Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Paul Rée, ein junger Liebhaber der Künste und Wissenschaften, unabhängig und aus reichem Hause, kam im Februar 1874 in das kluge und behäbige Basel. Die Stadt, ehrenfest und gesittet, erschien ihm wie geschaffen für die nüchterne Trunkenheit eines freien Geistes. Er badete im Rhein, er machte an den sonnigen Ufern, seiner Gewohnheit gemäß, tagelange Spaziergänge, er erfreute sich des Umgangs der würdigen Professoren. Und er fand einen Freund, ohne dessen weltumfassende Wirkung wir heute wohl kaum noch von dem Dasein eines Paul Rée etwas wissen würden. –
Es ist ein gewagtes Unterfangen, das Leben und das Werk Paul Rées zu schildern. Denn außer einem Buche aus 211 Paragraphen, welches nach seinem Tode von ehrfürchtiger Hand unter dem Titel »Philosophie« herausgegeben wurde, ist nichts von ihm auf die Nachwelt gelangt. Wir kennen wohl die Spuren seines äußeren Lebenswegs; es leben noch manche, die sich erinnern, wie er ausgesehen hat, wie er geschritten ist, wie er gesprochen hat. Aber Manuskripte, Briefe, Bilder, Tagebücher hat er vernichtet. Er wollte mit geschlossenem Visier durchs Leben gehn und ist aus dem Leben geschieden, ohne das Visier zu öffnen. Er war ein menschenscheuer Schweiger, und seine Entwicklung erscheint uns als ein Vorgang wachsender Vergletscherung 7.
7) Ein Bild Paul Rées war trotz eifrigen Bemühens nicht aufzutreiben.
Die ihn gesehen haben, schildern ihn als einen schönen und vollkommenen Menschen. Er habe eine hohe Gestalt gehabt, ein dunkles Haupt, reine Stirn und tiefe, sinnende Augen. Er war ein männlicher Mann und erschien harmonisch und ausgeglichen.
Einer seiner Bekannten, der Soziologe Ferdinand Tönnies, gibt von Paul Rée die folgende Schilderung: »Ich habe Rée gekannt und geschätzt als einen ungewöhnlich feingebildeten und sinnreichen Menschen. Durch die ruhige Sicherheit seines Auftretens, die gelassene, ja sanfte Art seiner Rede hatte er etwas Imponierendes, war auch bei näherer Bekanntschaft durchaus gutmütig und liebenswürdig. Seinen sachte ironischen Humor kehrte er ebensooft gegen sich selber wie gegen andere; kleine Bosheiten wußte er in verbindliche Formen zu kleiden. Er war im Grunde bescheiden, hatte aber ein großes Vertrauen in die Richtigkeit seines Denkens, weil er sich für einen der sehr wenigen ganz unbefangenen Denker hielt und weil er wirklich über gewisse wesentliche Probleme unermüdlich, Monate, ja Jahre lang nachdachte. Er wollte ganz außerhalb des Lebens stehen, um es sicherer zu beobachten. Von der Nichtswürdigkeit der Menschen, von der Nichtigkeit des Wähnens, das sie gefangen halte und auch die scheinbar Freien immer wieder gefangennehme, war er tief durchdrungen. Man ist versucht, es Menschenhaß zu nennen, was sich in seinen frühesten wie spätesten Aphorismen kundgibt, aber es ist mehr der Stolz des Erkennenden, was sich darin ausspricht … Rée liebte das Gespräch, er wurde aber leicht stutzig, er ließ dann seine tiefliegenden lebhaften Augen wie zweifelnd hin und her gehn und half sich aus der Verlegenheit gern mit einer scherzhaften Wendung: »Die Kunst der Unterhaltung ist schwierig. Wenn man spricht, so langweilt man den andern, wenn man zuhört sich selbst.« Auf den Straßen einer katholischen Stadt – wir waren eine Zeitlang in Innsbruck zusammen – wurde er für einen Priester gehalten. Die Kinder drängten sich an ihn, ihm die Hand zu küssen. Sein großes bartloses ernstes Antlitz, der lange schwarze Rock, sein langsamer Gang konnte diese Meinung wohl aufkommen lassen. Die tiefe innere Vereinsamung, die düstere Ansicht des Lebens, die Härte eines männlichen Individualismus, hatte er mit manchem Priester gemein. An Schopenhauer erinnerte er in einigen Zügen.«
Paul Rée war am 21. November 1849 als der zweite Sohn eines reichen Gutsbesitzers auf dem Landgute Bartelshagen in Pommern geboren. Die Familie des Vaters stammte aus Hamburg, die Mutter Jenny Jonas aus Schwerin. Seinen ersten Unterricht erhielt er durch Hauslehrer. Dann siedelte die Familie um der Kinder willen nach Schwerin über, und mit einigen Unterbrechungen – in Berlin und in einer Privatschule in Ludwigslust – besuchte Rée das Gymnasium Fridericianum in Schwerin, machte dort Michaelis 1868 die Reifeprüfung und ging nach Leipzig, um auf den Wunsch seines Vaters Jura zu studieren. 1870 genügte er seiner Militärpflicht als Einjährig-Freiwilliger, aber während dieser Zeit brach der Krieg aus und Rée kam als einer der ersten ins Feld und wurde bei Gravelotte verwundet. Nach der Heimkehr aus dem Kriege nahm er seine Studien wieder auf, ging aber unter dem Einflusse Schopenhauers bald zur Philosophie über. Er war ganz erfüllt von jener damals noch ungewöhnlichen Betrachtungsweise, die man heute an den Universitäten »Psychologismus« nennt, womit gemeint ist jene auf englischem Boden gewachsene, von Bacon bis Mill mächtig gewordene Philosophie, welche jedes Phänomen auf eine Frage der Seelenverfassung oder richtiger gesagt auf Gesetze und Verhaltungsweisen der weltfundierenden Bewußtheit zurückzuführen versucht. Für diese Richtung des Denkens sind auch die Kategorien der Logik und die Axiome der Mathematik zurückführbar auf eine Wissenschaft von den biotischen Untergründen. Somit steht hinter jeder Wahrheit eine Lebensnotdurft. Irgend etwas »Allzumenschliches«. –
Die Baseler Professorenwelt, die den jungen Gelehrten, von dem bisher nur ein kleines Heft »Psychologische Betrachtungen« anonym erschienen war, mit Wohlwollen aufnahm, erschien dem Weltmanne ein wenig altfränkisch. In drei benachbarten Häusern saßen, über ihre Bücher gebeugt, drei leuchtende Geister: Johann Jakob Bachofen, Jakob Burkhardt, Friedrich Nietzsche, brüteten zu gleicher Frist über dem selben Rätsel der metaphysischen Ur-Spaltung, benannten ihre Gesichte mit fast den gleichen mythologischen Formeln und wußten doch nicht der eine vom andern.
Der junge Rée empfand sich als einen freizügigen Mittler und Vermittler. Er nannte sich gern Botaniker der Zeit. Er besuchte, ein rastloser Wanderer, Landschaften und Berge, Städte, Menschen, Büchereien, Museen und Kirchen; er lauschte, blickte und schwieg (denn er war gleich Nietzsche ein auf gute Lebensform haltender Geist), und fand Menschen und Dinge immer ein wenig komisch, ein wenig tragisch, ein wenig verächtlich. Seine Lebensart war die eines vornehmen Fremden, der mit liebenden Augen durch die Welt fährt, freudig aufnimmt und freudig aussäet, aber nirgends sich verwurzelt und nie ganz mit dazu gehört.
»Ich habe eine neue Methode«, so sagte er. – »Sämtliche Inhalte des Lebens, vor allem aber die Sitten und Ideale der Menschen beobachte ich auf ihre geheimen Triebfedern und Hintergründe. Es steht hinter allen Bereichen des menschlichen Geistes zuletzt doch nur unsre arme Menschlichkeit, und wenn ein Satz als wahr gilt, wenn eine gute Tat geschieht oder wenn ein Bild als schön einleuchtet, so brauchen doch darum die unbewußten Vorgänge, in denen das Wahre, Gute und Schöne gewurzelt ist, nicht auch selber wahr, gut oder schön zu sein.«
Paul Rée lebte jene Philosophie, die späterhin Friedrich Nietzsche die »Philosophie des Vormittags« oder die »Fröhliche Wissenschaft« genannt und in seinen Büchern »Der Wanderer und sein Schatten«, »Jenseits von Gut und Böse« und »Menschliches – Allzumenschliches« geschildert hat. Denn der um fünf Jahre jüngere, damals dreißigjährige Nietzsche wurde zunächst zum Schüler Paul Rées.
Die erste Begegnung zwischen den beiden Philosophen erregte in beider Seelen frohes Erstaunen. »Wir fanden einander«, so schrieb Nietzsche an einen andern Freund, »auf gleicher Stufe vor; der Genuß unsrer Gespräche war grenzenlos; der Vorteil gewiß sehr groß auf beiden Seiten.« Rée arbeitete zu jener Zeit an seinem Werk über den Ursprung der moralischen Empfindungen. Nietzsche war noch Romantiker im Banne Arthur Schopenhauers und Richard Wagners, »ein verehrend gläubiges Tier«, wie er sich dem Freunde gegenüber nannte. Aus Rées Hand empfing er das diamantscharfe Skalpell, das er bald besser als Rée selber zu handhaben lernte, das haarspaltende Messer der Psychologie. Rée aber verspürte in dem noch ein wenig unflüggen jungen Gräzisten die Schwungkraft der Phantasie, den schöpferischen Überschwang, den er selbst nicht hatte und davor seine überlegene Scharfsichtigkeit ihm nur vernüchternd, ja in den stillsten Stunden arm und verbrecherisch erschien. Aber da sie beide keusche und herbe Naturen waren, so redeten sie monatelang umeinander herum, und als sie schließlich einander zu ergänzen begannen, da zuckte bereits jener tragische Blitz, der ihrem Bunde jäh das Ende brachte.
Das war Sternenverhängnis. Denn wäre der Brückenschlag gelungen, so wäre dem einen der Untergang in der Nacht des Wahnsinns, dem andern der freie Tod erlassen worden.
Damals aber in dem kurzen Jahr, da dieses Band dauerte, glaubte jeder im andern seinen Traum von Freundschaft erfüllt zu sehn, einem Freunde, der zugleich Führer und Vorbild ist. Jeder liebte den andern mehr als sich selbst. Nietzsche nannte diese kurze Periode »die Zeit meines Rée-alismus«, und Rée war damals bereit, Jünger und Apostel Nietzsches zu werden. Nietzsche war von den beiden der zartere, aber aus kühlerem nordischen Stoff. Rée, warm und weich, war die primitivere, heißere Natur. Der eine hatte eine mädchenhaft sensitive, aber kalte, sehr ichbezügliche Seele, der andere eine mütterlich hingegebene, allzu »altruistische«. Reizbarer mithin war Rée, Nietzsche sowohl empfindsamer wie folgerichtiger. Herb und verschlossen beide.
Für einen flüchtigen Beobachter schien Nietzsche der nehmende und empfangende Teil zu sein; er nannte den männlicheren Rée seinen Führer. Aber diesem klang das wie Hohn, denn er fühlte genau (wenn er späterhin auch das nicht wahr haben wollte), daß der frauenhafte Freund doch dauerhafter und stärker sei. Er wußte im voraus, wie es denn auch später gekommen ist: »Die Saat wird herrlich aufgehn, der Säemann bald vergessen werden.«
Zwei ungleiche und doch verwandte Naturen wollten zusammenklingen. Aber ein finsterer Dämon stand zwischen ihnen und türmte den Damm, der sie schließlich trennte.
Immer schwang um Rée ein unausgesprochenes Geheimnis. Irgendein Gefühl war in ihm eingeklemmt und nicht auflösbar, weder durch die Mittel der Weltverachtung noch durch lächelnden Humor.
Er war Jude. Aber zweifelhaft ist, ob Friedrich Nietzsche das gewußt hat. Denn Rée gehörte zu der wunderlichen in jenen vorzionistischen Jahren sehr verbreiteten Art junger Juden, die, völlig abgelöst von Überlieferung und Ritus, das Bewußtsein ihrer jüdischen Herkunft wie ein heimliches Gebrechen hüten, als sei das ein Zuchthäuslerzeichen oder ein sie entstellendes Muttermal. Und doch fühlen sie andrerseits zu vornehm, um einen Makel an Juden und Judentum zu ertragen, ohne sich selber mit einzubeziehen.
Dieser wohlgeratene junge Forscher scheute an diesem Punkte jede Aussprache. Er wurde beunruhigt, sobald das Gespräch an seine wunde Hautstelle rührte. Nur ein einziges Mal hat er den Panzer des Schweigens zerbrochen, als er zu einem geliebten Mädchen von seiner Abkunft sprach, und der Ausbruch seiner Klage über den Fehl seiner Geburt war so erschütternd und zugleich so unbegreiflich, daß nach mehr als einem Menschenalter die solcher Preisgabe Gewürdigte sagte, sie habe in einen Abgrund geblickt, dessengleichen sie nicht wiedersah. –
Die geheime Selbstquälerei ist nun aber die Wurzel jenes durch Paul Rée angeregten, auf dem Umwege über die gewaltigen Wirkungen Nietzsches zum Bestande der Bildung Europas gewordenen »Psychologismus«. Bevor wir die persönliche Leidensgeschichte Paul Rées betrachten und ihren Fortschritt bis zur heillosen Verstarrung verfolgen, müssen wir uns klar werden über den Zusammenhang der modernen Psychoanalytik mit dem jüdischen Selbsthaß.
Es liegt mir fern, zu behaupten, daß die heute herrschende Art von Seelenchemie ausschließlich das Werk jüdischer Intelligenzen sei. Wenn wir aber bemerken, daß die von Paul Rée angeregte sogenannte »psychoanalytische Methode« auf Umwegen über die Formeln Nietzsches, welche heute zum Bestande der allgemeinen Bildung geworden sind, zuletzt eingemündet ist in gewisse jüdische Begabungen, und wenn wir bemerken, daß in den Schulen von Sigmund Freud und Alfred Adler und anderen Psychoanalytikern diese psychoanalytische Richtung zuletzt zur literarischen Mode wurde (wobei die führenden Köpfe vielleicht ihrer Abhängigkeit von Nietzsche gar nicht bewußt geworden sind, so wenig wie sie je gewußt zu haben scheinen, daß die Schule Herbarts und später die von Theodor Lipps den gesamten Begriffsapparat der heutigen Psychoanalyse schon längst besessen hatte), wenn wir des Ferneren wahrnehmen, daß die Psychoanalyse ihren Nährboden fand in bestimmten Kreisen des westeuropäischen gebildeten Judentums, so werden wir diesen Zusammenhang doch nicht für zufällig halten. Wir können an dieser Stelle nur eben andeutend auf den Zusammenhang ein Licht fallen lassen … 8
8) Die ausführliche Kritik der logischen und psychologischen Vorurteile der sog. Psychoanalyse und Individualpsychologie findet der Leser in »Europa und Asien«, 5. Auflage, Kapitel 8 und 9.
Der Baum blüht. Die Blume verströmt Düfte. Der Vogel singt. Der Mensch liebt, dichtet, phantasiert, betet. Wollte man die Natur befragen: Warum dies alles geschehe, so würde die Antwort der Natur immer nur lauten: Es geschieht aus der Überfülle des sich erfüllenden, sich hinschenkenden, sich fortzeugenden, schönen, starken, reichen Lebens.
Ganz anders aber lautet die Antwort von seiten des deutenden Geistes, insofern Menschengeist, wollend oder denkend, wertend oder urteilend, immer linear und intentional gerichtetes Leben ist. Dieses ziel- und zweckgerichtete Leben kann aber auf die Frage nach dem Warum? immer nur antworten an Hand der Kategorie »Kausalität«, deren vitales Korrelat nichts anderes ist als der Widerspruch, die Stauung, die Not und der zu entwirkende Notstand.
»Erklärt« ist für uns ein Phänomen dann, wenn wir seine Notwendigkeit begriffen haben. Diejenige Menschenschicht aber, welche wissenschaftlich arbeitet, praktisch und nutzbar, gibt sich nur selten Rechenschaft darüber, daß das Zurückführen der Phänomene auf Notstandsreihen eben zur Natur alles praktisch und faktisch eingestellten Erklärens gehört. Und so glauben philosophierende Dilettanten naiv immer wieder, etwas Wesentliches, etwas Neues gefunden zu haben und zu lehren, wenn sie Phänomene wie Schönheit, Liebe, Traum, Religion, Überschwang, Ekstase, Genialität, Phantasie, Bildschau und schließlich gar das Lebendige überhaupt »zurückführen« auf irgendeine Sorte von Notstand und Entwirken von Stauungen und Störungen.
Der Baum blüht … »Aus Angst vor dem Verdursten und zum Zwecke der Nahrungsaufnahme.«
Die Blume duftet … »Um Insekten heranzulocken und zum Zwecke der Pollenbestäubung.«
Der Vogel singt … »Um einen Brunstzustand abzureagieren und ein Weibchen zu locken.«
Die Menschenseele betet, liebt, glaubt, träumt, bildet …. »Aus irgendeiner banal verständlichen Sorte von »Verdrängung«, »Kompensation«, »Überkompensation«, »Sublimierung«, »Ausgleichsbedürfnis«, »Notstandsreaktion«.« –
Wo immer das eigentliche Wunder des Lebens und seine Erfahrung mangeln (unter »Erfahrung des Lebens« verstehe ich freilich nicht das, was vielbeschäftigte Rechtsanwälte und Nervenärzte ihre »Lebenserfahrung« nennen), da wird die Notstandsforschung einer teleologischen Denkart zur verräterischen Symptomatik der biotisch bereits niedergehenden und sich selber zweifelhaft gewordenen Rasse.
Wo ein Volk blüht, wo die Natur schöpferisch sich erfüllt und sich nicht im Geiste gegen sich selber kehrt (denn hinter jeder Psychoanalytik liegt die schwer aufzugrabende Wurzel des moralischen »Selbstverachtens«), da ist das Wunder – das Natürliche.
Träumen, Glauben, Eros, Musik, Schönheit, Ekstatik, Genialität sind weder fragwürdig, noch ableitbar, noch problematisch. Sie sind wie alles Schöne, mit einem Worte Indiens gesprochen, »das Wollustwesen des Lebens selbst« (ânandamâya âtman). Sie gehören durchaus nicht wie das Ethische oder wie das Logische in die Reihe der Werte. Schönheit ist Ausdruck lebendigen Wohlgelingens. Entschwert, schwerelos, selig in sich, in sich selber froh.
Wo nun aber die Naturverbundenheit locker, die Substanz schwach, das Lebensgefühl in sich selber abgedrängt wird, da gewinnen alle Wunder des Lebens den Charakter des Ableitbaren und Erklärungsbedürftigen. Eros, Glaube, Genie erscheint nun nicht unmittelbar als ein selbstverständliches, sich erfüllendes, freies Leben, sondern als der Notausgang einer bedrohten oder bedrohlichen Situation. Also als ein Ziel-, Handels- und Erfolgsphänomen. Jetzt übermächtigen die unphilosophischen Köpfe die Philosophie: praktische Ärzte, Pädagogen, Pragmatiker, Seelsorger, alle, welche kausalgenetisch eingestellt sind auf das Machen, Verbessern, Zustandebringen. Ja, jetzt können Amerikanismen des Denkens aufkommen, wie die als »Individualpsychologie« bezeichnete moderne Seelenführung, deren ganze Weisheit und Interesse an Weisheit doch zuletzt hinauskommt auf die eine Frage: »Wie habe ich Erfolg?« Es ist die im Kerne unfruchtbare, entlebendigte und vernüchterte Seele, die in diesem Erklärertume schwelgt und nun die freilich völlig unbestreitbare Nützlichkeit und Verwendbarkeit ihrer übrigens erlernbaren Methode gewürdigt sehen will als Beweis für die Wahrheit und Richtigkeit aller Notstandserkenntnis.
Wenn der Leser jemals über eine »Psychoanalyse der Psychoanalyse« nachdenkt, so muß er auf folgenden merkwürdigen Tatbestand stoßen. Daß eine analytische Psychologistik möglich wird, das ist selber ein »Problem der Seelenkunde«. Gehen wir aber diesem Probleme nach, dann finden wir, daß wo die Lebenskraft einer Rasse erschöpft ist, Religion sich immer umwandelt in Ethik. Daß mythisches Schöpfertum sich immer umwandelt in Theologie. Daß kosmischer Eros sich immer umwandelt in »libido«. Und daß eine ungeheure Verödung der lebendigen Seele sich kundtut in freigeistigen Theoremen, welche Mythos und Eros und alle außermenschlichen und außerwachen Wirklichkeiten »zurückführen« auf die eine menschliche Not und Notwendigkeit, welche für unser zweckerfülltes Wachen und Handeln freilich ausschließlich treibend und aufschlußreich ist.
Eine Seelenkunde also, deren Kernpunkt es ist: jede positive Bewährung des Lebens aus einem »wunden Fleck« begreiflich zu machen oder umgekehrt in jedem wunden Fleck den Ausgangs- und Quellpunkt für Ausgleiche oder Überbauungen zu studieren, eine solche Psychologie deutet hin auf ein selber verwundetes oder doch verwundbar gewordenes Menschentum. Auf die Pathognomik der vital geschwächten, an sich selber irre gewordenen Volkheit. –
Warum denn nun aber, so könnte man fragen, ist eine solche Psychologik zur herrschenden Mode eines Zeitalters geworden? Wie kann höchste Begeisterung erwecken, was doch als Symptom absinkender Schöpferkraft zu betrachten wäre. Die Antwort läßt uns einen tiefen Blick tun in die Psychologie des jüdischen Selbsthasses.
Es gibt kein Überlegenheitsgefühl, das auch den nüchternsten Menschen in jeder Lebenslage so beruhigt, es gibt keine Sicherheit, die so stark uns macht wie das Wissen: » Wie es gemacht wird!«
Das Wissen, aus welchem Miste die Rose gewachsen ist und ihres Wachstums Kräfte bezieht, das Wissen, dank Anwendung welchen Mistes wir Rosen züchten können, tröstet uns billig über das Bewußtsein hinweg, daß wir selber weit minder schön als eine Rose blühen und uns erfüllen müssen. Eine bis zum Frevel wachsam wissende Zeitgenossenschaft sitzt vor den Wundern des Zauberspiels mit der Ueberlegenheit eingeweihter Auguren. Sie können zwar nicht selber das Schauspiel aufführen, aber sie lächeln einander zu bei jedem Mirakel, das die Einfalt verdutzt und zu Beifall hinreißt. »Kunststück! Wir waren ja hinter den Kulissen! Wir kennen die Tricks! Wir haben auch für dieses Wunder das richtige griechisch-lateinische Kennerwort. Ja, wir wissen, wie's gemacht ist und wundern uns nicht.« So preisen sich die Abbauer der Ehrfurcht. Aber was sie nicht wissen ist dies:
Alle die Klugen sind ungeheuer verdummt! Sie halten den gelben Fleck in ihrem Auge für die Quelle der Sehkraft. Sie erklären die Flut des Lebens aus Restbeständen, die diese Flut in dürren Seelen zurückläßt. Wenn das Wasser verkocht ist, dann hinterläßt es starre Kalksteine. Diese zurückgelassenen Steine erforschen sie. Und sie erläutern diesen ihnen einzig bekannten Lebensniederschlag als den Hervortreiber, als die Motorkraft für alle großen Lebensereignisse. Für sie ist nicht etwa das bißchen armseliger »Sexus« letzter Rest aus religiösem, metaphysischem Urschoß, nein umgekehrt: Religion und Metaphysik sind »Sublimierungen« von – Kesselstein. Das versteht das Publikum; das kann jeder bestätigen.
Wir wollen nunmehr im Schicksale Paul Rées den Vorgang studieren, den wir bereits als »Vorgang der Vergletscherung« bezeichnet haben. Es ist das selbe Schicksal, dem das westeuropäische Judentum zu verfallen droht.
Wir wollen das Ende betrachten einer analytisch-genetischen Seelenwissenschaft, die die Hintergründe weiß, aber nicht mehr träumt, nicht mehr an Magie und Götter glaubt und das große Siechtum lebenzeugender Wonne »kompensiert« sieht durch den ungeheuren Fortschritt der klügsten Rasse der Erde, als welche eine geistige Ersatzwelt schafft an Stelle der biblischen Wunder: die Wissenschaft, die verödende; die Willenschaft, die verengende. Denn jeder Fortschritt an menschlicher Erdbeherrschung und Technik bringt ein natürliches Wirkteil und Wunder zum Verschwinden. –
So verflackert das herrlichste Volk, für welches die unaufhörliche Begleitvorstellung »Ich bin Jude« nicht sein beseligendes Glücksschicksal, sondern sein treibender Stachel und schließlich gar seine lebenmindernde Zwangsvorstellung geworden ist.
Wir wollen diesen Vorgang kennenlernen am Falle Paul Rée. Wir wissen freilich wenig von dem persönlichen Verlauf des vereisenden Prozesses, denn der Kranke versuchte eine Gefühlsballung zu überwinden, wie ein Organismus einen Fremdkörper überwindet, indem er ihn verkapselt und verhärtet und dann als tote Insel liegen läßt inmitten gesunden Gewebes.
Nachdem sie im August 1876 die Festspiele in Bayreuth gemeinsam besucht hatten, machte sich bei Nietzsche, der seit 1871 erkrankt war, ein wachsendes Augenübel bemerkbar. Die Ärzte in Basel rieten zu einjährigem Urlaub und Aufenthalt im Süden. Man beschloß, den Winter 1876 gemeinsam in Sorrent zu verleben. Ein junger Schüler Nietzsches, der an Schwindsucht litt, schloß sich ihnen an. Malvida v. Meysenbug, die mütterliche Freundin, übernahm in der Villa Rubinacci die hausfrauliche Fürsorge. Richard Wagner und Frau Cosima – damals dem »Parsifal« zugewendet – beschlossen ebenfalls die Geburtsstadt Tassos aufzusuchen.
Da für Nietzsches kranke Augen eine Hilfe zum Abschreiben und Diktieren nötig war, so nahm man ein gutempfohlenes junges Mädchen mit, Tochter eines russischen Generals. Diese junge Lou Salomé sollte für Nietzsche Abschriften anfertigen, aber wurde ohne Schuld der Keil, der den schönen Bund vorzeitig auseinandertrieb …
Sie bummelten durch die alten Straßen Neapels, fuhren nach Capri hinüber und sahen an schönen Sommerabenden die Burschen und Mädchen von Sorrent die Tarantella tanzen. Aber zwischen sie, die ein gemeinsames Werk zu fördern hofften, war ein Fremdes getreten. Beide warben um das junge Mädchen, indem jeder sie in sein Gedankenreich einführte und waren doch noch nicht klar, daß sie schon im Quellpunkte des Lebens zu Nebenbuhlern geworden waren …
Rée liebte und wurde wiedergeliebt, aber in der ihn erschreckenden Stunde, als der Freund von dem Wunsche sprach, sich an dem Kinde die Lebensgefährtin zu erziehen, da wußte Rée sogleich, welches Opfer er stumm zu bringen habe. Er wandelte sich in den Fürsprecher Nietzsches und wurde, wenn auch in Selbstqual, zu Nietzsches Freiwerber.
»Die Gefährtin Friedrich Nietzsches zu werden«, so redete er zu der Siebzehnjährigen, »das ist mehr als zu einem Königsthrone berufen sein.« Aber ihre Antwort lautete: »Er ist mir der Ehrwürdigste, aber als Mann kann ich ihn nicht lieben.«
Für ein brutaleres Selbstbewußtsein wäre somit der Weg frei gewesen, aber für Paul Rée war er nun erst völlig gesperrt. Hätte er seinen eigenen Gefühlen nachgegeben, die in hundert rührenden Bewährungen sich kundtaten, so wäre es ihm als Verrat an der Freundschaft erschienen, so als wenn er auf des Freundes Niederlage sein eigenes Glück hätte gründen mögen. Wo aber solche Knotung und Wirrung zwischen Menschen auf einsamer Insel erst einmal Platz greift, da gibt es keine Lösung als Trennung und Flucht.
Die Gefühlslage war unerträglich. Grade darum, weil Rée sich stolz bezwang und zurückhielt, wurde Nietzsche abweisend und kalt. Wohl gab es noch freie beschwingte Stunden, in denen die zwei Philosophen über alle menschliche Leiden und Leidenschaften sich hinausschwangen in das Feld des Geistes, das sie zusammen bebauten.
Nicht daß männliche Eifersucht im gemeinen Sinn zwischen sie getreten wäre. Aber verletzlicher Stolz bis zu eisig frostigem Hochmut lag in Nietzsches Werk und Wesen. Jedes harmlose Beisammen der andern, jedes Verstummen und Befangenwerden in seiner Gegenwart, jedes fröhliche Lachen, an dem er, der Kranke nicht Anteil hatte, wurde von dem schwer Leidenden leicht mißdeutet, als obläge ihm die Wahrung seiner Würde, die das einzige Mal, wo er an eine Werbung dachte, das einzige Mal, wo er als Mann zum Weibe sich gezogen fühlte, an ihrem empfindsamsten Punkt verletzt ward.
Denn wo der Mann seiner Männlichkeit nicht gewiß ist, beginnt er zu männern, und wo wir allzu menschlich sind, werden wir unmenschlich. Rée fühlte das und fühlte trotzdem seine Unterlegenheit vor Nietzsches strenger und züchtiger Haltung. Hätten sie sich erschließen können, so wäre das lächerliche Spiel nicht zur Tragödie entartet, sondern in befreiendem Lachen aufgelöst. Aber sie verhärteten sich und gerieten in einen Strudel von Empfindlichkeiten, so daß in grauen Stunden der eine argwöhnte, der andere lache oder triumphiere über ihn und der andere wiederum beleidigt grollte, daß sein Opferwille und seine Freundschaft so verkannt worden seien.
Rée war der erste, der die Unlösbarkeit der Verknotung einsah. Er riß sich los, reiste ab und vermied jede weitere Erklärung. Die wechselseitige Beziehung war dadurch gerettet, aber sie mußte fortan sachlich und förmlich werden. Man wechselte noch freundschaftliche Briefe, bis die jungen Träume verblaßten und jeder sich wieder einsam fand; da verstummte auch der briefliche Austausch.
Sie hatten während des italienischen Winters 1875/76 oft über Naturwissenschaft gesprochen. Sie träumten beide von einer erdzugewandten biologischen Ethik, die eine wohlgeborgene und wohlgeborene neue Gattung Übermensch erzüchten werde. Heute (1930), nach einem Menschenalter, läßt es sich leicht überblicken, was Friedrich Nietzsche bis hin zu »Also sprach Zarathustra« der Begegnung mit Rée zu danken hatte. Außer manchen Wortwendungen und Einzelformulierungen die endgültig entscheidende Optik. Das unromantische Hinwenden auf die Lebenstriebmächte hinter dem Geist und dem geistigen Jenseits des Menschen. Es gibt heute nichts an Psychologie und Psychoanalyse, das nicht seine Urquelle hätte in jenen Gesprächen, die damals Rée und Nietzsche miteinander geführt haben. Nicht ein einziger Gedanke ist hinzugekommen.
Aber nicht diese Wendung zum Psychologischen entschied. Entscheidend wurde Nietzsches Mut zur Diktatur neuer Zukunftswerte.
Es ist mir zweifelhaft, ob Nietzsche jemals neugestaltend bis zur Umwertung aller Werte fortgeschritten wäre, wenn ihm nie Rée begegnet wäre. Der Kern von Rées Lehre, der ihn bewahrte vor dem Absturz auf das unfruchtbare Feld bloßer Seelenchemie, war die Überzeugung vom Setzungscharakter aller Schätzungen und der Zweifel an ein Naturrecht und ein von Natur Sittliches.
Dies nun war der eigentliche Keim, der auf Nietzsche weitererbte. An diesem Endchen Seil hielt Nietzsche sich künftig, und an ihm erklomm er den Gletscher, den Rée zwar sah, aber nie überwand.
Sie hatten in ihren guten Tagen von gemeinsamen Flügen geträumt. Sie wollten wieder Studenten werden, wieder von vorn beginnen, zehn Jahre lang in München oder Berlin Naturforscher sein. Die wachsende Krankheit Nietzsches machte all solchen Plänen den Garaus. Sie trieb ihn bald in Verbannung und Einsamkeit. Rée, der scheinbar Glücklichere, machte die Studienpläne zu Wirklichkeit.
Es scheint, daß bald nach der Trennung von Nietzsche, etwa um das Jahr 1880, Rée den Versuch gemacht hat, sich in Berlin oder Jena für Philosophie zu habilitieren. Die Einblicke, die er bei dieser Gelegenheit in den akademischen Betrieb der Philosophie gewann, scheinen ihm dieses zweifelhafte Studium völlig verleidet zu haben. Er lebte in verschiedenen kleinen Universitäten, fortan mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigt. In den Jahren 1875 bis 1885 entfaltete er eine bescheidene literarische Produktivität. Nach dieser Zeit hat er nichts mehr veröffentlicht, hat sich vielmehr bemüht, alles, was er je hatte drucken lassen, aufzukaufen und zu vernichten. Während Nietzsches gewaltige Werke erschienen, in dem Jahrzehnt von 1880 bis 1890, studierte Rée unaufhörlich, und je mehr er lernte, um so schweigsamer wurde er. In seinem 37. Lebensjahre entschloß er sich, von der Naturwissenschaft zur praktischen Medizin überzugehen. Im Jahre 1890 hatte er endlich in Berlin und München alle drei medizinischen Examina bestanden. In diesem Jahre übernahm sein älterer Bruder, den er sehr liebte, das vom Vater ererbte große Schloßgut Stibbe in Westpreußen. Rée entschloß sich, als Arzt nach Stibbe zu gehen. Er hat zehn Jahre lang in der westpreußischen Landeinsamkeit als Arzt gewirkt, von den Bauern als ein Heiliger verehrt. Er führte ein mönchisch strenges Leben, äußerst bescheiden in allen Bedürfnissen und rastlos hilfsbereit und gütig. Er soll in diesem ganzen Jahrzehnt den Umkreis des Gutsbezirks nicht verlassen haben, und Nacht für Nacht brannte im Herrenhaus seine Arbeitslampe. Im Jahre 1900 aber wurde Stibbe verkauft, und der Bruder zog nach Berlin. Da Rée sich nicht entschließen konnte, die geliebte Einsamkeit aufzugeben, so beschloß er, sich im Engadin, das er sehr liebte, dauernd niederzulassen. Er wählte dazu Celerina, ein Bergdorf nahe Sankt Moritz. Um die selbe Zeit, wo Rée ins Engadin zog, im August 1900, erlosch endlich Friedrich Nietzsches Nacht des Irrsinns in die Nacht des Todes.
Paul Rée lebte streng und hart in der weltfernen Landschaft Zarathustras. Er verschenkte sich an die Bergbauern, und die Bergbauern vergötterten ihn. Aber er muß sich unter ihnen wie ein Fremdling aus einer anderen Welt gefühlt haben. Er hatte kein Bedürfnis mehr, Menschen seiner Gesellschaftsschicht um sich zu sehen, keinen Wunsch und Ehrgeiz mehr, auf dem Kulturmarkte mitzuwirken und mitzugehen. Auch von seinen früheren Schriften wollte er nichts mehr wissen. Dem kurzen Manuskript, das in seinem Nachlaß vorgefunden wurde, hat er einen einzigen Satz als Vorrede vorangestellt: »Meine früheren Schriften sind unreife Jugendwerke.« –
Wenn ein Mensch in die Einsamkeit geht, dann bleiben bei ihm die Genien seines Volks, seine Bücher, seine Sprache, die Bilder und Plastiken seiner Künstler, die Musik seiner Tonschöpfer, das Lied seiner Sänger, die großen Männer und Frauen seiner Geschichte und alle seine geliebten Toten.
Aber zum Juden kommen nur Genien, die seine Seele nicht kennt, und kämen seine Urväter, verstünde er sie? Da flüchtet der Vereinzelte wohl in den falschen Hochmut eines Rekords und in die Wettläufe des sozialen Geltungswillens. Gelingt die Flucht, dann frißt ihn die Gesellschaft, gelingt sie nicht, dann frißt er sich selbst.
Paul Rée starb an sich selbst.
Nur eine frohe Gemeinschaft kann dem großen Menschen Heimat und Nestwärme geben, weil sie ihn liebt und ihm vertraut und gern ihn emporträgt als einen schönen Ausdruck ihrer aller Gemeinschaftsseele.
Wo aber kein Volk ist, sondern nur eine anarchische Gesellschaft aus unverfestigten Einzelnen mit gemeinsamer antiquarischer Erinnerung und gemeinsamen sozialen Zwecken, da wird niemals der größere und tiefere Mensch froh empfangen. Er wird beneidet. Denn jeder will den andern übertreffen. Man hat nie gesehen, daß unfreie Menschen einander lieben. Sie können sich vergesellen zu Tat oder Untat. Lieben können sie nicht.
In der Einsamkeit der Engadiner Berge stieg oft das Bild des andern vor ihm auf. Der war auch diese Wege gegangen. Dies war die südliche See, die ihn ins Namenlose lockte, dies der Horizont, der ihm Form und Grenze gab, dies der Mistral, der ihm von Freiheit sang. Der war hier auch einsam, schritt auch in den Untergang. Aber es war andere Einsamkeit und anderer Untergang. Der wurde neugeboren. In die Geschichte seines Volkes. Schon rankte um ihn Legende. Schon wuchs die Sage um seine Gestalt. Schon wob um ihn der Mythos. Was daran war noch menschlich?
Wen sein Volk, sein Zeitalter erkoren hat, der wird zum Gott. Und sei er als sterblicher Mensch klein gewesen oder krank, bös oder kalt, und sei er gewesen wie immer. Das Sterbliche eines Geschichtlichgewordenen ist gar nicht mehr nachprüfbar.
Aber der Jude? Der kann (es geschah einmal an Jesus und in matterer Wiederholung dann noch einmal an Spinoza), – der kann Repräsentant werden für den Geist, für das Allmenschliche, Unpersönliche, eine kalte Apotheose. Er kann zum Trotzki werden, nicht zum Lenin, nicht Blut und Erde der Heimat.
Jedesmal, wo dem deutschen Volke ein Genius erschien, Goethe oder Schopenhauer, Hebbel oder Wagner, Hölderlin oder Stefan George, da hatte er seine Leibschutzgarde bedeutender Juden, so wie nach Homer, immer wenn ein Held geboren wird, auch ein Sänger zur Welt kommt, der ihn verklärt. Juden haben stets als erste erkannt, geliebt und erhoben. Nie aber noch wurde ein Jude, und sei es der adeligsten einer, zum Genius fremder Volkheit. Daher der Schmerz und schrille Ton, die grelle Farbigkeit und der Witz, das übersteigerte Wort, das jugendlose Auge.
Sie alle wissen: Ich kann als Lichtträger zum Anreger und Wegweiser werden, kann Kanzler, Makler, Geschäftsführer deutscher Nation sein, kann auch Anschluß finden überall, wo das Zwischenvölkische, die Not der vielen und der Aufschrei der Verfemten und Beleidigten nach Sprache sucht. Aber Wesensbild des Volks, und wäre ich der Deutscheste, nein – nie werde ich ein einfach Liebender, einfach Geliebter. Denn ich wuchs nicht aus ihrem Schoß und wachse ihnen nicht ans Herz. Mein Los ist: zu dienen, zu belichten, zu säubern, zu wachen und mich hinzugeben an das Fremde. Den Ruhm erhält immer der andere. Der Bruder und Feind.
Paul Rée hatte den Versuch gemacht, der Freund des Großen zu werden. Das war sein Weg und seine Bestimmung. Anders konnte er sich nicht erfüllen. Aber seine Liebe war zurückgewiesen. Er war als unnötig kaltgestellt. Es ist begreiflich, daß der Einsame bitter ward.
Seine vornehme Selbstdisziplin hat verhindert, daß die Ausbrüche dieser Verbitterung je an die Öffentlichkeit gelangt sind. Er hat sich nie dazu herabgewürdigt, an Nietzsches Krone zu rütteln, obwohl zum Schmieden der Krone, mit der der andere gekrönt ward, sein Blut gebraucht worden war, gebraucht und dann vergessen.
Nur durch eine Indiskretion ist mehrere Jahre nach seinem Tode ein Brief bekannt geworden, welchen Rée an einen Gelehrten schrieb, der ein Buch über Nietzsches Philosophie veröffentlicht und es Rée gewidmet hatte. Rée urteilt in diesem Briefe nicht anders wie alle Freunde, alle Angehörigen Nietzsches damals geurteilt haben. Denn die Komödie des Ruhmes setzte ja erst ein, als die Geschichte vergessen und der Mythos geboren ward oder, besser gesagt, als der Mythos Geschichte geworden war. 1890 – möge das niemals vergessen werden – wurde Friedrich Nietzsche in der Klinik des Professors Binswanger in Jena (Assistenzarzt Theodor Ziehen) den Studenten als Demonstrationsexemplar der Paralyse vorgeführt. 1890 konnte noch der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn davon träumen, Nietzsche zu sich zu nehmen und zu betreuen. Zwischen 1890 und 1900 haben sich sämtliche Freunde Nietzsches – Overbeck, Deußen, Rohde, Burckhardt – allesamt in die uneinnehmbare Festung »Wissenschaft« zurückgezogen. Noch war die Formel immer die alte: Gewaltiger Stilist, überlegener Dichter, geniale Feder, aber nicht zurechnungsfähig für die Wissenschaft. Einer, der zu europäischer Sensation Gedanken aufbauschte, die von andern empfangen, von andern minder romantisch und mit strengerer Verantwortung zu Ende gedacht waren. Noch hatte der Umstrittene Freunde nötig, und Freunde hat erst, wer keinen mehr nötig hat. Paul Rée urteilte gar nicht anders als auch Nietzsches Nächste geurteilt haben. Schopenhauer (so lautete eines der bittersten Worte) war ein Scharlatan, aber schrieb wie ein Philosoph; Nietzsche war ein Philosoph, aber schrieb wie ein Scharlatan.
Aus den Gedanken, die sie gemeinsam durchblutet hatten, wuchsen in Nietzsches Einsamkeit die großen Phantasmen, die erregenden Prophetien und apokalyptische Gesichte eines neuen Geschlechts. In Rées Einsamkeit sind sie verkrüppelt zu Zwergholz. Zuletzt blieben übrig 211 Paragraphen, die die nüchterne Klarheit starker Urteilskraft zeigen und die trostlose Vergletscherung der entzauberten Seele.
Am 28. Oktober 1901 begab er sich auf die Wanderung ins Gebirge. Ein Arbeiter fand ihn zerschmettert am Fuße eines Gletschers.