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»Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Thränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt ... Alle Schmerzen verbeissen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts ... Nicht so der Grieche! ... Er will uns lehren, dass nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein könne, indess der ungesittete Trojaner, um es zu seyn, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse.«
Lessing (Laokoon).
Eine nie endende Kette von Qual und Pein zieht sich durch das Leben aller mit dem Gehirne arbeitender Menschen. Inmitten des unerschöpflichen Gelärmes, das unserm kurzen, schnell entflohenen Leben den Charakter der Börse oder Handelsmesse gibt, atmen wir unter dem Drucke einer Not, die keiner versteht und die uns niemand nachfühlt. Wir wissen, dass in uns nie zur Reife kommen wird, was Stille und Einsamkeit, Unabhängigkeit und Ruhe zu seiner Reife nötig hätte. Wir ringen vergeblich danach, Sammlung zu erlangen, um »im Reiche des Unhörbaren«, Ideen und Stimmungen zu verfolgen, die gleich Merkutios Königin Mab nur auf einem Wagen von Spinnweb kommen; zarter, flüchtiger, ungreifbarer als der Staub auf dem Flügel des Schmetterlings. Die Hämmer dröhnen, die Maschinen rasseln. Fleischerwägen und Bäckerkarren rollen früh vor Tag am Hause vorüber. Unaufhörlich läuten zahllose Glocken. Tausend Türen schlagen auf und zu. Tausend hungrige Menschen, rücksichtslos gierig nach Macht, Erfolg, Befriedigung ihrer Eitelkeit oder roher Instinkte, feilschen und schreien, schreien und streiten vor unsern Ohren und erfüllen alle Gassen der Städte mit dem Interesse ihrer Händel und ihres Erwerbs. Nun läutet das Telephon. Nun kündet die Huppe ein Automobil. Nun rasselt ein elektrischer Wagen vorüber. Ein Bahnzug fährt über die eiserne Brücke. Quer über unser schmerzendes Haupt, quer durch unsere besten Gedanken. Das Heraufholen und Verfolgen objektiver Werte wird zur Tortur. In jede geistige, jede theoretische Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein und das praktische »Interesse« lärmenden Pöbels. Alle seelische Kraft wird zur Überwindung dieser ewigen Spannungen verbraucht. Der Mangel an gesundem, tiefem Schlaf zerrüttet unsre Nerven. Die Möglichkeit unsrer Arbeit wurde uns zerstört, bevor wir noch zu arbeiten begannen. Alle Augenblick ein neues unangenehmes Geräusch! Auf dem Balkon des Hinterhauses werden Teppiche und Betten geklopft. Ein Stockwerk höher rammeln Handwerker. Im Treppenflure schlägt irgend jemand Nägel in eine offenbar mit Eisen beschlagene Kiste. Im Nebenhause prügeln sich Kinder. Sie heulen wie Indianer, sie trommeln an den Türen. Ein »grosses Reinemachen« steht bevor; ich fliehe aufs Dorf. Dort ist gerade »Schützenfest«. Ein Karussel wird just vor meinem Fenster aufgebaut. Dieses dreht sich acht Tage lang und spielt an jedem dieser acht Tage, acht Stunden lang das Lied von der »stummen Liebe«. Ich fliehe in das nächste Dorf. Das Wirtshaus scheint stille zu sein; aber morgen früh um fünf Uhr kommt »gerade zufällig« der Kaminkehrer. Es verfolgt mich ein Dampfpflug, das Geräusch der Tenne, das Gehämmer des Kesselschmieds, die beständige Klage des Kettenhunds, das Liebesleben aller möglichen Geschöpfe, der Katzen, der Hühner, der Frösche. Dazu klappernde Fensterläden, im Winde scheppernde, lockere Dachziegel, Wetterfahnen, Windharfen. – Es bleibt mir nichts übrig als dem Rate Multatulis zu folgen, ich werde irgendwem die Taschenuhr stehlen, um mir wenigstens Anwartschaft auf etwas Ruhe im Zellengefängnis zu verschaffen ...
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Lieber Leser! Begib dich in das tiefste, weltfernste Alpental, du wirst mit Sicherheit einem Grammophon begegnen. Fliehe in eine Oase der Wüste Sahara, du wirst einen Unternehmer finden, der dort einen Musikautomaten mit Glockenspiel und Trommelschlag soeben aufstellt. Du bist nicht auf den Halligen, nicht in pontinischen Sümpfen davor sicher, dass unvermutet »Ich komme vom Gebirge her« dir entgegendröhnt. Es gibt für Menschen auch in heiligster Gottesnatur kein Glück ohne Geschrei und lärmende Entäusserung! In manchen Gegenden Deutschlands, wo neuerdings starke Hotelindustrie erblüht, z. B. in Oberbayern, in Tirol, in der sächsischen Schweiz ist die Lärmverseuchung so furchtbar, dass ein ganzes Tal, hügelauf, hügelab vollgestopft ist mit Marterinstrumenten, wie Schlagzithern, Gitarren, Mandolinen und schlechten Klavieren. Überall wo Menschen gedeihen, überflüssig und zahllos wie Störe, Kaninchen oder Bandwürmer, allüberall Geschrei und Gelärm, das die Unschuld der schönen Landschaft entweiht! Wo vor einigen Jahren noch der schlafende Pan dich schützte, die Luft vor Schweigen und Stille zu zittern schien und nichts zu erlauschen war als Grille und Biene und wo nur, wenn der Wind den Klang verwehte, ein bescheiden Glöcklein weidenden Viehs oder des Hirtenbubs beschauliche Flöte herübertönte, aus weiter Ferne, – da stellt heute der Berliner Hotelier für ein internationales Publikum den neuesten Phonographen auf, damit für zehn Heller jedes Kind aus Frankfurt oder Liverpool den »Einzug in die Wartburg« höre. Man kann nächstens auf der Jungfrau belauschen, wie »Herr Caruso in New York« den »Hymnus an die Einsamkeit« in den Phonographen singt. Man wird jede bescheidene Trift mit Pensionshäusern und Villen übersäen. In jeder dieser »Villen« wird sich alsbald ein Klavier und eine müssige Dame aus Leipzig zusammenfinden. Auf den sogenannten Villen prangen schöngemalte Namen wie, »Waldeszauber«, »Bergfried«, »Alpenrose«, »Tiefeinsamkeit« und »Käthchens Ruh«. Man malt auch ganze Sprüche darauf, wie etwa »my house, my castle« oder »Trautes Heim, Glück allein«. Und diesen Inschriften entsprechen die Pensionspreise. Man kündet durch Inserate, dass man ein Eldorado an Frieden und Glück zu vergeben habe. Und wahrhaftig, auch der Augenblick ist nicht fern, wo der letzte südamerikanische Urwald mit dem Ton der Dampfpfeife und des elektrischen Läutwerks durchzogen wird. Und wohin dann der »Fortschritt« und der »gebildete Europäer« kommt, da wird es » Lärm setzen«. Ja, es scheint der Lärm das tiefste Charakteristikum des Menschen schlechthin zu sein. Denn das erste, was ein »Mensch« unternimmt, sobald er ins Leben tritt, ist, dass er zu schreien beginnt. Dieser Schrei ist das spezifische, anthropologische Moment, durch das er sich von der Niederung des sprachlosen und stummgeborenen Wesen abhebt. Kein Tier schreit so unaufhörlich, nachdem es den Mutterleib verlassen hat. Nur der Mensch ist ein von Haus aus schreiendes Wesen. Und er bleibt seiner Wesensart konsequent getreu, bis zu seinem immer noch allzu späten Tode. Er schreit mit seiner gesamten Existenz. Er schreit sogar, wenn er schweigt. Er erfand ein sozusagen brüllendes Schweigen. Auch in der Kunst, auch in der Wissenschaft wird überall nur geschrien. Man schreit in Zeitschriften, Zeitungen, Journalen, denn diese sind nichts anderes als fortgesetztes, unaufhörliches öffentliches Betten- und Teppichklopfen. Auch die keuschesten Dinge werden »besprochen«. Was gibt es denn, worüber sie nicht »redeten«? Und selbst in ihren zarten Konfidenzen schreien sie sich an! Nichts, nichts fällt den Menschen schwerer als schweigend zu sterben. Und doch ist dies der ganze Inhalt ihrer »Kultur«, ist das Einzige, wodurch ein Mensch sich auszeichnen und aus dem unergründlichen Gewimmel von Naturwesen emporsteigen kann. Man sagt wohl, dass ihn die Sprache, oder gar dass das Tintenfass vom seelenlos-sinnlichen Vieh ihn unterscheide. Man sollte lieber sagen, dass nur Schweigen absondere. Eine tiefe Weisheit liegt darin, dass bei Homer die Trojaner mit grossem Schlachtgeschrei in den Todeskampf ziehen, während die Griechen ohne einen Laut sich in den letzten Kampf begeben.
Es ist das wichtigste Merkmal von Kultur, dass sie die »Unmittelbarkeit« seelischer Regungen unterdrückt. Betrachten wir den »unerzogenen«, »natürlichen« Menschen, dann finden wir, dass er zu allem und jedem in Sym- und Antipathien spontan »Stellung nimmt«, dass er liebend oder hassend, lustvoll und unlustvoll auf jedes Begegnis unmittelbar zu »reagieren« pflegt. Je kultivierter, erzogener dagegen der Mensch ist, um so eher wird er geneigt sein, vorsichtig sein Urteil zu »suspendieren«. Erfahrung und Urteilskraft lehren Duldung. Ehrfurcht und Scham gebieten die stete Zurückhaltung. – Das, was ich (oben) die »Vergeistigung« des Lebens genannt habe, aber auch Rationalisierung, Logisierung, Ethisierung, oder kurzweg »Kultur« hätte nennen können, äussert sich zuvörderst in der strengeren Bindung aller Impulse des Fühlens und Wollens. Das Lieben oder Hassen der Menschen wird indirekter. Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wie die Beziehung zwischen dem »Subjekt« und seinem »Gegenstande« erfährt beständig wachsende »Distanzierung«. Wenn in Anfängen der Kultur Persönliches und Sachliches so eng ineinander geschmolzen sind, dass das Individuum gar nicht abzulösen wäre von zufälligen, historischen Beziehungen, in die es durch Geburt und Zufall hinein gerät, so ist auf späten Lebensstufen im Gegenteil die Spannweite zwischen dem Menschen und seiner Welt objektiver Ziele und Zwecke so gewaltig geworden, dass das »Sachliche« mit eherner Unerbittlichkeit als eine selbständige, alles Subjektiv-Gefühlsmässige ausschliessende Macht dem Menschen eisern und kalt gegenübersteht. Darum wird die Seele immer, immer einsamer. Die primitive Bildung, die überall mitten in der Natur und mitten unter Ihresgleichen lebt, formt jeden Eindruck sogleich zum Urteil, jedes Urteil sogleich zur Tat. Die Unreife ist mit allem und jedem schnell fertig. Denn es ist das gute Recht der Jugend alles danach zu bewerten, ob es ihr taugen könne oder nicht. Die Reife dagegen und in ihr das wachsende biologische Alter des Menschengeschlechts dokumentiert sich vor allem in der Fähigkeit vielseitigen Begreifens, die unter dem Gesichtspunkte der natürlichen Vitalität ebenso sehr eine praktische Gefahr, eine biologische Schwächung umschliesst, als man sie unter dem Gesichtspunkt der Kultur als wahre Blüte der Humanität bewundern muss. Die Bändigung und Vergeistigung der Naturen macht sich nun aber vor allem in der Minderung des Lärmes geltend! Sie macht sich geltend in dem wachsenden Schweigen, das uns als Ausdruck wachsender Weisheit und Gerechtigkeit umgibt. – Es ist lehrreich, Völkertypen von verschiedener Domestizierung der Seele in dieser Beziehung zu vergleichen. Es erweist sich zunächst, dass der Unterschied zwischen Lärmhaftigkeit oder Schweigsamkeit des äusseren Lebens mit der Frage zusammenhängt, ob eine Bevölkerung mehr der spielenden oder der arbeitenden Kultur nahesteht. Wo der Mensch noch das grosse spielende Kind der Erde ist, (unter Völkerstämmen Afrikas, Asiens, Australiens und im romanischen Süden Europas), da herrschen durchaus sinnliche Lautheit und Buntheit, die in keinem richtigen Verhältnisse stehen zu den ganz banalen Zwecken, die durch alle diesen Aufwand von Lärm und sinnlichem Anreiz angestrebt und erreicht werden. Der Südländer lärmt eben aus eitel Betäubungslust. Er lärmt mit Behagen. Er übt ganz naiv jene Triebhaftigkeit betäubender Funktionen, die zugleich mit der rationalen Bewusstheit und »Zweckbestimmtheit« auch den Schmerzen der Existenz aus dem Wege geht. Der furchtbare Lärm, der sich auch in alle nachdenklichen und feierlichen Stunden des südlichen Lebens drängt, das Geschrei, mit dem diese kindlichen Menschen ihre Toten begraben, ihre Schicksalsschläge zerteilen, ihre Sorgen abwälzen und alle ihre Mängel und Qualen voreinander ausbreiten und auskramen, ja noch persönlichste Verwundungen laut und öffentlich aneinander rächen, – dieses ganze Schrei- und Lärmgetriebe entspricht jener primitiven »Tendenz zur Verbequemlichung des Lebens«, eben der selben Tendenz, der auf komplizierteren, schwierigeren, arbeitreicheren Lebensstufen nur noch bewusste Ökonomisierung der Kräfte genug tun kann. Dieser naive Lärm besitzt daher ausnahmslos und überall natürlichen Zusammenhang mit spontaner Vergeudung oder mit einem Leben luxurierenden Müssiggangs. Je verspielter und unrationaler die kindlichen Existenzen sind, in um so lauteren Formen des Lebens werden sie sich in der Regel verbrauchen. Alle lebendigen Kräfte, die nicht in »Sanktionen« eingespannt werden und sich nicht auf positive, das Leben heiligende und determinierende Ziele eingestellt haben, sie »verpuffen« in einer Orgie unaufhörlichen Karnevals. Das ganze Leben scheint noch Mummenschanz, Willkür und Sinnlosigkeit zu sein; Taumel oder allerlei vague Begeisterung; unverstandener oder unverständiger Fanatismus; wüste und wilde Demolierungssucht! Und hinter all diesem Gelärme und Getöse der grossen, zwecklosen Masse steht doch ein unbändiges, grundloses Selbstgefühl. Die Furcht und Flucht vor Langenweile einerseits und andererseits die lebendige Freude an innerer Entspannung überschüssiger und lungernder Kräfte, – sie toben sich aus in Formen höchster Selbstgefälligkeit. Für diesen inneren Zusammenhang des Lärmes mit menschlichem Macht- und Aktivitätswillen ist unverkennbar charakteristisch, dass jede Klage über Lärm (der doch so viele reine Erhebungen, so viele unwiderbringliche Stunden des Menschengeschlechts rücksichtslos mordet), von den Meisten unverzüglich mit einem feinen Lächeln schadenfrohen Wohlgefallens quittiert zu werden pflegt. In diesem leisen Lächeln verbirgt sich die geheime Befriedigung darüber, dass Klage über ein Leiden stets die Anerkennung einer Macht involviert. Denn die Lust, seinesgleichen oder gar höher gearteten Wesen subtile Schmerzen zufügen zu können, ist für den rohen, primitiven, gemeinen Menschenwillen durchgängig ein Hauptmotiv, das ihn bei allen erdenklichen Gelegenheiten zu Skandal und Lärm als zu seiner natürlichen Lebenswaffe greifen lässt. Nur mit ihr weiss er sich »durchzusetzen«, andere zu belästigen, ja schliesslich moralisch tot zu machen ...
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Lichtenberg hat vom Lärm gesagt, dass er ihn nur dann unerträglich fände, wenn er den »Zweck« störender Geräusche nicht einsehen oder billigen könne. Daher pflege er, wenn er eine Horde unnützer Jungen vor seiner Türe lärmen höre, sich lebhaft vorzustellen, dass eben der selbe Lärm der selben Jungen, vielleicht dienen werde, die Franzosen oder Engländer im nationalem Kampf aus dem Felde zu schlagen. Das pflege ihn versöhnlicher gegen die Lärmbolde zu stimmen. Das nenn ich in der Tat echt nordisch-rationell gedacht! – Als ob nicht aller Jugendlärm von Kindern und Völkern seinen »Zweck« und seine »Rechtfertigung« eben in sich selber trüge?! Die »Rechtfertigung« des ganz unnennbaren Lärmes in italienischen Städten, die Sanktion der unzähligen völlig entbehrlichen Geräusche (die schon das Epos des Malers Bronzino tragikomisch aufzuzählen versuchte), – sie liegen ausschliesslich in der triebhaften Freudigkeit, mit der alle die lärmenden Existenzen, diese Fruchthändler, Hausierer, Limonadenverkäufer, Bettler, Lazzaroni, Taugenichtse, Hochstapler und naiven Gauner, ihr Vergnügen an der Sonne in die blauen Lüfte hinausschreien. Als ich in die Wasserstadt Venedig kam, glaubte ich in ein Reich der Totenstille zu kommen, dachte, ein »buontempone« zu werden und endlich einmal entrückt zu sein alle dem Lärm und Geruch unseres Strassenverkehrs. Aber nirgendwo habe ich solche Schreihälse, solche Schmutzfinken wiedergesehen. – Dagegen betrachte man das Antlitz intellektueller und ethischer Kulturen! Die späte biologisch-alte Zivilisation des gelehrten Chinesen, des frommen Buddhisten, des gebildeten Türken, sie bewährt sich vor allem in der stummen bewundernswerten Selbstbeherrschung und kontemplativen Ruhe, die über dem ganzen Leben wahrhaft gebildeter Menschen liegt. Man glaube ja nicht, dass jene grobe Beobachtung richtig ist, die den vornehmen Asiaten phlegmatisch und apathisch schilt. Plötzliche, unerwartete Ausbrüche lange aufgestauter und niedergezwungener Fanatismen widerlegen diese Zumutung. Der Asiat ist kraftvoll und leidenschaftlich; aber zugleich innerlich disziplinierter und gebundener als die jungen europäischen Völker im Durchschnitt zu sein pflegen. Darum schwebt über dem Leben später Buddhisten die Weihe stummer Würde und Ehrfürchtigkeit. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch nur der Schule der Not, nur einem langen, geschlechterlangen Leiden danken kann. – Diese »Überlegenheit der Intellektualisierung des Trieblebens« äussert sich aber auch in der ungleichen seelischen Anlage der Geschlechter. Die Frau ist immer und überall »rationaler« als der Mann. Der psychologische Unterschied des weiblichen und des männlichen Vertreters des selben Typus läuft allemal auf ungleiche intellektuale Bindung psychischer Energieen hinaus. Diese ungemein wichtige psychologische Wahrheit habe ich seit vielen Jahren in Schriften und Vorträgen vertreten. Aber ich bezeichne als »Rationalität des psychischen Erlebens« keineswegs objektive Bewusstseins inhalte. Ich meine nicht irgendwelche faktischen Kenntnisse und Bildungsmomente, noch auch etwa Übung in den Funktionen bewussten Denkens. Die Frau hat lediglich eine ältere und höhere Seelenkultur. Sie verdankt sie der langen Hemmung ihrer äusseren Kraftentfaltung. Sie dokumentiert sich in der zweckvolleren Ökonomik der Lebenskräfte, in der grösseren Selbstbeherrschung und Tragfähigkeit weiblicher Naturen. Eben diese schweigende Überwindung des Lebens aber gibt dem Menschen seine besondersartige, menschliche Würde. Sie ist das Ziel aller Erziehung und der seelische Gewinn aller Kultur. Denn Erziehung ist Erziehung zum Schweigen. Und Kultur lehrt das »Leiden ohne Klage«. Der wohlerzogene kultivierte Mensch wird sich (ganz gleich welcher inhaltlichen, objektiven, materialen Kultur er angehöre und auf welcher Kenntnis- und Bildungsstufe er verharre) immer und überall durch Schweigen und durch Feindschaft gegen undisziplinierte, laute Lebenshaltung auszeichnen.
Kultur ist Entwickelung zum Schweigen! – Selige Ruhe liegt über allem Vollendeten. In keusche Stille sind alle grossen Werke der Menschheit gehüllt von hehrer Lautlosigkeit durchtränkt. Dieses hängt damit zusammen, dass alles was im Bereiche zweifellosen Wertes liegt, jenseits des Kampfes stehen muss, dessen ureigenstes Stigma Lärm und Lautheit ist. In der »Welt des Zweifellosen« gibt es keinen Streit. Darum weiss schon Plato von seinem Himmel reiner Ideen nichts Kennzeichnenderes zu sagen, als dass man in seinen Sphären keine Geräusche höre. Denn alles Geräusch hängt in der Wurzel mit irgendwelchem struggle for life zusammen, sei es in Form der Konkurrenz, oder sei es in Form der Abwehr. Lärm ist nichts anderes als ein grosses Streitmittel, mit dem ein Geschöpf dem ändern zu imponieren versucht. Und auch hinter der subtilsten Art geflissentlichen Lärmes steht noch der Machtwille und die Unvollkommenheit ... Ein altes Sprichwort sagt, dass »Hunde, die am lautesten bellen, am seltensten beissen«; – es zeigt sich in der Tat, dass alles, was sich lärmend anzuempfehlen oder durch Lärmen zu erschrecken sucht von der Sicherheit des Siegers am weitesten abwohnt. Jedes Lebewesen aber kämpft mit Waffen, die Not und Schicksal ihm leihen. Das Insekt, das nicht duften kann wie die Lilie hat wenigstens die Macht, sie zu besudeln. Und so kann auch jeder Fuhrknecht, der das verfeinerte Faustrecht des Lärmens übt, Gedanken im Haupte selbst eines Tasso zerbrechen. Damit wehrt und verteidigt er sich gegen die Macht des Geistes, der auch sein Leben langsam in die leidensreiche Fessel der Kultur einschmieden will. Man beachte also, womit die Masse des Volkes immer und überall zu argumentieren und zu kämpfen gewohnt ist! In jeder Volksversammlung entscheidet die Lunge. Missliebigen Staatsmännern zeigen sie durch Gejohle ihre »Weltanschauung« an. Missliebige Gelehrte boykottieren sie durch »Katzenmusik«. Mit nichts anderm beteiligt sich die kompakte Majorität an Aufständen und Revolten, ja an allen ungewöhnlichen Augenblicken der Geschichte, als mit unaufhörlichem Geschrei. Und die sich in Können und Tat am kläglichsten und feigsten erweisen, sind die frechsten und lautesten Schreier! Kein Unglück wird schweigend, kein Kampf in Stille durchkämpft; es muss alles an die Glocke! Überall in der menschlichen Gesellschaft wird lamentiert, medisiert, gebetet, gebettelt und geweint. Denn das sind Mittel, mit denen sich Leiden und Problematik betäuben, mit denen jeder Konflikt sich auf andere abwälzen lässt. Alles aber, was der Mensch noch bespricht, deutet auf einen Wunsch, nicht aber auf Besitz. – Wenn nur die vitale Energie, die bei einem einzigen unsrer Schützen-, Turner- und Sängerfeste im chauvinistischen Selbstgefühl und patriotischem Gerede verpulvert wird, täglich und stündlich in den Dienst produktiver nationaler Arbeit gestellt würde, dann könnte das deutsche Volk bald das vornehmste und beste aller Völker sein! Aber es ist das untrügliche Zeichen unsrer nationalen Unreife, dass bei uns zu vielerlei gelärmt, gewollt und gesprochen wird, während der kulturelle Besitz und die Reife schweigen und leisten würden. Es ist symbolisch, dass die sicherste und edelste Kultur, die es heute gibt, die Kultur der englischen Gentlemen auch die knappste, schlichteste und leiseste Sprache redet. Der Sprachgebrauch eines polynesischen Inselstammes verwendet im täglichen Umgang mehr Worte, Bilder, Tropen und Metaphern als die konzise und schmucklose Sprache der grossen, modernen englischen Denker besitzt. Wenn wir Deutsche auf die erhabenen Werke und Menschen der Gegenwart, auf die Schriften Nietzsches, auf die Dramen Wagners mit Recht stolz sind, so könnten dennoch künftige Geschlechter auch in ihnen zu viel Rhetorik und »Kakozelie« finden, um sie als den Ausdruck wahrer kultureller Reife schätzen zu können. Die Überlegenheit der stilleren, englischen Kultur, die das »never interrupt« das elfte Gebot genannt hat und in der puritanischen Heiligung des Sonntags einen wahren Segen für Kopfarbeiter schuf, zeigt sich vor allem darin, dass sie die Menschen besser hören lehrt. Es ist nicht häufig, dass jugendliche Völker und Menschen an der Kunst der Sprache Mangel leiden. Dagegen mangelt ihnen stets die Kunst des Zuhörens. Bei uns redet alles. Am meisten unsere Staatsoberhäupter. Und niemand hat Ohren, niemand versteht zu hören ...
Unendlich bevorzugt und liebenswürdig sind die seltenen Menschen, die einem sie anregenden Gegenstande gegenübertreten, ohne Bedürfnis, sich höchstselbst, in eigener Person dazu in Rapport zu versetzen. Eine schöne Blume muss gepflückt und berochen, ein anmutiges Kind geküsst und gestreichelt werden. Ein seltenes Tier wird alsbald geneckt und betastet; eine schöne Frau belästigt und haranguiert. – Wenn die gemeine Roture einem überlegenem Geiste, einem Reicheren, Stärkeren, Mächtigeren gegenübersteht, so ist unverkennbar ihr einziges Bemühen, dass sie nur ja »Eindruck mache«, »ernst genommen«, »estimiert« werde, während der wahrhaft gebildete Mensch gerade dem Bessergestellten gegenüber sich schweigend zurückhalten, überall aber lernen und empfangen wird. Er wird lieber sprechen lassen, als sprechen. Es ist ihm gleichgültig, was man von ihm glaubt und hält. Er fühlt auch; dass es das gute Recht anständiger Leute ist, sich unbeschadet ihrer »Autorität« mindestens dreimal an jedem Tage »blamieren« zu dürfen. Nun aber blicke man auf das, was allen wohl gefällt und was sie alle lesen und schreiben. Man blicke auf all dieses »Reden über«. Dieses gegenseitige Sichbespiegeln, Sichsezieren, Sichbeobachten. Alles aus der Perspektive machtwilliger Eitelkeit und der Freude, andere nicht anerkennen zu brauchen oder im »Anerkennen« sich selbst eine Folie zu geben. Der meiste »Publizismus« lebt von diesen rohesten Formen seelischer Konkurrenz. Aber auch die meisten ernsten Bücher, die irgendwelche, Modeerfolge haben, wollen durchaus die »Menschheit erziehen«, fanatisieren und moralischen Einfluss nehmen durch Schreien und Lärmen. Und was wird nicht vollends an Erziehungsanstalten und Universitäten gepredigt, gelärmt und gebessert! Man gewinnt schliesslich den Eindruck, dass es aller Welt nur darauf ankomme, mitzureden, dabei zu sein und lärmende Macht auszuüben. Darauf deutet auch die unsinnige, deutsche Einrichtung der »Diskussion«, – wenn etwa nach dem künstlerisch geschlossenen Vortrage eines Sachkundigen Hinz und Peter aufstehen, um irgendwas Nebensächliches, Konfuses oder Verwirrendes ahnungslos und selbstüberzeugt zu Markte zu bringen, worauf es alsbald »in die Zeitung kommt«. Wie wenige ahnen, dass alles Reden Irrtum einschliesst. Den Irrtum, dass man zu keinem Gegenstand »Distanze« hat, in dem man unmittelbar lebendig ist ...
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Auf dem Gipfel trägt Kultur das Ideal allwissenden Schweigens. Jenes Ende, das Fiesole im Bilde des Petrus Martyr gezeigt hat. – Es liegt eigene Wahrheit darin, dass auch die Religion das letzte uns verheissene Paradies und die »ewige Seligkeit« als »Hort des Schweigens«, dagegen die Hölle als Stätte unausgesetzten Lärmes schildert. – Im Hades wird kein lautes Wort mehr gesprochen. Selbst das Ruder des Charon erregt keinen Laut in stummen Wellen. Der letzte Lärm, der den Scheidenden entlässt, ist der Ruf der am Ufer harrenden Seelen, die sehnsüchtig auf den erlösenden Nachen warten. Im »Christenhimmel« freilich geht es nicht ohne Posaune und Engelchöre ab und die grässliche Aussicht auf verklärte, singende und schmausende Philister. Dafür bieten wenigstens die Schilderungen der Hölle, wie sie die Kirchenväter entwerfen, eine um so energischere Verurteilung des irdischen Gelärmes. Ihre Schilderungen schwelgen in dem fürchterlichen Höllengeschrei, das die rachsüchtigen Teufel erheben und in der Vorführung des Jammers, der die sündhaften armen Seelen »tönen macht« ...
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Dante schon sang von der Erfindung eines Teufels. Eine ungeheuere, grässlich dröhnende Glocke, die Tag und Nacht geläutet wird. An ihren Schallmantel wird das arme Opfer festgeschnallt. Die Schläge der Glocke treffen unaufhörlich sein Ohr, so dass der ganze Körper mitbeben muss, bis schliesslich der Wahnsinn dem Gemarterten Erlösung bringt. Das ist das wahrhafte Symbol für den Lärm unseres Menschenalters ...