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Drittes Kapitel. Die Empfindlichkeit des Ohres

 

»Macht dich der brausende Sturm beklommen?
Zweierlei Hoffnung bleibt dir im Braus,
Durch das Getöse hindurch zu kommen
Oder aus dem Getöse heraus.«

Rückert.

 

Eine endlose Schar von Blutzeugen wider den Lärm wandelt an uns vorüber: Alle geistigen Führer, alle die seelischen Repräsentanten des Menschengeschlechtes, die unter der ewigen Torturierung gelitten haben, deren Gehirn Tag um Tag ihres kurzen Lebens von dem ehernen Hammer zermürbt worden ist. – »Ich finde«, so sagt Schopenhauer in seiner Philippika wider Lärm und Geräusch, »Klagen über die Pein, welche denkenden Menschen der Lärm verursacht, in den Biographien oder sonstigen Berichten persönlicher Äusserungen fast aller grossen Schriftsteller, z. B. Kants, Göthes, Lichtenbergs, Jean Pauls, ja wenn solche bei irgend einem fehlen sollten, so ist es bloss, weil der Kontext nicht darauf geführt hat«. – Es gibt indessen zweifellos geistige Arbeiter, die vermöge aussergewöhnlicher Empfindlichkeit des Gehörs und abnormer Reizbarkeit für Geräusche mehr als irgendwelche andere Menschen unter dem Lärme zu leiden haben. Es sind dies fast immer Individuen von spezifisch akustisch-motorischem Typus, wie denn überhaupt bei vorwiegend geistig und abstrakt arbeitenden Menschen das Gehör in weit höherem Masse als das Auge in Anspruch genommen wird und für manche Leistungen und Fähigkeiten des Gesichtssinns vikariierend eintritt. Jeder kann durch Selbstbeobachtung herausfinden, ob er mehr dem akustischen oder dem visuellen Typus zuzurechnen sei, ob er z. B. vor dem Einschlafen vorwiegend von visuellen Bildern oder von Tönen und Wortvorstellungen erfüllt ist, ob in seiner Erinnerung an vergangene Erlebnisse mehr das Bild und die Physiognomik des Geschehnisses oder ein darangeknüpfter »Sinn« und abstraktes »Interesse« lebendig zu bleiben pflegt. In der Regel wird man bemerken, dass gesteigerte Empfindlichkeit für akustische Eindrücke die grössere Insichgekehrtheit des geistigen Erlebens zur Voraussetzung hat ...

* * *

Eine ungewöhnliche, ja krankhafte Reizbarkeit des Gehörssinnes, die man als eigentümliche »Lärmneurose« ansprechen könnte, zeigt das Leben Thomas Carlyles. Bei ihm spielte der Lärm eine tragikomische groteske Rolle. Dafür, dass Thomas Carlyle in seinen Schriften selber redlich gelärmt hat (obwohl er, wie Spencer erzählt, mit Vorliebe vom »heiligen Schweigen« zu – reden liebte), dafür ist er aufs härteste durch die subjektive Qual, die seine Lärmempfindlichkeit ihm bereitete, gestraft gewesen. Man kann beinahe sagen, dass die Tagebücher und Briefe von Jane Welsh Carlyle, (einer der genialsten englischen Frauen), von nichts und wieder nichts handeln als von der fortgesetzten Sorge, wie sie ihrem hypochondrischen Gatten ein Menschenalter lang besseren Schlaf bereiten und ruhige Arbeitsgelegenheiten schaffen musste. Die Frage, wie »Er« während der letzten Nacht geschlafen hatte, entschied über das Glück oder Unglück eines jeden ihrer Tage, ja jeder Stunde ihres armen Lebens. Und eine Bagatelle, ein Nichts, das Gackern eines Huhns, ein vorüberrollender Lastwagen, das ferne Ticken einer Uhr genügte, um Carlyles Nachtruhe zu vernichten. – Tyndall erzählt in seinen schönen Erinnerungen, von einer Reise, die er mit Carlyle gemacht hat. Als er eines Morgens in Carlyles Kammer trat, fand er ihn völlig verwandelt, strahlend, wie verklärt. Er wusste sich nicht genug zu tun in Dankbezeugungen für den guten Freund, dessen Fürsorge er acht Stunden festen Schlafes zu verdanken glaubte. Er wollte durchaus das Bett ankaufen und mit nach Schottland nehmen, in dem er so gut geschlafen hatte. Es ist halb rührend und ergreifend, halb aber komisch oder empörend zu lesen, welche Schliche und Kniffe die arme Jane anwenden musste, um diesem masslos launischen, ganz unausstehlichen Manne die nötige Stille zu verschaffen. Denn obwohl er in den besten Verhältnissen, verhätschelt und umsorgt in der tiefster Abgeschiedenheit in einem einsamen Hause zu Chelsea lebte, klagt er unaufhörlich über Mangel an Stille. Da werden die jungen Hähne und Hühner, die seine Morgenruhe stören, für schweres Geld aufgekauft; junge Damen durch zarte Aufmerksamkeiten veranlasst, während seines Aufenthaltes nicht auf dem Klaviere zu üben, denn bei dem ersten Tone gerät der grämliche Carlyle in Zorn und beginnt seine ständige Lamentei: »Bei diesem Lärm kann ich weder denken noch existieren.« Ein Hund, der sich herausnahm, Ideen, die den Preis menschlichen Heldentums und das Heil des englischen Volkes bezwecken, durch Geheul meuchlings im Keime zu töten, wird mit List fortgeschafft, nachdem sein Herr, ein benachbarter Schnapsbrenner durch einige Flaschen edlen Weines bestochen ist. Obwohl das Arbeitszimmer Carlyles doppelte Wände hat, zwischen denen eine den Schall dämpfende Torfschicht deponiert ist, scheint doch niemals die zur Arbeit und zum Schlafe notwendige Stille zu herrschen und bei jedem neuen Buche träumt der grosse Schriftsteller davon, es in einer Wüste oder auf einem Schiffe allein, einsam im Ozean schreiben zu dürfen. Es war eine bestimmte, gar nicht seltene Form von Autosuggestion, durch die Carlyle sein Leben sich verbitterte. Er schlief nur darum nicht, weil seine Aufmerksamkeit sich einseitig gewohnheitsmässig auf das Erdenken von Schlafstörungen eingestellt hatte. Er fühlt sich nicht zufrieden, wenn er keinen Grund sieht, unzufrieden zu sein. Das Schlimmste in solchen Fällen aber ist die suggestive Macht solcher ungewöhnlich energischen »moralischen Dyspeptiker«. Carlyles Einfluss auf andere fügte es, dass seine Form von Neurasthenie sich auf seine ganze Umgebung übertrug. Weil er nicht schlafen konnte, schlief sein ganzes Haus nicht, denn nichts kann man so leicht lernen oder verlernen als den Schlaf ... Einen Leidensgenossen von recht eigentümlicher Art hatte Carlyle an dem Mathematiker Babbage. Auch dieser litt an einer Idiosynkrasie gegen Lärm. Diese aber bezog sich auf eine ganz spezifische Lärmsorte, nämlich auf den Klang der in englischen Dörfern überaus häufigen Drehorgeln. Das Lied der Drehorgel machte Babbage weinerlich und arbeitsunfähig. Darum bestimmte er ein für allemal einen Teil seiner Einkünfte dazu, alle Orgeln, die sich irgendwo in seinem Reviere hören liessen, aufkaufen zu lassen. Dies wurde alsbald bekannt und veranlasste eine allgemeine Auswanderung der Orgelmänner zu dem Reviere, wo Babbage wohnte. Dort versuchten sie ihre alten verspielten Instrumente möglichst teuer abzusetzen ... Goethe berichtet, dass er in seiner Jugend sich die Empfindsamkeit gegen Lärm nicht durchgehen lassen wollte und dass er in Strassburg hinter der Trommel der Soldaten einherzog, um sein empfängliches Ohr für Geräusche langsam abzuhärten. Aber es hat ihm wenig genützt. Denn auch Goethe blieb sein Leben lang für jede Art Lärm und Geräusch sehr empfindlich. In dem ruhigen idyllischen Weimarländchen, unter den glücklichsten und würdigsten Lebensbedingungen, unter denen je ein Dichter in Deutschland schaffen durfte, hatte er gleichwohl noch beständig über Unruhe und Lärm zu klagen. Ja, in seinem Alter kaufte er ein in Verfall geratenes Haus neben dem seinigen, nur, um den Lärm bei seiner Ausbesserung nicht mit anhören zu müssen. – Wir finden fernerhin in der Biographie Byrons, Shelleys, Beethovens, Schillers, Mussets, Viktor Hugos, Zolas ausdrücklich erwähnt und durch eine Fülle von Einzelzügen bestätigt, dass sie für Geräusche empfänglich waren und unter Lärm sehr zu leiden hatten. In der Lebensbeschreibung Konrad Ferdinand Meyers erwähnt seine Schwester, dass er schon als Knabe eine übergrosse Empfindlichkeit gegen Geräusche geäussert habe. Einen fast schrullenhaften Zug berichtet auch Peter Hille aus seiner eigenen Jugendzeit. Er konnte Flintenschüsse und Pfiffe nicht ertragen und ging in kein Theater, weil er in Furcht war, unerwartete Schüsse oder Pfiffe hören zu müssen. – Einen halb tragischen, halb komischen Charakter hatte der Widerwille Heinrich Heines gegen Lärm. Er dokumentiert sich mit wahrem Galgenhumor, wenn der Dichter in seiner »Matratzengruft«, wo ihn tausend subtile Geräusche quälen, ein Testament aufsetzt, in dem er verfügt, er wolle auf dem Cimetière Montmartre, nicht aber auf dem näheren Père la Chaise begraben werden, »weil es dort ruhiger sei und er weniger gestört sein werde«. – Auch von Richard Wagner, der in seinen Briefen neben allen seinen andern Lamentos, auch über den Lärm und die Sorge um eine ruhige Wohnung beständig lamentiert, hören wir, dass er Glassplitter und Scherben unter seine Fenster streuen liess, um Kindergeschrei von seiner Wohnung fernzuhalten. Auch Fr. Th. Vischer war ein herrlicher Kämpfer wider den Lärm. Neben Schnupfen, Katarrh und Influenza, neben der Bosheit der Hemden- und Kragenknöpfe und der »Tücke der kleinen Objekte« hat ihn nichts so tief wie Lärm erbittert. Halb grimmig, halb lächelnd hat er gegen ihn angekämpft. Als im Sommer 1877 neben dem Stuttgarter Polytechnikum der Stadtgarten angelegt wurde, in dem während der Sommervorlesungen Vischers ein Promenadenkonzert stattfand, da schrieb er im »Neuen Tageblatt« geharnischte Aufsätze wider die Rücksichtslosigkeit seiner schwäbischen Mitbürger. In einem dieser Aufsätze heisst es folgendermassen: »Vor meinen Zuhörern werde ich so vieler Worte nicht bedürfen. Da brauche ich nicht erst zu beweisen, dass die Wissenschaft Stille bedarf, dass, wer sie vorträgt, nicht mit Pauken und Trompeten um die Wette schreien kann; da ist keine Besorgnis, auf die Missachtung der Wissenschaft zu stossen, die in dieser Sache als eine traurige Erscheinung in unserer Hauptstadt mehrfach hervorgetreten ist. ... Es wäre auch noch ein Wort von Belästigung vieler Umwohner durch die laute, lang dauernde Musik zu sagen; da gibt es auch ausser Lehranstalten immer solche, die jetzt keine Musik hören wollen, weil sie zu anderen Dingen Sammlung bedürfen, gibt es Kranke, kommt es vor, dass Tieftrauernde ein Sterbebett umstehen, denen die stürmische Aufforderung zur Freude wie Hohn erscheint. Gerade der Freund der Musik muss wünschen, dass sie nicht aufdringlich sei, nicht da sich aufwerfe und lange Stunden hindurch breit mache, wo sie zwar einige belustigt, aber andere belästigt.« – Ein andermal beklagt sich Vischer in einem Brief über einen heulenden Hund mit folgenden Worten: »Meine Arbeit verlangt strenge Sammlung des Geistes und diese ist rein unmöglich, während man solche Jammerlaute eines Tieres mit anhören muss. Unter allen störenden Geräuschen ist es gerade dieses, welches in eigentümlicher Art die Aufmerksamkeit dessen, der sich geistig beschäftigen muss, von seiner Arbeit ablenkt. An den Lärm, der mit manchem Handwerk verbunden ist, kann man sich gewöhnen, denn da mengt sich kein Mitleid ein, diese Geräusche schneiden nur ins Ohr, nicht in die Seele. Wer nur einmal versucht hat, während eines nahen Hundegeheuls zu studieren, der weiss aus Erfahrung, dass man auch in den Pausen, in denen das arme Tier schweigt, zu keiner geistigen Sammlung gelangen kann, weil man immer acht geben muss, wenn er wieder beginnt.« Ich verdanke die angeführten Briefstellen der Güte Robert Vischers in Göttingen. – Eine der merkwürdigsten Äusserungen aber speziell über das Geräusch der Musik findet sich bei Kant. Sie lautet folgendermassen: »Es hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt auf die Nachbarschaft, ausbreitet und so sich gleichsam aufdrängt, mithin der Freiheit anderer ausser der musikalischen Gesellschaft Abbruch tut, welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen und nötigt sie, wenn sie atmen wollen, zugleich zu geniessen, daher es auch aus der Mode gekommen ist.« – Endlich kann ich mir nicht versagen, ein paar Sätze eines ausgezeichneten Pathologen, Georg Strickers, hierher zu setzen: »Man gibt sich in der Schule so viele Mühe, die Augen zu schonen, warum vernachlässigt man die Ohren der Jugend? Die Lage der meisten Schulgebäude gestattet es, dass das Getöse der Strasse quälend und zerstreuend zu den Ohren der Schüler dringt. Was für Störungen und überflüssige Anstrengungen beim Denken, beim Lernen, beim Lesen durch Lärm und Geräusche aller Art hervorgerufen werden, weiss jeder, der nicht ganz ohne Hingebung und Ernst bei seiner Arbeit ist. Allerdings gibt es Leute, die im grössten Lärm, wie sie behaupten, geistig arbeiten können. Es ist eben ihre Arbeit und ihr Geist danach. Je feiner ein Gehirn gebildet ist, desto gröblicher wird es von zwecklosen Gehörseindrücken in seiner Tätigkeit gestört. ... Die Erholung, welche der Städter immer und immer wieder im Gebirge, auf dem Lande, am Meere sucht, ist wesentlich eine Erholung seiner vom Ohr aus erschöpften Nerven. Was dieser Lärm bedeutet, merkt er meistens erst, wenn er ihm eine Zeitlang entrückt war. Dann begreift er kaum, wie er sich wieder gewöhnen soll an das Gerassel der Bäckerkarren und Fleischerwagen, welche in der Frühe um die Wette toben, an das Gepolter und Geläute der Lastwagen, der Pferdebahnen, der elektrischen Bahnen, welche ihnen bald folgen, an das Getöse der Strassenreinigungsmaschine, die in tiefer Nacht die anderen Lärmmaschinen ablöst und donnernd das Haus des müden Bürgers umkreist, an all die anderen fürchterlichen Töne, mit welchen die Stadtbahn, der Güterbahnhof, nachbarliche Akkumulatoren usw. ruhelos zu allen Stunden der Nacht das Wort des Dichters verhöhnen: »Ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse.« Freilich gewöhnt man sich wieder daran, wie man sich an Gift gewöhnt, das heimlich die Gesundheit untergräbt und nicht mehr für ein Gift gehalten wird, bis der plötzliche Zusammenbruch der Kräfte es schrecklich lehrt. Für einen gesunden, nervenstarken Erwachsenen mögen ein paar Ferienwochen alljährlich genügen, die schädlichen Wirkungen des Stadtgetöses auszugleichen. An einem Kinde, das seit den ersten Tagen der zartesten Jugend in Wochen und im Schlafe von der »erfreulichen Stimme der Kultur« verfolgt wird, gehen die Wirkungen nicht schadlos vorüber. Die grössere Häufigkeit der Gehirnentzündungen, der schwerere Verlauf der Fieberkrankheiten in den Städten ist nur eine auffallendere, nicht die schwerste und allgemeinste Wirkung des Stadtlärmes.«

 

2.

Wenngleich man sich vorzustellen vermag, dass ein Lebewesen auch mit anderen als den uns bekannten Sinnesorganen sich eine »Welt« aufbauen und lebend in ihr orientieren könne und dass somit nur »Zufall« ist, wenn wir uns mit Auge und Ohr und nicht durch irgendwelche andere unfassliche, uns unbekannte Sinne verständigen, so obwaltet doch in Entwickelung, Höhersteigerung und gegenseitigem Verhältnis der gegebenen Sinne die sicherste Notwendigkeit. Es scheint mir hierbei ausser Frage zu sein, dass die Verfeinerung des menschlichen Gehörs einer komplizierten, entwickelungsgeschichtlich späteren Stufe zukommt, als selbst die differenzierteste Empfänglichkeit für Phänomene des Lichtes und der Farbe. Die »Welt« des Ohrs ist die reichste und subtilste! Die Erlebnisse des Ohrs sind zarter, mannigfaltiger und intensiver als alles, was durch das Auge erlebt werden kann. – Hiermit aber hängt auch der Umstand zusammen, dass das Gesicht ein weit trägerer, jüngerer und weniger eingeschliffener Sinn, als das Gehör ist und dass Reaktionen auf Schallreize schneller und prompter, als Reaktionen auf Licht- und Farbenreize zu erfolgen pflegen. Es besteht die merkwürdige Relation, dass je subtiler und je reicher gegliedert eine Klasse von Empfindungen zu sein pflegt, um so stärker auch die »Empfindlichkeit« für eben dieses Bereich von Empfindungen sich entwickeln muss. Dies nämlich ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass sich eine noch weitere faktische Differenzierung der betreffenden Empfindungssphäre an uns vollziehen kann. Hieraus aber folgt, dass auf jedem Sinnesgebiete die Empfänglichkeit für quantitative Steigerung der Reize zugleich mit der Fähigkeit der Wahrnehmung für neue qualitative Unterschiede anwachsen muss ...

* * *

Es ist eine praktisch oft erprobte Erfahrung, dass das selbe Individuum für die feinsten Unterschiede eines Sinnesgebiets zwar »empfindlich« ist, dennoch aber der gröbsten Anstösse bedarf, um diese feinsten objektiven Unterschiede zu bemerken. – Daher kann ohne Widerspruch geschehen, dass die feinste psychische »Reizbarkeit« mit der schlimmsten objektiven Vergröberung der Reize, dass z. B. der zarteste Farbensinn mit dem rohesten Farbenmissbrauch, oder das feinste Gehör mit dem schrecklichsten Gelärme zusammengeht und sich gar wohl verträgt. – Gleichwie ein Gourmet, der nur noch in den seltensten Anreizen der Zunge einen neuen Genuss findet, sich schliesslich gerade zu den allerprimitivsten Genüssen bekehrt, so geht auch im Gebiete höherer Sinnlichkeit, Verinnerlichung des Empfindens und Roheit der faktischen Empfindungsausdrücke sehr oft zusammen. Wenn ich ein Beispiel aus einer nur scheinbar entlegenen Sphäre heranziehen darf, so möchte ich auf die Entwickelung unseres Theaterwesens hinweisen. Roheit und Feinheit, wüster Sensations- und Kolportagestil einerseits und fast krankhaft geistige Finesse andererseits sehen wir auf unsern Theatern immer gemeinsam auftauchen. Es erscheint gerade so, als wenn unsere Nervensysteme zugleich stumpf und hypererethisch geworden seien. Sie sind zwar empfänglich für die leisesten Anreize, und leiseste Anstösse genügen schon, um starke Wirkungen auszulösen, aber sie bedürfen zugleich starker »Anlässe«, damit diese überfeinerte Wahrnehmungs fähigkeit de facto in Kraft trete ...

* * *

Dieser subtile Zusammenhang kehrt nun auch in der Geschichte des Lärmes wieder. Wir sind zugleich entsetzlich laut und entsetzlich musikalisch geworden. – Wenn (nach Schopenhauers Angabe) Thomas Hood von den Deutschen sagte for a musical people, they are the most noisy I ever met with, so steht wohl eine ganz unrichtige Beobachtung dahinter. Denn Stumpfheit gegen Lärm und Empfänglichkeit für Musik, grosse Lärmhaftigkeit des Volkslebens und qualitative Verfeinerung des Gehörs bilden durchaus keinen konträren Gegensatz. Vielleicht sind die feinsten musikalischen Ohren in Stadtvierteln zu Hause, vor deren Getöse ein unmusikalischer Kannibale die Flucht ergreifen würde. Der »Naturmensch«, der ein weit undisziplinierteres und gröberes Gehör besitzt, ist zugleich für Gehörseindrücke aufmerksamer und bewusster als der Kulturmensch. Umgekehrt scheint das selbe Individuum zu einer extremen Lautheit des äusseren Lebens zu neigen, das doch zugleich für die geistigsten Intervalle der Musik und für die zartesten Naturgeräusche, (wie Rauschen im reifen Korn, Rieseln des Regens auf Gebüsch und Sand, Knistern aufbrechender Knospen oder Rascheln fallender Blätter) tief empfänglich ist. Dieser moderne Mensch scheint so »nervös« zu sein, dass ihn nur das ganz zarte oder das ganz laute Geräusch zu fesseln vermag. Nur Sinneseindrücke auf sozusagen mittlerer Linie übergeht er in gewohnheit-gewordener Stumpfheit ...

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Auf dieses merkwürdige Beieinander von Feinheit und Lautheit deutet vor allem die Entwickelung der modernen Musik hin! Ist es nicht geradezu ungeheuerlich, wenn auf einem internationalen Musikfest zu Boston unlängst 20000 Solisten beiderlei Geschlechts, 2000 Mann Orchester und mehrere hundert Dampforgeln mitgewirkt haben? – Und wenn ich in der Zeitung des heutigen Tages lese, dass Kaiser Wilhelm gestern abend zunächst ein Kanonenstück von Wildenbruch und danach »Wer hat Dich Du schöner Wald« aus 1200 sangesfreudigen deutschen Männerkehlen genossen hat, heute früh aber bereits wieder durch den »Huldigungsmarsch von Schultze ausgeführt von sämtlichen Kapellen der Garnison« geweckt worden ist, dann erfasst mich halbwegs staunende Bewunderung für solchen Nervenapparat, halbwegs ein grosses Mitgefühl. – Und hat nicht endlich das Opernwesen seit Richard Wagner eine »Dynamik« erreicht, die an die Reaktionsfähigkeit des kultivierten Ohres scheinbar nicht mehr zu überbietende Ansprüche stellt? – Dennoch ist diese Entwickelung zur Lautheit mit einer entschiedenen Verfeinerung des Gehöres zusammen gegangen!

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Man liest oft die Behauptung, dass das »Tier« (insbesondere Katze und Dammwild) ein »feineres Ohr als der Mensch besitze«. Das ist vollkommen unrichtig. Wir kennen kein Lebewesen, dessen Gehörapparat so fein und kompliziert wie der menschliche wäre. Wohl aber bemerken wir bei vielen Tierarten eine grössere Empfänglichkeit für Geräusche, weil ihre »Aufmerksamkeit« noch einseitig auf Schallwahrnehmungen eingestellt ist. Ein grosser Teil der Tierwelt ist gezwungen, um seiner Nahrung und Sicherheit willen, sich beständig durch das Ohr zu orientieren. Der Mensch aber würde gerade vermöge seiner höheren nervösen Reizbarkeit in kurzer Zeit zugrunde gehen, wenn er alle Geräusche, die von seinem Gehöre perzipiert werden oder für sein Ohr perzipierbar sind, auch de facto apperzipieren wollte. Die notgedrungene Gewöhnung an Umgebungsgeräusche jeder Art, wie Zischen, Stossen, Kreischen, Pfeifen und Schreien bewirkt, dass beim Menschen durch andauernde Schwingung der vielen Gehörteile zahllose Nervenstränge chronisch erschlaffen. Sein Hören wird schliesslich zu einer rein empfindenden Tätigkeit und die unzähligen Einzelgeräusche im Hause und auf der Strasse kommen nicht mehr in sein wissendes Bewusstsein. In der Gewohnheit, nur komplexe Klänge zu apperzipieren, wissen wir schliesslich nicht mehr, aus welcher Art »Tönen« Geräusche zusammengesetzt sind. Gleichwohl hören wir doch alle diese Töne und Untertöne feiner als jedes Tier. Darauf deutet sowohl die Möglichkeit der Klanganalyse, wie der anatomische Bau unseres Gehörorgans. Der Mensch besitzt zirka 15500 Hörzellen und wenn wir auch nur vermuten dürfen, dass jede einzelne Hörzelle auf einen anderen Ton abgestimmt ist, so können wir doch bei einiger Übung mindestens 4000 Töne mit voller Sicherheit unterscheiden. Wie fein aber ein Gehör ist, das auch nur 1000 Töne voneinander scheiden kann, ermessen wir an der Tatsache, dass unsere grössten Konzertflügel nur 87 Töne besitzen. Allein zwischen den Tönen a und b vermag das normale Menschenohr wenigstens dreissig weitere Zwischentöne wahrzunehmen. – Die Katze, die scheinbar viel feiner hört und jedenfalls auf den leisesten Ton reagiert, hat doch nur 1200; der Hase aber, der wiederum feiner hört als die Katze, hat nur 7000 Gehörzellen. Dieses alles beweist, dass die Abgestumpftheit des Menschen gegen leise und mittlere Geräusche keineswegs auf verminderte Empfänglichkeit seines Gehörsinns deutet. Man muss die Anregungsschwelle und die Ausdrucksschwelle, die faktische Empfänglichkeit und den Ausdruck der Empfänglichkeit wohl unterscheiden.

* * *

Niemand darf jedoch glauben, dass das ewige Schwingen in Ohr und Hirn, wenn es auch schliesslich nicht als bewusstseinweckende Hemmung empfunden wird und darum keine Reaktionen mehr auslöst, nun für menschliches Leben und menschliche Gesundheit gleichgültig geworden sei. Die Natur hat Schnecke und Cortisches Organ wohlweislich zutiefst in die Schädelhöhle gelegt, weil es von allen unsern Organen das komplizierteste und empfindlichste ist und mit der geistigen Bewusstheit des Menschengeschlechtes die innigste Verbindung besitzt. Hierauf deutet auch der entwickelungsgeschichtliche Umstand, dass seine Reife und Ausbildung die längste Zeitdauer erfordern. Denn wie überall das Kompliziertere später zur Reife kommt als das minder Komplizierte, so kommt auch das Gehör zugleich mit der Sprache erst dann zu seiner vollen Entwickelung, wenn jede andere sinnliche Reaktionsfähigkeit schon auf ihrem Gipfel angelangt ist. Auch lässt in der Regel im Prozesse des Alterns die Kraft des Auges früher wieder nach, als die des Ohres ... Wir empfinden jedoch die von uns beständig perzipierten Geräusche unserer Umgebung schliesslich nicht mehr als Hemmung und somit auch nicht als gegenständliche Gegebenheit, weil sie für das gewohnte Leben keine Gefahr und eben darum keinen Ansporn zu apperzeptivem Aufmerken in sich schliessen. Gleichwohl sind diese Geräusche doch beständig da. Sie üben beständig ihren bohrenden, unterminierenden, kraftverbrauchenden Einfluss. Man könnte sie etwa mit dem Druck der uns umgebenden Atmosphäre vergleichen, der auch nicht bemerkt und niemals störend empfunden wird, zweifellos aber zu seiner Überwindung ein bestimmtes Kraftmass in unserem Lebenshaushalte, ein bestimmtes Mass vitaler Energieen dauernd in Anspruch nimmt. Ich möchte vermuten, dass mancherlei allgemeine physiologische »Dispositionen«, die wir als Organgefühl, Gemeingefühl, Stimmung und dergl. ansprechen, auf Konto dieses uns unbewussten Perzeptionszwanges zu setzen seien. Zumal der Grosstädter empfindet häufig dunkles Unbehagen, Erschöpfung oder nagendes Ermüdetsein, dessen Quell ihm erst klar wird, wenn die Aufmerksamkeit zufällig auf Geräusche der Umgebung fällt, deren Einwirkung vielleicht schon Tage und Monate von den Nerven ertragen wurde, ohne dass diese Störung irgendwie bemerkt worden wäre. Ja, es geschieht beständig, dass die schädigende Wirkung von Geräuschen uns erst bewusst wird, nachdem sie zu wirken aufgehört haben, während doch in jedem anderen Sinnesgebiet das Geltendmachen von »Schmerz« das unmittelbare Dasein biologischer Schädigung anzeigt. Erst in jüngster Zeit ist uns gelungen, die Arbeit zu messen, die ein perzipierter Ton auf das Trommelfell ausübt. Es wurde gefunden, dass bei einem sehr lauten Ton diese Arbeit etwa ein tausendstel Erg beträgt, dass man aber auch bei einem milliontel Erg noch deutliche Tonempfindungen hat.

* * *

Wir arbeiten somit scheinbar ungestört unter dem Einflusse ferner Flintenschüsse oder Trommelwirbel, rammelnder Handwerker oder klappernder Schreibmaschinen, so wie der Schmied das Dröhnen seiner Hämmer, der Uhrmacher seine Uhren und der Müller das Schlagen seiner Räder nicht mehr wahrnimmt. Aber sobald einmal Stillstand im Geräusche eintritt, beginnen »die Ohren zu summen«. Es beginnt sich die aufstachelnde Wirkung des Geräusches nachträglich an seinen Folgen zu zeigen. – Man hat an fast allen Arbeitern, die lange in einer Kesselfabrik oder in Appreturen gearbeitet haben, eine eigentümliche Krankheit gefunden, die man »Kesselmachertaubheit« genannt hat. Das Trommelfell verdickt sich unter Einwirkung des Lärms. Das Gehör wird gegenüber dem spezifischen Hammerlärm schwächer, bis schliesslich auch Schwächung für jede andere Art Geräusche und zuletzt vollkommene Taubheit eintritt. Was sich hierin geltend macht, ist eine wahrhaft heilsame Schutzvorrichtung des gefährdeten Organismus. Und zwar des ganzen Organismus; denn jede Reizung oder Überreizung eines einzelnen Sinnesgebietes trifft zweifellos den gesamten Nervenapparat, so dass es zur Lebensforderung des Individuums wird, dass ein dauernd gefährdetes Organ gegenüber Anforderungen, denen es sich nicht anpassen kann, schliesslich zur Degeneration gezwungen werde. Eine bloss partielle Abstumpfung oder Unbewusstheit dagegen könnte uns nicht beschützen, da sie ja keine »Unempfindlichkeit« in sich schliesst, sondern mit der fortdauernden feinsten Wahrnehmungs fähigkeit gar wohl verträglich ist ...

 

3.

Welche Unsummen von Gehörseindrücken wir in jedem Augenblick des Lebens de facto perzipieren, bemerken wir nur, wenn wir uns die Mühe geben, irgend ein komplexes Geräusch, das in eine dem Lärme abgewandte Arbeit unbewusst hineintönt, uns bewusst machend, zu analysieren. – Eine einzelne »quietschende« Türangel z. B. produziert pro Sekunde etwa 1000 bis 3000 Hin- und Herbewegungen zahlloser Eisenteile, dem die gleiche Anzahl Schwingungen des Trommelfells, des Mittelohrs und Labyrinthes entsprechen muss. Ein heftiges Türenwerfen im Hause, wie es bei unerzogenen Menschen so beliebt ist, entwickelt ein Konglomerat von Geräuschen, die durch zahllose Schwingungen zahlloser Eisen-, Holz- und Glasteile bewirkt werden und zu ihrer Wahrnehmung sämtliche Membrane des Ohrs und die gesamte Klaviatur der Hörzellen in unaufhörliche, schmerzliche Vibration versetzen. – Wenn ein schweres Lastfuhrwerk über den Strassendamm rollt, dann teilen sich die Schwingungen des Pflasters sämtlichen Häusern der Umgebung mit, die in den Grundvesten erzittern. Diese Schwingungen aber übertragen sich auf sämtliche Gegenstände jedes Zimmers, deren jeder in einem bestimmten Eigenton in die allgemeine Erschütterung einstimmt, während das Stampfen der eisernen Hufe auf dem harten Strassenpflaster alles überlärmende Tonfolgen von d'' bis fis''' hervorlockt, die ein zur Erde geneigtes Ohr noch aus mindestens zwei Kilometer Entfernung deutlich vernehmen könnte. – Versuchen wir aber vollends in das zu unserem Fenster dumpf emporbrausende Geräusch der Strasse hineinzuhorchen, so können wir in jeder Sekunde jeden von den 4000 für uns vorhandenen Tönen deutlich hervorholen und wenn wir einen beliebig abgestimmten Resonator ans Ohr halten, so findet sich, dass jeder mögliche Ton auch in einer scheinbar »ruhigen« Umgebung fortdauernd in unsere Ohren einbrandet. – In diesem Augenblick z. B. höre ich (während ich in einer Wirtshausstube über den Lärm schreibe) von der Strasse her viele charakteristische Vokale im Rufe verschiedener Menschen- und Tierstimmen; höre melodische Terzen und Quinten der Ausrufer von Kartoffeln und Fellen und bestimmte Töne, an denen ich Typen des Ganges oder der Bewegung unterscheiden würde, auch wenn ich nicht sehen könnte, wer an den Fenstern vorübergeht. Wenn eine Modedame auf hohen Absätzen vorüberrauscht, dann höre ich deutlich ein bestimmtes Knarren im hohen e jeden andern Laut übertönen. Stampft ein Bauer auf klobigem Schuhwerk daher, so produziert sich das in kleinen g. Wenn aber ein Offizier den Säbel über das Pflaster schleift, so hört man eine Tonskala, deren Grässlichkeit höchstens mit dem Rasseln eines Spazierstocks über den eisernen Gartenzaun oder mit dem Aneinanderwetzen zweier geschliffener Messer verglichen werden kann. Die Apperzeption der Einzeltöne, die uns die »Klanganalyse« vermittelt, kann sogar zur apperzeptiven Manie werden. Wenn ich mich lange geübt habe, Geräusche in Einzeltöne zu zerlegen, so stellt sich die »Disposition« ein, jedes in der Umgebung auftauchende Geräusch mir bewusst zu machen.

* * *

Da der Lärm, gleich seiner edlen Schwester Musik, ausschliesslich das Affekt- und Willensleben des Menschen aufzurütteln vermag, so kann er zu Gewaltakten, ja zu Verbrechen verführen, die in Ruhe und Stille niemand zu begreifen vermag. Die geschichtliche Überlieferung bezeugt, dass »Gewaltnaturen« wie Alexander der Grosse und Erich der Gute, von Dänemark, durch die Wirkung aufreizender Musik zu Mördern ihrer vertrautesten Freunde geworden sind. Wir lesen auch von Napoleon, dass dieser »Eisenmensch« Musik und lautes Geräusch als so unerträgliche Nervenqual empfunden hat, dass er bei ihrem Anhören zum Weinen gezwungen wurde. Und in der Tat, jedermann weiss aus Erfahrung, dass es keinerlei emotionelle Regung gibt, die nicht auf dem Wege der Tonwahrnehmung in die Seele Einlass finden könnte. Eben darum ist es nur natürlich, dass das für Töne besonders empfängliche Individuum jedes Geräusch als Vergewaltigung und Zersplitterung seines Selbst empfindet und fürchtet. Alles, was in unsere Ohren eindringt, stellt ja die Forderung, uns in fremde Willens- und Gefühlszustände hineinziehen zu lassen. Je individueller daher unsere Arbeit und unser Leben ist, je mehr wir Sammlung, Einkehr und Selbstbewahrung nötig haben, um so furchtbarer muss der fortdauernde Anreiz zu Ablenkung und Zersplitterung, den eine laute, sich aufdrängende Umwelt ausübt, uns quälen, verbittern und demütigen. Hierzu aber kommt, dass die Orientierung durchs Ohr ein Spezifikum der geistigen Wesen und darum die vornehme Besonderheit des Menschen ist. Mehr als jedes andere Naturwesen ist der Mensch auf sein Gehör angewiesen. Das dokumentiert sich in der unvergleichlichen Schönheit und Bildungsfähigkeit seiner Stimme. Denn überall, wo die » Welt« aus Ton und Klang gewoben wird, ist auch die Stimme klangreich und wohltönend. Diejenigen Wesen dagegen, die sich vorwiegend durch die gröberen Sinne, insbesondere durch den Geruchssinn orientieren, haben auch rauhe, hässliche und ärmliche Organe. Organ und Gehör stehen im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Man denke nur an Singvögel und Raubtiere ...

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Wir wissen kaum, in welchem Grade musikalische Elemente der Sprache, wie Tönung und Klangfärbung, bei allem Verstehn und Sichverständigen leitend sind. Nicht was wir »vernehmen«, sondern was wir hören, ist das für uns Wichtige. – Jene rein perzeptive Seelenfühlung, die die unbewusste Direktive auch für alle Menschen- und Weltkenntnis bietet, rechnet nur wenig mit dem, was einer redet; aber sie weiss sehr feinhörig das unbewusste Wie der Rede zu erlauschen, welches niemand klar in seiner Gewalt hat. Ja, ich glaube, dass der Mensch sogar sich selber nur so lange versteht, als er schweigt; sobald er aber zu reden beginnt, ist sicherlich irgend jemand unter den Hörern besser imstande, den Redenden zu verstehen, als er sich selber zu durchschauen vermöchte. Was sich aller Bewusstheit, Willkür und Verstellung entzieht und was niemand an sich selbst kennt (so wenig als das Auge sich selber sieht), das liegt ausschliesslich in den klanglichen Elementen der Stimme verborgen. Daraus erklärt sich auch, dass Blinde, die nach Shakespeares schönem Worte »mit den Ohren sehen«, einen besseren Schlüssel zur Seele und damit eine reichere Weltkunde besitzen, als Taube oder Taubstumme. In der Geschichte der Künste haben die Blinden stets eine bedeutende Rolle gespielt; Taube dagegen und Taubstumme nur selten reicheres Weltgefühl geoffenbart. Sie sind in der Regel misstrauisch, unzufrieden; ihr verzagtes, ängstliches, hilfloses Gesicht beweist deutlich, dass sie keinen Anteil an dem Glücke weiten geistigen Verständnisses haben, das das Antlitz der Blinden friedlich und ehrwürdig macht.

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Wie gross der unbemerkte Einfluss ist, den viele Empfindungen von Tönen, Lauten, Klängen und Geräuschen auf unser Erleben ausüben, das erweist sich besonders an der Entwickelung der Sprache. Ich denke zunächst an die unbewussten »onomatopoetischen« Wortbildungen. Etwa an Tatsachen wie die, dass die Namen der meisten Geräusche das betreffende Geräusch selber hervorbringen, d. h. dass der Laut des Wortes der Höhe oder Tiefe des Geräusches entspricht, das durch das betreffende Wort bezeichnet wird. Man wird z. B. in den Worten brummen, donnern, poltern, rauschen, brausen, rasseln, knarren, schmettern, piepsen, piepen die Tonart des von ihnen bezeichneten Geräusches unschwer wiedererkennen. Auf dieser tonmalenden Funktion der Sprache beruht bekanntlich insbesondere der Reiz des Stabverses und der Alliteration. – Viel wichtiger aber als diese Produkte unbewusster Gehörsempfindungen sind die zahllosen rhythmisch-musikalischen Elemente der Sprache, hinter denen ebenfalls ungemerkte Gehörseindrücke stehen. Gerade die Erscheinungen des » Rhythmus« deuten auf anthropologische Verwurzelungen, deren Untersuchung den Wissenschaften der Tonpsychologie wie der Musikästhetik eine konkrete Grundlage gibt. Ich will daher wenigstens im Vorübergehen auf Tatsachen hinweisen, mit denen sich die Physiologie des Lärms und der Geräusche seit alters beschäftigt hat. Man weiss, dass durch Lärm und Geräusche sekretorische wie exkretorische Funktionen gesteigert, gemindert oder sonstwie verändert werden. Man hat auch versucht, die physiologische Wirkung bestimmter Töne und Tonfolgen festzustellen und das Altertum pflegte sogar die musikalischen »Tonarten« nach physiologischen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Man meinte, dass eine bestimmte Tonart (die äolische, phrygische, dorische usw.) auf bestimmte körperliche Organe, auf Herz, Magen, Rückenmark usw. Einfluss habe. Hierauf begründete sich jene merkwürdige Therapie des Mittelalters, die durch bestimmte Töne und Instrumente gewisse Krankheiten zu heilen unternahm; etwa Wassersucht mit einer Flöte aus Zedernholz, Fieber durch Mollakkorde auf einer Weidenflöte u. dergl. mehr, abergläubisch-mystagogische Spielereien, hinter denen gleichwohl ein tiefer Einblick in die physiologische Wichtigkeit der Geräusche steckte. – Es ist freilich nicht viel damit getan, wenn man (wie noch neuerdings Th. Billroth versuchte), den Rhythmus und den Zeitsinn zu physiologischen Tatsachen, etwa zu Systole und Diastole des Herzens in Beziehung bringt. Aber es bleibt immerhin eine Aufgabe der Wissenschaft, alle somatischen Korrespondenzen von Tönen, Klängen oder Geräuschen und insbesondere ihre Beziehungen zu den Empfindungen anderer Sinnesgebiete wie z. B. der Farbenempfindung durch Experimente aufzuzeigen. Die Bezeichnungen Ton, Klang und Geräusch habe ich in dieser Arbeit nicht streng gegen einander abgegrenzt, – denn es war für ihren Zweck durchaus unnötig. – Im übrigen bezeichnet man als »Ton« nur die akustische Elementarempfindung. Als »Klang« ein aus »Teiltönen« zusammengesetztes akustisches Gebilde, dessen »Farbe« von der Intensität der es zusammensetzenden Teiltöne abhängig ist. Als »Geräusch« eine Folge von Tönen, die entweder hinsichtlich der Schwingungszahl differieren, oder einen sehr schnellen, unregelmässigen Wechsel der Tonhöhe aufweisen (wie z. B. das Heulen des Windes, das Plätschern des Wassers), oder von denen jeder einzelne Ton nur ganz kurz andauert.

 

4.

Über die individuelle Empfänglichkeit verschiedener Menschen für Ton-, Klang- und Geräuschempfindungen hat man nun in der Tat mit den Methoden der experimentellen Psychologie mannigfache Untersuchungen angestellt. In einigen Kliniken sah ich folgende einfache Vorrichtung, mit deren Hilfe man die Empfänglichkeit für Geräuschwahrnehmungen während des Schlafens und somit die individuelle Schlaftiefe festzustellen wähnte. – In dem von der Versuchsperson bewohnten Schlafraum wird ein Kasten angebracht, aus dem alle paar Stunden Kugeln von bestimmtem Gewicht, aus bestimmter Höhe auf eine Metallplatte herabfallen. Sobald das Kugelgewicht die Platte berührt, wird ein Stromkreis geschlossen, durch dessen Einwirkung eine mit ihm verbundene Uhr, die Tausendstelsekunden anzeigt, zum Stillstehen kommt. Der Versuchsperson wird lediglich gesagt, dass, sobald von ihr während der Nacht ein Fallgeräusch gehört wird, sie auf eine an der Wand neben ihrem Bette befindlichen Knopf drücken solle. Dadurch wird dann die Tausendstelsekundenuhr wieder in Gang gesetzt. Mit Hilfe eines zweiten Zeigers der Uhr, der dauernd in Gang bleibt, kann der Experimentator konstatieren, wieviel Sekundentausendstel zwischen dem Fall der Kugel und der Wahrnehmung des Geräusches von seiten des Schlafenden verstrichen waren; oder ob der Schlafende das Geräusch etwa gar nicht bemerkt hat. Auf diese Weise konstatiert man, welche Geräuschstärken und Geräuscharten geeignet sind, um eine bestimmte Person, zu bestimmtem Termin, und unter vorbestimmten Versuchsbedingungen aus dem Schlafe zu erwecken. Vorzüglich wurden diese Versuche benutzt, um die einschläfernde Wirkung neuer Schlafmittel zu erproben. Oder man erprobte den Einfluss der Beschäftigung während des verflossenen Tages; – etwa den Einfluss körperlicher Ermüdung; oder untersuchte die Wirkung einer bestimmten Dosis Alkohol auf die Schlaftiefe. Indessen kommt bei jedem derartigen Versuche, (so weit man die Versuchsreihen auch ausdehnen mag), eine solche Fülle ungleichartiger und zum Teil unkontrollierbarer Faktoren im Resultate zum Ausdruck, dass man schliesslich nichts anderes ersehen kann, als eben die pragmatische Tatsache, wie tief ein bestimmter Mensch zu bestimmter Stunde geschlafen hat, ohne dass man die körperlichen und seelischen Einzelursachen irgendwie zu isolieren vermöchte. – Ebenso wenig überzeugend erscheinen mir die Resultate von »Gehörproben«, die man mit exakten Untersuchungen des Zeitsinnes oder der Reaktionsgeschwindigkeit im wachen Zustand zu kombinieren versucht. Das schematische Verfahren bei diesen sehr variablen Experimenten ist etwa folgendes. Aus einer bestimmten, variierbaren Höhe fallen Gewichte auf eine Metallplatte, auf der durch diesen Fall qualitativ wie quantitativ verschiedene Geräusche oder Einzeltöne entstehen. Durch die Berührung der Platte aber wird ein Chronoskop in Bewegung gesetzt. Eine auf das Geräusch oder den Ton aufmerkende, im Nebenraum befindliche Versuchsperson (der die Schallquelle verborgen bleiben muss), hat im Moment der Apperzeption des Schalles eine Bewegung auszuführen, durch die das Chronoskop wieder zum Stillstehen gebracht wird. Somit kann an der Uhr abgelesen werden, wie viel Sekundentausendstel verstrichen sind zwischen dem Entstehen des Schalls und seiner Wahrnehmung ...

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Was aber hat man denn nun eigentlich mit diesen Experimenten erprobt? Es scheint sich zunächst um die »Reaktionsgeschwindigkeit« des Individuums zu handeln. Aber in diese geht als ihr immanentes Wesensmoment sehr Vielerlei ein. Einerseits die augenblickliche »Bereitschaft«, andererseits die perzeptive »Empfänglichkeit«; endlich auch die apperzeptive Übung der Versuchsperson ... Niemals aber fällt eine faktische Reaktionsschwelle mit der Schwelle der »Reagibilität« einer Versuchsperson zusammen. Selbst auf dem Gebiet scheinbar reflektorisch-spontaner Sinnesreaktionen liegt ein Irrtum der Experimentalpsychologie darin, dass sie das spezifische Moment der Aktivität der Versuchspersonen ausschaltet und mit ihren Apparaten verfährt, als ob das Bewusstsein der Versuchsperson »automatisch« sei und als ob aus der quantitativen Natur von Reizen und Reizäusserungen nun auch auf die qualitative Impressionabilität geschlossen werden dürfe. Die spezifische Fähigkeit zu einer Reaktion hat nichts zu schaffen mit der Geneigtheit zu ihr. Und die »Geneigtheit« wiederum ist ein anderes als die »Bereitschaft«. Die »Bereitschaft« zu einer Reaktion ein anderes, als die Möglichkeit zu reagieren. Und diese »Möglichkeit« zu reagieren, könnte endlich auch noch von dem kontinuierlichen Reaktions vermögen unterschieden werden. Was also untersucht man bei den geschilderten Reaktionsversuchen? – Ist es die spezifische Beeindruckbarkeit? Ist es der Ausdrucks drang? Das Ausdrucks vermögen? Die Ausdrucks möglichkeit? ... Man gewinnt bei diesen verführerischen Experimenten der Psychophysik freilich sehr billig gesicherte Resultate, wenn man sich gegen die »philosophischen Analysen« des »Schreibtischpsychologen« die Ohren zustopft und die grosse Kompliziertheit gegenständlicher Auffassungsakte beiseite schiebt, nur um recht grob und deutlich das Auffassen einer Empfindung mit dem Empfinden selber und die Empfänglichkeit für Reize mit dem Bemerken von Reizen vermischen zu können ... Hierzu: Hypnose und Suggestion S. 19-30.


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