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VI.
Maximilian Harden

siehe Bildunterschrift

Maximilian Harden

Unbefriedigt, hochgespannt und sehnsüchtig, so saß ich, siebzehn Jahre alt, in einer kleinen deutschen Stadt auf der Schulbank, baute an Zukunftsschlössern und träumte ins Blaue, als mir in einer heute verschollenen Wochenschrift zum ersten Male der Name Maximilian Harden zu Gesichte kam.

Der Name stand als Unterschrift unter leidenschaftlichen Aufsätzen voller Scharfsinn und voller Spiel des Witzes, die den Werdenden beunruhigten und zu beschäftigen begannen. Ich wurde Hardens williger Leser, vielleicht sein erster, jedenfalls der eifrigste, den er besessen hat. Und eines Tages in der Einsamkeit des Herzens machte ich ein Paket aus den ersten Sprossen eines unbehüteten Gartens: Gedichte, Dramen, Novellen und schickte alles mit einer Schilderung meiner Nöte und der Bitte um einen Rat an den gefürchteten Kritiker.

Nie wieder im späteren Leben habe ich so bange auf eine Antwort gewartet. Wochen vergingen. Dann kam die Antwort und übertraf alle Erwartung. »Sie haben im kleinen Finger mehr Talent als ich im ganzen Leibe und allem, was dazu gehört. Eines Tages werden Sie ein Eigenwüchsiger sein, wovor freilich noch viel Schweiß und Mühe gesetzt ist. Wagen Sie ruhig, alles hinter sich zu werfen und sich eine unabhängige Schriftstellerexistenz zu gründen.«

Bald darauf, Pfingsten 1890, zog ich mit einem Kofferchen, das mehr Papier als Wäsche enthielt, in Berlin ein und fragte mich zurecht nach der Köthenerstraße zum Schriftsteller Herrn Harden.

Ein weltmännischer fröhlicher Herr (er war wohl die fesselndste Gestalt, die ich gekannt habe) empfing mich. Um elf Jahre älter, aber um Menschenalter mir überlegen an Weltklarheit, Selbstbeherrschung, Haltung und Klugheit. Er betrachtete den lebenshungrigen Gymnasiasten, halb lächelnd, halb achtungsvoll, und sorgte für ihn wie ein besser gestellter älterer Bruder. Er brachte mich zu Otto Brahm und Theodor Fontane sowie zum Chefredakteur des »Berliner Tageblatt« Arthur Levysohn. Er hörte halb gerührt, halb verwundert bis tief in die Nacht auf die endlosen Deklamationen des unkritischen und hochtrabenden Jungen. Das dauerte acht Tage. Dann endete der erste Flug ins Freie mit Enttäuschung, und der Keim unsrer Freundschaft starb vor der Blüte.

Wie konnte das geschehen? Es geschah nichts. Es wurde nichts gesprochen. Entscheidend war ein halbbewußter Augenblick, in welchem meine Schwärmerei die Ernüchterung erfuhr.

Wir befanden uns – es war ein heller Sommermorgen – in einer bewegten Aussprache über unsere Wege. Sie waren einander verwandt gewesen. Wir hatten eine unglückliche Jugend durchlitten. Haßten Familie und Elternhaus. Standen allein und waren einsam. Wir empfanden unsre Herkunft aus dem Judentume als Druck, als Last und Verpflichtung und wußten doch nichts vom Judentum; hatten nicht einmal einen Buchstaben Hebräisch gelernt. Wir fühlten leidenschaftlich deutsch und verstanden nicht, daß an unsrer Deutschheit auch nur der leiseste Zweifel haften könne.

Während dieser Aussprache kam uns der Gedanke, in den Tiergarten zu wandern und den Austausch im Grünen fortzusetzen.

Ich ging in den kleinen Vorflur und holte Hut und Stock. Der andere tündelte noch im Zimmer, indem er vor einem großen Spiegel sich ankleidete. Währenddessen sprachen wir durch die angelehnte Türe. Während des leidenschaftlichen Gespräches trat ich auf die Türschwelle und sehe, ins Zimmer zurückblickend, den Gefährten vor dem Spiegel stehen, wie er, ohne zu wissen, daß ich das beobachte, den Sommerhut aufprobiert und aus seiner Lockenfülle eine interessante kleine Napoleonlocke zurechtlegt. Einen Augenblick kreuzten sich die Blicke im Spiegel. Und in meinem Blick mochte wohl Verlegenheit liegen, denn ich empfand Scheu, als wenn ich einen bewunderten Mann bei etwas seiner nicht ganz Würdigem ertappt hätte. Aber in Max Hardens stählernen blauen Augen blitzte zu meinem Entsetzen: Der Feind!

Dieses war (ich weiß das heute genau) ein für meinen Lebensweg entscheidender Augenblick.

Was ich dabei dunkel fühlte, mag etwa dies gewesen sein: »Fliehe! Dies ist eine Gefahr. Hier wird zum Sport, was bluternst ist. Fliehe!«

Wir gingen durch den Tiergarten. Es wurde vieles durchgesprochen. Er entwickelte den Plan, eine Zeitschrift zu gründen. Er verhieß mir eine dauernde Beschäftigung. Aber es war schon ein Riß zwischen uns. Er sprach gönnerhaft, ich schüchtern.

Am Abend dieses Tages brachte ich ihm meinen endgültigen Entschluß: Ich wolle zurück auf die Schulbank, um Arzt oder Lehrer zu werden. Zum Literaten glaube ich mich nicht geeignet. Schneidend kam die Antwort. »Zum Fluge an meiner Seite bist du nicht stark genug.« Unser Abschied war eiskalt. Beide waren wir enttäuscht. Wir haben uns nicht wiedergesehen. Bis kurz vor seinem Tode. –

Die beiden Wege liefen fortan weit auseinander. Der meine durch viel Labyrinthe, Not, Armut, Verworrenheit bis zum schließlichen Verzicht auf Wirkung und Erfolge. Da erst kam Friede und Freude. – Der andere, Hardens Lebensweg, stieg schon in den nächsten Jahren in steiler Kurve zu solcher Höhe der Wirkung und Macht, daß wohl kaum je zuvor, weder in Deutschland noch in einem anderen Lande, ein Einzelner allein durch die Kraft seiner genialen Feder so viel Reichtum und Ruhm gewonnen hat.

Harden schloß sich nie einer Partei an, aber alle Parteien umwarben ihn. Er hatte kein Amt, aber alle Ämter lauschten auf ihn. Er verschmähte Titel und Orden, aber die Träger der besten Namen und Titel zitterten vor seinem Urteil.

Und wie in der Politik, so wurde auch für Theater und Literatur sein Urteil das den weitesten Kreisen gültige. Als in Amerika eine Rundfrage nach der einflußreichsten Persönlichkeit Deutschlands umlief, da einigten sich alle Stimmen auf den Namen: Harden …

Maximilian Harden war der jüngste Sohn des Berliner Kaufmanns Witkowski, eines alten »Achtundvierzigers«, Freiheitsmannes also, und Freund des Volkstribunen August Bebel. Der Vater Hardens soll ein aufrechter und charaktervoller Mann gewesen sein, der aber, an einem fortschreitenden Gehirnleiden erkrankt, allmählich zum Quäler und zur Qual für seine Familie wurde, deren Zusammenhalt schließlich so erschüttert ward, daß es den vier Söhnen erwünschter wurde, den Familiennamen zu ändern. Die Ehe war zerrüttet. Die Eltern prozessierten um ihre Kinder. Der jüngste, Felix, sollte beim Vater bleiben, aber entlief zur Mutter. Er war ein besonders hübsches, eigenartiges und begabtes Kind.

Der Göttinger Physiologe Max Verworn hat uns erzählt: »Ich bin mit Felix Ernst Witkowski, aus dem nachmals der bekannte Maximilian Harden wurde, auf dem Französischen Gymnasium zur Schule gegangen. Er hatte strahlende blaue Augen und ein mädchenhaftes Köpfchen in blonden Locken. Er war allgemein beliebt, ein eigensinniger stolzer Knabe. Er führte den homerischen Beinamen: ›Entscheider der Schlachten‹. Bei unsern großen Schneeballkämpfen auf dem Schulhofe spielte er nicht mit, sondern saß oben auf der Mauer an einem sichern Ort, wo ihn kein Schneeball treffen konnte, und wirkte als unser Schiedsrichter. Sein Spruch galt unweigerlich, und alle Parteien richteten sich nach dem kecken kleinen Jungen.«

An jedem Abend saß der Junge auf der Galerie des Königlichen Schauspielhauses. Seine vergötterten Helden waren die großen Unbürgerlichen, Frechsinnlichen, Dämonischen: Albert Niemann, Adalbert Matkowski, Friedrich Mitterwurzer – die Kraftgenies. Noch vor Beendigung der Schule entlief der Theaterlustige und machte sich für Eltern und Geschwister unerreichbar, indem er davonflog mit einer Wandertruppe. In den Jahren 1880 bis 1885 führte er ein Leben gleich dem Wilhelm Meisters in Goethes »Lehrjahren«. Der Schauspieler Fritz Odemar erzählte: »Wir haben an zahllosen Orten gespielt, meistens klassische Meisterdramen. Der junge Felix sollte nach der Sitte der Zeit einen Theaternamen wählen und schmiedete sich selber den Namen ›Maximilian Harden‹, wobei er wohl an Maximilian Robespierre gedacht haben mag und an die Notwendigkeit, hart zu werden im Kampfe mit dem ruppigen Leben. Er spielte zunächst kleine Chargen. Bald aber die jugendlichen Liebhaberrollen. Diese Rollen spielte er auch gern im Leben. Wir übernachteten oft in kleinen ländlichen Gasthäusern und meist teilten ich und Harden das Zimmer. Einmal kamen wir in eine Stadt, in welcher ein großer Zirkus sein Zelt aufgeschlagen hatte. Die Zirkusleute und unsere Truppe wohnten im selben Gasthaus. Harden, der von weiblichen Reizen leicht entflammt ward, verliebte sich in eine Tänzerin. Als ich am Morgen erwache, sehe ich, daß das für Harden bestimmte Bett unberührt ist. Ich gehe ihn suchen. Nachdem ich einen Flur durchwandert habe, komme ich in das Zimmer, welches jene Tänzerin bewohnt, und indem ich eintrete, sehe ich, daß das Fräulein noch zu Bett liegt und neben ihr erhebt sich bei meinem Eindringen eine jugendliche Gestalt, richtet sich, nur mit dem Nachthemd bekleidet empor und sagt, indem sie in feiner und ritterlicher Manier sich vor der Dame verbeugt: ›Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Maximilian Harden.‹«

Franziska Ellmenreich, die große Tragödin, hat uns erzählt: »Im Jahre 1886 machte ich eine Gastspielreise durch Holland. Ich wählte dazu eine Reihe Dramen von Schiller, Goethe und Shakespeare und führte mein eigenes Ensemble mit. Die Liebhaberrollen spielte als mein Partner Maximilian Harden. Er war ein kluger Schauspieler, ein liebenswürdiger Kollege. Er konnte nur darum nicht große und dauernde Erfolge erringen, weil sein Körper nicht robust genug und seine Figur zu zierlich war.«

Inzwischen hatten auch die andern Brüder Witkowski ihre Wege gemacht. Die drei älteren nannten sich Witting. Zwei gründeten in London eine aufblühende Exportfirma. Der dritte wurde preußischer Verwaltungsbeamter und legte eine schöne Laufbahn zurück. Um 1890 wurde er zum Oberbürgermeister von Posen gewählt. –

Durch diesen älteren Bruder kam der junge Schauspieler in Verbindung mit dem »Berliner Tageblatt« und mit dem Herausgeber der »Gegenwart« Theophil Zolling. Er wurde in Berlin seßhaft und begann, einige Jahre an der Universität zu studieren. Heinrich v. Treitschke, Ernst Curtius und Hermann Grimm haben ihn besonders gefesselt. Er betätigte sich als Kritiker und Feuilletonist. Für die von Paul Nathan herausgegebene Wochenschrift »Die Nation« lieferte er regelmäßig Beiträge. Er schrieb für das »Berliner Tageblatt« Plaudereien, kleine Skizzen und sentimentale Novellchen. Bald aber ging er über zu Zeitkritiken und Satiren voll prachtvollen Sturmes und entzückender Bosheit. Als die erste Sammlung seiner Arbeiten unter dem Pseudonym »Apostata« als Buch erschien, war er schon ein erfolgreicher und bekannter Schriftsteller geworden. Er machte einige größere Reisen. 1888 reiste er in den Orient. Etwa um 1890 ging er endgültig zur hohen Politik über.

Hardens große Entfaltung kam 1891, als er zunächst mit ganz geringen Mitteln, die sein Bruder Julian und der Bahnhofsbuchhändler Stilke vorstreckten, seine eigene Zeitschrift »Die Zukunft« begründete.

Es war die Zeit des großen Konfliktes zwischen dem jungen Kaiser Wilhelm II. und dem Altreichskanzler Bismarck. Harden stellte seine Zeitschrift in den Dienst der Bismarckschen Politik, ohne darum seine Unabhängigkeit preiszugeben. Otto v. Bismarck war auf Hardens Feder durch Artikel und Glossen aufmerksam geworden. Als Bismarck gestürzt und von vielen verlassen war, erinnerte er sich an Harden und lud den jungen Schriftsteller zu sich ein nach Varzin. Bald zählte Harden zum engeren Freundeskreise des Bismarckschen Hauses. Kurt v. Schlözer, Franz Lenbach, der Maler, Ernst Schweninger, der Arzt, wurden ihm nahe Freunde. In den bescheidenen braunen Heften der »Zukunft« wurde seit 1892 eine gegenkaiserliche Politik gebraut, die beste in Deutschland.

Es wäre indessen falsch, die Geschichte der Hardenschen »Zukunft« nur für die Frucht des Bundes mit Bismarck zu halten. Harden wachte eifersüchtig über seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit. Es gab kein Lager, keine Partei, welche sagen konnte, daß sie Maximilian Harden auf die Dauer zu beeinflussen vermocht hätte. Zumal in der Sozialpolitik (er trat dem Pfarrer Friedrich Naumann nahe) ging er völlig andere Wege als Bismarck. Er betonte immer wieder, daß er schlecht dazu geeignet sei »d'épouser les haines d'autrui« (d. h. die Gehässigkeiten Bismarcks fortzuführen); und doch gab es einen Punkt, in dem er mit dem Alten im Sachsenwalde zusammenklang auf Tod und Verderben. Das war der Haß gegen die Person des Kaisers. Es ist schwer zu sagen, worauf dieser Haß gründete.

Harden verachtete die dekorative Vieltuerei und Unbeständigkeit des Kaisers. Von ihm stammte das Wort: »Auf den greisen Kaiser sei erst ein weiser und dann ein Reisekaiser gefolgt.« Er befehdete die phrasenhaften Reden der Schau- und Katastrophenpolitik, die Pose des starken Mannes bei unberechenbarer Launenhaftigkeit. Jede Äußerung des Monarchen reizte Hardens Witz und Spott. Das bloße Erwähnen des Namens Harden machte den Kaiser verstimmt und rachsüchtig. Allmählich sahen die Reichsämter, der preußische Adel, die Militärpartei und die Verwaltung, so weit sie gegen die Person des Kaisers kritisch und mit seiner Selbstherrlichkeit unzufrieden waren, in Hardens »Zukunft« ihr sicheres und wirkungsvolles Hauptquartier. Um 1900 war Harden der gehätschelte Publizist des alten konservativen Preußen.

Aus irgendeiner Gleichheit wie Ungleichheit der Naturen blieben zwei Theatermenschen, der machtwillige Kaiser und der wirkungswillige Literat, aneinander geknebelt. Harden lebte vom Kampfe gegen die »wilhelminische Ära«. Als die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches zu Ende war, da ging es auch mit Harden zu Ende. In benachbarten Orten, am nordischen Meer sind Kaiser und Frondeur verdämmert. Zuvor aber mußten sie zwanzig Jahre lang tagtäglich im Kampfe stehen. –

 

Die ungemein feine zierliche Gestalt trug einen Kopf, der bei aller Schönheit und Bedeutung doch etwas puppenhaft wirkte. Wie ein hübsches Gesichtchen auf einer Bonbonniere oder auf einer Zigarettenschachtel. Ein Kindergesicht, das, wenn es liebenswürdig und angeregt plauschte, einem geltungsüchtigen Kammerkätzchen zu eignen schien. Aber wenn er böse, bitter und gekränkt wurde (ein Zustand freilich, der den streng disziplinierten Mann alsbald in die Einsamkeit trieb), dann konnte sich das artige Antlitz des feinen Zöfchens verwandeln in das eines schmähsüchtigen Teufelchens.

Der Grund seines reichzerklüfteten Wesens war bei eiserner Selbstzucht und beständig wachender Bewußtheit eine ihn ewig gefährdende Reizsamkeit, die ihn zum Spielball starker Eindrücke zu machen drohte. In seinen Gefühlen schwankend, war er doch in seinem Kerne gut, edel und treu. Geneigt zum Umschlag der Stimmung, war er doch in seinem Urteil nicht zu beirren. Er war ein Sekundenmensch, wenn es je Augenblicksnaturen gegeben hat, so »aktuell«, daß jeder neue Tag, neue Ort, neue Eindruck ihn verändern konnte, so daß er (ohne es zu merken) wohl heute lobte, was er gestern doch verdammt hatte, und willig heute fallen ließ, was er noch gestern zäh verteidigt hatte. Nie aber war es die Konjunktur, nie der Vorteil, nie ein niedriger Zweck, was sein Verhalten bestimmte. Im Gegenteil! Er hatte die Neigung, jede Meinung zu verlassen, sobald die Aussicht bestand, daß sie allgemeine Meinung werden konnte. Er mißtraute dem Erfolge. Jeder, der allgemein Beifall erntete, wurde ihm verdächtig. Er entschied sich immer nach moralischen Gesichtspunkten. Auch wo er sich verrannte, war er doch eisern davon überzeugt, daß er und er allein im Rechte sei.

Er war genialisch eitel. Eine advokatorische, diplomatische, theatralische Intelligenz. Völlig konkret, völlig praktisch. Nie und nimmer philosophisch. Seine Geistigkeit war festgelegt auf Tag und Stunde. Er opferte die Welt der Ewigkeit an den Augenblick und schrieb ein Feuilleton für irgendeinen einmaligen und dann vergessenen Zweck mit einem Ernst und mit einer Inbrunst, die für ein dickes Lebenswerk ausgereicht hätten. Seine Art des Arbeitens und Handelns hatte etwas kätzchenhaft Spielerisches. Der Stil und die Gedankenwelt anderer zeitgenössischer Politiker, etwa Rocheforts oder Clemenceaus, plumpten auf Elefantenfüßen daher, wenn man sie mit Hardens schmetterlingsleichten Sätzen verglich. Er schien immer nur Mosaiken zu legen, schien aus tausend Klexchen und Pünktchen ein Bildchen zu stricheln. Man hätte wähnen können, daß er in Zettelkästen Material sammle und den sonderlichen Stolz habe, dieses oder jenes Detail als Einziger zu kennen oder von etwas zu wissen, bevor noch ein anderer die Tatsache gekannt hat.

Diese praktisch politische Klugheit findet sich wohl in sehr verschiedenen Berufen und Schichten. In ihren übelsten Auswüchsen erinnert sie an jene »Gebärdenspäher und Geschichtenträger«, die aus den Inhalten der Papierkörbe die Weltgeschichte erklittern. Aber auch noch in den edelsten Formen schöpft sie aus der allgemeinen gesellschaftlichen »médisance«! Aus dem neidischen Klatsch der einen über die andern.

Politische Begabungen, wie z. B. Joseph Foucher, Friedrich Gentz, Karl August Varnhagen v. Ense, so verschieden sie auch sonst sein mögen, haben als Meister des Erschnüffelns von »kleinen Tatsachen« (»petits faits«) immer diese fatale Ähnlichkeit mit »Kammerlakaien, die ihre Karriere verfehlt haben.« Auch Maximilian Harden besaß diese subalterne Neugier nach »Menschlichkeiten«. Er kannte von allen Leuten in führenden Stellungen die Lebensgeschichte, Verbindungen, Charakterzüge und Intimitäten. Er saß wie die Spinne in einem Netze von »Konnexionen«. Zahllose Persönlichkeiten von Rang und Macht gingen bei ihm aus und ein und trugen ihm wichtige Tatsachenkenntnisse zu. Sie hofften wohl alle: seine Eitelkeit, immer der bestunterrichtete Publizist zu sein, für ihre Ziele zu lenken, aber in Wahrheit nutzte der ehrgeizige Schriftsteller alle und alles dazu, um an jedem neuen Sonnabend den jeweils bestunterrichteten und erstaunlichsten Artikel in die Welt der Betriebsamen zu senden.

Die sogenannten Ideale, Prinzipien und Ideen schätzte er zwar nicht gering. Aber er sah doch dahinter immer nur Bedürfnisse und Gesichter von Menschen. Fehlerhafter, begrenzter Menschen, die man bei ihren Leidenschaften packen mußte, wenn man das große Reichsgeschäft zu lenken verstand. Wer kann die Entzweiungen dieser Welt noch wichtig nehmen, wenn er durchschaut, daß hinter allen Vorfällen nur verletzliche Menschen stehen. Menschen mit Bedürfnissen nach Lüge und nach Tröstung.

Staaten und Völker also standen vor seinen Augen als konkurrierende Firmen, die um Vorteile ringen. Seine Firma aber hieß Deutschland. In seinen stillsten Stunden träumte er wohl vom Posten des Reichskanzlers. In seinen lautesten betonte er geflissentlich den »Selfmademan«, der nichts als musischer Mensch sei und Mann der besten europäischen Kultur. Er erarbeitete sich fremde Sprachen, durchschmökerte zahllose Bücher (aber sie mußten Wirklichkeitsbücher sein und Geschichtlich-Konkretes enthalten), gewann Urteil und Geschmack in vielen Künsten, kannte Geschäft und Wirtschaft jedes Landes und besaß schließlich ein Erfahrungswissen um die Menschen und Tatsachen seines Zeitalters, das kein Praktiker, ganz gleich welcher Sparte, ganz gleich welchen Landes, kein Staatsmann je überbieten konnte.

Aber gerade diese Überbewußtheit wurde sein Fluch.

Schon immer geneigt, mit bescheidenen Eitelkeiten sich zu brüsten, Geheimniskrämer und Wichtigtuer, und gewillt, völlig eingeweiht und vielen überlegen zu erscheinen, beschwerte er seinen Stil mit zu glanzvollen Lichtern, mit zu vielen Anspielungen, Zitaten und Geistreicheleien. Er wurde, was das Altertum einen »Kalozelisten« (Schöneifrer) nannte.

Wer seinem Zeitalter immer um Meilen vorausläuft, der wird nie zu Anerkennung gelangen, weil er der Menge nicht zu Gesichte kommt. Er ist von der Menge immer getrennt durch den breiten Zwischenraum voller Nebel. Aber glücklich der Mann, der heute dort steht, wo morgen die große Mehrzahl ebenfalls stehen wird. Er wird immer an der Spitze gesehen und ist der geborene Vorläufer und Führer.

Hardens unbotmäßige Zähigkeit erlebte viele stolze Augenblicke. Stolz war der Augenblick, da ihn der große Bismarck einlud zu der Flasche Steinberger Kabinett, die ihm der Kaiser zum Geburtstag geschickt hatte, und da er nun mit dem Begründer des Reiches den Wein, welchen der gemeinsam Gehaßte geschenkt hatte, trinken konnte auf das Wohl des deutschen Landes. Stolz war der Augenblick, wo die mächtige konservative Partei, Adel und Landwirtschaft, ihn zur Führung ihrer Presse berief und er mit einem großen Gestus ablehnen konnte, was für andere Literaten der begehrteste Glanz und seit Friedrich Julius Stahls Zeiten für einen Juden unerreichbar war. Stolz jener Augenblick, wo die deutsche Schriftstellerschaft ihm eine Ehrenfeder schickte, als dem einzigen, der nur auf sich gestellt, als unabhängiger Privatmann mit der Feder zu Deutschlands führendem Geist geworden war. Stolz der Augenblick, da die alte intrigante Spinne Holstein aus ihrem Bau kroch und ihre politischen Geheimnisse und Informationen Maximilian Harden zutrug, der den Machtsüchtigen nun vor den Wagen seiner »Zukunft« spannte.

Aber es war gewiß Hardens bester Stolz, daß er, der am meisten Beneidete, so viele Ämter, Titel und Orden – ablehnen konnte.

Seine Kampfnatur ersehnte nur den Ruhm, in ganz großen Kämpfen den Kranz der Blutzeugen und kühnen Wahrheitsager zu erringen.

Wie weit er einen Gestus treiben konnte, das bezeugt die folgende Erzählung des Philosophen Wilhelm Wundt: »Harden war wegen Beleidigung des Kaisers zu einer Festungsstrafe verurteilt worden. Die Beleidigung war in einem Artikel gefunden worden, der den Titel führte ›Großvaters Uhr‹. Er erzählte in novellistischer Form die Geschichte eines launenhaften Erben, der die vom Großvater ererbte, das Reich ordnende Uhr im Winkel stauben läßt. Die Anspielung auf des Kaisers Verhältnis zu Bismarck war unverkennbar. Der Reichskanzler Graf Bülow, dessen Person und Politik Harden bekämpfte, hatte persönlich viel Sympathie für den Schriftsteller und hätte diesen gerne für sich gewonnen und umgestimmt. Darauf bauten Freunde Hardens den Plan, seine Begnadigung zu erwirken. Man setzte eine Bittschrift an den Reichskanzler in Umlauf, daß der Rest der Strafe ihm erlassen werden möge. Harden wußte um diese Bittschrift aber hielt sich stolz abseits. In Leipzig warb Karl Lamprecht, der Historiker, als naher Freund Hardens um Unterschriften. Viele Professoren unterschrieben. Da kam eine Überraschung. Die Bittschrift wurde veröffentlicht und gleichzeitig brachte Hardens ›Zukunft‹ einen Aufsatz ›Bülow und Bismarck‹. Eine Verspottung des dritten Reichskanzlers. – Bismarck und seine Dogge Tyras, Bülow und sein Rehpinscher Mohrchen wurden komisch konfrontiert. Der Spott mußte mehr reizen als alle frühere Kritik. Warum aber hatte Harden die Schrift um Begnadigung in Umlauf setzen und so viele Prominente für seine Freiheit sich bemühen lassen, da er doch selber die Wirkung unmöglich machte? Vielleicht wollte er nur auftrumpfen: ›Seht, hinter mir steht die deutsche Wissenschaft und Kultur. Ich aber bleibe unabhängig und bin nicht käuflich. Glaubt nicht, daß ich euch bitten werde; ich fordere Recht‹.« –

Das Leben eines öffentlichen Mannes, der durch ein Menschenalter, Woche um Woche, alle Ereignisse der Zeit mit seinen Randbemerkungen versieht, der in zehntausende Existenzen eingreift und die Ämter, die Parlamente, die Banken, die Zeitungsmänner, Wirtschaftsführer, Industriekönige, ja das ganze Leben seines Volkes von der Musik bis zur Logik, von der Produktion im Drama bis zur Produktion der Kartoffeln und Rüben unter seine Kontrolle zwingt, ein solches öffentliches Leben ist überreich an Prozessen, Krachen, Kontroversen und an beständig wechselnden Beziehungen zu jedermann.

Es gab eine Zeit, wo jeder Zank Hardens, jede Ohrfeigen- und Beleidigungsaffäre, jede seiner intimen Frauengeschichten und Liebeleien, jeder Theaterskandal und jeder Börsenkrach, bei dem er seine klugen Pfötchen im Spiele hatte, Tausende in Atem hielt. Kein Mensch bildete so oft das Tagesgespräch in den Cafés, Salons und Bürostuben. Von Königsberg bis Basel, von Moskau bis Paris. Aber so schnell wie Holzpapier vergilbt, so schnell vergilbt der papierene Ruhm. Und wollte ich heute Namen nennen, um die einst unserer Herzen Erregung schwirrte, etwa die Namen Kanitz und Mirbach, Bamberger und Lasker, oder Windthorst und Singer, die Namen der Rechtsanwälte Fritz Friedmann und Erich Sello, der Schriftsteller Paul Lindau, Franz Mehring, Karl Bleibtreu, der amurösen Schauspielerinnen Elsa v. Schabeltzky, Jenny Groß, der einflußreichen Börsenleute, der tonangebenden Professoren jener Jahre, die wir gekannt, gesehen, deren Händel und Abenteuer wir wichtig genommen haben, – ach, was bedeuten diese Namen für das lebende Geschlecht?

Immerhin hat ein bestimmter Rechtshandel aus der endlosen Reihe der Hardenschen Händel sich auch in das Gedächtnis der Nachwelt eingeätzt. Jener Moltke-Eulenburg-Prozeß, der in die Jahre 1906 bis 1909 breite Wellen warf. Der Rechtshandel entstand, wie alle die vermeintlichen Wichtigkeiten sogenannter Weltgeschichte, aus recht geringfügigen Allzumenschlichkeiten. Harden besaß in hohem Maße jene von Nietzsche gepriesene »ästhetische Freude an der Bosheit«. Nicht, daß er böswillig oder schadenfroh gewesen wäre. »La taquinerie est la méchanceté des bons«. Gerade die gutartigen und liebenswürdigen Naturen haben wohl diese Freude am Fallenstellen und Strohhalmkitzeln.

Aus den Jahren des freundschaftlichen Verkehrs mit Bismarck kannte Harden die intimen Züge der Männer am Kaiserhof. Er kannte ihre wunden Punkte, ihre geheimen Sünden, und es machte ihm Spaß gelegentlich zu drohen und Kätzchenkrallen zu zeigen. Die Bedrohten hatten es meist leicht, ihn zu versöhnen, sei es durch Ehrerbietung, sei es durch kluge Unterwürfigkeit. Harden hatte davon Wind bekommen, daß auf den Höhen der Staatsverwaltung die gleichgeschlechtliche Erotik – wie Bismarck sagte: »die Hauptsympathie« – manche kleine Politik bestimme. Sie spielte hinein in die Revirements und Avancements. Sie entschied über Beförderungen, führte zu Übereinkünften auch unter Gesandten und Diplomaten und warf ihre Schatten bis in Verträge und Völkerbündnisse der großen Politik.

Harden wagte in seinen Aufsätzen zuweilen spöttische Andeutungen, welche nur ein kleiner Kreis ganz Eingeweihter verstehen konnte. Durch einen Zufall aber trug er in die dem Kaiser nächststehende Tafelrunde eine große Unruhe. Ein Hohenzollernprinz war durch homoerotische Handlungen, die zum Skandale führten, aus der Gunst des Kaisers gefallen. Er verteidigte sich mit der Behauptung, daß andere, die weit Schlimmeres getan hätten, die nächsten Vertrauten des Kaisers seien und verwies auf Anspielungen in der »Zukunft«. Der Kronprinz überbrachte die betreffenden Artikel dem Kaiser. Dieser war überrascht und forderte Klärung.

Die Hardenschen Artikel bewitzelten den Fürsten Philipp v. Eulenburg und Hertefeld, die glänzendste Persönlichkeit am deutschen Kaiserhofe, welche von Bismarck stets gehaßt, vom Kaiser aber stets bewundert worden war. Ihn und seinen nächsten Freund, den Grafen Kuno v. Moltke (damals waren beide schon fast sechzigjährige Männer), hatte Hardens Parodie einen übergefühligen Briefwechsel führen lassen, in welchem Konfidenzen von Hofe durchgehechelt und die Personen aus der Umgebung des Kaisers mit ihren nur den Eingeweihten bekannten Decknamen benannt wurden; der Kaiser selber mit der Bezeichnung »Liebchen«. Ein solcher Briefwechsel war wirklich geführt worden. Harden wußte, daß Moltke durch vierzig Jahre hindurch jeden Tag seinen Freund Eulenburg, wofern dieser von Berlin abwesend war, über alle Vorkommnisse bei Hofe auf dem laufenden hielt. Er wußte auch, daß zwischen beiden Männern ein schwärmerisches Verhältnis bestanden hatte.

Eulenburg versuchte Harden zum Schweigen zu verpflichten. Harden forderte kühn, der Fürst – dessen Politik er für schädlich halte – habe sich künftig jeder Einmischung in die Reichsgeschäfte zu enthalten und solle sich mithin zur Ruhe setzen. Der Fürst – im Vertrauen auf seine immerbewährte Macht über Menschen – wagte einen verzweifelten Vorstoß. Er veranlaßte seinen Freund Moltke, Harden wegen Beleidigung zu verklagen und beschwor vor Gericht, daß er nie im Leben homoerotische Beziehungen gekannt habe. Harden wurde verurteilt; der Fürst blieb weiterhin in hohen Gnaden.

Aufs äußerste gereizt, weniger durch die Strafe als durch die diffamierende Behandlung, die seine Person und seine publizistischen Motive allgemein erfuhren, ging Harden nunmehr zum offenen Angriff über. Eine dunkelmännische Kamarilla – das war seine Behauptung –, die durch gleichgeschlechtliche Freundschaften eng verknüpft sei, wirke in Deutschland als unverantwortliche Nebenregierung und halte den Kaiser umsponnen in ihrem romantischen und nebulosen Ring. Mystiker, Spiritisten, Süßholzraspeler, Theosophen, kränkelnde und verweibte Männer machten insgeheim die Politik des Reiches. Mit äußerst kluger Taktik wurde ein abseitiger Rechtshandel mit einem Beliebigen angezettelt, bei welcher Gelegenheit Personen unter Eid vernommen wurden, deren Aussage jenen vom Fürsten Eulenburg geleisteten Eid als Meineid enthüllte. Der Fürst wurde in die schlimme Lage gebracht, nunmehr persönlich gegen Harden Klage erheben zu müssen. Und bei dieser neuen Klage verwandelte sich Schritt für Schritt der Kläger in einen schwer belasteten Angeklagten, der überführt zusammenbrach, sich für den Rest seines Lebens auf sein Schloß Liebenberg in der Mark zurückzog und es nur dem Eingreifen des Kaisers verdankte, daß nicht ein Verfahren wegen Meineids gegen ihn anhängig gemacht werden konnte. Eine ganze Reihe Persönlichkeiten der Hofgesellschaft – die Grafen Hohenau, Lynar, Wedel, Moltke, Baron Wendelstaedt, der französische Botschaftsrat Lecomte – wurden durch die Hardenschen Prozesse aufs schwerste mitgenommen. So barock die Händel waren, so muß doch gesagt sein, daß Harden, der als machtloser Privatmann gegen die mächtigste Hofclique kämpfte, den Kampf, den er für nötig hielt, nicht nur klug, sondern mit einer eigentümlichen Grazie führte.

Max Bernstein, der bedeutende Münchener Rechtsanwalt, welcher Hardens Sache vertrat, erzählt: »Als ich Harden in einem Prozeß wegen Beleidigung des geisteskranken Königs Otto von Bayern vertreten sollte, wurde ein Lustspiel von mir aufgeführt, welches den Titel ›Mädchenträume‹ führte. Harden fragte telegraphisch an, wie hoch meine Kostenforderung sei, und als ich meinen Anspruch zurücktelegraphierte, kam als Bescheid von Harden nur ein einziges Wort: ›Mädchenträume‹.« – Harden war immer bereit, Mann gegen Mann Genugtuung zu geben. Er stand für seine Behauptung mit dem ganzen Leben ein. Es war weder seine Absicht noch seine Schuld, daß durch die Prozesse ein sehr großer Kreis von Menschen bei Hofe und in der Armee schwer belastet ward. Auch gab er, obwohl sein Material schwerwog, nie mehr Belastendes preis, als durch die Lage des Kampfes eben geboten war.

Hinterher freilich (vielleicht gerade darum, weil Harden sich dieser Händel im Unbewußten dennoch schämte) gewann der Kampf gegen Philipp Eulenburg in Hardens Erinnerung eine ungeheuer übersteigerte Geschichtsbedeutung. Es machte sich auch hier jenes Gesetz aller Geschichte geltend, das ich Sinngebung von Nachhinein (logificatio post festum) genannt habe. Der Fürst Eulenburg gewann vor der Weltgeschichte das Gesicht eines Deutschlands Wehrkraft bedrohenden Python, eines unverantwortlichen Geheimregenten, welchen Hardens fromme Hirtenschleuder endlich zu Falle gebracht habe.

Nehmen wir aber wirklich an, daß der von Bismarck gehaßte Kreis der »Romantiker« – Waldersee, Eulenburg, Moltke – Deutschlands Geschichte ungebührlich beeinflußte. Was wäre daraus zu folgern? Es wäre zu folgern, daß Politik nie und nimmer den Privatmenschen – und seien sie die stärksten und klügsten – ausgeliefert bleiben darf, daß jeder Begriff von »Politik« falsch und unsinnig sein muß, der im Staate und in der Staatsvernunft etwas anderes sieht als eine wachsende Sicherung gegen die persönlichen Menschen, eine wachsende Unabhängigkeit der Völkerschicksale von den Eigenarten und Eigengefühlen sterblicher Figuren.

Es war auch für Harden – bewußt oder unbewußt – ein Lebensbedürfnis, seinen oft wechselnden und nur privaten Sym- und Antipathien einen großen Umriß und weltgeschichtliche Deutungen zu geben. Menschen, die ihm huldigten und für deren Lob er empfänglich war, galten ihm als Genien und Lichtalben. Die ihm wehetaten oder auch nur kritisch gegen ihn standen, erschienen ihm als neidgeschwollene Nattern.

Er unterließ es, zu fragen, ob denn nicht auch er selber zahllosen Menschen ungerecht wehetat. »Ich verhandle nicht, ich exekutiere«, sagte er von seiner richterlichen Feder.

 

Es ist nun an der Zeit, von dem wunderlichen Standpunkt zu sprechen, den Hardens »Zukunft« gegenüber Juden und Judenfrage einnahm.

Obwohl die besten jüdischen Köpfe jenes Zeitalters an der Zeitschrift mitarbeiteten, so war doch deren Einstellung fast immer »antisemitisch«. Um die Jahrhundertwende wurde unter den deutschen Juden eine Bewegung mächtig, die auf Assimilation, Mischehe und Massentaufe abzielte. Ein hoher Jurist, Eduard Simon, veröffentlichte eine weitverbreitete Broschüre »Gedanken eines Juden«, ein einflußreicher Beamter, der unter dem Namen Benediktus Levita schrieb, veröffentlichte in den »Preußischen Jahrbüchern« einen Mahnruf an die Juden. Beide kamen hinaus auf das Bekenntnis, daß zwar die ältere Generation ihr Judesein nicht preisgeben dürfe, sondern noch eine Pflicht der Ehrfurcht zu hüten habe, welche verhindern müsse, daß die Religion um wirtschaftlicher Vorteile willen gewechselt werde. Dagegen sei nicht der mindeste Grund dafür ersichtbar, daß man auch die unmündigen Kinder noch weiter zwingen solle, im Judentume zu bleiben und sich von der Mehrzahl der Volksgenossen durch ein freiwilliges Ghetto zu unterscheiden.

Etwa um 1900 veröffentlichte Walter Rathenau in Hardens »Zukunft« seinen später von ihm bedauerten Aufruf »Höre Israel«, womit er ganz unmißverständlich zur Massentaufe aufforderte. Die Erhaltung des Judentums (so erklärte Rathenau) aus lauter Reminiszenzen und Pietäten, mit sinnlos gewordenen Riten und Gesetzen, sei nur ein Stück verstorbener Orient inmitten der weiterblühenden abendländischen Kulturen. Die Juden sollten endlich die unlösliche und unnötige Spannung beenden und im Deutschtume untertauchen.

Dies war die unausgesprochene Überzeugung der westjüdischen Mehrheit. Sie wäre siegreich geworden und hätte langsam zur Auflösung geführt, wenn nicht in den kommenden Jahren der Zionismus die noch aufschwungfähige jüdische Jugend gesammelt hätte. –

Nichts hatte Hardens schöner Genius des geistigen Spiels je völlig ernst genommen. Metaphysik, Moral, Weltgeschichte, ihm erschien wohl alles ein wenig zweifelswürdig. Aber in einem Punkte war es ihm bitter Ernst. Da fühlte er, der auch mit Menschen erhaben Spielende, sich voll verantwortlich und nur als ein treuer Knecht. Er hieß: Deutschland!

Als sein fünfzigjähriger Geburtstag seine damals noch Hunderttausende umfassende Lesergemeinde in Bewegung brachte, da dankte er mit einer Art öffentlicher Eidesleistung. Er schwur und ließ seinen Gratulanten das wunderliche Denkstück zustellen, daß er lebenslang nach bestem Wissen und Können dem Wohl des deutschen Menschen dienen werde. Das »Wohl des deutschen Menschen« … das war (und wäre es auch nur eine Selbsttäuschung gewesen) jedenfalls die letzte Norm seines immerbewegten Lebens. Danach richtete er sich. Danach urteilte er auch über Juden und Judenfrage. »Was wollt Ihr denn eigentlich«, rief er in der »Zukunft« den Juden zu, »sagt doch klar, wessen Geschäfte besorgt Ihr, die Geschäfte Deutschlands oder die Geschäfte Zions?« Und ein andermal: »Man sollte meinen, der Kampf gegen den Semitismus wäre, wenn er aus Überzeugung geführt wird, an und für sich nicht verächtlicher als der Kampf gegen Katholizismus, Kapitalismus, Junkertum und Sozialismus.« – Harden hatte Unrecht. Es ist ein Unterschied, ob ich den Menschen als ein Geschöpf der Natur oder ob ich ihn als Träger von Prinzipien verneine. Aber man erkenne seine Vorurteilslosigkeit in der Judenfrage.

Sein Stil wurde, wenn er von Deutschland sprach, getragen und feierlich. Er ähnelte dann der Rede Jakob Grimms, und seine politische Gedankenwelt hatte manchen Ausschnitt gemeinsam mit der Deutschlandanbetung Paul de Lagardes und Heinrich v. Treitschkes. –

Ich muß nun endlich mit einem Geständnis herausrücken: Ich habe lebenslang mit Maximilian Harden im Kampfe gestanden.

Wenn ich heute am Ausgange unsrer Lebenstage mir die Frage vorlege: warum habe ich denn den Mann abgelehnt? so will es mir scheinen, daß jener Augenblick in der Jugend für meine Einstellung symbolisch war. »Il s'était fait une tête«. – Nicht, als ob es ihm an Verantwortungskraft fehlte, nicht als ob seine Satire nur Spiel, seine Wut nur Theater war. Er besaß Ernst, Blutschwere, Treue, langen Atem. Aber er hätte sich nie der Sache geopfert, und wenn er sich geopfert hätte, hätte er nicht zuvor nach dem Photographen geschickt? – »Für Harden«, so schrieb ich um 1900, »gibt es kein Wahr und Falsch, sondern nur ein Klug und Dumm. Er kritisiert die Weltgeschichte, wie er die Theater kritisiert. Er wird seine Person nicht so weit daranwagen, um unpersönlich zu werden.«

Ich blicke zurück auf einen herben Lebensweg und denke: So ein Allmächtiger, Arrivierter hatte nie ein Wort der Ermutigung, der Würdigung. Er kannte mich, kannte meine Leistung, hätte mit ein paar Zeilen oft helfen und aufklären können. Ich erfuhr durch vierzig Jahre, wenn ich überhaupt je eine Wirkung erfuhr, Schmähungen und Beleidigungen, wie sie keinem Manne meines Ranges schlimmer zuteil wurden. Harden schwieg dazu. Hätte ich Bitte oder Schmeichelei an ihn verwandt, gewiß, er hätte sich des Versprechens erinnert, das er dem Werdenden gab. Aber immer sah ich den Blick aus dem Spiegel: »Schauspieler der Größe, Affe des Ideals, Komödiant des Geschichtsschwindels, geschminktes Gesicht, geschminktes Wort! – Fliehe!«

So blieb unsre Beziehung durch ein langes Leben. Und dann kam die entscheidende Stunde, die für jedes Leben nur ein Mal kommt und die Probe macht: Was an deinen Zielen war echt? Das war die Stunde bei Ausbruch des Weltkrieges, Juli 1914.

Wenn ich in Jahren der Jugend (denn mit dem Weltkriege endete unsre Jugend, und alles, was vor ihm lag, war noch keine rechte Wirklichkeit) zuweilen an die Möglichkeit einer ungeheuren Völkerkatastrophe dachte, dann wurden tröstend die folgenden Hoffnungen wach: Zu groß ist die Macht der Internationale, als daß noch einmal die politischen Machttriebe der völkischen Selbstsüchte sich wechselweise zerfleischen könnten, gleich Betrunkenen, die in einem Porzellanladen zu raufen beginnen. Die Solidarität der Not, der Armen und Leidenden in allen Ländern, wird sich stärker erweisen als die Erweiterung8- und Beutegierden der Ämter und des Kapitals. Kein Sozialist wird jemals Kriegskredite bewilligen. Und ohne die Sozialdemokratie kann keine Schlacht geschlagen werden. Dazu kommt die für das Abendland bündig gewordene Gleichberechtigung der Frauen. Die Herrschaft der Mütter wird Antigones Wort zu Wahrheit machen: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« Es wird unmöglich sein, daß Mütter und Mädchen sich in Hyänen wandeln, »lechzend nach dem Blute des Feinds«. Und endlich: Wenn die unter alle Völker der Erde verstreuten fünfzehn Millionen Juden überhaupt noch einen Sinn für die Erde haben, dann kann es nur der sein: die Brücke zu schlagen und den Faden zu weben von Volk zu Volk. Daß eine Menschengruppe, der überall gesagt wird, sie sei nur geduldet und nicht mit zugehörig, sich in wüste »Patrioten« verwandeln und, Landschaft wider Landschaft, übereinander herfallen würde im Dienste ihrer Bedrücker, das schien mir wenig wahrscheinlich zu sein.

Und nun geschah's! Die Sozialisten verrieten die Armut; die Mütter die Liebe; die Juden ihre sinnvolle Sendung: »Lo bechail, welo bekoach, ki im beruach« (»Nicht mit Heeresgewalt, nicht mit Waffenmacht, sondern einzig mit der Kraft des Geistes«).

An die Tage des August 1914 werde ich bis zum Tode nie anders zurückdenken, als an die klarste Offenbarung, die mir je zuteil ward über die schönen menschheitlichen Wahnideen. Ideale sind Krücken. Fortschritt ist nur ein Trug. Geschichte: Lüge.

Es war damals, wie wenn jeder Mensch nur eine einzige Angst hegte: hinter der »großen Stunde« zurückzubleiben. Jeder wähnte, man könne von heute auf morgen ein Held werden. Und wenn man noch gestern dem Erfolgsschacher gelebt hatte. Da war zu Ende die Freiheit des Einzelnen. Da gab es kein Gewissen, kein Auswerten, keine Herzensprüfung. Da ballte sich aus Rauflust, Hochherzigkeit, Dummheit, Gewinnsucht, Feigheit, Herdenseligkeit, Abenteuergier, Gläubigkeit, kurz aus allem Guten und allem Schlimmen der Menschennatur: das Völkerschicksal. Jeder fühlte wie sein Nachbar. Jeder tat, was sein Nachbar tat. Und ward es zur allgemeinen Mode zu sterben, dann starb ein Jeder. Führer war, wer das sagte, was zu dieser Stunde alle hören wollten. Alle zu hören nötig hatten. Führer wollte jeder sein. Jeder wähnte, nun endlich sei seine Stunde gekommen, und die Welt habe nur auf ihn gewartet.

Wahrhaft glücklich aber waren die erst Halb-Enttierten. Nun entfiel endlich, was ihnen immer zuwider und immer hinderlich gewesen war: das zartere Gewissen, das reinere Herz. Jetzt galt das Tier. Und was nicht dem Tiere diente – es war todesreif.

In dieser Herzensqual, abgedrängt und abgeschieden wie nie zuvor, klammerte ich mich an einen törichten Plan. Bei seiner Durchführung – o kindlicher Wahn – hoffte ich auf Maximilian Harden. In jedem Volke Europas, so dachte ich, müßten zu diesem entscheidenden Zeitpunkte die anerkannten bestgehörten meistgenannten führenden Geister öffentlich sprechen: »Wir, die bestellten Hüter des zeitlosen Reiches, der gültigen Wahrheit weigern, dem blutigen Wahn der Geschichte Folgschaft zu leisten. Ihr könnt erst dann martern und morden, wenn ihr zuvor unsre Gehirne auslöschtet. Euer führendes Licht, auf das ihr stolz seid.«

So dachte ich, würden in allen Ländern die führenden Geister sprechen. Wenn in Deutschland auch nur George, Hauptmann, Dehmel; in Frankreich nur France, Rolland, Bergson; in England Shaw, Galsworthy, Wells; in Rußland Mynski, Andrejew, Brjussow mit diesem »Aufruf zum Geist« hervortreten, wenn eine europäische Zeitschrift vom weitesten politischen Einfluß wie Hardens »Zukunft« diesen Aufruf einleiten würde, dann müßte sich ein Damm von Licht auftürmen, daran die Wogen der Leidenschaft vielleicht zerschellten. In der äußersten Not aber würde zum ersten Male in der Geschichte ein ungeheures Beispiel gegeben werden. Die geistigen Führer würden den Kreuzestod Christi erleiden.

Dies mein Wahn. – Das Erwachen war schrecklich.

Gerade diejenigen Männer, an die ich geglaubt hatte, als an Vorbilder und Erzieher auf meinem Wege, verwandelten sich in Rasende. Der rasendste unter allen Kriegshetzern jener Tage war Maximilian Harden. Seine »Zukunft« wandelte sich in das Organ der gierigsten Annexionisten und Alldeutschen. –

Und das ging so fort durch vier gräßliche Jahre. Von Sieg zu Niederlage und von Niederlage zu Sieg. Und kannte nur ein Ziel und einen Maßstab: Erfolg. Zuerst trieb Harden eine Politik des Gewalttaumels. Sodann, als die Geschäfte schlechter gingen: eine Politik, die den vorteilhaftesten Frieden sucht. Und schließlich, etwa seit 1916, machte er auf tausend Hintertreppen den Versuch, für Deutschland zu retten, was noch zu retten wäre.

Und dann Herbst 1918 – um fünf Jahre zu spät – kam die deutsche Revolution.

Das Land war entkräftet, das Heer zerstört, der Kaiser entflohen, der Bismarckische Staat zertrümmert, alle Könige und Fürsten davongejagt. Nie war ein Volk so desorientiert. Nie so willig, neu zu lernen und neu zu bauen. Aber wo stand Harden?

Seine Zeitschrift war von Jahr zu Jahr einflußloser geworden. Er hatte sie zuletzt ganz allein geschrieben, und kaum tausend Bezieher waren ihm treu geblieben, welche seinen Gedanken folgten als den Monologen eines zeitentfremdeten Eigenbrödlers. Denn, mit dem Augenblick, wo die von ihm gehaßte Kaiserherrlichkeit dahinsank, war seine Feder überflüssig geworden. Sie hatte nie ein anderes Thema gehabt, als Deutschland zu sagen, was an der kaiserlichen Staatswirtschaft nicht sein sollte. Und sie hatte nie für anderes Publikum geschrieben als für das nunmehr entmachtete.

Wir sind immer geneigt, gegen Besitz und Rang ungerecht zu sein, wenn wir daran denken, daß Millionen wertvolle gute Wesen in unwürdigen Verhältnissen verkümmern, während in den gepflegten Häusern auf den Lederpolstern der Macht oft genug Charaktere lungern, die von der Natur für »Kartoffeln und Kientopp« bestimmt zu sein schienen.

Harden zitierte gern gewisse Bemerkungen Bismarcks wie: »Ein Mensch, der den Fisch mit dem Messer tranchiert, sollte nicht gerade Kultusminister werden«, oder »Mancher meint, er kann Deutschland in Ordnung halten und kann noch nicht seine Komodenschublade in Ordnung halten«. Privilegien schienen ihm nur dann erträglich zu sein, wenn sie durch ein hohes und großes Menschentum gerechtfertigt wurden.

An den neuen Machthabern suchte er vergebens nach Hoheit und Größe. Für ihn waren diese Ebert, Noske, Scheidemann emporgekletterte Kleinbürger, deren keiner das geschäftige Mittelmaß überragt. Männer ohne Überlieferung, ohne Geschichte, ohne Bildung, ohne Feinheit. Glückliche Erben der Revolution. Sein Haß gegen die braven Parteilichter der Sozialdemokratie, die sich nun zu Sonnen Deutschlands aufwarfen, war so groß, daß sein positivstes Gefühl die Liebe zu Rußland wurde. Eine leise Hoffnung, daß der Bolschewismus siegen und die deutsche Herrschaft der Kleingeistigen und Mittelmäßigen hinwegfegen würde.

Daß die Stühle, auf denen bisher die Sprossen alter Adelsgeschlechter, goldverbrämt in Orden und Gala gesessen hatten, jetzt von Männern innegehabt wurden, die schlechtes Deutsch schrieben und allzu grobe Sinne hatten, das war dem anmutigen Spieler des Esprit unerträglich. Und daran zeigte es sich, wie er doch im Grunde seines Herzens von den befehdeten Prinzen, Fürsten, Königen und ihren Hofstaaten allzusehr abhängig gewesen war, ja um ihre Beachtung geworben hatte.

Da aber kamen Ereignisse, deren Erinnern das Blut gerinnen macht.

Nichts – ich wiederhole es – hatte Hardens schöner Genius des geistigen Spiels je völlig ernst genommen. Metaphysik, Moral, Weltgeschichte … ihm erschien wohl alles ein wenig zweifelswürdig. Aber in einem Punkte war es ihm bitter Ernst. Da fühlte er, der auch mit Menschen erhaben Spielende, sich voll verantwortlich und nur als ein treuer Knecht. Der Punkt hieß: Deutschland.

Rund um den Gealterten gackerte nun ein vorlautes Geschlecht, das nichts wußte von dem, was er einst für Deutschland bedeutet und für Deutschland geleistet oder zu leisten geglaubt hatte. Nichts war aus der großen Vergangenheit geblieben als dreißig Jahrgänge vergilbte Zeitschriften. Er saß da, wie eine verblühte Operndiva unter vergoldeten Schleifen welker Lorbeerkränze in ihrem seidenen Schmollwinkel. Jüngere, Glücklichere, die in seiner Schule gelernt hatten – Emil Ludwig, Paul Wiegler, Stefan Großmann – hatten ihn überholt. Noch immer der zierlichste Ziselierer des Wortes, der kluge Charmeur, der große Florettfechter, der die feinste Damaszenerklinge des Geistes zu schleifen verstand, trieb er nun, hilflos wie ein Kind, unter einer derben Menge, die nur mit Mistgabeln und Gummiknüppeln wacker zu kämpfen vermag.

Sein schönes gepflegtes Puppenköpfchen ward böse und traurig. Die ihn besuchten, schildern ihn als einen sehr stillen, sehr höflichen, bitterbösen kleinen Marquis im Exil.

Als das alte Reich zu wanken begann, ließ der Kaiser seinen Todfeind bitten, er möge die Friedensverhandlungen führen. Kanzler und Ministerpräsident waren bemüht, den Mann zu versöhnen, der schon am 25. Geburtstag des deutschen Kaiserreichs, am 18. Januar 1895 in seiner »Zukunft« geweissagt hatte: »Wird so weiter regiert, dann wird sich eines schönen Tages ein Völkerbund bilden und wird diese Großmacht niederwerfen und alles das, was das deutsche Volk sich erarbeitet hat, wird dahin sein.«

Die Prophetie war erfüllt. Der Prophet vergessen. Sein Haß wie seine Liebe waren aller Welt gleichgültig. Unter den neu zur Herrschaft Gelangten war zwar keiner – (auch Rathenau, auch Stresemann nicht) –, der an politischem Scharfblick ihm gewachsen war. Gerade darum aber war der Mann, der sich nie einer Partei anschloß oder ein Amt annahm, allen unheimlich und fremd.

Immer wenn Menschen in die Irre gehen, dann ziehen sie sich zurück auf den nackten Selbsterhaltungstrieb. Die soziale Republik, das demokratische Ideal war Kulisse. Hinter der Szene herrschte der Terror. Die Tragiposse, die sich zum Schluß an Harden ereignete und seiner merkwürdigen Laufbahn das Ende setzte, ist so grotesk, daß es für ein kommendes Geschlecht schwer fallen wird, auch nur den Zusammenhang zu verstehen.

Aus der Revolution wuchs die Konfusion. Aus der Konfusion die Reaktion. Juden hatten auf den Trümmerstätten des völkischen Machtwahns gläubig die weißen Fahnen gerefft. Die alten Fahnen mit der betörenden Inschrift: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Nun, wo der Ansturm der proletarischen Masse erdrückt war und die neuen Besitzenden nichts sehnlicher wünschten, als ihre Macht sicherzustellen, da wurden auch die jüdischen Feuerköpfe schnell hinweggefegt. Sie hießen nach beendetem Kriege: Landsfremde, Blutfremde, Nichtdazugehörige.

Die Epoche des Rassenantisemitismus begann mit dem Morde an dem weitsichtigen Karl Liebknecht und der hochgesinnten Rosa Luxemburg. Dann wurde Kurt Eisner, Bayerns Ministerpräsident, ermordet. Sein Mörder, ein Graf Arco, war der Sohn einer jüdischen Mutter. Das reine und große Herz Gustav Landauers wurde buchstäblich mit Füßen zertreten. Dann wurde Leo Jogisches geopfert und der beste Kopf der Revolution, Eugen Leviné. – Mühsam, Toller, Fechenbach wurden eingekerkert. Walter Rathenau, der deutsche Außenminister, fiel als Opfer eines Mordkomplotts romantischer Knaben. Und plötzlich wurde durch die Zeitungen bekannt, daß ein verkommener Bube, im Solde einer Koterie nationalgesinnter Männer, Maximilian Harden im Dunkel der Nacht hinterrücks überfallen und mit einer Eisenstange achtmal seinen Schädel eingeschlagen habe. Jenes Gehirn, das drei Jahrzehnte lang den führenden Deutschen als eines der leuchtenden gegolten hatte.

Und man ließ es geschehen? … Nein! Man jubelte, man jauchzte! Man sah in der abgefeimten Tat eine Ehrentat im Dienst des Vaterlandes. Es trat zutage, daß Zehntausende den Mann beneidet oder genützt, jeder ihn gefürchtet, keiner ihn geliebt hatte. Er war wirklich für Deutschland: ein Fremder.

Dank der Kunst eines bedeutenden Chirurgen kam er mit dem Leben davon, zwar für den Rest seiner Tage gebrochen, aber doch immerhin noch kampffähig und geistesstark.

Er erwartete nun (und das war selbstverständlich), daß seine Mörder öffentlich zur Verantwortung gezogen würden. Aber der Generalstaatsanwalt betrieb die Verfolgung so lässig, die Gerichte arbeiteten so langsam, die Presse und die Welt der öffentlich Meinenden zeigte sich so teilnahmlos, daß die Verhandlung gegen den Mörder oder besser gesagt gegen zwei gedungene Ausführer des Mordplans (denn die eigentlichen Anstifter hatten längst Zeit gefunden, sich in Sicherheit zu bringen und die Spuren des Komplotts zu verwischen) für den Verletzten zum Dornenwege wurde. Statt als Ankläger, stand er erstaunlicherweise als Angeklagter vor seiner Nation.

Man billigte seinen Mördern den guten Glauben zu, einen Schädling vernichten zu müssen. Man karrte alles zusammen, was irgendwie geeignet erschien, die feige Tat als edelbegründet erscheinen zu lassen. Man ließ den abscheulich Verunrechteten fühlen, daß die Republik seinen Tod gar nicht ungern gesehen hätte.

In den Geschichtsbüchern der Zeit figurierte er als ein von Bismarck gelegentlich zu Schreibdienst verwendeter »Isidor Witkowsky aus Galizien«. Den Namen Isidor hatten böswillige Schreiber aus den Fingern gesogen. Er hatte nie so geheißen, war nie aus Galizien eingewandert. Aber es wäre vergeblich gewesen, solche Fälschungen richtigstellen zu wollen.

Vor dem plötzlichen Auflodern dieses gegen seine Person gekehrten Blutrausches stand Harden wie ein Kind. Er begriff nicht, wie das geschehen konnte. Denn dieser in weiten Kreisen des Volkes schwelende Haß drängte ihn auf die Seite, die er abgelehnt hatte und auf der er nie heimisch gewesen war.

Durchblättert man politische Zeitungen und Zeitschriften Frankreichs, Englands, Amerikas, so wird man durch Jahrzehnte häufig dem Namen Harden begegnen. Aber immer als dem Namen eines führenden »Nationalisten«. Er galt im Ausland als fanatischer Deutscher. Jetzt aber hatte er in der freien deutschen Republik seine Vergangenheit zu verteidigen, als die Vergangenheit eines »jüdischen Schmarotzers«. Und ein Zufall oder eine gute psychologische Berechnung der Amtierenden fügte, daß der Gerichtshof, der über den Mordversuch an Harden zu entscheiden hatte, mit deutschvölkischen Juden besetzt ward. Der Vorsitzende, der nach deutschem Strafrecht allmächtig ist, war der getaufte Sohn eines Rabbiners. Und zur Verteidigung des Mordkomplotts und zur Anklage Hardens als undeutschen Schädlings fanden sich zwei Juden, zwei Berliner Rechtsanwälte namens Bloch und Schiff, getauft und Vertreter jenes glatten Assimilantentums, das in ewiger Scheu lebt, noch immer nicht deutsch, noch immer nicht christlich genug zu wirken.

Noch einmal raffte Harden seine gewaltige Kraft zusammen zu einer Rede, die sein Leben und Wirken in schlichten Worten rechtfertigt. Sie blieb völlig unwirksam vor einem Tribunal jüdischer Antisemiten. Die wunderliche Lage war diese: Ein Jude, der sein Leben lang deutsch zu fühlen glaubte und für Millionen als Vertreter Deutschlands gegolten hatte, mußte sich zu schlimmer Letzt als Jude verteidigen und die Sache des Judentums führen vor einem Gericht aus getauften Juden, die um ihrer Erfolgs- und Machtzwecke willen die trübe Sache eines deutschvölkischen Mordkomplotts zu ihrer eigenen Sache machten.

Einige Sätze aus Hardens Gerichtsrede beleuchten die sinnlose Lage: »Ich verstehe, daß man auch diese jungen Männer verteidigt. Daß man sie aber so, wie hier versucht wird, verteidigt, daß man einen Menschen, der ihr Opfer geworden ist, der blutend um Mitternacht, bis an die Füße in Blut getaucht, in ein Krankenauto gestopft wird, der aus seiner Tätigkeit herausgerissen wird, das Werk von dreißig Lebensjahren aufgeben muß, der ungeheure materielle Verluste von der Sache hat, daß man den Mann noch schlecht zu machen sucht, das ist mir neu. Bis heute früh war ich entschlossen – weil ich es unerträglich finde, weil ich es ungeheuerlich finde – zurückzutreten und zu sagen: Es gibt ein Stenogramm dieser Verhandlung, und das genügt; das Urteil spricht die Welt! Ich habe es nicht getan, weil ich heute früh einen Brief bekommen habe von einem Politiker von europäischem Ruf, der mir gesagt hat: »Wo ich auch hinkomme im neutralen Ausland, überall sagt man mir: »Ihr Deutsche geht zugrunde durch eure Solidarität mit euren Mördern« … Die Staatshoheit und Rechtshoheit verlangt, daß die Tat bestraft werde, gleichgültig, wer das Opfer war. An der Sache würde nichts geändert, auch wenn ich das Scheusal wäre, das man hier aus mir machen will. Der Kern der ganzen Geschichte ist doch der: Wenn diese beiden Menschen Blumenstock und Feilchenfeld hießen und wenn der, der überfallen wurde, einen urgermanischen treudeutschen Namen hätte, glauben Sie, daß es dann genau so wäre? Ich glaube es nicht! – Ich bin als ein Jude geboren, aber ich habe immer sehr lockere Beziehungen zum Judentum gehabt. Ich bin vor mehr als vierzig Jahren als blutjunger Mensch zum Christenglauben übergetreten. Das war eine Zeit, in der man vom Rassenantisemitismus in Deutschland nichts wußte, sonst wäre es wohl eine Art Apostasie gewesen, und ich hätte es nicht getan. – Ich verstehe jeden Antisemitismus, aber ich wundere mich, daß man nicht öfter in diesem Lande daran denkt, daß es im wesentlichen die selben Vorwürfe sind, die der Deutsche dem Juden macht, die ein großer Teil des uns unfreundlichen Auslandes dem Deutschen macht. – Ich bin kein Engel, aber ich habe niemals in meinem ganzen Leben mit Bewußtsein etwas Niedriges getan. Schlimm genug, daß ich das hier noch aussprechen muß, auf dem ganzen Globus sind nicht viele Stellen, wo ich es müßte …« –

Hat, wer solche Worte liest, nicht den Eindruck, daß hier ein Mann, der einfach Schutz zu fordern hätte, sich verteidigt und um Wohlwollen wirbt? Es greift qualvoll ans Herz, wenn er sich an seine Verfolger wendet: »Ich habe bis zum letzten Moment immer gehofft, irgendein Zeichen von Menschlichkeit, von Reue von dieser Seite zu hören. Es ist ausgeblieben. – Es ist sehr schwer für einen kranken Menschen, der diese lächelnden, fidelen Leute sieht! Es ist für mich auf die Dauer unerträglich und unmöglich.«

Zum Schlusse der Rede ereignete sich eine tolle Farce. Harden warnte das Gericht, daß die Freisprechung seiner Mörder dem deutschen Volke im Auslande schaden werde. »Es wird eine Ermutigung und Herausforderung sein und allen denen recht geben, die Schlechtes von uns sagen.« Plötzlich aber unterbrach er sich. »Nein! Ich bin im Ausdruck entgleist. Ich will sagen nicht von uns. Von Ihnen. Schlechtes von Ihnen sagen! Wenn Sie mich, weil ich als Judenknabe auf die Welt gekommen bin, nicht haben wollen, dann nicht! Ich habe es auch Rathenau oft gesagt: Warum schreiben und sagen Sie immer ›Wir Deutsche‹? – Man will die Juden doch nicht zu den Deutschen rechnen. Ich liebe den deutschen Menschen, aber ich dränge mich ihm nicht auf. Die Art, wie er seine Rechtsgeschäfte ordnet, mag er vor sich, vor seinen Kindern und vor dem, was ich das Weltgewissen genannt habe, vertreten. Wollen Sie diese Mietlinge der Mördergenossenschaft freisprechen und auf dem Prytaneum zur Belohnung für patriotische Tat speisen, tun Sie's« –

Kann wohl der Unsinn der Untermengung des Rechts mit völkischen Gefühlen, der übervölkischen Norm mit Tatbeständen des Lebens krasser an den Tag treten?

Hier begünstigt ein deutscher Gerichtshof, in welchem getaufte Juden sitzen, die Mörder eines andern getauften Juden, weil diese Mörder versichern, daß sie im Namen und aus dem Geiste deutscher Gesinnung morden wollten. Und indem die einen sich äußerst »deutsch« gebärden, treiben sie den andern, der bis dahin womöglich noch »deutscher« gewesen war, nun wieder ins »Judesein« zurück …

 

Die Kunde von jenem Attentate gab meiner Stellung zu Harden eine mir selber erstaunliche Wandlung.

Ich hatte diesen Mann durch nahezu vierzig Jahre zu hassen geglaubt. Aber auch der Haß ist Liebe, die zertreten ward. Wie Dornen Knospen sind, die verkümmern mußten. Es gibt ein Erlebnis, das auch gestorbene Liebe wieder lebendig macht: das Mitleid.

In jener Stunde, wo dieser Mann angesichts der deutschen Öffentlichkeit von einem gedungenen Bravo niedergeschlagen wurde, ohne daß irgendeiner aus seiner Million Bewunderer von ehemals öffentlich für ihn eintrat, da ist mir alles zum Ekel geworden, was ich jemals Absprechendes über ihn geäußert, jemals Verneinendes gegen ihn geschrieben habe. Aus unmittelbarer Empörung schrieb ich ihm. Und sein Dank zeigte, daß die Teilnahme eines Schicksalsgenossen ihn freute. Denn auch ich erfuhr damals unter dem Beifall der deutschen Öffentlichkeit Beschimpfung und Mißhandlung.

Ich habe Harden noch einmal wiedergesehen.

Es war in seinem Häuschen im Grunewald. Das Gesicht des kleinen Marquis war alt geworden. Seine Züge scharf. Sein Gang greisenhaft. Nur die stählernen blauen Augen hatten noch den Jugendglanz. Und sein Wesen die selbe Zierlichkeit und bezaubernde Grazie wie in der Jugend. Hundert Bilder und Schicksale zogen vorüber, die wir überdauert hatten. Ich sagte: »Ich hätte Sie bis zum Tode bekämpft, wenn Sie in der Macht geblieben wären.« Er erwiderte: »Auch ich hätte Bismarck bis zum Tode bekämpft, wenn er in der Macht geblieben wäre.«

Er entsann sich unserer frühen Gespräche und erinnerte daran, daß wir einst über unser Schicksalslos als Deutsche und Juden debattierten. Er habe mir, dem Schwankenden, die strenge Forderung gestellt: Deutsch schlechthin! Da sei ich gequält aufgesprungen und habe ihm ein Zitat zugerufen, – sein erstaunliches Gedächtnis kannte es noch nach 36 Jahren:

»Quo semel est imbuta recens
servabit odorem testa diu.«

(Womit dereinst die Schale gefüllt war,
davon wird sie den Duft lange bewahren.)

Er habe oft an diesen Vers des Horaz gedacht, und nun im Alter sei es ihm ergangen wie dem Dichter, bei dem wir damals gemeinsam zu Gaste waren. Auch Theodor Fontane habe sich als Sänger Preußens und des Preußenruhmes gefühlt. Aber zu seinem 75. Geburtstage habe nicht ein Einziger von denen, die er besungen hatte, ihm gedankt. – Und der böse kleine Marquis deklamierte, halb mit pathetischem Ernst, halb belustigt und als ein Schelm:

»Aber die zum Jubeltag kamen,
Das waren doch sehr, sehr andere Namen.
Meyers kommen in Bataillonen,
Auch Pollaks und die noch östlicher wohnen.
Jedem bin ich was gewesen,
Alle haben sie mich gelesen,
Alle kannten mich lange schon.
Und das ist die Hauptsach … Kommen Sie Cohn.«

Als wir gegen Abend unter den Bäumen des Gartens schieden, da hatte ich das gute Gefühl, eine gallige Last los zu sein, die mich durchs ganze Leben gedrückt hatte. Nun hätte ich ihm gern gute Gesinnung gezeigt. Aber wie? Ich malte ein Bild seiner Persönlichkeit, wie sie nach so vielen Jahren mir erschienen war. Überlegen, weise und verklärt. Eine Zeitung im Ausland brachte die kleine Skizze. Ich schickte sie ihm. Es hieß, er sei leidend. Er war nach Italien gereist. Einige Wochen vergingen, dann erhielt ich eine Antwort. Aber wie ich es dem Unberechenbaren nie recht gemacht hatte, so fand ich auch jetzt nicht seine Zustimmung. Er antwortete: »Sie malen mich als einen buddhistischen Weisen, der vornehm und resigniert sich auf den Tod vorbereitet. Ich bin nicht resigniert und nicht buddhistisch. Ich bin ein Kämpfer, und wie lebendig, das wird sich in einigen Wochen zeigen, wo die ›Zukunft‹ wiedererscheinen wird, die für Deutschland notwendiger ist als je.«

Kurz darauf kam die Nachricht, daß Maximilian Harden gestorben sei.

Im Krematorium in Wilmersdorf wurde er eingeäschert. Beethovens Musik ertönte, und ein junger Schauspieler sprach einige Worte Goethes: Dank an die Natur, die ihr Kind ans große Herz zurücknimmt.

Und dann kam die Flamme und verschlang das Bild des Knaben, der einst im Hofe der Schule »Entscheider der Schlachten« spielte. Und nahm in ihre Sonnentiefe den schönen Jüngling, der einst Herzen und Frauen gewann. Und fraß den Mann, den rastlosen Arbeiter, den in Deutschland mächtigsten durch die Schrift und das Wort. Und fraß die Weisheit und die Schrift. Und Unrecht und Schuld. Und Ruhm und Geschichte.

Etwa fünfzig Ergriffene blickten den schönen, schwindenden Bildern nach. Die meisten waren Juden.



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