Hügeln, wahren Eldorados der Ameise. Auch die Lichtflut von vorhin ist gedämpft und nur hin und wieder bricht aus den Schattengeheimnissen her ein Leuchten, wie der Schein einer ewigen Lampe. Aber das Gewirr der dürren Ästlein schiebt seine Schleier dazwischen 33 gleich täuschendem Dunst. Und dann ist noch der besondere Geruch des Waldbodens da, Harz und Moderduft in einem umfassend und belebend wie Gesundbrunnen.

Der große Junge ist stehen geblieben und läßt die Gefährten herankommen.

»So, jetzt heißt's aufpassen; wir sind schon an den Plätzen. – Robert mag am Flössel hinaufgehen, da findet er am ehesten was. Du,« wendet er sich an die Schwester, »kannst dort suchen und ich geh' hier gerade durch.«

»Vergeßt nur nicht 'aufs Rufen,« mahnt er noch zurück, dann ist er fort und nur das weiter hinziehende Knacken der Ästlein gibt Kunde von ihm. Die Zurückgebliebenen sind erst unschlüssig und wie das Mädchen endlich geht, mahnt auch dieses noch einmal, ja recht laut zu rufen.

Robert steht nun ohne Pfad im Dickicht; doch der Wegweiser ist ja gegeben. Der kommt ihm unter Schäumen und Ringewerfen zwischen den Steinen her entgegen und sein Rauschen klingt wie trauter Zuspruch, den man kaum beachtet.

Der Knabe hört nicht auf sein Geraun. Nach beherrscht ihn die Erregung, so auf sich selbst gestellt zu sein, und das ungewohnte Bergangehen 34 auf der glatten Nadelstreu macht die Füße gleiten, so daß er aufpassen muß und kaum Zeit findet, der Aufgabe nachzugehen.

Da ereilt ihn auch schon der erste Ruf von drüben und sogleich antwortet die helle Mädchenstimme. Wie auch er sein Halloh zurückschickt, fällt es ihm aber bereits schwer aufs Herz, daß er noch keinen Fund getan hat.

Man wird ihn auslachen, denkt er und läßt die Blicke hurtiger umherschweifen; aber keines der gesuchten Gewächse will sich sehen lassen. Und so viele andere Dinge sind auch da: die Flechten, die von den Bäumlein Besitz ergreifen wollen, sich an Stamm und Zweige hängen und ihre silbergrauen Scheiben dem Licht aus der Höhe entgegen halten; im Gegitter der grünen Reiser oben aber gleitet das Sonnenrund von Lücke zu Lücke und ist zwischen dem Genadel wie ein regenbogiges, wirbelndes Strahlenrad zu sehen. Und wenn sein Schein bis auf den Grund sinkt, brennt er dort winzige Feuerchen an, durch die Schattengezack der Ästlein schwankt, sie einengend oder wachsen machend, wie die Kronen oben leise hin und her wiegen. Und die Spinnenfäden, die er immer wieder von den Wangen streichen muß und die Lufttänze der Mücken, die soeben den 35 Glanz auf ihren Flügeln trugen und darauf im Schatten ihr Leuchten auslöschen. Oh, es ist wirklich schwer, da beim Suchen zu bleiben.

Jetzt aber sieht er den bekannten, braunen Hut eines Schwammes vor sich. Mit einem Freudenschrei will er sich des Fundes bemächtigen; aber er ist bloß von einer Ähnlichkeit genarrt worden und verzagt hockt er darauf am Grunde. So schwer hat er sich das Sammeln doch nicht gedacht. In seinem Kummer überhört er sogar den schwachen Ruf des Mädchens und die ferne Antwort ihres Bruders.

Doch jetzt stockt ihm fast der Atem. Dort in jener flachen Mulde – einer, zwei, drei . . . sechs wunderschöne, braunköpfige Herrenpilze stehen da in einem Nest beisammen. Kaum wagt er, näher zu gehen.

Ob es wieder nur eine Täuschung ist? Nein, diesmal sind es wirklich sechs frische Herrenpilze, die vor ihm aus dem Waldboden ragen. Jetzt hockt er daneben und streicht zärtlich über die glatten, glänzenden Köpfe der Gewächse, dann wieder hüpft er unter lebhaftem Armschwenken um die stumme Schar. Endlich hört er auf die Rufe hinter sich, die rasch näher zu kommen 36 scheinen und dann ist es ein Siegesruf, den der Knabe herausschmettert.

»Die werden Augen machen, wenn sie erst das sehen!«

Das Mädchen ist zuerst da und hat etwas im Schürzchen. Auch sie freut sich über den Fund und dann kommt ihr Bruder mit einer Hucke voll Schwämme und fragt, warum Robert so lange nicht gerufen. Er habe schon gemeint, es sei was passiert. Den Fund des Kleinen tut er überheblich ab und läßt sogleich die Augen umherschweifen.

»Den da läßt du stehn – und den – den auch?« fährt er fort und holt die Übersehenen aus der Nähe herbei; aber er legt sie großmütig zu dem Häuflein in der Mulde und Robert schwankt zwischen halber Beschämung und erneuter Freude. Dann bindet das Mädchen noch ihr Schürzchen los und legt die Ausbeute des Glücklichen hinein; denn ihr einziger Fund ist bereits in das Tuch des Bruders gewandert.

»Und jetzt gehen wir zum Natterstein,« entscheidet der und schlägt eine noch mehr bergan führende Richtung ein. 37

Wieder brechen die wie Säbelklingen gebogenen dürren Äste, wieder hängt zerstücktes Himmelsblau oben im Gezweige und vor seiner hellen Türkisenfarbe dunkelt das Nadelgrün noch mehr und Blau, Grün und Sonnengold verschwistern sich zu einer Lieblichkeit sondergleichen. Die kommenden und gehenden Sonnenlichtstreifen an den Stämmen werden zuletzt größer und ganz vorn steigt hinter den Lichtschleiern der Außenwelt wie ein Schemen, graugewittert und zerklüftet, der hohe Stein vor den Kindern empor. Noch wollen die Farrenbüsche an seinen Seiten die Kinder aufhalten, aber der große Junge stampft für die Anderen einen Weg hindurch, so daß bald ein durchdringender Geruch der zertretenen Gewächse aufsteigt. Dann aber geht der Waldboden so gelind gegen die Fläche der Steinwand an, daß man bald oben steht und die schwellende Moospolsterdecke darauf ist von der Sonne so durchwärmt, daß die Kinder sich behaglich auf ihr niederlassen.

Wie Bergsteiger mit erhobenen Armen drängten die Fichten herauf bis zum Rande der Felsplatte. Weit draußen aber überhöhte in weitem Bogen ein Wald den andern. Dazwischen lag Waldbreite an Waldbreite. Alles, was sich unter ihr 38 Wipfelgedränge duckte oder darüber hinaushob, war nichtig gegen die gewaltige Dehnung dieser Gewächse.

Die Würde und der Ernst des Bildes übte seine Wirkung auch auf die Kinder, die ruhig saßen und lange nichts taten, als schauen. Die Düfte der Gewächse umschmeichelten sie, während die ziehende Luft unsagbar lind über ihre Gesichter strich. Die Sonne legte eine warme Decke auf die kleinen Hände und Farben, Düfte, klingende Vogellaute und rieselndes Wohlbehagen verschmolzen in Eins: im Waldwinkel.

Der große Junge fand sich am ehesten zurück, schwieg aber nach einem flüchtigen Blick auf die Mienen der anderen und begann, seine Schwämme nach Art und Größe vor sich zu ordnen. Da klangen mit einemmal Schritte aus dem Walde hinter ihm und ein großes, hageres Weib kam mit einer Holzlast auf dem Rücken daher. Es lud seine Bürde auf dem nächsten Baumstumpf ab und stützte sie mit einem Buchenaste gegen das Umfallen. Dann wandte es sich den Kindern zu, von denen das Mädchen bereits zu ihm getreten war.

»Grüß Gott, Muhme Beate!« sagte das Kind und auch der große Junge rückte seine Mütze, 39 wenngleich an ihm eine verlegene Zurückhaltung bemerkt werden konnte. Die Alte blickte auch nur flüchtig gegen ihn und faßte dafür den kleinen Knaben scharf ins Auge. Ihre rechte Wange war von einem bis über die Hakennase reichenden großen Brandmal verunstaltet und die Augen hatten einen so stechenden Glanz, daß Robert unwillkürlich zurückzuckte. Die Stimme des Weibes aber strafte ihr Aussehen Lügen; denn in deren Klange wohnte nichts als Trauer neben Güte.

»Ich habe euch schon die längste Weile heraufkommen hören,« hob sie an. »Freilich, die Pilze wachsen eben recht, aber ich kann nicht mehr so ins Jüngicht kriechen. Und was habt ihr denn da für einen feinen Jungen mitgebracht?«

Die Kinder gaben Auskunft.

»So, so, also des Schürers Seiner? Na, da schlägst du ja aus der Art, Kleiner. Dein Vater wär' nicht so mit Kindern im Busch 'rumgelaufen, als er in dem Alter war. Na, die Waldluft wird dir gewiß nicht schaden.«

Und nach einer Weile, als der Knabe noch immer verschüchtert blickte, setzte sie gegen das Mädchen gewendet hinzu: 40

»Kannst ihn einmal mitbringen, den jungen Herrn, wenn du zu uns kommst. Das Krippl am Oberboden wird ihn freuen.«

Das Weib nahm dann ihre Holzlast wieder auf. Sie stellte im Fortgehen noch Fragen nach den Leuten daheim, die das Mädchen eifrig beantwortete, indem sie der Muhme ein Stück das Geleite gab.

Als das Kind zurückkam, schwiegen die Jungen beharrlich. Robert war noch immer betroffen und der andere zeigte großes Mißvergnügen, das sich verschärfte, als das Mädl begann:

»Das war aber gar nicht schön von dir, daß du mit der Muhme nicht einmal geredet hast.«

»Gib mir Ruh mit der Prediger,« gab der Junge zurück. »Du weißt doch, was die Leute von ihr reden.«

»Aber ich glaub's nicht. Muhme Beate ist sehr gut und gar nicht so schlecht, wie die Leute sie machen.«

»Na, na!«

»Ganz gewiß. Und du, Robert, hast dich gar vor ihr gefürchtet,« setzte sie vorwurfsvoll hinzu.

Der Knabe konnte es nicht verneinen, aber er frug: 41

»Woher hat die Frau den garstigen Fleck im Gesicht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber ich,« mischte der Große sich ein. »Sie wird dem Drachen zu nahe gekommen sein, den ihr Mann hatte.«

»Dem Drachen?«

»Na ja, ihr Mann soll einen feurigen Drachen gehabt haben, der ihm das viele Geld brachte. Er konnte ihn beschwören, durfte aber dafür in keine Kirche gehen. Der Staffen-Michel hat den Drachen einmal in der Nacht ziehen sehen und wie er gerade auf Predigers Haus niedergegangen ist.«

»Ist das wahr?«

»Die Leute sagen's. Du kommst nur nicht unter die Kinder, sonst hättest du's schon gehört.«

»Geh mit den albernen Reden,« hub das tapfere, kleine Mädl wieder an. »Von der Muhme Beate ist es bestimmt nicht wahr, daß sie den Drachen hat und vom toten Vetter wird's auch nur gelogen sein.«

»Daß dir nur die Mutter nicht auf dein Gerede kommt,« wandte sie sich dann noch einmal an ihren Bruder, »die würde dir die Mucken schon austreiben.« 42

Der große Junge brummte noch etwas; aber der Hinweis der Schwester hatte ihn doch nachdenklich gemacht und er schwieg.

Wieder saßen die Kinder und schauten hin über die schweigenden Dehnungen. Das Sonnenlicht war auf einmal müde geworden und Wolkenschatten flogen wie dunkle Riesenleiber vorüber. Sie schrumpften, ballten sich oder breiteten gewaltige Schwingen aus, um darauf in Fetzen auseinander zu fliegen, sanken als schwere Decke von den Kämmen nieder, oder stiegen wie Rauchwolken der Täler an den Hängen hinan. Nur zwischendurch vermochten die Breiten des Sonnenlichtes sie zu verdrängen, wipfelüberströmend, höhenbeglänzend und ebenso wandelbar, wie ihre dunklen Begleiter. Die lustigen Urheber aber zogen silberig oben im Äther einher und nur ihre Widerbilder glitten wie finstere, schwere Erdgedanken unter ihnen dahin.

* * *

Im Kinderzimmer war es schon dämmerig. Nur der breite Goldrahmen des Bildes fing das geringe Außenlicht und ließ das helle Gewand des göttlichen Kinderfreundes leis hervortreten. Die Farben der Tapete schmolzen ineinander und 43 über Sessellehnen und Polsterbezüge sank es immerfort nieder wie fließende Schatten. Selbst die Glasschale der Deckenbeleuchtung glimmte vor Ärger nur deshalb in Iristönen auf, weil deren Flamme nicht entzündet war.

Von Zeit zu Zeit bewegte sich noch der Vorhang des Bettes und dann trat jedesmal die schlanke Frau geräuschlos in den Türrahmen und blickte herüber. Die Behutsamkeit, mit der die mühsam Schreitende immer wieder den nämlichen Gang vollführte, wie der Umstand, daß sie sich nebenan noch ohne Licht behalf, ließ auf ihre Besorgnis schließen. Und als dann noch das dumpfe Geräusch zurückgestreifter Decken hinter dem Vorhange laut wurde, hielt es sie nicht länger. Sie trat hinzu und schob die Falten beiseite.

»Du schläfst noch nicht, Robert?«

»Ach, Mutter, ich muß immer an den Drachen denken.«

»Den Drachen . . .?«

»Ja, der Leonhard erzählte von ihm und hat mir das Haus gezeigt, in das er immer hineinfährt.« Und nun hört die Mutter alles, was jener Junge dem Kindesgemüte tagsüber aufgebürdet hat. 44

»Und einen Feuerschweif zieht er nach und wo er fliegt, steht noch lange ein heller Strahl am Himmel. Und ist es nicht Sünde, das Geld von ihm zu nehmen?«

Die Frau hat Mühe, klar zu sehen und aus den sprunghaft hastenden Sätzen des Kindes den Grund seiner Aufregung zu lesen. Endlich gelingt ihr das und sie überlegt kurze Zeit.

»Der Junge hat eben nicht gewußt,« meint sie dann begütigend, »daß abergläubische Leute leicht von Drachen oder ähnlichen Untieren daherreden. Es gibt aber keine solche und was man darüber erzählt, ist unwahr. Als wir neulich beim Gartenfest noch so spät im Freien waren, hast auch du einen Stern fallen sehen. Vielleicht ging eine Schnuppe in der Richtung nieder, wo hoch oben das Haus des Prediger steht und jener Mann glaubte, sie sei im statt hinter dem Kamin verschwunden. Und böse Geister bringen den Menschen erst recht kein Geld, darauf kannst du dich verlassen.«

In solcher Weise beruhigt die Frau endlich ihr Kind und es ist ebenso der liebe, traute Mutterton ihrer Stimme, wie die tröstende Nähe ihrer Gegenwart, daß dieses, die Hand der Sitzenden festhaltend, endlich entschlummert. 45

Schon tagsüber hatte sie die Aufregung des Knaben bemerkt, die dem heimgebrachten Funde nicht allein zugeschrieben werden konnte. Dazu kam, daß ihr Kind letzthin eine ganz ungewohnte Selbstsicherheit gezeigt und sie, ohne es zu beachten, mehrfach verletzt hatte. In mütterlicher Besorgnis waren ihr Zweifel gekommen, ob der Verkehr mit jenen bäurischen Kindern ihrem Lieblinge gedeihlich sei und selbst die Scheu vor dem Gatten hatte sie überwunden, um dessen Rat zu hören. Aber vom Manne war nur zerstreut geantwortet worden, sie solle nach ihrem Willen handeln. Ihr vorsichtiges Tasten hatte beim Kinde selbst keinen Erfolg gehabt und eben erst war ihr klar geworden, daß sie noch alle Macht über sein Herz besaß. Sie mußte lächeln, wenn sie der Annahme gedachte, ihr Fleisch und Blut könne ihr entfremdet werden. Dank schuldete sie jenen Kindern, die den Kleinen aus der Stubenluft und geschäftlichen Öde des Hauses in ihre Freiheit zogen und so zu seinem Erstarken beitrugen.

Nun war sie beruhigt und unter heißem Glücksaufwallen saß sie noch lange am Bette, bevor sie sanft ihre Hand freimachte und das Kind dem Schutze des Himmels empfahl. 46

 


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