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Ich lehr Euch ehren
Grauens dunkle Pforte.
Denn von den Wonnen der Erkenntnis kehren
Sich die Gedanken um und unsre Worte.
Am Fuße des Berges, der im Volksmund »Wiege des Zeus« genannt wird, liegt der Eingang zu den Höhlen, von welchen die Überlieferung raunt: Hier sei die Pforte zu den
Gefilden der Nacht. –
Einmal in jedem Jahre pflegte Epikur diese Höhlen aufzusuchen mit seinen drei Schülern Klearchos, Eusebios, Trasyllos und mit den drei Schülerinnen Aspasia, Diotima und Lais und dem Hündchen Margo. Dazu diente ihnen als Führerin ein blindes Mädchen mit Namen Chloë, welche, in den Ordnungen des wachen Lichtes eine Fremde, sich in diesen unterirdischen Grotten wohl auskannte.
In einer warmen Mittsommernacht voll klarer Sterne waren sie aufgebrochen, hatten auch den Eingang zu den Höhlen bald gefunden und waren durch ein Labyrinth enger Gänge in einen gewaltigen Saal von Stalaktiten gelangt, an dessen Decke und Wänden die wunderbarsten Steingestalten hingen: Gesichte und Bilder aus Kalkstein, in Jahrtausenden zurückgelassen vom Wasser, das durch die Felsen tropft.
Chloë, die Blinde, schritt voran mit einer Fackel, indem sie langsam den Weg ertastete, gleich einem forschenden Menschen, der in unerkannte Gebiete eindringt; er geht nicht regelrecht, nicht gradaus, sondern leuchtet mit seinem Lichte bald hierhin, bald dorthin, in jeden Winkel und in jedes Eckchen, bis endlich das schwere Dunkel durchlichtet ist und die fremde Welt ihm vertraut ward.
Dann befestigte die Bunde die Fackel in einer Spalte zwischen dem Gestein, und alle lagerten bequem in einer Grotte, welche Buchten und Mulden bot zum Liegen und Sitzen.
Vor ihnen befand sich unterirdisch ein Wasser. Es schien aus Kohle geronnen zu sein. Schwarz und eben. Es starrte sie an wie das blinde Auge der Erde.
Epikur mit gedämpfter Stimme, die aus den Nischen der Felsen erwidert wurde, begann den Schülern zu erklären:
»Wie bei den Völkern im fernen Osten die Satzung herrscht, daß die Nabelschnur, durch weiche das Kind mit der Mutter zusammenhängt, in silberner Kapsel verwahrt und im Tempel niedergelegt wird, so haben wir diese eine Nacht auf der Höhe des Jahres dafür bestimmt, uns immer des Bandes zu versichern, das uns, die für kurze Zeit zum Lichte Entlassenen, auf ewig zurückknüpft an ›Die Dunkle Mutter‹.
Denn Menschenleben ist nichts als ein Blitz aus dem Dunkel. Ein noterwecktes Fünklein taucht für einen Augenblick aus den Grüften. Blitzt ein deutendes Wort. Und ist schon wieder gefaßt vom Abgrund. Verschwunden und eingesenkt in die mütterliche Nacht.
Ihr wißt, daß in der Grotte zu Eleusis die Sarkophage stehn, darein die Mysten sich legen, gewürdigt der Geheimlehre des im Glutrausch Zerstückten. Ewiges Schweigen ist geboten Dem, der die Weihen erfuhr.« –
Als Epikur dies gesagt hatte, brachte das jüngste der Mädchen, Lais, ein goldgelbes Laib feinen Weizenbrotes.
Trasyllos ergriff die Hand der blinden Chloë, und diese führte ihn in eine seitliche Höhle, wo leise rieselnd von den Wänden ein nie entweihtes klares Wasser floß, welches »Bronnen des Lebens« genannt wurde. Sie füllte mit diesem Wasser ihren schöngehenkelten Krug. Dann kehrten sie zurück zu den Freunden. –
Epikur: »Wir sind nun bei der Mutter zu Gaste und wollen ihr Brot brechen.«
Jeder brach von dem Weizenbrote eine Scheibe; indem sie aßen, sprach jeder einen dankbaren Spruch.
Aspasia:
»Wir haben, schaffender Hand,
Das Korn in die Nacht gesenkt.
Uns hat das hegende Land
Des Brotes Früchte geschenkt.«
Eusebios:
»Wir selbst sind harrende Saat,
Wir blühn ins Leben hinein
Zu rechtem Werk und Tat. –
»
Licht! Gib dem Korne Gedeihn!«
Klearchos:
»Wir brechen das Brot mit frommer Hand,
Das wir mit Fleiß uns erwarben,
Wir denken an unser Heimatland,
Wo noch Tausende Tausende darben.«
Epikur: »Die Mutter, unser täglich Brot schenkend, verkündet: › Dieses ist mein Fleisch!‹« Jeder nahm nun aus dem Korbe einen Becher und ließ ihn von der Blinden füllen mit Wasser aus dem »Bronnen des Lebens«.
Diotima:
»Seele, darein aller Seelen münden,
Spüle hinweg dieses Staubes Sünden.«
Trasyllos:
»Blut der Erde, reine kristallene Flut,
Tränke die Herde, lösche die Glut.«
Lais:
»Wasser, geliebtes Wasser du, reine Frau,
Daß ich in dir mein klares Antlitz schau'.«
Epikur: » Denn dieses ist mein Blut!«
*
Indem sie das Liebesmahl mit heiliger Freude nahmen, erläuterte Epikur:
»Das Brot aus feinem Weizen ist edelster Auszug aller Sonnen und Erden. Aus wilden Gräsern haben wir das heilige Korn erzogen. Haben den Schoß der Mutter aufgerissen mit der Pflugschar. Haben Samen gestreut. Sonne, Mond, Winde und Wolken haben das Feld gesegnet. Die Sichel klang. Der Erntekranz ward gebunden. In die Scheuer kam das Getreide. Der Halm ward gedroschen. Vom Spelte gereinigt. Korn ward gemahlen. Das Mehl gebacken. Ertrag alles Schweißes und Fleißes ist das Brot!
Dieses Wasser, das reinste der Erde, ist von den Bergen selber durchsiebt. Es ist geflossen durch aller Herzen. Durch alle Adern der Welt. Die Berge und Felsen sind sein Niederschlag. Nun ist es befreit von Staub und Stoff. Es blutet für uns als das reine Blut des Lebens. Von allen Spuren des Aus- und Abgeschiedenen erlöst.
Die Erde gab uns ihren Laib, damit wir auferbaun das Bild der reinen Menschenfrau.
Die Erde gab uns ihr Blut, damit wir auferbaun das Bild des göttlichen Übermannes …
Sagt, Kinder, warum essen und trinken wir?« …
Klearchos: »Um des Lebens willen essen und trinken wir. Denn das Geheimnis der Welt ist: Gestaltenwandel. Eines soll das Andere einverleiben.«
Eusebios: »Darum erscheint der Essende verwandt seinem Gegessenen. Darum wird ein Jeder, was er ißt. Das erbeutete Tier und das erbeutende Tier sind aufeinander bezogene ›Zweiheit in Einem‹. Sind ›das Eine von Sich Selbst Verschiedene‹. Sind ›das Sich-Wechselweis-Verschlingende‹.«
Epikur: »Ihr seid auf der Spur des Geheimnisses, welches nichts Anderes ist als: Mysterium der Nahrung.«
Trasyllos: »Töten wir nicht, indem wir nähren?«
Epikur: »Warum?«
Aspasia: »Menschen trinken und essen nicht, um Gestaltenwandel zu erneun. Der Mensch baut!«
Epikur: »Aufbilder kennt der Mensch, indem er aus Bilderwandel Bilder sichtet … Götter baut der Mensch.
So töten wir um des Gottes Auferbauung willen. Leben überführend in das höhere Leben. Und den Fluch der Vielheit heiligend.
Um der Götterwerdung willen nehmen wir das Abendmahl. Wo aber Einverleibung ist und Einswerdung, da auch liegt das Geheimnis der Zeugung.«
Klearchos: »Das Tier muß zeugen, der Mensch will über-zeugen.«
Eusebios: »Das Tier muß fortpflanzen, der Mensch will emporpflanzen.«
Epikur: »So haben wir die Nacht gewählt, um uns zu erinnern unsres Dienstes am Leben. Das aber ist der wachende Dienst am Urbild.«
Aspasia: »Schöne Kinder zu schenken, dafür sind wir bestimmt: Jede ist Durchgang.«
Epikur: »Wir geben dem Brot die Gestalt des weiblichen Schoßes.«
Trasyllos: »Klar und einfach sind die Worte, und doch wohnt in jedem das Geheimnis.«
*
Epikur nahm zart die Hände der jungen Chloë und küßte des Kindes blinde Augen.
Die drei Knaben nahmen die Hände der drei Mädchen, und nachdem sie Wasser und Brot getauscht hatten, küßten sie einander. Es war ein Schwur.
Von den Wänden der Höhle tropfte das singende Wasser. Aus den kristallenen Wänden lugten dunkle Gesichte. Ein Summen und Raunen durchglitt den Berg.
Unstete Schatten warf die Fackel.
Die Blinde begann zu sprechen. Ihre Stimme kam von Weither:
»Ich sehe die Scharen am Quelle der Mutter. Ihre Münder begehren Blut zu trinken. Dann können sie wachen und reden.«
Epikur: »Der wachende Mensch muß sie erlösen.«
Trasyllos: »Schatte unter Schatten, wie kann ich sie zum Worte erlösen?«
Eusebios: »Seht ihr die Gesichte ragen aus dem Fels? Da sind sie: Die Gebannten, die Festgeronnenen. Vom Leben ausgeschieden! abgeschieden!«
Diotima: »Es ist das Geheimnis des Bildners, daß er die Gesichte aus den Steinen herausschlagt.«
Epikur: »Alles Leben ist im Stein.«
Chloë: »Ich aber sehe die Bilder in meinem Innern.«
Epikur: »Denkt an sie, wenn wir aus dieser Gruft zurückkehren ins Licht. Sie harren im Stein. Denn im ewigen Sein ist nicht Zeit Zeit ist nur, wo das Wollen erwacht. Sie harren auf Zeit.«
Lais: »Ich will immer an Euch denken.«
*
Epikur: »Wenn wir die starrgewordenen, aus dem Strome des Lebens ausgeschiedenen Larven zurückbetten in die Erde, dann sagen wir: ›Grab und Verwesung.‹ Es sind Worte, die den Tätigwollenden schrecken und ängsten. Aber wir, die das Geheimnis durchschauen, sagen: ›Schoß und Saat.‹ Denn jede Beilegung zur Erde ist der feierliche Eingang zu Zeugung und Wiedererzeugung. Gleichgültig ist es, ob wir das Grab nennen unsern Mutterschoß oder den Mutterschoß unser Grab. Wir kehren im Tode zurück nach einem kurzen Lichtblick in den Zustand, darin wir seit Jahrmillionen gewesen sind und darinnen wir auf Jahrmillionen verharren. Zwischenhinein wird, bald hier, bald dort, das Fünklein ›Zeit‹ und ›Entwerden‹ wachend erglimmen.«
Lais: »Bin auch ich nur Samenkorn, Epikur?«
Trasyllos: »Ist auch mein Blühn nur Sterben, Epikur?«
Epikur: »Gute Blüten, meine Kinder. Ihr entfaltet euch in das Weite. Die Entfalteten kehren froh ins Innige zurück.«
Trasyllos: »Du willst sagen, Meister, Leben sei Entgleiten. Dann aber, wenn die Gestalt ihre Möglichkeiten ausblühte, so kehrt sie zurück in das Sein. Und was wir Altern und Sterben nennen, ist das Wiedereinrollen in den Mutterschoß, darin wir wachsen, Keime in der Hut der Scheide.«
Klearchos: »Dessen zum Gleichnis zeichnete die Vorwelt auf Gräber: die Spirale. Betrachte sie vom Mittelpunkte fortgleitend in den Raum, so fühlst du das Lebendig-Entfaltete aufbrechen aus dem mütterlichen Kern. Betrachte sie aus dem Räume einlenkend ins Innere, so scheint ein männlich-strebender Wille zurückzukehren in das süße Glück der Ruhe.«
Epikur: »Mancher aber muß zurück, bevor seine Möglichkeiten sich ausblühten zu Gestalt. Die Erde ist gepflastert mit niemals ausgetragenem Haß, mit niemals ausgegebener Liebe. Mit hohen Hirnen, mit heiligen Herzen. Sie hinterlassen keine Spur! Denn auf den einen Keim, der sich erfüllt, kommen hunderttausende gleich Einzige, zwar ausgewählt, aber nicht berufen.«
Trasyllos: »Ich weiß …«
*
Die Fackel glomm trübe. Nacht umgab sie.
Da schien der Felsen in Fleisch und Blut zu erglühn.
Aus der hinteren Kammer leuchtete deutlich ein Silberstreifen Quarz.
Die Blinde ergriff Epikurs Hand. Sie führte ihn zu einer Felsenspalte, daraus schien das Licht zu kommen.
Sie schritten durch eine blauschwarze Finsternis in eine zweite Höhle. Sie schienen in Nebel zu schreiten, aber plötzlich standen sie in magischem Glanz. Pyramiden und Säulen aus Bergkristall schimmerten in mattem Blauweiß. Erstaunt starrten sie auf das Wunder.
»Der Stein hat in die Finsternis sein Licht entlassen«, sagte die Blinde.
Epikur: »Die Sehnsucht der Nacht ergriff den goldenen Strahl. Sie hat ihn gespalten, hat ihn gebrochen. Nun muß sie ihn ausglühn in siebenfältigem Zauber.
Es sind die vorbedeutenden, vorgeahnten Gestalten zu den Oberen Welten. So auch taucht in der Schlafhöhle der überwachte Geist neugeboren in sich selber zurück. Fernab dem mörderischen Tagesstrahl.«
Sie traten nun in die milchweiße Finsternis. Nacht schien durchlichtet von wunderbaren Farben. Die Kristalle aus den Wänden schillerten bald blau, bald violett. Dann wieder rötlich in glänzendem Schwarz.
Epikur: »Eingebettet in Kristalle schlafen im Erdschoß: Metall und Erz. Rätselhaft rütteln sie die Seele auf, wenn sie in den Lüften Sprache gewinnen: Als schmetternde Trompeten. Als klirrende Becken. Als männermordende Eisen. Als Glockenklänge über Flur und Wald. Krieg und Arbeit, Saat und Gebet schlafen in den Erzen. Aber deutungnäher kommen sie dem Auge, wenn die Säfte des Lebens auch unter der Erde zu Bildern werden. Das Liebesfeuer der Rosen und die Unschuld der makellosen Lilie liegen in Erzen und Steinen. Sommerglut und Herbstgold kehren wieder in Beryll und Opal. Und das Blut brennt in Granaten und Porphyren. Es sind die gleichen Bilder, welche auferstanden droben im Lichte wandern. Derselbe Blumengarten blüht auf der Feste wie in den Tiefen des Meeres. Und als Sternensaat an allen Himmeln.«
Trasyllos: »Führe uns durch die Kammern der Mutter!«
Epikur: »Alle Bilder grüßen euch: Blumen und Sterne. Gebrochene Menschenaugen, zerfallene Menschenhirne. Alle Gefühle, alle Gebete der längst Vergangenen. Sie leuchten und tönen.«
Da knieten die Kinder nieder.
Die Blinde: »Meine Augen sind im Stein. Meine Augen brechen als Veilchen aus der Erde.«
Epikur: »Jede Handvoll Erde, uns durch die Finger gleitend, birgt das Herz Antigones und Platos Herz. Jeder Kiesel ist Hirn von Prometheus und Tiresias Hirn. Einverleibt sind die Bilder den mütterlichen Stoffen.
Aus den kristallenen Wänden brach ferne Musik. Längst verschollenes Lachen und Träne. Die Seufzer lange Vergessener wurden Lied.
Sie lauschten innig der Musik der durch die Berge ferneher brechenden Gewässer. Dann sprach Epikur den
»Du ewigruhender Felsen mußt auferstehn in der saugenden, sinnenden Pflanze, die von Erde und Mineralwelt lebt.
Du festgewurzelte Pflanze erlangst Bewegung im wilden, strebenden Tier, das von Pflanze und Pflanzenodem leben muß.
Im Menschen aber ersteht das Urbild zu raschester Bewegung der letzten Lebendigkeit, zu Geist.
Dann ist der Kreislauf erfüllt! …
Durch ungeheuren Druck der Schwere gepreßt, durch ungeheures Erleiden auskristallisiert zur reinen Form treten aus Grüften hervor: Die Lebenserinnerungen der Vergangenen. Das sind Vorträume der Kommzeit.
Festgebannt sind die Blumen und Blattformen der Gärten und Wälder. Das sind die Gesänge und Wandelgänge der Gestirne. Festgeronnen: Menschenwelt und Weltgeschichte.«
*
Da ergriff die Blinde Epikurs Hand. Sie tasteten weiter durch Gewirre von Gängen, bis sie in die dritte Höhle kamen. Die war schwarz, und es schien, als ob sie einen Garten trage aus Kohle. Ein schrecklicher schwarzer Baum ragte ins Undeutbare. Seine Wurzeln waren nach oben, seine Krone nach unten gerichtet. Eine dunkle Frau lag tief schlafend unter dem Baum.
Sie sahen die Schlafende, dämmernd in losem Umriß.
In verehrendem Schauder schwiegen sie. – –
Sie traten den Heimweg an.
Sie glitten durch ein neues Labyrinth. Da befanden sie sich wieder in der Tropfsteinhöhle, wo die vertraute Fackel treulich auf sie wartete.
Da erst sprach Epikur einen
»Rühmen will ich die Werke des Tages und den klaren wachenden Geist. Preisen will ich den Äther und das Licht, aber zutiefst gebunden sind wir an Dich, Mutter, in der Höhle des Traums.
Himmlischer Schlaf, du entknotest die geballte Schwere. Du lösest die Fesseln: Geburt und Zeit. Du führest zurück in die Seligkeit des alten Todes. Und Schmerzen unsrer Jugend, Enttäuschungen des Mannes, die vielen Qualen des langen Lebens, unsre Laster, unsre Verbrechen folgen uns nach als sanfte Träume, weiterglimmend im alten Stoff.
Licht wird gemessen an Zeit und Zeit an Licht. Aber die Nacht ist unermeßlich-unendlich.«
Klearchos: »Wenn ich das Wort dieser Nacht verstanden habe, Meister, so ist Tod ein Ewiges Sein. Unsere Wachzeit aber im Sonnenglanz ist die kurze Wendung der Seele auf sich selber. Ist: Selbinnewerden.«
Epikur: »Nicht der Seele, mein Klearchos, wohl aber des Lebens. Denn Leben hat auch der Kiesel; Seele aber ist in ihm nur so weit, als Erinnern in ihm ist, das aber heißt: Bildkraft. Wie ein jedes Gedächtnis persönliches Gedächtnis ist, so ist alle Seele persönliche Seele. Seele verhält sich zu Leben nicht anders wie dein Leib zu den Körpern. Seele ist immer das persönliche Leben, und dein Leib ist immer der bestimmte Körper.«
Aspasia: Du hast uns, Epikur, Dämonen kennen gelehrt. Das Wasser als Element der Seele. Die Flamme als den geistigen Gott. Den Äther als den allverknüpfenden Hauch. Die Erde als Mutter der Bilder. Warum grade die Vier? Warum nicht das Eine in der Vier?«
Epikur: »Wisse, meine Aspasia, dunkelsanftäugige, daß Alles, was wir tun und was immer wir reden, nichts ist als: Gleichnis.
Es gibt Lehrer, die sagen: ›So ist es!‹ Es gibt Richter, die sagen: ›Wir haben Recht!‹
Wir aber, wir ehren nicht einen Glauben, sondern jeden Glauben. Wir achten nicht ein Recht, sondern jedes Recht.
Wir beten hinauf zu den Sternen und hinab zu den Grüften. Wir beten ins Wasser hinein und hinaus in den Wind. Wir wissen: Es sind Götter.
Wir ehren jegliches Bild jeglichen Volks. Denn Höheres hat kein Volk als seine Symbole. Die durch Wissenschaft Verdummten, die Abergläubigen der gedanklichen Formel nennen diese Gleichnisse: Lügen und Illusionen. Es sind Leerlaufende. Vernüchterte. Entseelte! Es sind Abgestorbene, Entrasste. Aus dem vollen Element ausgespien in das dünkelhafte Reich eines mordefrohen Geistes.
Aber wir verachten den Priester und den Bonzen! Wir sagen Feindschaft an jeder Kirche, jeder Lehre, jedem Dogma. Unerbittlich bleibt, meine Schüler, gegen jede Schule! Doch vergeßt nicht, daß auch wohl einmal unter Purpur und Diademen, ja zuweilen sogar im Talar und im Priesterkleide das göttliche Herz pocht.« …
*
Im Eingang zur Höhle dämmerte, untermischt mit dem Lichte der Sterne, das kühle Morgengrau. Das blinde Mädchen war die erste, die in der Gruft das Nahen des Lichtes empfand. Denn sie war eine Pflanze in einem dunklen Keller, die ihre Hände immer zum Lichte hindrängt, und da sie kein Licht empfängt, selber immer heller und bleicher wird, indem sie das Licht aus sich selber nimmt.
»Wir wollen zurück«, sprach der Meister, »in den Tag und in die Arbeit! Aber bevor wir gehn, laßt mich zusammenfassen die Erkenntnis von den vier Dämonen:
Vierfach sind die Naturen der Menschen, je nachdem einer der Dämonen herrscht. Der Eucholiker ist der Mensch der Luft. Der lustige Äther herrscht in ihm. Der Choleriker ist der Mensch der Flamme. Heiß und gierig greift er nach seinem Anbild. Der Melancholiker ist ein Mensch des Wassers. Denn Wasser ist Seele, und jede Seele birgt die Trauer der Grenze. Der Phlegmatiker aber wächst wie Erde und Stein: unbeeindruckbar, schwer beweglich.
Die Vierheit wird uns offenbar durch Gehör, Geschmack, Getast, Geruch und Gesicht. So wie Wasser zu Erde und wie Luft zum Feuer, so verhält sich in der Gehörsphäre das Milde zum Herben und das Scharfe zum Rohen. So: In der Sphäre des Geschmacks das Süße zum Sauren und das Salzige zum Bittern. So: in der Sphäre des Getastes das Streicheln zum Kitzel und das Jucken zum Brennen. So: In der Sphäre des Geruchs das Blumige zum Essiglichen und das Brenzlige zum Fauligen. So: In der Sphäre des Gesichts das Blaue zum Grünen und das Gelbe zum Roten. Vierfach ist die Wurzel des Lebens wie die Wurzel des Denkens. So versühnt einander: die zwiefach gespaltene Zweiheit.« –
Er schwieg.
Nach einer Weile aber fuhr er fort:
»Jeder Sinn offenbart eine andere Wirklichkeit. Aber Jede ist tauglich zum Gleichnis für Jede.
Die Zeichen des Himmels sind prophetisch für die Schicksale auf Erden. Aber auch auf Erden ist zu lesen, was in Himmeln geschieht.
Dem Dämon des Wassers untertan sind die Dunkelmütigen, die im Tierkreiszeichen Krebs, Skorpion und Fische Geborenen.
Dem Dämon der Luft untertan sind die Hellmütigen, die im Tierkreiszeichen Zwillinge, Wage und Wassermann Geborenen.
Dem Dämon Erde untertan sind die Starrmütigen, die im Tierkreiszeichen Stier, Jungfrau und Steinbock Geborenen.
Dem Dämon Licht untertan sind die Flammmütigen, die im Tierkreiszeichen Widder, Löwe und Schütze Geborenen.«
*
Während der langen Nacht hatte das weiße Hündchen unter seiner wärmenden Decke im Körbchen der Lais geschlafen. Die Angst wie das Wunder dieser Nacht waren in seine bangdunkle Seele nur als Zug dumpfer Träume gedrungen. Nun gab sein Erwachen das Zeichen: »Der gewohnte Tag fordert euch alle zurück!«
Sie traten vor den schwarzen Teich! Sie blickten in das schwere Auge.
In dem Wasser sahen sie ihre eigenen Bilder dämmern. Und sie fühlten, daß sie emporgestiegen waren und losgelöst von der Mutter für einen wissenden Tag.
Trasyllos: »Ich möchte bleiben und nicht zurück.«
Chloë: »Droben wirst du dein Bild wiederfinden: verkümmert, verstellt, vertrübt.«
Epikur: »Es ist nur der kurze Augenblick, darin wir wissen, was wir nicht mehr sind. Dann kehren wir heim ins Ewige Nichts, wo jedem Wunsch jede Erfüllung gewiß ist.«
Aspasia: »Ich werde wachsen als mütterlicher Baum. Als eine Buche oder eine Linde. In einem schattigen Tal, nahe bei Menschen.«
Klearchos: »Unter den Wassern, in Leibern der Fische werde ich schaukeln. Wo an ferne Gestade die Brandung schlägt.«
Diotima: »Ein Falke schweb' stolz ich im Ätherblau.«
Lais: »Eine Sterneblume blüht, lockend den Schmetterling.«
Eusebios: »Ich will wandern von Stern zu Stern.«
Trasyllos: »Eine kleine Wolke zieht aus der Welt.«
Epikur: »Willkommen sei jede Gestalt, in der wir einander wiederfinden. Aber keine wird uns je vergessen machen den Schmerz der Grenze.«
Trasyllos: »Wählst du den Gott? den Menschen? den Stern?«
Epikur: »Niemals Wiederkehren sei unser Ziel, wenn die Schuld gesühnt ist.«
Aspasia: »Wann ist die Schuld gesühnt?«
Epikur: »Wenn wir nicht mehr Geschlecht sind und nicht mehr Hand.«
Chloë: »Nicht mehr Hand?«
Epikur: »Wenn wir reines Auge sind.«
Trasyllos: »Wie werden wir reines Auge?«
Epikur: »Durch das Denken gerichtet gegen das Denken. Durch das Wollen gerichtet gegen das Wollen.«
Chloë: »Zuletzt will die Liebe das Nichts.«
Epikur: »Darum liebet euch!«
Trasyllos: »Und so müssen wir doch zurück?«
Diotima: »Ist denn noch irgend etwas wichtig nach dieser Nacht?«
Epikur: »Fortan ist Alles gleicherweis nichtig und wichtig.«
Klearchos: »Und wieder die Not? Und wieder die Dummheit? Und wieder das Gemeine und wieder das Niederträchtige. Und die Eitelkeit. Ach! Dieser Narrenmarkt der Eitelkeiten?«
Epikur: »Und in allem die Lust des Krieges.«
Eusebios: »Und Unendlichkeit auf zahllosen Wegen.«
Epikur: »Wer die Erde durchwandeln wollte, der würde sich im Kreise bewegen. Er müßte zurückkommen zu demselben Flecke, von dem er ausging. Wer aber in einem bestimmten Punkte Wurzel schlägt und bis ins Tiefste geht, der gelangt von überallher in den einen Mittelpunkt. Da werden alle Dinge gleich schwer.«
*
Da nahmen sie einander froh an den Händen und schritten mutig zurück in den Tag und in die Forderung seiner Not.
Schweigend traten sie aus der Höhle. Schweigend schritten sie den bekannten Pfad.
Der Sonnenwagen rollte über den Erdrand. Das Hündlein umsprang sie. Als sie vom Hügel die Stadt erblickten mit Tempeln und Mauer, da sagte in plötzlicher Erleuchtung die Blinde: »Meister, hast du nicht gemerkt, daß aus den Felsen Myriaden Hände sich streckten? Wen suchten sie?«
Epikur sagte ernst: »Deine Hand.«
(1928)
… Und ich sah in einen tiefen Schlund,
Sah hinab bis in der Erde Grund,
Sah gereckt, gestreckt, geballt, gekrallt
Hände, Hände – jäh und ungestalt.
Blumenhände … junger Stamm und Baum
Neulich drängen lichtwärts tief aus Traum,
Lippen saugen an der Sonne Strahl,
Quellen drängen schwellend aus der Qual.
Tiere: Pfoten, Tatzen, Pranken, Klaun,
Sehnsucht treibt sie aus der Urwelt Graun,
Alle krallen gierig sonnewärts –
Und es griff wie Beten an mein Herz.
Menschenhände: schwarz und weiß und braun,
Brünstig tastend: Männer, Kinder, Fraun,
Aus der Mutternacht des Abgrunds bricht
Stummer Hände Hungerschrei nach Licht.
Arme Hände, die wie Bettler sind,
Welche frierend stehn im Winterwind,
Frierend vor der Reichen Häusern stehn
Und in Sehnsucht durch die Ritzen spähn.
Schwere Hände, die gleich schweren Kühn
Auf dem Acker sich im Pfluge mühn,
Arbeitstreu im grauen Tagestun,
Bis der Bauer Tod sagt: »Magst nun ruhn!«
Frevle Hände, die polypenweich
Tasten aus der Tiefsee Totenreich,
Wen die quallig zähe Faser faßt,
Schlängert sie hinab in Mordmorast.
Spielerische Hände leicht und scharm,
Mütterliche Hände hegewarm,
Zweiflerische Hände ziep und kühl,
Betend heißer Hände Gottgewühl.
Schaudernd dacht' ich: Tod hat nichts gereift,
Einsam Jedes neu ins Leere greift!
Aber plötzlich ich den Ruf verstand:
Aller Toten Hand sucht
deine Hand.
Aus dem Schlunde eine Kinderhand
Sah ich ragen, mir so wohlbekannt,
Suchst du, heimgekehrt ans treue Licht,
Deines Vaters wachend Angesicht?
Und ich fasse sie und halte fest,
Die auf Ewigkeit mich nimmer läßt.
– Drücke mir im Tod die Augen zu,
Leite mich zur Mutter, Liebe du!
*