Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.
Morgen am Wasser

Zwei Wege gibt's, Natur den Schleier abzuheben:
Des Lebens Weg zum Nichts, des Todes Weg ins Leben.

Schon kam die Sonne über den Honigberg. Die weiße Stadt liegt schon im Glanze.

Ober dem Hügel, am Bache, leuchtet das Gartengelände.

Unter den Ölbäumen dort schimmert einsam das Haus des Philosophen. Im Säulenvorbau des Hauses blitzte ein Pförtchen auf. Aus der Pforte hervor tritt ein Mann, auf der Höhe des Lebens.

Er blickt hinaus in den jungen Tag.

Auf den Gräsern, durchwirkt mit wilden Hyazinthen, glitzert noch Tau der Nacht. Der Pfad weist schlängelnd über die Wiese, hinab zu den Zypressen. Bei den Zypressen beginnen wein- und rosenüberwucherte Steigen.

Die Steigen führen hügelab. Fernher dämmert das Meer …

 

»Gegrüßt am neuen Morgen, Gefährten! Erhebt euch! Damit wir im Meere baden!« –

 

Auf des Meisters Ruf treten sechs Schüler in den beginnlich leuchtenden Hain.

Drei Jünglingknaben: Eusebios, Klearchos, Trasyllos. Ihnen folgen in Anmut drei Mädchen: Aspasia, Diotima und Lais.

Der Meister schreitet über zerbröckelnde Stufen. In ihren Spalten huschen grüne Eidechsen. Die Knaben und Mädchen folgen. Das Hündchen umspringt sie.

Scherzend schlendern sie über die Wiese zu den Zypressen. Bei den Zypressen steigen sie die Terrasse hinab.

Nun stehn sie am Meeresstrand.

 

Während die Kinder die Gewande abstreifen und zum Frühbad in das heilige Wasser tauchen, lagert Epikur unter einem vorspringenden Felsen. Der Fels hat die Gestalt eines Riesen. Das Volk nennt ihn »den Chiron«. Von hier kann das Auge hinausschauen über die rollenden Wogen.

Trasyllos bleibt beim Lehrer. Er ist der jüngste, ein wenig kränklich. Während Epikurs Rechte streicht über die schwarzen Locken des Knaben, schöpft er mit der Linken eine Handvoll Wasserschaums.

Er läßt die Perlen vereinzelt abtropfen durch die Linien seiner geschlossenen Hand. Dem Falle der Tropfen nachblickend, spricht seine dunkle Seele zu sich selber.

Vom Werden der Welt

»Öde waren die Wasser, ehe der Weckende kam.

Nichts als Weite ohne Bewegung! Blinde Seele ohne Licht! Dunkle Wüste ohne Bewußtheit! Ungeformtes All-Einerlei!

Endlich aber kam: der Erwecker. Das Heiße durchwogte die Feuchte. Und im schwärenden Punkte, wo Vater und Mutter kreuzten, schlug sich auf das Wunder: Die Gestalt.

Der Erscheinungen Mutter entstieg der schwarzen Flut. Ihr Leib war Welle, Welle ihr Haar.

So taucht am Morgen ein Traum aus unbewußten Tiefen.

 

In Äonen bildete sich aus befruchteter Erde (Flamme in Wasser!): die Gestaltenbilderschau, die wunderbare Welt.

Lange Jahrtausende drängten Pflanzen hervor aus dem Schlamm. Lange Jahrtausende verschlangen einander Tiere, hervorsteigend aus feuchtem Lehm.

Und es entstand, von der Not getrieben, wie es konnte und gelang: Das millionenfältige Schaugebild bewegter Flut.

 

Endlich auch erschienen Wir: des Meeres jüngste Kinder. Menschen!

So nennen wir denn die von uns gemessene Welt mit dem Worte: Seele. Seele, das ist: kleiner See.

Denn Wasser ist Seele. Wo nicht Wasser strömt, herrscht Wüste. Und wie die See, so ist die Seele: Erregung und Stille, Ruhe im steten Strömen. Strudel, Spiegel, Spiel.

Denn alle Gestalten sind verfestigtes Wasser: Wolke, Regen, Hagel, Schnee, Eis und Kristall. Und alle Leiber werden genährt vom Wasser. Und alle müssen in Wasser verrinnen.

Auch eure schönen Bilder, ihr Geliebten, sind für ›Augen-Blick‹ geronnenes Wasser.

Mutter der Gestalt! Trage ein Weilchen den kleinen Nachen, darauf wir, beherrscht von dir, dich beherrschen. Bis du uns auftrinkst: Schaum in Schaum.«

*

Indes des Weisen dunkle Seele so zu sich selber sprach, hatten Jünglinge und Mädchen einander bei den Händen ergriffen. Von Wellen gehoben und auf den Wellen reitend, riefen sie: »Wir sind Tritonen!« »Wir sind Doriden!«

Lais aber, die jüngste, bekränzte sich mit Schilf und rief lachend zum Philosophen:

»Ein Büschel Tang, von Welle zu Welle getragen, so gleitet der Geist, du Grübelnder, durch der Menschen Geschlechter. Ergriffen und begreifend. Die Welle wechselt. Aber es ist immer der gleiche blühende Tang. Nichts gehört dir! Komm, sei fröhlich!«

 

Epikur gab lachend zurück: »Wollt ihr nicht lieber zum Frühstück schreiten, Kinder? Hier liegen Trauben und Pfirsich, sauber auf Weinblatt gebreitet. Hier Ziegenkäse und Feigen bereit. Hier wartet in Krügen die schäumende Milch. Reine Nahrung aus Erde und Luft.

Sie möchte Leib werden in euch, Gedanke in Trasyllos. Stolz und Mut in Eusebios. Und im Klearchos ein rührendes Lied. Anmut in Aspasia. Besonnenheit in dir, Diotima. Und Übermut in dir, spottende Lais.«

 

Alsbald wateten die Knaben im losen Sand, dem Gestade entlang. Sie spähten nach Muscheln und Seetieren. Denn die Flut pflegt allnächtlich zurückzulassen mancherlei Gebild aus der Tiefe.

Trasyllos kam gelaufen und hielt in der Rechten eine graue Schale. –

»Nimm die Schale an dein Ohr, Trasyllos, und sage, was hörst du?«

»Ich höre einen tiefen summenden, einen klagenden Ton. Ganz ferne!«

»Das ist die Stimme der Mutter, und ihr versteht, was sie raunt. Auch wir sind Muscheln, vom großen Meer an den Strand gespült, bis zur nächsten Flut. Aber in unser Gehäuse drang das Tröpfchen Licht:

›Des Menschen Leben ist des Schattens Traum,
Doch drang hinein der gottgenährte Strahl,
Wird Glanz von oben und die Stunde süß.‹

Nun aber will ich der Muschel die Schale brechen. Ich töte das Geschöpf und vergieße Blut. Denn lernen können wir nur vom Tode und seinem Schmerz.«

 

So sprechend zwängte Epikur seinen Daumen zwischen die leise zitternden Flügel der Schale.

Ein schwerer dunkler Blutstropfen quoll heraus.

Das Geschöpf bemühte sich im Krampf, seinen Verschluß zu sperren. Aber als er die zwei Schalen auseinanderriß, zeigte sich im Innern ein silbriger Glanz.

»Nun sage, was siehst du?« wandte sich Epikur an Klearchos.

»Ein Stückchen lebenden Schleims.«

Aspasia: »Da ist ja ein Kügelchen! Ein Tropfenei, vom Meer gesendet!«

»Die Perle ist es!«

»Sie sieht wie eine Träne aus«, erwiderte Eusebius und fügte hinzu: »Das Volk auf den Inseln sagt: ›Perlen sind Tränen.‹«

»So ist es! Wie die Perle wächst im Muschelschoß, so wächst Geist im Nächtigen der Seele. Und so wachsen Werke des Geistes in des Lebens dunkler Flut. Denn merkt: Das Werk der Welt wird aus Wunden gebaut.

Nur wenn ein Feindliches, sei es ein Leben bedrohender Gegner, sei es Widerstand wie Sand oder Stein, in die Muschel eindrang – so wird das Geschöpf die Perle bilden.

Auch der Logos dringt aus den Seelen heilend, wie das edle Harz heilend blutet aus verletztem Stamm. So tritt das Wort, das Lied aus stummen Abgrund. So wächst der Gedanke im Haupte der Philosophen.

Und dies sei meine Antwort für dich, mutige Lais.«

 

»Evoë!« jauchzten die Knaben.

Schon war Lais neu hinabgeglitten in die Welle und rief: »Komm, Epikur, hasche die Perle

*

Klearchos, der Jüngling, abseits lehnend am Fels, griff in die Lyra. Von Takt zu Takt dunkle Akkorde lockend, sang seine schwere Seele zu dem lieblichen Spiele der Flut.

(Ferne aber zogen Segel vorüber.)

»Von deiner Sonne beschienen, enttauchen aus Wellen die Städte.
Elfenbeinleuchtend: die Leiber der schwimmenden Knaben und Mädchen.
Schwarze Zypressen in silberner Flut, Granaten wie Blut rot,
Schwebende Schatten der Möwen, gedankengleich schwebend,
Über den Wassern … den Wassern.

 

Fährmann, ich rufe dir! Charon, was kommst du nicht? Trage die Kugel,
Die Kugel, aus Wasser geballt in den Händen, und singe:
›Stille! Es gleiten in Dunkel, es gleiten,
Ruderlos gleiten, aus Nägeln der Toten, Schiffe dahin …‹«

 

»Schweige!« rief Epikur unwillig.

»Immer wieder sinken Gestalten steuerlos zurück ins alltragende Schicksal. Immer wieder aber, wache Insel aus wasserüberspültem Bergland, taucht aus der Flut hervor: Unser Atoll: der wachende Tag

»Künde vom Unermeßlichen!« bat Klearchos.

Epikur: »Jetzt ist Wirkens Zeit! Am wachen Tage müssen wir uns bewähren! Freut euch der kurzen Wachzeit im Sonnenglanz!

Schleudert den Speer zum Ziel! Meßt euch im Hochsprung, im Weitsprung: übt euch stündlich im Fünfkampf! Wir haben nichts als unsern Leib.

Jetzt weht noch Kühle vom Meer. Noch lähmt nicht der Gott unser Blut mit der lotrecht sengenden Fackel.

Wer alle Gegner niederwarf, der Sieger über sich und die andern, der komme! Dem will ich künden, was wißbar ist vom Unwißbaren.

 

Da liefen die Jünglinge entlang dem Sande, die Speere holen.

Sie trugen die blanken Scheiben des Diskos und Salbgefäße.

Die Mädchen ordneten indes die Gewänder und faßten einander an den Händen. Und, vergleichbar den drei Schicksalschwestern oder den Grazien, tanzten sie unter den Platanen am Meer.

Gleichmäßig taktete die See den schläfernden Ruderschlag des Charon.

In heiteren Reigen zu lieblichem Spiel
Wir schaukelnde Wogen, wir wogender Tanz
Webt Heben und Schweben, beruhigter Kampf,
Das sichtbare Bildwerk des Lebens.

Wir winden die Kränze, wir lösen die Form,
Wir schaukelnde Wogen, wir wogender Tanz,
Wir tanzende Mädchen, vom Gotte durchwärmt,
Sind Blutes lebendige Blüten.

Lebendige Blüten, vom Leben geträumt,
Kurz tragen die Wellen den tröstlichen Traum,
Noch leuchtet die Sonne, noch wirken wir wach
Des Meeres lebendige Blüten.

Inzwischen hatten die Jünglinge ihre Kampfspiele geendet.

Klearchos aber war der Sieger geworden in Laufen, Ringen und Weitwurf.

Stolz bescheiden trat er vor Epikur und sprach: »Ich danke der Moira einen Sieg. Wirst du nun antworten auf die Frage nach dem Unermeßlichen?«

Epikur sprach: »Setzt euch um mich.«

Da wickelten sie sich in Himatien und Peplen und lagerten im Sande.

Während die Mädchen begannen, Kränze zu winden (einen Kranz aus Lorbeer und weißen Rosen und einen andern Kranz aus Weinlaub und roten Rosen), begann Epikur den Unterricht dieses Morgens.

(Margo, das Hündchen, lag wachsam daneben und spitzte seine Ohren.)

Thales und das Meer

»Es war einmal eine Seestadt! Ragte hoch empor an der Küste Ioniens. Man nannte sie: die hunderttorige.

Unter einer Million handelsbeflissener seefahrend tüchtiger Leute wachte daselbst ein kleiner Geheimbund.

Diese aber nannten sich: Die Immersegelnden.

Denn ihr großes Geheimnis war: das Meer. Und sie nannten das Meer: Apeiron. Das Unermeßliche.

In des Menschen Seele, Freunde, singen zwei Vögel. Ein Nesthocker und ein Nestflüchter.

Das eine ist der Wandervogel. Ihn reißt es hinaus zur Ferne. In die fremdesten Länder, zum Ungeschauten, Unerhörten, Unerschaulichen, Schauerlichen.

Der andere Vogel aber will zeugen, nisten, brüten. Und darum liebt er, sich enge zu umzirken, weil er Heimeligkeit braucht und streng behütete Stille.

So nun lehren die ›Immersegelnden‹:

›Fürchtet, Knaben, den purpurdunklen Meeresschoß, der unser Ich verschlingt, das kleine Floß, darauf wir wachen.

Fürchtet, Mädchen, die Dämonen: Sie wollen uns vom Geiste erlösen, uns, die zum Geiste Erlösten.

Verloren ist, wer das Maß verlor!

Darum verpönen wir, Söhne des Prometheus, alle bacchische Lust, weil sie hinreißt, lockert, auflöst, zerreißt.

Darum lassen wir, angeschmiedet an Felsen, uns lieber vom Geier des Schmerzes nagen, als daß wir folgen den Sirenen.‹«

Klearchos: »Ist es nicht Eros, der die Form zerstört, sei es, daß er zersprengt, sei es, daß er zerschmelzt?«

Epikur: »Der uns segnende Gott ist: Eris. Er ist der einbindend welterhaltende Geist, Vater aller Dinge.«

Klearchos: »Stirbt denn an Liebe die Welt?«

Epikur: »Fest gegründet ruht sie auf Widerstand.«

Klearchos: »So preisest du den Haß

Epikur: »Aus Hasse: das Kosmos.«

Eusebios: »So wäre auch Gerechtigkeit nur ein Hassen?«

Epikur: »Aller Wert: aus Streit.«

*

Alsbald fuhr der Meister fort in seinem Vortrag:

»Dio-nysos, Gott-sohn führt den Geheimnamen Lyaios, Erlöser, weil er Form und Name zerstört. Denn wie Wärme die Formen zerlöst in das mütterliche Element, Kälte dagegen sie steinern gegeneinander vereinzelt, so bedarf der Kosmos des kalten und bösen Gottes, des wählenden, ausschließenden, der uns zeugte, uns erhält. Denn am Widerstand entzündet sich das Element, wie Wellenschaum an diesem Felsen.«

Diotima: »Ist es aber unser Ziel, das Böse zu überwinden, ist dann nicht auch unser Ziel, die ›Welt zu überwinden‹? Uns selbst dahinzugeben?«

Epikur: »Wir bedürfen der Dämme! Lebendiges, ohne Form, unermeßlich, fließt über; Gestalt in Gestalt, Traum in Traum.«

Klearchos: »So wäre es nur kaltes Licht, welches Form hebt gegen Form?«

Eusebios: »Ist die Welt: ein erstarrtes Bild? Wie Schmerz die Seele verstarrt zu Bildsäule ihrer selbst?«

Epikur: »Auf diesem Felsen, der eines erstarrten Menschen Gestalt hat, wollen wir lernen: Das stolze Wissen um Menschenleid.«

*

Hier schwieg Epikur. Sein graues Auge blickte fremd über die Wasser. Klearchos aber, den dunklen Faden der Worte aufgreifend, fragte bescheiden:

»Sprach nicht Epikur: ›Was wollen die Wasser? Lust! Was will die Flamme? Lust! Was will die Erde? Lust!‹«

Epikur: »Wohl! Man nennt mich ›Meister der Lust‹. Der aber die Lust lehrte: Hegesias, der ›zum Tode überredende‹, heißt der Nachwelt: ›Zerstörer der Gestalt!‹ Denn Gestalt ist gestautes Leben. Stauung aber Grenze. Und jede Grenze: Schmerz.«

Klearchos: »Lehrest du nicht Seligkeit des Lebens?«

Epikur: »Ich lehre: Die Unterschiede! Und wüßte nicht, wodurch man anders Lebendiges unterscheiden könnte als einzig nach der Art, worin ein jedes seine Lust sucht.«

Diotima: »Kann Seele Lust anders empfinden, denn einzig als Unterschied gegen früheren Zustand?«

Epikur: »Du siehst: Lust nicht ohne Schmerz.«

Klearchos: »Sinnlos scheint mir ›ewige Ruhe‹ jenseit von Lust und Schmerz.«

Eusebios: »So gewönne das Leben Sinn nur aus seiner Not? Nur aus Beziehung zu Notwendigkeit?«

Epikur: »Du sagst es. Aus dem Zwange, Not zu wenden

Aspasia: »So scheint denn unser Leben unterhalten zu werden durch Not, deren Abstellen Sinn des Lebens ist.«

Epikur: »Der oberste Satz alles Wissens ist: ›Mindere die Not.‹«

Aspasia: »Und doch ist Aufheben der Not und mithin Voll-Endung – Rückkehr ins Gestalt- und Grenzenlose?«

Epikur:

»Es muß die Menschheit ringen nach dem Ziele,
Bei welchem angelangt die Welt zerfiele.«

*

Lange schwiegen die Gefährten und dachten nach: dem Sinne des dunklen Reims.

Endlich flüsterte Klearchos ungewiß: »So wäre unser Eintritt in den Tag: Eintritt in die Morgenzeit der Ebbe.«

Epikur: »Das Meer hat Gezeiten nach Sternengebot. Wenn der Gott im Mittage steht, so kehrt das Chaos zurück.«

Eusebios:

»Taucht der Gott aus der See,
Wollen die Wasser zur Höh'.«

Epikur: »Ihr Freunde, schmäht nicht die Zeit der Entbehrung! Verachtet nicht Vernüchterung. Nicht die sandreiche Ebbe!

Heilig die Ebbe!

Heilig der Morgen!

Heilig die Nüchternheit!

Im Garten Epikurs beginnen wir den Tag mit einem Trunke klaren Wassers und mit dem Lobe der Nüchternheit …«

Die Mädchen lächelten. Aspasia, eine rote Rose küssend, äußerte schnippisch: »Immer schmäht Epikur die Zauber der lebenspendenden Aphrodite.«

Diotima ergriff lachend das Plektron und summte leise ein Lied der Sappho:

»Taumle hinab. Es haben die tückischen Wogen
Maßlose mich in Durstes Strudel gerissen,
Weingleich gärt nun das Blut, und wie kochende Laven
Wirbelt das Herz mir.

Bebendes Schilf am nächtigen Rand des Gefälles,
Wehe im Sturm und opfre die Locke Ananken,
Wehe! Schon greifen mich suchend saugende Lippen
Unwiderstehlich.

Tief gesunken, Schlammnacht im Banne der Schlammnacht,
Werde gesellt den Schatten am Quelle der Welten.
Schlucke mich, Nacht! Wird je das Auge des Retters
Finden mein Saatkorn?«

*

Indessen unter dem hängenden Felsen sie philosophierten, schritt einsam ein Wanderer am Meeresstrande dahin vor dem salzigen Seewind.

»Seht,« rief Eusebios, dessen blankklare Augen den Wandernden erspäht hatten, »dort kommt Alkmäon.«

Die Knaben sprangen auf und liefen dem Kömmling entgegen. Denn Alkmäon, der Arzt, kam oft am Morgen und beteiligte sich gern an ihren Turnspielen oder an Gesprächen.

Epikur rief schon von ferne: »Freue dich!«

»Freue dich!« erwiderte der andere.

»Wir weihten den jungen Morgen dem Wasser«, sprach Epikur. »Willst du künden vom Heile der lebensegnenden Quellen?«

Alkmäon, der Alte, strich sich durch den ergrauenden Bart. Er lächelte behaglich.

»Ich bin ein Arzt und kann euch nicht wie die Dichter führen in Tiefen der Wesenheit. Aber von den Wohltaten fröhlicher Nymphen weiß ich mancherlei. Von den Wassern, den steinebildenden, steinezernagenden. Sie erneuern das Blut und bauen den Leib. Und wenn ihr hören möget, so will gern ich erzählen von den Heilkräften der Wasser.« Da schlossen sie um den Alten den Ring, und dieser begann:

Vom Heile der Wasser

»Wie die Adern durchlaufen den Leib der Pflanzen und den Leib der Tiere, so durchlaufen die Gewässer den Leib der Mutter Erde und führen ihr das Blut zu, den Sitz der Seele.

Alles Blut nämlich ist rhythmisch pulsendes, kreisendes Element. Bei den Kaltblütern ist das Blut nichts als Wasser. Bei den Warmblütigen aber, den heißblütigen Geschöpfen, kommt ein anderer Dämon obsiegend über das Wasser: die Flamme.

Diese, den Leib mit Wärme heizend, färbt das Blut rot und so flammend, wie die Sonne ist.

So sind denn im Blute Wasser und Feuer aneinandergekoppelt, wie im Wesen der Menschen: Seele gebunden an Geist.

Es ist nun aber so geordnet, daß das Blut sich regt in Kreisläufen und in einem steten Auf und Ab von Welle und Tal.

So auch steht es um die Gewässer, die vom Lichte gehoben, zum Uranos sich verflüchtend, als Wolken über die Erde dahinziehn und dann wieder, angesogen von Mutter Gäa, herabsinken als befruchtender Regen, der sich zur Scholle senkt wie Zeus zum Schoße der Danae.

Die Gezeiten der Fluten aber, von den Sternen verfügt, folgen in Systole und Diastole der großen Welle. Sie entschlafen, erwachen. Versinken in Tod, erregen sich neu. Ihnen folgt alle Gestalt.

Ihnen folgt unser Herz und unser Hirn, der Pulsschlag des Bewußtseins, der Pulsschlag des Gefühls. Ihnen folgt der Rhythmus von Geburt und Tod, das Gesetz des weiblichen Schoßes wie der männlichen Kraft. Und so ist es nicht wunderlich, daß alles, was sich dem Wasser fügt, sich ründet zu Kreisform und Kugel. Der Regen und das Meer. Das quike Silber und die Quelle. Die Blattknospe, wenn sie aufbricht, und der Eiszapfen, wenn er taut. Denn Alles, was schwillt und quellt, kommt aus Kugel und Kreis. Es muß sich entfalten und weit ausbreiten in Raum. Aber es kehrt alternd zurück in die Urform: den kosmischen Ring.«

 

Indem der Alte so redete, ergriff er einige von den bunten Kieseln, die im Meeressande glitzerten, und schleuderte sie weit hinaus über die plane Fläche des Wassers, so daß sie oftmals emporhüpfend über den Spiegel tanzten gleich Teufelchen.

Dies war ein Spiel, in dem sie sich oft am Meeresstrande übten.

So griffen denn auch die Knaben und bald auch Epikur und die Mädchen nach den runden Kieseln, und alle wetteiferten, sie über die glatte Fläche zu schleudern, so daß sie viele Punkte berührten und möglichst viele Kreise aufregten, welche sich dann schnitten oder störten.

Das Meer aber lag zu dieser Stunde ruhig wie ein beruhigtes Gemüt, ausgewogen und klar.

Die Kreise verzitterten langsam auf der weiten Ebene, bald einander treibend, bald auch überkreuzend.

 

Alkmäon sprach zwischenhinein:

»Als noch der große Perikles an diesem Gestade schritt, hat er oft mit farbigen Kieseln gespielt; so spielen die Götter mit Welten.

Und ich hörte als Knabe ihn sprechen: ›Wir leben an der Oberfläche über dem Abgrund. Wir bilden Kreise, vom Widerstand erregte. Ringe müssen sich fördern oder befeinden. Um so bedeutungsvoller wirst du, an je mehr Bingen du Anteil nimmst. Die großen Steine erregen große Wirbel. Aber auch die verworrensten Ringe lösen sich bald in die Stille ewigen Elements.‹«

Epikur nickte Beifall zu diesen Worten. Er blickte schwermütig auf die einander umspielenden Ringe, die sein Steinwurf auslöste.

»Verstündet ihr das Bild dieser Ringe, dann hättet ihr das Letzte und Erste.«

»Wie das?« riefen die Schüler.

Da sprach der Weise: »Dies ist das Bild der Wahrheit

Alkmäon aber, der den Sinn ahnte, warf die Frage dazwischen:

»Und das Wesen des Irrtums

Epikur sprach: »Soll ich in Gleichnis fassen alle Irrtümer des Menschengeschlechts, alle Täuschungen der Forscher, den Wahn der Logiker, nun, so will ich das Gleichnis hier in den Sand des Ufers zeichnen. Sehet her!«

Indem er dieses sprach, ritzte er mit dem Finger in den Sand zwei gegeneinander gekehrte Pfeile.

Dann sagte er: »Dieses wäre, was die Sophisten ›Philosophie‹ nennen.«

Die Schüler blickten verwundert. Epikur aber fuhr fort:

»Was ist das Verstehen des Menschen anders als Ver-Stellen? Das immer klare Leben wird von uns ver-stellt. Warum: ver-stellt? Um es zu übermächtigen! Wir wollen nicht erkennen. Wir wollen immer nur machen und tun. Wir wollen Macht über alle Erden.«

Alkmäon: »Was denn ist Erkennen

Epikur: »Erkennen kannst du nur, Alkmäon, was du bist! Verstehen aber wirst du es, wenn du es machen kannst.«

Alkmäon: »So wollen wir den Rang der Weisen fürder nicht bemessen nach Dem, was sie zu fragen haben, sondern nach Dem, was nicht fraglich, also selbstverständlich ist.«

Epikur: »Der Weise sieht die Menschen streiten über Dinge, die ihn nicht beunruhigen. Weil er das Schiefe, Verlogene, Irrtümliche aller Fragestellungen ahnt. Das Leben ist fraglos. Und wir sind lebendig. Der Schauende ist! Warum fürchtest du dich, da du selber all Das bist, was du fürchtest?«

Darauf schwieg Epikur.

Es verging lange Zeit, während deren man nur hörte, wie die Steine auf das Wasser klatschten.

Endlich fuhr er fort:

»Wie ich den Kiesel nicht ergreifen kann mit diesem einen Finger, sondern, um zu ergreifen, deren zweie nötig habe, so kann ich nichts begreifen mit einem Begriff. Immer bedarf ich deren zwei!

So sind denn Begreifende Sklaven der Zahl Zwei. Und wissen es nicht. Begreifende, Befingernde, Betastende sind sie nicht: Lüsterne, Geltunggierige, Unkeusche?

Geht aus dem Wege denen, die in Gegensätzen denken, gleich zwei gegeneinander gerichteten Pfeilen.

Wer von außen tastet, dem spaltet sich Alles in Polarität. Ein Richtigsteller findet überall Widerspruch. Und weil er nicht Einheit erlebt, sondern immer dasteht als der Wollend-Gespannte vor einem Zielpunkt (hie Ich – hie Du; hie Subjekt – hie Objekt; hie Außen – hie Innen) – nun! so schilt er alles Leben ›Widerspruch‹. Und: ›nicht be-greifbar‹. Wie aber kann es Widerspruch geben, wenn doch Lebendiges erscheint in einander umspielenden Ringen?«

*

Indem er dies sagte, malte Epikur neben die zwei gegeneinander gerichteten Pfeile ein anderes Bild: Kreise, die einander umspielten.

Dann sprach er: »Jeder dieser Kreise ist eine ›Bewußtseinswelt‹ mit ihren Inhalten und Gegenständen.«

Alkmäon: »Doch sage, Epikur, könnte nicht, was in diesem engeren Kreise wirklich ist, sich hier in diesem weiteren Kreise auflösen zu einem Nichts

Klearchos: »Und so wie dieser kleine Kreis hier nur ein kleines Eckchen faßt von diesem größeren Kreise, so mag die ›Wirklichkeit‹ der Libelle dort einen Ausschnitt fassen von jener ›Wirklichkeit‹, die wir Menschen ›die wahre‹ nennen.«

Alkmäon: »Und somit wäre das Sinn- und Merkreich des Fisches im Wasser oder der Schwalbe überm Wasser genau so unwiderleglich wie unsere Gesichtswelt?«

Epikur: »Wohl, die Wirklichkeit ist vielfach! Nie aber die Wahrheit. Denn was der logische Geist als gültig auffindet, das ist unbedingt bündig, schlechthin.«

Alkmäon: »Gültig schlechthin?«

Epikur: »Ja! Für den logischen Geist.«

Alkmäon: »Aber das Tier vernünftelt noch nicht, und der Gott nicht mehr.«

Epikur: »Es ist ein Unterschied, ob ich innerhalb eines dieser Ringe bin oder ob ich von außen, sie alle überblickend, Ring aufhebe in Ring, System auflöse in weiteres System.«

 

Nach einer Weile, während deren sie, des Spieles müde, still über die Wellen schauten, begann Alkmäon den Päan:

Preislied auf die Gewässer

»Wir sind verschworen ewigem Kreislauf!

Erdenwasser geht zum Himmel. Himmelswasser geht zur Erde. Es ist der alte Okeanos, über uns, unter uns.

Ja! Im ewigen Kreislauf trinken Gewässer alle Stoffe der Welt. Durch jede Gestalt gehn sie, bauend oder reinigend.

Gewässer tränken! Alle Gestalten schöpfen aus dem Wasser das Leben. Nichts je enthielt ein Leib, was nicht innewohnte dem Meer.

Gewässer reinigen! Sie nehmen in sich jede Schlacke, jeden Tod. Abgestoßenes, Ausgeschiedenes wandeln sie in die alte Welle.

So auch steht der Mensch zum All-Einen. Er wird genährt, er wird erneut.

Kümmre dich nicht, ob krank, ob gesund, trauere nicht, ob gut oder böse. Das Meer nimmt Alles auf!

Schmutz und Schlacken überall. Jedes Sondersein ein Unrecht.

Schon daß wir geboren sind, eine Schuld.

Traue dem Leben. Es ist Kraft der Bereinigung!

Überall: Krieg, Mord, Gewalt. Auch in unsern Seelen, die wir doch die Reinheit der Lebenswelle höher schätzen als alle Tugend der Welt, Adel des Blutes höher als jede Leistung.

Auch in deiner Seele, schuldloses Kind, fehlt nicht das schlimmste Eckchen. Wir bergen viele Aschen.

Traue dem Leben! Beruhige dich! Die große Woge nimmt auf: all das Gräßliche, alle Weltgeschichte

*

Während Alkmäons Loblied erwachte einer im morgendlichen Symposion, der bis dahin sich stumm verhalten hatte, Margo, das Hündchen.

Er begann durch Kläffen zu offenbaren: »Ich rieche, was ihr nicht riecht. Ich höre, was ihr nicht hört. Was nützt also all eure Philosophie?«

Die Mädchen, welche das Hündchen sogleich verstanden, riefen: »Jetzt kommt Epicharm! Er will nach seinem Herrn sehn. Gewiß, er hat gute Heilkräuter gesammelt.«

Das seidenfellige Hündchen war schon hügelan gesprungen. Es kehrte freudebellend zurück mit einem starken indischen Manne, braun, mit lachenden Zähnen. Das war der Diener des jungen Klearchos, genannt Epicharm.

Er trug in den Armen einen Krug frischen Wassers, einen Dreifuß und einen Kessel. Er kauerte nieder vor seinem jungen Herrn, der ihn freudig grüßte.

Alsbald warf der Hindu seltsam duftende Kräuter in den Kessel, goß Süßwasser darauf und scheitete Holz unter den Dreifuß. Sodann schlug er aus einem Feuersteine die Flamme.

Und während das Wasser zu kochen begann, murmelte er Beschwörungsformeln zu den Unterirdischen.

 

Der Arzt, welcher lobend das Gebaren des Hindusklaven betrachtete und die gesammelten Kräuter prüfte, sagte währenddes zu Epikur:

»Wer doch dies Geheimnis erfaßte: Das kochende Wasser und das brodelnde Feuer! Ist es nicht klar, daß das Wasser im Kessel vor dem Feuer davonlaufen möchte?«

Epikur: »Ja, es ist klar, daß das Feuer hier unter dem Kessel das Wasser packt und zeugend zwingt, sich in ein Geistigeres zu flüchten. Zuerst in Dampf und dann gar in Äther.«

Alkmäon: »Verleibt sich nicht also vor unsern Augen der alte Krieg des weiblichen Pols übermächtigt vom Männlichen?«

Epikur: »Leben kommt dort zur Erscheinung, wo Wasser erstarrt. Im Feuer dagegen wird Gestaltgewordenes aufgelöst. Gestaltetes verflüchtet im Feuer in die andere Welt.«

Alkmäon: »Das ist ja fast, wie wenn man eine Raupe einsperrt in ein zu enges Gefäß und sie darin langsam hungern läßt. Sie rettet ihr Leben, indem sie Flügel ansetzt und sich wandelt in ein Luftgeschöpf, welches fliegen und in einer geistigeren Welt dem Stoffe entfliehen kann.«

Epikur: »Vielleicht aber ersehnen die beiden einander und ergänzen sich wie Platos getrennte Halbkugeln, die einander suchen und selig sind, wenn am Ende aller Tage sie sich findend vollenden.«

Alkmäon: »Und so wird das Ende der Welt sein: Hochzeit von Wasser und Flamme.«

Epikur: »Die Wasser stehen auf aus der Tiefe, und die Feuer fallen aus den Höhen. Und die Wasser werden die Feuer löschen. Und die Feuer werden die Wasser verzehren.« –

Der Hindu, welcher während seiner Arbeiten auf den Dialog der beiden lauschte, sagte fromm: »Nirvana.«

Als der heilende Trank gebraut war, sprach Epikur:

»Dies ist die Sternenstunde, um vom wunderbaren Epheser zu künden, dem weinenden. Beim Gesang des kochenden Wassers, der summenden Flamme und der brandenden See.«

Alsbald verstummten die Gespräche, und sie scharten sich um den Meister. Der Inder kauerte neben seinem jungen Herrn und das weiße Hündchen neben dem Inder.

Und also sprach Epikur:

Herakleitos am Meer

»Einsam streift am Strande: der Menschen Feind. Und in Lauten ernst, schmucklos und rauh, spricht er in die flutenden Wogen:

Was ist die Welt?

Wie eines Kindes Hand mit Kieseln spielt, so spielt der Äon mit Sternen und Kreaturen.

Dämonen spielen mit uns und wir mit Pflanze und Tier.

Der Wandeltanz der Gestalten, ohne Dauer, Sinn und Zweck, durchwaltet einander, immer werdend; seiend und auch nicht seiend. Denn nicht zweimal steigst du in dieselbe Welle.

So aber wie Kinder sitzen wir am Meer und mit unsern Händen Wasser schöpfend, sprechen wir: ›Siehe! Wir erfassen die See.‹ So versucht der Philosophen Hirn Unermeßliches auszuschöpfen mit Kellen des Begriffs. Natur aber liebt es, sich zu verbergen. Und Kinderspiel ist Denken und Meinen. Jenseit des denkenden Meinens aber versinkt die Zeit. Jenseit der Zeit währt das Seiende.

Zwischen zwei Polen pendelt das Immerwerdende: Gestalt will vereisen, Gestalt will zerfließen.

Seelenlose Schwere ist die eine Grenze; lichtflüssige Schwingung ist die andere Grenze.

Mitteninne wogt Meer, Anodos und Kathodos, mitteninne zwischen Äther und Stein.

Wer ist des Spieles Treiber?

Flamme ist der Gott, von dem getrieben glühen wir, Mangel und Sättigung in Eines.«

 

Epikur verstummte.

*

Der Mittag stand über ihren Häuptern. Schattenlos-weiß brannte der Strand. Das Meer warf Wogen. Die Flut nahte dem Chironfels.

Die Jünglinge trugen die Geräte zusammen. Die Mädchen vollendeten die Kränze.

Alkmäon sprach: »Wir wollen den Lorbeer mit den weißen Rosen dem Lichtgotte weihn. Denn der scharf umrissene Laurus, welcher aussieht wie stolze, spitze Flamme, ist der Baum des Gottes, der Gestalten sondert. Das farblose Licht trägt er als Gewand.

Aber der Kranz aus Weinranke und roten Rosen, der gehört dem Gestaltenlöser, dem farbigen Dio-nysos.«

Da füllte Epikur einen Becher voll roten Weines und goß ihn langsam in die Wogen. Lais schleuderte den Rosenkranz ins Meer.

 

»Laßt uns fliehn«, riet Epikur. »Doch damit der Morgen nicht ohne Krönung sei, so gestattet, daß ich in ein Spiel zusammenfasse, was wir am Wasser heute erlauschten:

Mein Rätsel birgt die Lösung aller Rätsel:
In einem Bilde fass' ich alle Bilder,
In einem Sterne hab' ich alle Sterne,
In meinem Kleinod schläft die ganze Welt.

Ich weiß ein Ding: Die letzte Frucht der Früchte,
Gemischt aus Wasser und aus lichter Flamme,
Gemischt aus Seelenlust und Geistespein,
Schläft alles Ja darin und jedes Nein.«

Lange grübelnd saßen die Gefährten.

Endlich nahm der Arzt das Wort:

»Wenn ich dein Rätsel richtig deute, dann meinst du ein Ding, daraus Leben keimt oder darinnen Leben beschlossen liegt und welches gleich viel Anteil hat an den nährenden und reinigenden Wassern aus der Tiefe wie an dem aus der Höhe aufspaltenden Licht, nämlich: Das Saatkorn. Im Samen haben wir eingekörpert die nährenden Säfte der Erde und ebenso das Licht der fernen Sterne.

Sonne, Mond und Sterne genießen wir in jedem Stück Brot und in jeder Traube.

In jeder Eichel liegt eingekerkert das Bild des Eichbaums. Im Weizenkorn schläft das Bild des wogenden Silberfelds.

Darum hält Persephoneia den Granatapfel, den hundertsamigen. Darum geben wir den Toten Linse und Bohne ins Grab. Sind doch wir selber Samen aller Zukunft.«

 

»Ein wahres Wort, Alkmäon,« lächelte Epikur, »aber mein Rätsel sucht bessere Lösung, rede nun du, mein Klearchos.«

Klearchos neigte die Stirn:

»Wenn ich des Alkmäon hohe Worte ergänzen darf, dann wage ich zu erinnern an das wundersame Gefäß, darin alles Leben beschlossen liegt wie in einem Grabe und welches wir denn auch als Gewähr steter Wiederkehr in die Hand der Toten legen: Das Ei.

Auch im Ei treibt feurige Kraft das im Stoffe eingekerkerte, von der Flüssigkeit genährte Bild hervor, welches, in Raum und Zeit ausgebreitet, sich kundtut als das wundersame Wachstum einer Gestalt. Und so mahnt dein Rätsel, Meister, daß im Ei verborgen liegt die lange Kettenschnur der Schicksale, welche nach rückwärts hin uns bindet an unsre Ahnen, bis hinan in des Kosmos fernste Vorzeit, zugleich aber doch auch schon vorbestimmt und vorausenthält Alles, was je an Werk und Wille erscheinen mag.

Denn im Gegenwärtigen schlummert alle Vorwelt und alle Nachwelt. Nicht anders wie eine liebliche Melodie schlummert im Akkorde, dessen Auflösung zum Nacheinander in der Zeit eben ja die liebliche Melodie ergibt.« – –

»Auch des Klearchos Worte muß ich loben,« rief Epikur, »und doch sucht mein Rätsel bessere Lösung. Sprich nun du, unsere kluge Aspasia.« –

Aspasia: »Indem ich deinem Rätsel nachdachte, fiel mir ein, daß wir beständig mit uns tragen jenen Stern, in dessen Tiefe das Leben als Bild erscheint und zugleich auch als unser eigenes Bild, nämlich: Unser Auge.

Hat doch das Auge Anteil am geistigen Licht der Sinne. Und ist doch auch das Auge ein kleiner See, darinnen die Formen sich spiegeln. Und liegt nicht im Auge alles Ja und Nein der Seelen?«

»Nicht übel, Aspasia,« lobte der Meister, »doch sucht mein Rätsel bessere Lösung, rede du, stiller Eusebios.« –

Eusebios: »Ich muß jener Worte denken, die du zu uns sprachest, als Klearchos die Muschel brachte. Und ich glaube fast, du habest mit dem Rätsel nur einmal noch erinnern wollen an die Lehre des sterbenden Muscheltiers, damit das Ende des Morgens sich an seinen Anfang schließe und das Erkennen unsrer Frühe sich ründe zum reinen Ring.

Die Perle ist es! In ihr erscheint der Mutter Feuchte und das Licht des Vaters. Der Schmerz des Antriebs und das Glück der Erlösung. Die Perle ist Leben und Tod in Eines. Und das Bild alles Schönen, der Werke sowohl wie der Schaffenden. An der Perle zeigtest du uns den Sinn der Welt.«

 

Epikur: Eines ist zugleich Saat, Ei, Augenstern und Perle. Eines: letzte Blüte unsrer Welt, darinnen die Welt selber erscheint und auch unser Eigenwesen, mit endloser Qual und endloser Lust. Seele und Geist, Wasser und Flamme, Entspannung und Ballung, Bindung an das Schicksal und Aufschwung über das Schicksal: Die Träne …«

 

Diotima nahm den zweiten Kranz aus Lorbeer und weißer Rose und legte ihn still auf des Denkers Haupt; der gab ihn weiter an Alkmäon.

 

Indem sie aufbrachen, suchte Trasyllos schüchtern die Hand des geliebten Lehrers. Er allein ahnte die verschwiegene Deutung.

Denn auf seiner jungen Stirne brannte dunkel das Mal frühen Todes.


 << zurück weiter >>