Michael Lermontoff
Ein Held unserer Zeit
Michael Lermontoff

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Bela.

Ich reiste mit Postpferden aus Tiflis. Das ganze Gepäck meines Wägelchens bestand aus einem einzigen kleinen Koffer, der zur Hälfte mit Reisenotizen über Georgien vollgestopft war. Der grösste Teil dieser Notizen ist zum Glück für Sie, meine Leser, verloren gegangen, der Koffer aber mit den übrigen Sachen zum Glück für mich erhalten geblieben. Die Sonne begann schon, sich hinter dem Schneekamm zu verstecken, als ich das Koyschauer Tal erreichte. Der Kutscher, ein Ossete, trieb die Pferde unermüdlich an, um vor Einbruch der Nacht den Koyschauer Berg zu erklimmen, und sang aus vollem Halse seine Lieder. Ein prächtiges Stückchen Erde ist dieses Tal! Von allen Seiten unbezwingbare Berge, rötliche Felsen, berankt mit grünem Efeu und mit dichten Platanen gekrönt, gelbe Abhänge, von den Spuren des herabgeströmten Wassers bekritzelt und dort hoch, ganz oben der goldene Saum des Schnees; unten aber schlängelt sich als Silberfaden und glänzend wie eine Schlange mit ihren Schuppen, die Aragwa, Arm in Arm mit einem anderen namenlosen Flüsschen, das aus einer schwarzen mit Nebel erfüllten Schlucht tosend hervorstürzt.

Nachdem wir den Fuss des Koyschauer Berges erreicht hatten, machten wir an einer Schenke Halt. Hier drängten sich lärmend etwa zwanzig Georgier und Bergbewohner: in der Nähe hatte sich eine Kamelkarawane zur Nacht niedergelassen. Ich musste Ochsen mieten, um meinen Wagen auf diesen verwünschten Berg hinaufzubringen, denn es war schon Herbst und Glatteis – dieser Berg aber hat eine Länge von ungefähr zwei Werst. Es war nichts zu machen, ich mietete sechs Ochsen und ein paar Osseten. Einer von ihnen lud auf seine Schultern meinen Koffer, die übrigen aber begannen ein Geschrei, als müssten sie die Ochsen bis zu ihrer äussersten Anstrengung treiben.

Hinter meinem Wagen zogen vier Ochsen mit Leichtigkeit einen anderen Wagen, der bis oben beladen war. Dieser Umstand verwunderte mich. Dem Wagen folgte sein Besitzer, eine kleine silberbeschlagene Kabardinerpfeife rauchend. Er war mit einem Offiziersrock ohne Epauletten und einer tscherkessischen Pelzmütze bekleidet. Er schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein; die braune Gesichtsfarbe zeigte, dass er schon lange mit der kaukasischen Sonne bekannt war, und der vorzeitig ergraute Schnurrbart entsprach nicht seinem festen Gange und frischen Aussehen. Ich trat zu ihm heran und grüsste ihn; er erwiderte schweigend meinen Gruss und stiess eine ungeheure Rauchwolke aus.

»Wir sind Reisegefährten, wie es scheint?«

Er nickte wiederum schweigend.

»Sie reisen sicher nach Stawropol?«

»Ja . . . mit Regierungssachen.«

»Sagen Sie, bitte, warum ziehen Ihren schweren Wagen vier Ochsen mit Leichtigkeit, während meinen, der leer ist, sechs Ochsen mit Hilfe dieser Osseten kaum von der Stelle bewegen?«

Er lächelte verschmitzt und blickte mich bedeutungsvoll an.

»Sie sind wahrscheinlich nicht lange im Kaukasus?«

»Ein Jahr ungefähr« – antwortete ich.

Er lächelte zum zweitenmal.

»Was hat das zu sagen?«

»Ja so; diese Asiaten sind schreckliche Bestien. Sie meinen, dass sie helfen, weil sie schreien? Weiss der Teufel, was sie da schreien. Die Ochsen, die begreifen sie; Sie können zwanzig anspannen lassen, wenn sie aber in ihrer Sprache den Ochsen zuschreien, rühren sie sich nicht vom Fleck . . . Fürchterliche Gauner! Und was fängt man mit ihnen an? . . . Es ist ihre Beschäftigung, den Reisenden das Geld abzunehmen . . . Die Halunken sind verwöhnt worden! Sie werden es sehen, sie werden von Ihnen noch Trinkgeld verlangen. Ich kenne sie; mich führen sie nicht an!«

»Dienen Sie schon lange hier?«

»Ich habe schon unter Alexei Petrowitsch Jermolow gedient« – antwortete er, sich eine würdevolle Haltung gebend. – »Als er nach dem Kaukasus kam, war ich Sekondeleutnant,« – fügte er hinzu, – »und unter seinem Kommando erhielt ich zwei Grade im Kriege gegen die Bergbewohner.«

»Und jetzt? . . .«

»Jetzt bin ich in dem dritten Linienbataillon. Und Sie, wenn ich fragen darf?«

Ich sagte es ihm.

Damit endete unser Gespräch, und wir setzten den Weg schweigend nebeneinander fort. Auf dem Gipfel des Berges fanden wir Schnee. Die Sonne war untergegangen, und die Nacht folgte dem Tage ohne Unterbrechung, wie gewöhnlich im Süden, aber dank dem Widerschein des Schnees konnten wir leicht den Weg unterscheiden, der immer noch bergan führte, obgleich nicht mehr so steil. Ich befahl, meinen Koffer auf den Wagen zu legen, die Ochsen durch Pferde zu ersetzen, und zum letztenmal blickte ich in das Tal hinab; aber ein dichter Nebel, der in Wellen aus den Schluchten aufgestiegen war, bedeckte vollständig das Tal, und kein einziger Ton drang von dort an unser Ohr. Die Osseten umringten mich lärmend und verlangten ein Trinkgeld; aber der Stabskapitän schrie sie so drohend an, dass sie im Nu wegliefen.

»Solch ein Volk!« – sagte er – »Brot verstehen sie nicht mal russisch zu benennen, haben aber gelernt zu sagen: Gib zu einem Schnaps, Offizier! Dann sind mir schon die Tataren lieber, die trinken wenigstens nicht« . . .

Bis zur Station war es noch eine Werst. Ringsum war es still, so still, dass man an dem Gesumm einer Mücke ihren Flug verfolgen konnte. Links gähnte schwarz eine tiefe Schlucht; jenseits und vor uns zeichneten sich auf dem blauen Horizont, der noch den letzten Widerschein der Abendröte bewahrt hatte, dunkelblaue, mit Furchen bedeckte und mit Schnee überzogene Berggipfel ab. Am dunkeln Himmel begannen die Sterne zu flimmern, und seltsam: mir schien es, als ständen sie viel höher, als bei uns im Norden. Zu beiden Seiten des Weges ragten nackte schwarze Steinblöcke, hie und da schauten unter dem Schnee Gesträuche hervor, aber kein einziges trockenes Blättchen regte sich, und eine Freude war es, in diesem Totenschlafe der Natur das Schnauben der müden Postpferde und das ungleichmässige Klingeln des russischen Glöckchens zu hören.

»Morgen wird ein herrliches Wetter sein!« – sagte ich.

Der Stabskapitän erwiderte nichts und zeigte nur mit dem Finger auf einen hohen Berg, der sich gerade vor uns erhob.

»Was ist es?« – fragte ich.

»Gut-Gora ist es.«

»Na, und?«

»Schauen Sie, wie der Berg raucht.«

Und tatsächlich, Gut-Gora rauchte; an den Seiten des Berges krochen leichte Wolkenschleier, und auf seinem Gipfel lag eine schwarze Wolke, solch eine schwarze Gewitterwolke, dass sie am dunkeln Himmel wie ein Fleck erschien.

Wir konnten schon die Poststation, die Dächer der sie umgebenden Hütten wahrnehmen, und vor uns schimmerten gastliche Lichter, als sich ein feuchter kalter Wind erhob, in die Schlucht ein Brausen und ein feiner Regen niederströmte. Kaum hatte ich meinen Pelzmantel umgeworfen, als es stark zu schneien begann. Ich blickte ehrfurchtsvoll den Stabskapitän an . . .

»Wir müssen hier zur Nacht bleiben,« – sagte er ärgerlich – »in solch einem Schneesturm kann man nicht über die Berge hinüber. Wie? Sind schon bei Krestowoi Lawinen abgestürzt?« – fragte er den Kutscher.

»Nein, Herr,« – antwortete der Kutscher, ein Ossete,– »es hängen aber viele herab.«

Da ein Zimmer für Reisende auf der Station nicht zu haben war, brachte man uns für die Nacht in einer verräucherten Hütte unter. Ich lud meinen Begleiter zu einem Glas Tee ein, denn ich führte einen eisernen Teekessel mit – mein einziger Trost auf den Reisen im Kaukasus.

Die Hütte stiess mit der einen Seite an einen Felsen; drei feuchte glitschige Stufen führten zu ihrer Türe. Tastend trat ich ein und stiess auf eine Kuh (der Stall ersetzt diesen Leuten das Vorzimmer). Ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte: hier blöken Schafe, dort knurrt ein Hund. Zum Glück tauchte seitwärts ein schwacher Lichtstrahl auf und half mir zu einer anderen Öffnung, die einer Türe ähnlich war. Ein sonderbares Bild: die breite Hütte, deren Dach auf zwei verräucherten Balken ruhte, war mit Menschen angefüllt. In der Mitte knisterte ein kleines Feuer auf der Erde, und der Rauch, den der Wind aus der Öffnung im Dache zurückstiess, verbreitete sich ringsum zu einem dichten Schleier, sodass ich lange nichts unterscheiden konnte; am Feuer sassen zwei alte Frauen, eine Menge Kinder und ein hagerer Georgier, alle in Lumpen. Was war da zu machen! Wir liessen uns am Feuer nieder, steckten die Pfeifen an, und bald begann der Teekessel heimisch zu surren.

»Bedauernswerte Menschen!« – sagte ich zum Stabskapitän und wies auf unsere schmutzigen Wirte hin, die uns schweigend und wie erstarrt anschauten.

»Ein sehr dummes Volk!« – antwortete er. – »Glauben Sie mir – nichts verstehen sie, jeder Kultur sind sie unfähig! Unsere Kabardiner oder Tschetschenzen sind Räuber, ein verteufelt armes Volk, aber die Kerle haben wenigstens Mut; hier haben sie gar nichts für das Waffenhandwerk übrig: nicht einmal einen anständigen Dolch wird man bei ihnen finden. Sie sind echte Osseten!«

»Waren Sie lange unter den Tschetschenzen?«

»Ja, an zehn Jahre stand ich dort mit meiner Kompagnie in einem Fort bei Kamennoi Brod. – Kennen Sie es?«

»Ich habe davon gehört.«

»Diese Halsabschneider bereiteten uns viel Verdruss, mein Bester. Jetzt ist es, Gott sei Dank, ruhiger geworden; früher aber, wenn man sich auf hundert Schritt hinter die Wälle wagte, lag irgendwo ein zerzauster Teufelskerl und lauerte einem auf! War man nicht auf seiner Hut – so flog einem eine Schlinge um den Hals oder eine Kugel in den Kopf. Aber brave Burschen . . .«

»Sie haben wohl viele Abenteuer erlebt?« – sagte ich voll Neugier.

»Gewiss habe ich manches erlebt.«

Hierbei begann er am Schnurrbart zu zupfen, liess den Kopf sinken und verfiel in Gedanken. Ich hätte ihm sehr gern die eine oder andere Geschichte entlockt, – ein Wunsch, der allen reisenden Schriftstellern eigen ist. Indessen war der Tee fertig; ich zog aus dem Koffer zwei kleine Gläser hervor, goss sie voll und stellte das eine vor ihn hin. Er nahm einen Schluck und sagte wie im Selbstgespräche: »Ja! . . . manches kam vor!« Dieser Ausruf gab mir grosse Hoffnungen. Ich weiss, die alten Haudegen im Kaukasus lieben zu plaudern und zu erzählen; sie kommen so selten dazu: mancher verbringt fünf Jahre mit seiner Kompagnie in irgend einem abgelegenen Winkel, und volle fünf Jahre sagt ihm niemand: »Guten Tag« (denn der Feldwebel sagt »Gehorsamer Diener«). Nie eine Gelegenheit zum Plaudern: ringsum haust ein wildes, merkwürdiges Volk; und doch bringt jeder Tag Gefahren mit sich; es geschieht immerfort etwas, und es tut einem ordentlich leid, dass man bei uns so wenig Notiz davon nimmt.

»Wollen Sie nicht Rum zugiessen?« – wandte ich mich zu meinem Gefährten: – »ich habe weissen Rum aus Tiflis mit; jetzt ist es kalt.«

»Nein, den trinke ich nicht.«

»Weshalb?«

»Ja so. Ich habe mich verschworen. Als ich noch Sekondeleutnant war, müssen Sie wissen, hatten wir einmal gezecht, in der Nacht aber wurde Alarm geschlagen; na, wir zogen vor die Front angeheitert, wie wir waren, und bekamen einen tüchtigen Verweis, als Alexei Petrowitsch es erfuhr: weiss Gott, wie wütend er wurde, fast vors Gericht hätte er uns gestellt. Es ist auch begreiflich: manchmal vergeht ein ganzes Jahr, und man sieht niemand. Wenn man sich dann noch dem Branntwein ergibt, ist man ein verlorner Mensch!«

Als ich dies vernahm, verlor ich fast die Hoffnung.

»Zum Beispiel die Tscherkessen,« – fuhr er fort: »wenn die auf einer Hochzeit oder bei einem Begräbnis sich an der Busa betrinken, greifen sie sofort zu den Waffen. Ich entkam einmal nur mit Mühe und Not, dabei war ich bei einem friedlichen Fürsten zu Gast.«

»Wie kam es denn?«

»Also . . .« – er stopfte eine Pfeife, steckte sie an und begann seine Erzählung, – »also, ich stand damals mit meiner Kompagnie in einem Fort jenseits des Terek – bald werden es fünf Jahre her sein. Einmal im Herbst kam ein Transport mit Proviant an; bei dem Transport war ein Offizier, ein junger Mann, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Er erschien bei mir in Galauniform und teilte mit, dass er den Befehl habe, bei mir im Fort zu bleiben. Er war so fein, so zart; sein Uniformrock war so neu, dass ich sofort erriet, dass er bei uns im Kaukasus seit kurzer Zeit sei. »Sie sind wahrscheinlich« – fragte ich ihn, »aus Russland hierher versetzt?« – »Zu Befehl, Herr Stabskapitän,« antwortete er. Ich nahm seine Hand und sagte zu ihm: »Freue mich sehr, freue mich sehr. Es wird Ihnen ein wenig langweilig sein . . . na, aber wir werden in guter Freundschaft leben. Ja, ich bitte Sie, nennen Sie mich einfach Maxim Maximytsch und bitte – wozu die Galauniform? kommen Sie stets zu mir in der Mütze.« – Man wies ihm eine Wohnung an, und er liess sich in dem Fort nieder.«

»Wie hiess er?« – fragte ich Maxim Maximytsch.

»Er hiess . . . Grigori Alexandrowitsch Petschorin. Ein prächtiger Mensch war er, kann ich Ihnen versichern; nur ein wenig sonderbar. So ging er zum Beispiel im Regen und bei Kälte den ganzen Tag auf die Jagd; wenn die andern längst starr waren vor Frost und müde, verspürte er keinerlei Abspannung. Manchmal aber sass er in seinem Zimmer in einem leichten Luftzug und versicherte, dass er sich erkältet habe; ein Fensterladen schlug an, er fuhr auf und erbleichte; ich war selbst Zeuge, wie er ganz allein auf einen Eber losging; es kam vor, dass man stundenlang kein Wort aus ihm herausbrachte. Wenn er dann einmal zu erzählen anfing, musste man sich den Bauch vor Lachen halten . . . Ja, ein sonderbares Kerlchen war es und wahrscheinlich ein reicher Mann: er hatte viele teure Sachen.«

»Und lebte er lange mit Ihnen?« – fragte ich von neuem.

»Etwa ein Jahr. Na, aber an dieses Jahr werde ich stets denken; er hat mir viel Sorge gemacht, aber nicht so will ich seiner gedenken . . . Es gibt doch wahrlich solche Menschen, denen es bestimmt ist, dass ihnen allerhand ungewöhnliche Dinge passieren müssen.«

»Ungewöhnliche?« – rief ich neugierig aus und schenkte ihm Tee ein.

»Ich werde Ihnen einiges erzählen. Etwa sechs Werst vom Fort lebte ein friedlicher Fürst. Sein Sohn, ein Knabe von fünfzehn Jahren, hatte sich zur Angewohnheit gemacht uns zu besuchen: jeden Tag fast kam er, bald aus diesem, bald aus jenem Grunde. Und offen gesagt, Grigori Alexandrowitsch und ich verhätschelten ihn. Verwegen und geschickt war der Bengel! Im vollen Galopp hob er die Mütze von der Erde auf; auch mit dem Gewehr verstand er umzugehen. Nur eines war hässlich an ihm: er hatte eine wahre Gier nach Geld. Einmal versprach ihm scherzhalber Grigori Alexandrowitsch einen Dukaten, wenn er den besten Bock aus der väterlichen Herde stehle; und stellen Sie sich vor, – in der nächsten Nacht schleppte er den Bock an den Hörnern herbei. Doch wenn wir anfingen ihn zu necken, funkelten seine Augen vor Zorn, und er griff nach dem Dolche. »He, Asamat, du wirst schlecht enden,« sagte ich zu ihm: »deinen Kopf wirst du bestimmt verlieren!«

Eines Tages kam der alte Fürst selbst, uns zur Hochzeit einzuladen: er verheiratete seine älteste Tochter, und wir standen mit ihm im Freundschaftsverhältnis, waren seine Kunaks, da konnten wir die Einladung, wissen Sie, nicht ablehnen, obgleich er ein Tatare war. Wir gingen hin. Im Dorfe begrüsste uns eine Menge Hunde mit lautem Gebell. Die Frauen versteckten sich, als sie uns erblickten; die aber, deren Gesicht wir sehen konnten, waren durchaus keine Schönheiten. »Ich hatte eine viel bessere Vorstellung von den Tscherkessinnen,« – sagte Grigori Alexandrowitsch zu mir. – »Warten Sie ab!« – erwiderte ich lächelnd. Ich hatte meine eignen Gedanken.

Im Hause des Fürsten hatte sich schon eine Menge Menschen versammelt. Wissen Sie, bei den Asiaten ist es Brauch, Hinz und Kunz zur Hochzeit zu laden. Man empfing uns mit allen Ehren und führte uns in das Festgemach. Ich hatte jedoch nicht vergessen mir zu merken, wohin man unsere Pferde hingestellt hatte, für einen unvorhergesehenen Fall, wissen Sie.«

»Wie feiert man denn bei ihnen die Hochzeit?« – fragte ich den Stabskapitän.

»Na ganz gewöhnlich. Zuerst liest ihnen der Mullah etwas aus dem Koran vor; dann beschenkt man die Neuvermählten und alle ihre Verwandten; dann isst und trinkt man die Busa; darauf beginnen die Reiterstückchen, die Dschigitowka; ein zerlumpter, schmutziger Bursche auf einem schlechten, lahmen Klepper spielt den Narren und reizt die versammelten Gäste zum Lachen; wenn die Dunkelheit anbricht, beginnt im Festgemach sozusagen der Ball. – Ein armer alter Mann klimpert auf einem dreisaitigen Dinge . . . ich habe vergessen, wie sie es nennen . . . na, es ist wie unsere Balalaika. Die jungen Mädchen und Burschen stellen sich in zwei Reihen einander gegenüber auf, klatschen mit den Händen und singen. Da treten ein junges Mädchen und ein Bursche in die Mitte und sprechen Verse in einem singenden Tone, was ihnen gerade in den Sinn kommt, die anderen wiederholen es im Chore. Ich sass mit Petschorin auf dem Ehrenplatze. Da kam die jüngste Tochter unseres Wirtes, ein Mädchen von sechzehn Jahren, und sagte . . . wie soll ich mich ausdrücken, eine Art Kompliment her . . .«

»Und was hat sie ihm vorgesungen, erinnern Sie sich nicht?«

»Warten Sie – etwa folgendes: »Schlank sind unsere jungen Reiter, sagte sie, und ihre Kaftans sind mit Silber besetzt, der junge russische Offizier aber ist schlanker als sie, und seine Tressen sind aus Gold. Er ist wie eine Pappel unter ihnen; es ist ihm nur nicht gegeben, zu wachsen und zu blühen in unserem Garten.« Petschorin stand auf, verbeugte sich vor ihr, legte die Hand auf die Stirn und auf das Herz und bat mich, ihr zu antworten; ich kenne ihre Sprache gut und übersetzte seine Antwort. Als sie sich von uns entfernt hatte, flüsterte ich Grigori Alexandrowitsch zu: »Nun, wie finden Sie sie?« – »Sie ist reizend,« – antwortete er, – »und wie heisst sie?«

»Sie heisst Bela,« antwortete ich.

Und wirklich, sie war schön: hochgewachsen, schlank, schwarz die Augen, wie bei einer Gemse, blickten einem in die Seele hinein. Petschorin war nachdenklich geworden und wandte die Augen nicht von ihr ab, auch sie blickte ihn ziemlich oft von der Seite an. Aber Petschorin war nicht der einzige, der sich an der hübschen Prinzessin nicht satt sehen konnte; aus einer Ecke des Zimmers blickte sie ein anderes Paar Augen unbeweglich und glühend an. Ich schaute hin und erkannte meinen alten Bekannten Kasbitsch. Er, wissen Sie, war weder unser Freund, noch unser Feind. Er war wohl stark im Verdacht, obgleich man nichts Nachteiliges von ihm bemerkt hatte. Er brachte manches Mal zu uns in das Fort Schafe und verkaufte sie billig, aber handeln liess er mit sich nicht; was er verlangt hatte, musste man zahlen, – eher hätte man ihn umbringen können, als etwas abzuhandeln. Man erzählte, dass er liebe, mit den Abreken über den Kuban Streifzüge zu unternehmen, und offen gestanden, er hatte ein echtes Räubergesicht; er war klein, hager und breitschulterig . . . Ach, und gewandt war er, wie ein Teufel gewandt! Sein Rock war stets zerrissen, geflickt, die Waffen aber mit Silber beschlagen. Sein Pferd war in der ganzen Kabardie berühmt – und wirklich etwas Besseres als dieses Pferd kann man sich nicht vorstellen. Nicht umsonst beneideten ihn alle Reiter, und mehr als einmal versuchte man, es ihm zu stehlen, doch es gelang nie. Ich sehe jetzt noch deutlich dieses Pferd: schwarz wie Pech, die Beine wie Saiten und die Augen nicht schlechter als bei Bela und was für eine Kraft! Man konnte fünfzig Werst auf ihm jagen, und gut eindressiert war es – wie ein Hund folgte es seinem Herrn; sogar seine Stimme kannte es. Oft band er das Pferd gar nicht an. Es war ein echtes Räuberpferd! . . .

An diesem Abend war Kasbitsch düsterer als je, und ich merkte, dass er unter seinem Rock ein Panzerhemd anhatte. – »Dieses Panzerhemd hat er nicht umsonst angezogen,« – dachte ich, – »wahrscheinlich hat er etwas im Sinn.«

Es wurde sehr schwül im Zimmer, und ich ging hinaus mich zu erfrischen. Die Nacht senkte sich schon auf die Berge, und der Nebel wallte in den Schluchten.

Mir fiel es ein, nach dem offenen Schuppen zu gehen, wo unsere Pferde standen; ich wollte nachschauen, ob sie Futter hätten und Vorsicht schadet ja nie; ich hatte ein prächtiges Pferd, und mehr als ein Kabardiner hatte es neidisch betrachtet.

Ich schlich den Zaun entlang und vernahm plötzlich Stimmen; die eine erkannte ich sofort: es war der Schlingel Asamat, der Sohn unseres Wirtes; der andere sprach seltener und leise. »Was verhandeln sie hier?« – dachte ich, »vielleicht über mein Pferd?« Ich liess mich also am Zaune nieder und begann zu lauschen. Ich gab mir Mühe kein Wort zu überhören. Ab und zu erstickten der Lärm der Lieder und das Stimmengewirr, die aus dem Hause herüberflogen, das für mich interessante Gespräch.

»Du hast einen prächtigen Gaul!« – sagte Asamat, – »wenn ich der Herr im Hause wäre und hätte eine Herde von dreihundert Stuten, ich würde dir die Hälfte für deinen Renner geben, Kasbitsch!«

»Ah! Kasbitsch ist es!« – dachte ich und erinnerte mich des Panzerhemdes.

»Ja,« – antwortete Kasbitsch nach einigem Schweigen; – »in der ganzen Kabardie wirst du kein solches Pferd finden. Einmal – es war jenseits des Terek – ritt ich mit den Abreken russische Pferdeherden einzujagen; uns glückte es nicht, und wir zerstreuten uns in verschiedene Richtungen. Hinter mir jagten vier Kosaken; ich hörte schon hinter mir das Geschrei der Giaurs und vor mir war ein dichter Wald. Ich duckte mich auf dem Sattel, empfahl mich Allah, und zum erstenmal im Leben beleidigte ich das Pferd durch einen Peitschenschlag. Wie ein Vogel schoss es durch die Zweige; spitze Dornen zerrissen mein Kleid, vertrocknete Äste schlugen mich ins Gesicht. Mein Pferd sprang über Baumstümpfe hinweg, riss mit der Brust Sträucher auseinander. Es wäre besser gewesen, das Pferd sich selbst zu überlassen und mich im Walde zu verstecken, mir tat es aber leid, mich von ihm zu trennen – und der Prophet hat mich belohnt. Ein paar Kugeln sausten an meinem Kopfe vorbei; ich hörte schon, wie die von den Pferden gestiegenen Kosaken hinter mir herliefen . . . Plötzlich stand ich vor einem tiefen Abgrund; mein Pferd stutzte – und sprang hinüber. Seine Hinterhufe rissen sich von dem jenseitigen Rande los, und es hing an den Vorderbeinen über dem Abgrund. Ich liess die Zügel los und flog in die Schlucht hinab; das rettete mein Pferd: es sprang hinauf. Dies alles sahen die Kosaken, aber kein einziger ging mich suchen: sie dachten sicher, dass ich zerschmettert daläge, und ich hörte, wie sie meinem Pferde nachstürzten, um es einzufangen. Mein Herz übergoss sich mit Blut; ich kroch im dichten Grase die Schlucht entlang und sah: der Wald war hier zu Ende, einige Kosaken ritten aus demselben auf die Ebene hinaus, und da jagte ihnen entgegen mein Karagës; alle setzten ihm mit Geschrei nach; lange, lange verfolgten sie ihn, und einer von ihnen hätte beinahe zweimal die Schlinge um seinen Hals geworfen; ich begann zu zittern, senkte die Augen und betete. Nach einigen Augenblicken heb ich die Augen auf und sah, wie mein Karagës mit wehendem Schweife frei wie der Wind dahinflog und die Giaurs sich weit hinten in der Steppe einer nach dem anderen auf abgehetzten Pferden davonschleppten. Allah! es ist wahr, es ist wirklich wahr, was ich erzähle! Bis tief in die Nacht sass ich in meiner Schlucht. Plötzlich, denke dir, Asamat, hörte ich in der Dunkelheit, wie am Rande des Abgrundes ein Pferd hin und herlief, schnaubte, wieherte und mit den Hufen die Erde stampfte; ich erkannte die Stimme meines Karagës, das war er, mein Kamerad! . . . Seit der Zeit haben wir uns nie getrennt.«

Man hörte, wie er sein Pferd mit der Hand auf den glatten Hals klopfte und ihm allerhand zärtliche Namen gab.

»Wenn ich eine Herde von tausend Stuten hätte,« sagte Asamat, – »ich würde sie alle für deinen Karagës hingeben.«

»Ich will aber nicht,« – antwortete Kasbitsch gleichgültig.

»Höre, Kasbitsch,« – sagte Asamat schmeichelnd, – »du bist ein guter Mensch, ein tapferer Reiter, mein Vater aber fürchtet so die Russen und lässt mich nicht in die Berge. Gib mir dein Pferd, und ich werde alles, was du willst, tun; ich stehle für dich vom Vater das beste Gewehr oder den besten Säbel, was du nur willst, sein Säbel hat eine gute Klinge, man braucht nur die Schneide an die Hand zu legen, sie dringt von selbst in den Körper, und solch ein Panzerhemd, wie deines, ist gar kein Schutz dagegen.«

Kasbitsch schwieg.

»Seitdem ich zum erstenmal dein Pferd sah,« – fuhr Asamat fort, – »wie es unter dir sprang und mit blähenden Nüstern sich bäumte, und wie unter seinen Hufen Steine in Funken stoben, seitdem geschah in meinem Herzen etwas Unbegreifliches, und seitdem ist mir alles gleichgültig geworden; die besten Renner meines Vaters blickte ich mit Verachtung an, ich schämte mich auf ihnen mich zu zeigen. Ich war ganz trostlos darüber. Traurig verbrachte ich ganze Tage auf einem Felsen, und jeden Augenblick erschien mir in Gedanken dein schwarzer Renner mit seinem feinen Gang, mit seinem glatten, wie ein Pfeil geraden Rücken; er schaute mir in die Augen mit seinem frischen Blick, als wollte er mir etwas sagen. Ich werde sterben, wenn du ihn mir nicht verkaufst, Kasbitsch!« – sagte Asamat mit bebender Stimme.

Ich hörte, dass er weinte; ich muss Ihnen aber sagen, dass Asamat ein furchtbar hartnäckiger Junge war, und durch nichts konnte man ihn zum Wanken bringen, sogar als er noch jünger war.

Als Antwort auf seine Tränen vernahm ich eine Art Lachen.

»Höre,« – sagte Asamat mit fester Stimme, – »du siehst, ich bin zu allem entschlossen. Willst du, ich stehle für dich meine Schwester? Wie die tanzt! Wie die singt und strickt und wundervoll mit Gold! Solch eine Frau hat sogar der türkische Sultan nicht gehabt . . . Willst du? Erwarte mich morgen in der Nacht, dort, in der Schlucht, wo der Bach fliesst: ich gehe mit ihr dort vorbei in das Nachbardorf – und sie ist dein. Ist denn Bela deines Renners nicht wert?«

Lange, lange schwieg Kasbitsch; endlich begann er statt einer Antwort ein altes Lied halblaut zu singen: »Viele schöne Frauen haben wir, die Sterne glänzen im Dunkel ihrer Augen. Süss sie zu lieben ist ein beneidenswertes Los; aber lustiger ist die Burschenfreiheit. Das Gold erwirbt uns vier Frauen, ein braves Pferd ist mit nichts zu bezahlen: es jagt in der Steppe mit dem Windstoss zugleich, es bricht die Treue nicht und verlässt einen nie.«

Umsonst flehte ihn Asamat an, auf den Vorschlag einzugehen, weinte und schmeichelte ihm und beschwor ihn hoch und teuer; schliesslich unterbrach ihn Kasbitsch ungeduldig:

»Geh fort, wahnwitziger Junge! Du willst mein Pferd reiten? Bei den ersten drei Schritten wirft es dich ab, und du zerschmetterst dir den Schädel an den Steinen.«

»Mich!« – rief Asamat wütend, und der Stahl des Dolches des Knaben erklang an dem Panzerhemd. Ein starker Arm stiess ihn fort, und er schlug so hart gegen den Zaun, dass die hohen Latten zersplitterten. »Das kann eine nette Geschichte werden!« dachte ich, stürzte in den Stall, zäumte unsere Pferde auf und führte sie auf den Hinterhof. Nach wenigen Minuten erhob sich im Hause ein schrecklicher Lärm: Asamat war in seinem zerrissenen Rock dort hineingestürzt und hatte gesagt, dass Kasbitsch ihn ermorden wollte. Alle sprangen auf, griffen zu ihren Gewehren, und der Spass ging los. Ein Geschrei, Lärm, Schüsse; aber Kasbitsch war schon auf seinem Pferde, schlug um sich auf der Strasse, wie ein Besessener, und verteidigte sich mit dem Säbel.

»Es ist nie angenehm für andere zu büssen,« – sagte ich zu Grigori Alexandrowitsch, und nahm ihn bei der Hand: – »ist es nicht ratsam, sich aus dem Staube zu machen?«

»Ja, warten Sie, wie es enden wird.«

»Sicher endet es schlimm; bei diesen Asiaten ist es stets so: berauschen sich an der Busa dann fängt der Kampf an!«

Wir bestiegen unsere Pferde und ritten nach Hause.«

»Und was wurde aus Kasbitsch?« – fragte ich den Stabskapitän ungeduldig.

»Solchen Leuten geschieht nichts!« – antwortete er und trank sein Glas Tee aus, – »er entkam.«

»Und wurde nicht verwundet?« fragte ich.

»Das mag der liebe Gott wissen! Diese Halunken haben ein zähes Leben. Ich habe manchen im Feuer gesehen: wie ein Sieb durchlöchert von Bajonettstichen, aber er schwingt noch immer seinen Säbel.« –

Der Stabskapitän stampfte nach einigem Schweigen mit dem Fuss auf die Erde und fuhr fort:

»Eins werde ich mir nie verzeihen: als wir im Fort ankamen, plagte mich der Teufel Grigori Alexandrowitsch, alles, was ich hinter dem Zaune sitzend gehört hatte, wiederzuerzählen; er lachte – so schlau war er! – hatte sich aber einen Plan zurechtgelegt.«

»Was denn? Bitte erzählen Sie es.«

»Na, – da ich einmal angefangen habe, muss ich auch zu Ende erzählen.

Etwa vier Tage nach der Hochzeit kam Asamat in das Fort. Wie gewöhnlich ging er zu Grigori Alexandrowitsch, der stets für ihn Leckereien hatte. Ich war auch bei Petschorin. Das Gespräch kam auf Pferde, und Petschorin begann Kasbitschs Pferd zu loben: es sei so flink und schön wie eine Gemse – na, einfach, seinen Worten nach, gäbe es in der ganzen Welt nicht solch ein Pferd. Die Augen des jungen Tataren fingen an zu funkeln. Petschorin aber gab sich den Schein, als merke er nichts; ich versuchte von etwas anderem zu sprechen, er aber brachte das Gespräch sofort auf Kasbitschs Pferd zurück. Dies wiederholte sich jedesmal, wenn Asamat uns aufsuchte. Nach drei Wochen merkte ich, dass Asamat blass und mager wurde, wie es als Wirkung der Liebe in den Romanen erzählt wird. Was ging mit ihm denn vor?

Sehen Sie, erst später erfuhr ich die ganze Sache: Grigori Alexandrowitsch hatte ihn soweit gebracht, dass er bereit war, sich fast das Leben zu nehmen. Eines Tages sagte auch Petschorin zu ihm: »Ich sehe, Asamat, dass dieses Pferd dir stark ans Herz gewachsen ist, du wirst es aber nie erblicken, so wenig wie deinen eigenen Hinterkopf! Sage mal, was würdest du denn tun, wenn es dir jemand schenken würde? . . .«

»Alles, was er wünschen wird,« – antwortete Asamat.

»In diesem Fall werde ich es dir verschaffen, aber unter einer Bedingung . . . Schwöre mir, dass du sie erfüllen wirst . . .«

»Ich schwöre . . . Schwöre auch du!«

»Gut! Ich schwöre, du wirst das Pferd besitzen; aber du musst mir dafür deine Schwester Bela geben: Karagës soll ihr Hochzeitsgeld sein. Ich hoffe, der Handel ist für dich von Vorteil.«

Asamat schwieg.

»Du willst nicht? Na, wie es dir gefällt! Ich dachte, du seiest ein Mann, du bist aber noch ein Kind: es ist für dich zu früh ein Pferd zu reiten . . .«

Asamat flammte auf.

»Und mein Vater?« – fragte er.

»Reitet er denn nie von Hause fort?«

»Allerdings . . .«

»Bist du einverstanden?«

»Ja, ich bin einverstanden,« – flüsterte Asamat, bleich wie der Tod.

»Also wann?«

»Das erstemal, wenn Kasbitsch hierher kommt; er hat versprochen, ein Dutzend Hammel zu bringen; das übrige ist meine Sache. Also denk daran, Asamat!«

Da hatten sie also diese Sache beschlossen . . . offen gestanden, eine schlechte Sache. Ich habe es auch später Petschorin gesagt, er aber antwortete mir, dass die wilde Tscherkessin glücklich sein müsste, solch einen lieben Mann, wie er, zu haben (denn nach ihren Gesetzen sei er doch ihr Mann), und dass Kasbitsch ein Räuber sei, den man bestrafen müsste. Urteilen Sie bitte selbst, was sollte ich dagegen einwenden? . . . Aber damals wusste ich noch nichts von ihrer Verschwörung. Also, eines Tages kam Kasbitsch an und fragte, ob wir nicht Hammel und Honig brauchten; ich befahl ihm, sie am anderen Tage zu bringen.

»Asamat!« – sagte Grigori Alexandrowitsch, »morgen ist Karagës in meinen Händen; wenn Bela heute nacht nicht hier sein wird, ist das Pferd für dich verloren.«

»Gut!« erwiderte Asamat und eilte nach seinem Dorfe zurück. Am Abend ritt Grigori Alexandrowitsch bewaffnet aus dem Fort: wie sie es bewerkstelligt haben, weiss ich nicht, in der Nacht aber kehrten beide zurück, und der Wachtposten hat gesehen, dass über dem Sattel Asamats eine Frau lag, deren Füsse und Hände gebunden, der Kopf aber mit einem Schleier verhüllt war.«

»Und das Pferd?« fragte ich den Stabskapitän.

»Sofort, sofort erzähle ich es Ihnen. Am andern Tage früh morgens kam Kasbitsch und brachte ein Dutzend Hammel zum Verkaufe mit. Nachdem er sein Pferd an den Zaun gebunden hatte, kam er zu mir herein, ich schenkte ihm ein Glas Tee ein, denn obgleich er ein Räuber war, stand er doch zu mir im Gastfreundschaftsverhältnis.

Wir fingen über dies und jenes zu plaudern an . . . Plötzlich, sah ich, dass Kasbitsch zusammen zuckte, die Farbe wechselte und zum Fenster eilte; unglücklicherweise aber lag das Fenster nach dem Hofe hinaus.

»Was ist dir?« – fragte ich.

»Mein Pferd! . . . mein Pferd!« sagte er, am ganzen Körper zitternd.

Und tatsächlich hörte ich Pferdestampfen.

»Wahrscheinlich ist ein Kosak angekommen . . .«

»Nein, nein! Der Russe ist schlecht, schlecht!« – schrie er und stürzte endlich davon, wie ein wilder Panther. Mit zwei Sprüngen war er schon im Hofe; am Tore des Forts versperrte der Wachtposten ihm mit dem Gewehr den Weg; er sprang über das Gewehr hinüber und lief auf dem Wege fort . . . In der Ferne wirbelte der Staub – Asamat jagte auf dem flinken Karagës dahin; im Laufen riss Kasbitsch das Gewehr aus dem Futteral und schoss. Einen Augenblick stand er unbeweglich, bis er sich überzeugte, dass er fehlgeschossen hatte; dann schrie er kreischend auf, schlug das Gewehr gegen einen Stein, zerbrach es in Splitter, warf sich auf die Erde und schluchzte wie ein Kind . . . Rings um ihn versammelten sich die Menschen aus dem Fort – er beachtete niemand; man stand um ihn, besprach den Vorfall und ging wieder zurück; ich befahl das Geld für die Hammel neben ihn hinzulegen – er rührte es nicht an, lag mit dem Gesichte zur Erde, wie ein Toter, da. Können Sie mir glauben, er lag so bis tief in die Nacht und die ganze Nacht hindurch . . . Erst am andern Morgen kam er in das Fort und bat, ihm den Dieb zu nennen. Der Wachtposten, der es gesehen, wie Asamat das Pferd losgebunden hatte und auf ihm davonritt, hielt nicht für nötig, es zu verheimlichen. Bei diesem Namen blitzten die Augen Kasbitschs und er begab sich in das Dorf, wo der Vater Asamats lebte.«

»Und was tat der Vater?«

»Ja, das ist es eben, dass Kasbitsch ihn nicht antraf! er war auf sechs Tage verreist, sonst wäre es schwerlich Asamat gelungen, die Schwester zu entführen. Als aber der Vater zurückkehrte, fand er weder den Sohn, noch die Tochter vor. Solch ein schlauer Bursche! er wusste genau, dass es ihm den Kopf kosten würde, wenn er erwischt wurde. Seit der Zeit ist er auch verschwunden; wahrscheinlich hatte er sich zu einer Bande Abreken gesellt und seinen ruhelosen Kopf jenseits des Terek oder Kuban eingebüsst; ihm war auch recht geschehn! . . .

Offen gesagt, auch ich hatte meinen tüchtigen Teil. Als ich erfuhr, dass die Tscherkessin bei Grigori Alexandrowitsch sich befinde, zog ich die Epauletten an, legte den Degen um und ging zu ihm.

Er lag in dem ersten Zimmer, die eine Hand unter den Kopf gelegt, auf einem Bette, in der anderen Hand hielt er eine erloschene Pfeife; die Türe zum zweiten Zimmer war verschlossen, und der Schlüssel stak nicht im Schlosse. Ich hatte dies sofort bemerkt . . . Ich begann zu hüsteln und mit den Stiefelabsätzen gegen die Schwelle zu klopfen – er aber tat, als hörte er nichts.

»Herr Sekondeleutnant!« – sagte ich möglichst streng, – »sehen Sie denn nicht, dass ich gekommen bin?«

»Ah, guten Tag, Maxim Maximytsch! Ist Ihnen nicht eine Pfeife gefällig?« – antwortete er, ohne sich zu erheben.

»Entschuldigen Sie, ich bin nicht Maxim Maximytsch; ich bin der Stabskapitän.«

»Einerlei! Ist Ihnen nicht Tee gefällig? Wenn Sie wüssten, welche Sorgen mich quälen!«

»Ich weiss alles,« – erwiderte ich, an das Bett herantretend.

»Um so besser! ich bin nicht in der Stimmung zu erzählen.«

»Herr Sekondeleutnant, Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht, für das auch ich verantwortlich gemacht werden kann . . .«

»Ach, wo denn! Was ist es für ein Unglück! Wir teilen doch längst alles zusammen.«

»Was sind das für Scherze? Übergeben Sie mir Ihren Degen!«

»Mitjka, bringe den Degen! . . .«

Mitjka brachte den Degen. Als ich meine Pflicht erfüllt hatte, setzte ich mich zu ihm aufs Bett und sagte: »Höre mal, Grigori Alexandrowitsch, gestehe selbst, dass es schlecht ist . . .«

»Was ist schlecht?«

»Ja, das, dass du Bela entführt hast . . . Das ist ein Halunke, der Asamat! . . . Gestehe nur ein,« – sagte ich zu ihm.

»Ja, aber wenn sie mir gefällt? . . .«

Na, was sollte ich ihm darauf erwidern, bitte sagen Sie es mir . . . Ich war unschlüssig. Jedoch nach einigem Schweigen sagte ich ihm, dass, wenn der Vater sie zurückverlangen würde, man sie ihm zurückgeben müsste.

»Es ist gar nicht nötig sie zurückzugeben.«

»Ja er wird doch erfahren, dass sie hier ist.«

»Wie wird er es denn erfahren?«

Ich war wieder bestürzt.

»Hören Sie, Maxim Maximytsch!« – sagte Petschorin, sich erhebend – »Sie sind doch ein guter Mensch – wenn wir aber die Tochter diesem Wilden zurückgeben, er wird sie entweder ermorden oder verkaufen. Die Sache ist geschehn, man muss sie nur nicht gutwillig verderben, lassen Sie das Mädchen mir und behalten Sie meinen Degen . . .«

»Ja, zeigen Sie sie mir doch,« – sagte ich.

»Sie ist hinter dieser Türe; ich wollte heute selbst sie sehen, aber umsonst! sie sitzt in einem Winkel, mit dem Schleier verhüllt, spricht weder noch schaut sie einen an; sie ist furchtsam, wie eine wilde Gemse. Ich habe ein Weib angenommen, das tatarisch versteht, sie wird sie bedienen und sie an den Gedanken, dass sie mein ist, gewöhnen; denn sie wird niemand, ausser mir, gehören!« – fügte er hinzu und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch.

Auch damit erklärte ich mich einverstanden . . . Was sollte ich tun? Es gibt Menschen, mit denen man unbedingt einverstanden sein muss.«

»Und wie?« – fragte ich Maxim Maximytsch: – »hat er in der Tat sie an sich gewöhnt, oder ist sie in der Gefangenschaft aus Heimweh gestorben?«

»Bitte, warum denn aus Heimweh? Vom Fort aus konnte man ja dieselben Berge, wie aus ihrem Dorfe, sehen – und diese Wilden brauchen nicht mehr. Ja und ausserdem schenkte ihr Grigori Alexandrowitsch jeden Tag etwas; die ersten Tage stiess sie schweigend stolz die Geschenke von sich, die dann der Dienerin zufielen und deren Redseligkeit anfachten. Ach, Geschenke! was tut ein Weib nicht für einen bunten Lappen! . . . Na, aber das ist nebensächlich . . . Lange gab sich Grigori Alexandrowitsch mit ihr ab, lernte währenddessen tatarisch sprechen, und auch sie begann unsere Sprache zu verstehen. Allmählich gewöhnte sie sich an seinen Anblick, zuerst guckte sie unter der Stirn hervor, von der Seite und war fortwährend traurig; sie sang halblaut ihre Lieder, so dass es auch mir manches Mal traurig ums Herz wurde, wenn ich ihr aus dem Nebenzimmer zuhörte. Nie werde ich eine Szene vergessen! Ich ging vorüber und schaute durch das Fenster; Bela sass auf der Ofenbank, den Kopf auf die Brust gesenkt, Grigori Alexandrowitsch stand vor ihr.

»Höre, meine Peri,« – sagte er, – »du weisst doch, dass du über kurz oder lang die meine sein musst, warum quälst du mich denn so lange? Liebst du vielleicht einen Tschetschenzen? Wenn es der Fall ist, gebe ich dich frei, lasse dich nach Hause ziehn.«

Sie zuckte kaum bemerkbar auf und schüttelte den Kopf.

»Oder,« – fuhr er fort, – »hassest du mich zu sehr?«

Sie seufzte.

»Oder verbietet dir dein Glaube mich lieb zu gewinnen?«

Sie erbleichte und schwieg.

»Glaube mir, Allah ist für alle Völker ein und derselbe, und wenn er mir gestattet dich zu lieben, warum soll er denn dir verbieten auch mich zu lieben?«

Sie blickte ihm starr ins Gesicht, wie getroffen von diesem neuen Gedanken; ihre Augen drückten Misstrauen und das Verlangen sich zu überzeugen aus. Was waren das für Augen! sie glühten wie feurige Kohlen.

»Höre, liebe, gute Bela!« – fuhr Petschorin fort, – »du siehst, wie ich dich liebe; ich bin bereit alles zu tun, um dich zu zerstreuen; ich will, dass du glücklich bist. Wenn du aber wieder traurig sein wirst, werde ich sterben. Sage mir, wirst du fröhlicher sein?«

Sie sann nach, ohne von ihm ihre schwarzen Augen abzuwenden; dann lächelte sie und nickte freundlich mit dem Kopfe zum Zeichen ihres Einverständnisses. Er nahm sie an der Hand und begann sie zu überreden, ihn zu küssen; sie wehrte sich schwach und wiederholte nur immer: »bitte nicht, bitte nicht.«

Er aber liess sich nicht beirren, sie fing an zu zittern und zu weinen.

»Ich bin deine Gefangene,« – sagte sie, – »deine Sklavin; gewiss kannst du mich zwingen.« Und wieder weinte sie.

Grigori Alexandrowitsch schlug sich mit der Faust vor die Stirn und stürzte in das andere Zimmer. Ich ging zu ihm; er ging düster mit gekreuzten Armen auf und nieder.

»Was, lieber Freund?« – sagte ich zu ihm.

»Es ist ein Teufel, aber kein Weib!« – antwortete er, – »aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass sie mir gehören wird . . .«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie eine Wette eingehen?« – sagte er, – »nach einer Woche.«

»Gut.«

Wir reichten uns die Hände, und ich verliess ihn.

Am andern Tage schickte er sofort einen Boten nach Kisljar nach allerhand Einkäufen; man brachte eine Menge verschiedener persischer Stoffe, eine Unmasse . . . ich kann nicht alles aufzählen.

»Was meinen Sie, Maxim Maximytsch,« – sagte er und zeigte mir die Geschenke, – »wird die asiatische Schöne gegen solch eine Batterie standhalten?«

»Sie kennen die Tscherkessinnen nicht,« – antwortete ich, – »die sind ganz anders, als die Georgierinnen oder die kaukasischen Tatarinnen, ganz anders sind sie. Sie haben ihre Gebräuche; sie sind anders erzogen.«

Grigori Alexandrowitsch lächelte und begann einen Marsch zu pfeifen.

Ich hatte aber doch recht: die Geschenke wirkten bloss zur Hälfte, – sie wurde zutraulicher, freundlicher, aber weiter auch nichts; da entschloss er sich zum letzten Mittel. Eines Morgens befahl er sein Pferd zu satteln, kleidete sich in Tscherkessentracht, bewaffnete sich und ging zu ihr.

»Bela!« sagte er, – »du weisst, wie ich dich liebe. Ich beschloss dich zu entführen in der Meinung, dass du, wenn du mich näher kennen wirst, mich auch lieben würdest; ich habe mich getäuscht: – leb wohl! Bleibe als volle einzige Herrin von allem, was ich besitze; wenn du willst, kehre zum Vater zurück – du bist frei. Ich bin schuld vor dir und muss mich bestrafen. Leb wohl, ich reise fort – wohin, weiss ich nicht! Hoffentlich werde ich nicht lange eine Kugel oder einen Säbelhieb zu suchen brauchen; dann erinnere dich meiner und vergib mir.«

Er wandte sich ab und streckte ihr die Hand, zum Abschied entgegen. Sie nahm sie nicht und schwieg. Hinter der Türe, durch den Spalt, konnte ich ihr Gesicht sehen; und mir tat sie schmerzlich leid – solch eine tödliche Blässe bedeckte das liebe Gesichtchen! Da er keine Antwort erhielt, tat Petschorin einige Schritte zur Türe hin; er bebte – und was soll ich Ihnen sagen – ich weiss, er war tatsächlich im stande das zu vollbringen, was er scherzend gesagt hatte. Er war wirklich solch ein Mensch, weiss der liebe Gott. Kaum aber berührte er die Türe, als Bela aufsprang, aufschluchzte und sich ihm an den Hals warf . . . Glauben Sie mir oder nicht, ich weinte auch hinter der Türe, das heisst, wissen Sie, eigentlich weinte ich nicht, aber es hatte mich so . . . eine Dummheit überkommen! . . .«

Der Stabskapitän schwieg.

»Ja, offen gestanden,« – sagte er nach einer Weile am Schnurrbart zupfend, – »mich ärgerte es, denn mich hatte nie ein Weib so geliebt.«

»Und dauerte ihr Glück lange?« – fragte ich.

»Ja, sie gestand, dass ihr Petschorin seit dem ersten Tage oft im Traume erschienen sei, und dass kein einziger Mann auf sie je solch einen Eindruck gemacht habe. – Ja, sie waren glücklich!«

»Wie langweilig dies ist!« – rief ich unwillkürlich aus. In der Tat, ich erwartete eine tragische Lösung, und plötzlich wurden meine Hoffnungen so unerwartet getäuscht . . . »Ja, kam denn der Vater nicht auf den Gedanken,« – fuhr ich fort – »dass sie bei Ihnen im Fort wäre?«

»Das heisst, wahrscheinlich ahnte er es. Einige Tage später erfuhren wir, dass der Alte ermordet worden war. Es hat sich so zugetragen . . .«

Meine Aufmerksamkeit war von neuem erweckt.

»Ich muss erwähnen, dass Kasbitsch sich eingebildet hat, Asamat habe mit Einvernehmen des Vaters das Pferd gestohlen, wenigstens denke ich es mir so. Da lauerte er denn eines Tages dem Alten am Wege, etwa drei Werst von dem Dorfe, auf; der Alte kehrte von einem vergeblichen Streifzuge nach der verschwundenen Tochter zurück; seine Reiter waren zurückgeblieben – es war in der Dämmerung – er ritt in Gedanken versunken im Schritt, als plötzlich Kasbitsch, wie eine Katze, hinter einem Busche auftauchte, von hinten auf das Pferd sprang, mit einem Dolchstosse ihn zu Boden warf, die Zügel ergriff und auf und davon jagte; einige Reiter sahen das alles von einer Anhöhe aus; stürzten sich ihm nach, aber holten ihn nicht ein.«

»Er entschädigte sich für den Verlust des Pferdes und rächte sich,« – sagte ich, um die Meinung meines Begleiters zu erfahren.

»Gewiss, nach ihrer Auffassung« – sagte der Stabskapitän, – »war er im vollen Rechte.«

Ich erstaunte unwillkürlich über die Fähigkeit des Russen, sich den Sitten und Gebräuchen der Völker, unter denen er gezwungen ist zu leben, anzupassen. Ich weiss nicht, ob diese Geisteseigenschaft Tadel oder Lob verdient, sie beweist aber eine ungemeine Schmiegsamkeit des Geistes, das Vorhandensein eines klaren gesunden Verstandes, der das Böse überall vergibt, wo er seine Notwendigkeit oder die Unmöglichkeit seiner Vernichtung erblickt.

Indessen war der Tee ausgetrunken; die Pferde waren längst angespannt und froren im Schnee; der Mond erblasste im Westen und war schon bereit, sich in schwarze Wolken zu versenken, die an den weit entfernten Gipfeln hingen, wie die Fetzen eines zerrissenen Vorhangs. Wir traten hinaus. Der Wetterprophezeiung meines Reisegefährten zum Trotz hatte es sich aufgeklärt. Das versprach uns einen stillen Morgen; Sternenreigen verschlangen sich am weiten Firmament zu wundervollen Verzierungen, und einer nach dem andern erlosch, während sich der blasse Widerschein des Ostens über das dunkellila Gewölbe verbreitete und allmählich die steilen mit jungfräulichem Schnee bedeckten Abhänge der Berge beleuchtete. Rechts und links gähnten düstere geheimnisvolle Abgründe. Nebel krochen dorthin, wogten und wanden sich wie Schlangen über die Furchen der Nachbarfelsen hinab, als ob sie das Nahen des Tages fühlten und sich fürchteten.

Rings am Himmel und auf der Erde war es still, wie im Herzen eines Menschen beim Morgengebet; nur ab und zu kam ein kühler Wind von Osten her und hob die mit Reif bedeckten Mähnen der Pferde auf. Wir machten uns auf den Weg; mit grosser Mühe schleppten fünf magere Klepper unsere Wagen auf dem Zickzackwege nach Gut-Gora. Wir schritten zu Fuss hinterher und legten Steine unter die Räder, wenn den Pferden der Atem ausging; es schien, als führte der Weg in den Himmel, denn soweit das Auge schauen konnte, schlängelte er sich höher und höher und verlor sich schliesslich in eine Wolke, die schon am Abend zuvor auf dem Gipfel des Gut-Gora sich niedergesetzt hatte, wie ein auf Raub lauernder Geier. Der Schnee knirschte unter meinen Füssen; die Luft wurde so dünn, dass das Atmen beschwerlich wurde; das Blut floss unaufhörlich nach dem Kopf, aber gleichzeitig durchströmte alle meine Adern ein freudiges Gefühl und mir war es sonderbar froh zumute, so hoch über der ganzen Welt zu schweben – ein kindisches Gefühl, das bestreite ich nicht; sowie wir uns aus der Gesellschaft mit ihren gezwungenen Pflichten entfernen und uns der Natur nähern, werden wir unwillkürlich zu Kindern; alles Erworbene fällt von der Seele ab, und sie wird von neuem, wie sie einst war und wie sie sicherlich noch einmal wird. Wem es, wie mir, gewährt war, in einsamen Bergen herumzuwandern, lange, lange ihre phantastischen Bilder zu schauen und gierig die in ihren Schluchten schwebende belebende Luft einzuatmen, der wird meinen Wunsch begreifen, diese zaubervollen Bilder wiederzugeben, sie zu schildern und zu malen. – Da endlich hatten wir die Gut-Gora erstiegen, machten Halt und schauten uns um: über den Berg kroch eine graue Wolke, und ihr kalter Atem drohte mit einem nahen Sturm; im Osten aber war alles so klar und golden, dass wir, das heisst ich und der Stabskapitän, den sich nahenden Sturm völlig vergassen . . . Ja, auch der Stabskapitän war hingerissen: in den Herzen schlichter Menschen ist das Gefühl der Schönheit und Erhabenheit der Natur stärker, hundertfach lebendiger, als in uns, den in Worten und über dem Papier begeisterten Erzählern.

»Ich meinte, Sie hätten sich schon an diesen prachtvollen Anblick gewöhnt,« – sagte ich zu ihm.

»Ja, man kann sich auch an das Sausen der Kugeln gewöhnen, das heisst sich daran gewöhnen, das unwillkürliche Klopfen des Herzens zu verbergen.«

»Ich habe umgekehrt gehört, dass für manchen alten Soldaten diese Musik gerade angenehm sei.«

»Selbstverständlich ist diese Musik einem auch angenehm, wenn Sie wollen; aber wohl nur deshalb, weil das Herz höher schlägt. Schauen Sie,« fügte er hinzu, nach Osten weisend, – »was für ein Land!«

Und wahrlich solch ein Panorama werde ich nie wiedersehen: unter uns lag das Koyschauer Tal, von der Aragwa und einem anderen Flüsschen wie von zwei silbernen Fäden zerteilt; ein bläulicher Nebel zerfloss darüber und flüchtete sich vor den warmen Morgenstrahlen in die benachbarten Schluchten; rechts und links kreuzten sich Bergkämme, einer höher als der andere, streckten sich lang aus, mit Schnee und Gesträuch bedeckt; in der Ferne erhoben sich bewaldete Berge, niemals glichen sich zwei dieser Felsen. – Der Schnee brannte im roten Sonnenlicht hell und lustig. Man hätte die Ewigkeit hier erwarten mögen; die Sonne tauchte hinter einem dunkelblauen Berge auf. Man bemerkte es kaum, nur ein geübtes Auge konnte sie von einer Gewitterwolke unterscheiden; über der Sonne aber stand ein blutroter Streifen, auf den mein Begleiter eine besondere Aufmerksamkeit richtete.

»Ich habe Ihnen gesagt«, – rief er aus, – »dass heute ein Unwetter losbrechen wird; wir müssen uns beeilen, sonst wird es uns vielleicht auf dem Krestowoi überraschen. Vorwärts!« rief er den Kutschern zu.

Unter den Rädern wurden anstatt Hemmschuhe Ketten angebracht; die Pferde wurden am Zügel genommen, und wir begannen den Abstieg. Zu unsrer Rechten erhob sich ein steiler Felsen, und links war das Tal so tief, dass ein ganzes Dörfchen Osseten, die auf seinem Grunde dort lebten, wie ein Schwalbennest erschien; ich zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass hier auf diesem Wege, wo zwei Wagen aneinander nicht vorbei können, ein Kurier oft in dunkler Nacht an ein dutzendmal im Jahre reist, ohne aus seinem gebrechlichen Wagen auszusteigen. Der eine unserer Kutscher war ein russischer Bauer aus dem Jaroslawschen Gouvernement, der andere ein Ossete. Der Ossete führte das Mittelgespann mit der allergrössten Vorsicht am Zügel, nachdem er die Vorderpferde vorher abgespannt hatte, – unser sorgloser Russe aber war nicht einmal von seinem Bock abgestiegen. Als ich ihm bemerkte, dass er wenigstens meinem Koffer zuliebe, dem in diesen Abgrund nachzukriechen ich gar kein Verlangen habe, mehr Vorsicht anwenden könne, antwortete er mir:

»Ach, mein Herr! Der liebe Gott wird geben, dass wir nicht schlechter, als die ankommen; ich fahre doch nicht zum ersten Male!«

Und er hatte recht: wir konnten in der Tat ja auch nicht ankommen, aber wir kamen an. Und wenn alle Menschen mehr nachdenken würden, so würden sie sich überzeugen, dass das Leben nicht wert ist, sich so viel darum zu sorgen . . .

Aber, vielleicht willst du, lieber Leser, das Ende von Belas Geschichte erfahren? Erstens schreibe ich keine Erzählung, sondern Reisebilder: folglich kann ich nicht den Stabskapitän zwingen, früher zu erzählen, als er es in Wirklichkeit tut. Also geduldige dich oder schlag die paar Seiten um, aber ich rate es nicht, denn der Übergang über den Krestowoi (oder wie ihn der Gelehrte Gamba nennt, le Mont St. Christophe) ist deine Neugier wert. Wir stiegen also von der Gut-Gora in das Tschertow Tal . . . Das ist ein romantischer Name! Du siehst schon im Geiste zwischen den unzugänglichen Felsen den Schlupfwinkel des Bösen – nichts von alledem: der Name Tschertow Tal stammt vom Worte »Tscherta« (die Grenze) und nicht von »Tschert« (der Teufel) – denn hier war einst die Grenze von Georgien. Dieses Tal war mit hochangewehten Schneehügeln angefüllt, die mich ziemlich lebhaft an Saratow, Tambow und andere »nette« Gegenden unseres Vaterlandes erinnerten.

»Da ist der Krestowoi!« – sagte der Stabskapitän zu mir, als wir im Tschertow Tal angelangt waren, und wies auf einen mit Schnee bedeckten Hügel; auf seinem Gipfel erhob sich dunkel ein steinernes Kreuz, und an ihm führte ein kaum sichtbarer Weg vorbei, den man nur dann benutzte, wenn der Seitenweg vom Schnee verschüttet war; unsere Kutscher teilten uns mit, dass noch keine Lawinen abgestürzt wären, und um die Pferde zu schonen, führten sie uns auf dem Seitenwege. Bei einer Biegung trafen wir fünf Osseten; sie boten uns ihre Dienste an, fassten an die Räder und begannen mit Geschrei unsern Wagen zu ziehen und zu stützen. Und in der Tat, der Weg ist gefährlich: rechts hingen über unsern Köpfen Schneemassen, wie es schien, bereit mit dem ersten Windstosse in die Schlucht abzustürzen; der schmale Weg war teilweise mit Schnee bedeckt, worin an manchen Stellen unsere Füsse versanken, an anderen Stellen wieder war der Schnee von der Wirkung der Sonnenstrahlen und des nächtlichen Frostes zu Glatteis gefroren, so dass wir nur mit Mühe vorwärts kamen; die Pferde stürzten hin; – zur linken Hand gähnte ein tiefer schmaler Abgrund. Ein Bergbach rauschte dorther, versteckte sich bald unter der Eisdecke, bald schäumte er und sprang über die schwarzen Steine. In zwei Stunden konnten wir mit Mühe und Not den Krestowoi umgehn – zwei Werst in zwei Stunden! Indessen verschwanden die Sonnenstrahlen, es begann zu hageln und zu schneien; der Wind heulte und pfiff, wie der Räuber, den die russische Volkssage »Nachtigall« getauft hat, in den Schluchten, und bald war das steinerne Kreuz im Nebel verschwunden, dessen Wogen, eine finsterer und dunkler als die andere, vom Osten heraneilten . . .

Nebenbei gesagt, über dieses Kreuz existiert eine sonderbare, aber allgemein verbreitete Sage, es sei von Kaiser Peter dem Ersten bei seiner Durchreise im Kaukasus errichtet; aber erstens war Peter nur in Dagestan gewesen, und zweitens stand auf dem Kreuz mit grossen Buchstaben geschrieben, dass es auf Befehl des General Jermolow im Jahre 1824 aufgestellt worden ist. Die Sage hat sich jedoch, trotz der Inschrift, so eingebürgert, dass man wirklich nicht weiss, woran man glauben soll, um so mehr, da wir nicht gewohnt sind, Inschriften zu trauen.

Wir mussten noch fünf Werst über mit Eis bezogenen Felsen und durch lockeren Schnee hinabsteigen, bis wir die Station Kobi erreichten. Die Pferde waren ermattet und wie von Kälte erstarrt; der Schneesturm tobte stärker und stärker, ganz wie im Norden in unserer Heimat; sein Heulen war nur trauriger, trostloser. »Auch du, verbannter Wind,« – dachte ich, – »weinst um deine weiten freien Steppen! Dort kannst du deine kalten Schwingen entfalten, hier aber ist es dir zu eng und dumpf wie einem Adler, der schreiend gegen das Gitter seines eisernen Käfigs schlägt!«

»Es steht schlimm!« – sagte der Stabskapitän; – »schaun Sie, ringsum kann man nichts sehen als Nebel und Schnee, es kann leicht passieren, dass wir in eine Schlucht abstürzen oder irgendwo hier stecken bleiben. Und dort unten, denke ich, ist der Baidar so stürmisch, dass wir nicht hinüber kommen werden. Ist mir auch ein schönes Land, dieses Asien! weder den Menschen, noch den Flüssen kann man vertrauen.« Die Kutscher schlugen schreiend und fluchend die Pferde, die bloss schnaubten, sich widersetzten und um keinen Preis trotz der eindringlicheren Sprache der Peitschen sich von der Stelle rühren wollten.

»Euer Gnaden,« – sagte schliesslich einer von den Kutschern, – »wir kommen doch heute nach Kobi nicht mehr hin; vielleicht befehlen Sie, solange der Sturm es noch erlaubt, links abzubiegen? Dort auf dem Hügel ist etwas Schwarzes zu sehen – wahrscheinlich sind es Hütten; dort machen stets die Reisenden bei Unwetter Halt. Die sagen, dass sie uns hinführen werden, wenn Sie ihnen ein Trinkgeld geben,« – fügte er hinzu und zeigte auf einen Osseten.

»Weiss schon, Bruder, weiss schon ohne dich!« – sagte der Stabskapitän. – »Das sind Halunken! freuen sich jeder Gelegenheit, um ein Trinkgeld zu erhalten.«

»Sie müssen doch zugeben,« – sagte ich, – »dass es uns ohne sie noch schlechter ergangen wäre.«

»Es ist ja wahr!« – murmelte er, – »sind mir nette Kerle, diese Führer; sie wittern schon von weitem, wo was zu holen ist, als ob man nicht auch ohne sie den Weg finden könnte.«

Wir bogen links ab und erreichten nach vielen Anstrengungen und Mühen eine elende Behausung; zwei Hütten, die aus Steinfliesen und rohem Feldstein aufgeführt und mit einer Mauer aus demselben Material umgeben waren. Die zerlumpten Wirte empfingen uns freundlich. Ich erfuhr später, dass die Regierung ihnen Geld und Lebensmittel gibt unter der Bedingung, dass sie die vom Unwetter ereilten Reisenden aufnehmen.

»Alles endigt zum besten,« – sagte ich, und setzte mich am Feuer nieder. – »Jetzt werden Sie mir ihre Geschichte über Bela zu Ende erzählen; ich bin überzeugt, dass sie damit nicht endigte.«

»Warum sind Sie davon überzeugt?« – erwiderte mir der Stabskapitän mit einem verschmitzten Lächeln.

»Weil es nicht in der Ordnung der Dinge ist: was auf eine ungewöhnliche Art seinen Anfang genommen hat, muss auch ebenso enden.«

»Sie haben richtig geraten . . .«

»Freut mich sehr.«

»Das ist eine billige Freude, mir aber ist es wahrhaftig traurig ums Herz, wenn ich daran denke. Sie war ein herrliches Mädchen, diese Bela. Ich habe mich später so an sie gewöhnt, wie an eine Tochter, auch sie hatte mich gern. Ich muss Ihnen sagen, dass ich keine Familie habe; von meinem Vater und meiner Mutter habe ich schon seit zwölf Jahren keine Nachricht, mir eine Frau zu nehmen, kam mir früher nicht in den Sinn – jetzt aber, wissen Sie, würde es mir nicht gut stehn. Und da freute ich mich denn, dass ich jemand gefunden hatte, den ich verhätscheln konnte. Sie sang uns oft Lieder vor oder tanzte die Lesginka . . . Ah, und wie sie tanzte! Ich habe in der Gouvernementsstadt unsere jungen Mädchen gesehen, und einmal war ich sogar in Moskau auf einem Adelsball – vor zwanzig Jahren vielleicht – aber die konnten sich nicht mit ihr messen! Ganz was anderes war es! . . . Grigori Alexandrowitsch kleidete sie wie eine Puppe; er verzärtelte und verhätschelte sie, und sie wurde immer schöner und schöner, einfach wunderbar! Die braune Farbe verschwand von ihrem Gesichte und den Händen und ein schönes Rot spielte auf ihren Wangen . . . Und wie lustig und heiter sie war, und trieb ihren Scherz stets mit mir . . . Gott, verzeihe es ihr! . . .«

»Und was geschah, als sie ihr den Tod des Vaters mitteilten?«

»Wir verheimlichten es lange vor ihr, bis sie sich an ihre Lage gewöhnt hatte; als man es ihr aber sagte, weinte sie ein paar Tage und vergass es dann. Vier Monate ging alles, wie man es nicht besser wünschen kann. Ich glaube es schon gesagt zu haben, dass Grigori Alexandrowitsch leidenschaftlich die Jagd liebte; früher zog es ihn unwiderstehlich in den Wald, Ebern oder Gemsen nachzujagen, jetzt aber ging er nicht mal über den Wall des Forts hinaus. Allein ich merkte mit einem Male, dass er wieder zu grübeln anfing; er wanderte, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab; dann ging er eines Tages, ohne jemand etwas zu sagen, auf die Jagd – einen ganzen Morgen blieb er fort; es wiederholte sich noch einmal und kam dann öfter und öfter vor . . .«

»Das ist nicht gut,« – dachte ich, – »wahrscheinlich ist zwischen ihnen etwas vorgefallen.«

Eines Morgens kam ich zu ihnen – es steht mir noch jetzt vor den Augen: Bela sass auf dem Bette in einem schwarzen seidenen Umhang, bleich und so traurig, dass ich erschrak.

»Wo ist Petschorin?« – fragte ich.

»Auf der Jagd.«

»Ist er heute fortgegangen?« – Sie schwieg, als fiele es ihr schwer zu sprechen.

»Nein, schon gestern,« – sagte sie endlich mit einem schweren Seufzer.

»Vielleicht ist ihm etwas zugestossen?«

»Ich dachte gestern den ganzen, ganzen Tag nach,« – antwortete sie unter Tränen, – »ersann mir allerhand Unglücksfälle: bald schien es mir, er sei von einem Eber verwundet, bald dachte ich, er sei von einem Tschetschenzen in die Berge verschleppt . . . Heute aber scheint es mir, er liebe mich nicht mehr!«

»In der Tat konntest du dir nichts Schlimmeres ausdenken, meine Liebe.«

Sie weinte von neuem, dann hob sie freudig den Kopf auf, wischte die Tränen ab und fuhr fort:

»Wenn er mich nicht mehr liebt, wer hindert ihn denn mich nach Hause zu schicken? Ich zwinge ihn doch nicht. Wenn aber dies so fortgeht, gehe ich von selbst fort: ich bin nicht seine Sklavin – ich bin eine Fürstentochter! . . .«

Ich begann sie zu überreden.

»Höre, Bela, er kann doch nicht hier ewig sitzen, als wäre er an deinen Rock genäht: er ist ein junger Mann, liebt dem Wilde nachzujagen – wenn er auch fortgeht, so kommt er doch wieder; wenn du aber traurig sein wirst, wird er bald deiner überdrüssig werden.«

»Es ist wahr, es ist wahr,« – antwortete sie, – »ich werde heiter sein.«

Und lachend ergriff sie ihr Tamburin, begann zu singen, zu tanzen und um mich herumzuhüpfen; aber auch dies währte nicht lange: sie fiel wieder auf das Bett hin und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Was sollte ich mit ihr anfangen? Ich habe nie Umgang mit Frauen gehabt, müssen Sie wissen; ich sann hin und her, wie ich sie trösten könnte, und fand nichts; einige Zeit schwiegen wir beide . . .

Eine höchst unangenehme Lage!

Schliesslich sagte ich zu ihr:

»Willst du mit mir auf dem Wall spazieren gehen, das Wetter ist herrlich!«

Es war im September. Und in der Tat war es ein wundervoller, klarer und nicht heisser Tag; alle Berge konnte man wie auf einem Teller sehen. Wir gingen, wanderten auf dem Wall schweigend hin und her, und schliesslich liess sie sich auf den Rasen nieder, ich setzte mich neben sie hin. Nein, wirklich, es ist rein lächerlich, wenn ich mich daran erinnere: ich lief hinter ihr her, wie ein Kindermädchen.

Unser Fort stand auf einer Anhöhe, und die Aussicht vom Walle war schön: von der einen Seite grenzte eine breite Ebene, von einigen Schluchten durchzogen, an einen Wald, der sich bis an die Bergkämme hinaufzog; in der Ebene stieg hie und da Rauch von den zerstreuten Dörfern auf. Es grasten Viehherden, an der anderen Seite eilte ein seichtes Flüsschen dahin, dann kam dichtes Gesträuch. Es bedeckte die steinigen Anhöhen, die sich mit der Hauptkette des Kaukasus vereinigen. Wir sassen in der Ecke der Bastei, so dass wir zu beiden Seiten alles übersehen konnten. Plötzlich sah ich, wie aus dem Walde jemand auf einem grauen Pferde immer näher und näher heranritt, endlich jenseits des Flüsschens ungefähr hundert Faden von uns stehn blieb und anfing sein Pferd zu drehen wie ein Besessener. Was bedeutete dies! . . .

»Schau mal, Bela, hin,« – sagte ich, – »du hast junge Augen, was ist das für ein Reiter, was macht der für Spässe dort? . . .«

Sie sah hin und rief:

»Es ist Kasbitsch!«

»Ach, dieser Räuber! Ist er etwa gekommen, sich über uns lustig zu machen?«

Ich sah schärfer hin und in der Tat, es war Kasbitsch; es war seine gebräunte Fratze, er war zerlumpt und schmutzig wie immer.

»Das ist das Pferd meines Vaters,« – sagte Bela und erfasste meine Hand; sie zitterte wie ein Blatt am Baume und ihre Augen funkelten.

»Aha!« – dachte ich, – »auch in dir, mein liebes Kind, spricht das Räuberblut.«

»Komm mal her,« – sagte ich zu dem Wachtposten, – »sieh dein Gewehr nach und schiesse mir diesen Burschen herunter – du erhältst dafür einen Silberrubel.«

»Zu Befehl, Herr Stabskapitän; aber er steht nicht still auf einem Fleck . . .«

»Befiehl es ihm doch!« – sagte ich lachend.

»He, mein Lieber!« – rief der Wachtposten und winkte ihm mit der Hand, – »halte ein wenig still, was drehst du dich, wie ein Kreisel?«

Kasbitsch hielt tatsächlich an und begann hinzuhorchen: wahrscheinlich meinte er, dass man mit ihm sich in Unterhandlungen einliesse – aber so war es nicht gemeint! . . . Mein Grenadier legte an . . . bauz! . . . vorbeigeschossen; – kaum, dass das Pulver aufflammte, gab Kasbitsch seinem Pferde einen Ruck und es sprang zur Seite. Er richtete sich in den Bügeln auf, rief etwas in seiner Mundart, drohte mit der Peitsche – und fort war er!

»Schämst du dich nicht!« – sagte ich zu dem Wachtposten.

»Herr Stabskapitän! er ist weggeritten, um zu sterben,« – antwortete er, – »es sind solche verfluchte Menschen, man kann sie nicht unter Feuer zur Strecke bringen.«

Nach einer Viertelstunde kehrte Petschorin von der Jagd zurück. Bela warf sich ihm an den Hals und hatte für ihn weder eine Klage noch einen Vorwurf wegen der langen Abwesenheit . . . Sogar ich ärgerte mich stark über ihn.

»Hören Sie,« – sagte ich, – »hier war soeben jenseits des Flüsschens Kasbitsch, und wir haben auf ihn geschossen; Sie konnten doch leicht auf ihn stossen. Diese Bergbewohner sind ein rachsüchtiges Volk; meinen Sie, dass er nicht ahnt, dass Sie teilweise dem Asamat geholfen haben? Ich gehe eine Wette mit Ihnen ein, dass er heute Bela erkannt hat. Ich weiss, dass sie vor einem Jahr ihm stark gefiel – er hat es mir selbst gesagt – und wenn er gehofft hätte, ein anständiges Brautgeld einzusammeln, hätte er selber um sie gefreit . . .«

Da wurde Petschorin nachdenklich.

»Ja,« – antwortete er, – »man muss vorsichtiger sein . . . Bela! vom heutigen Tage an musst du nicht mehr auf den Wall gehen.«

Am Abend hatte ich mit ihm eine lange Unterredung: mich ärgerte es, dass er sich dem armen Mädchen gegenüber geändert hatte. Nicht nur, dass er den halben Tag auf der Jagd verbrachte, auch sonst war sein Benehmen kalt zu ihr, er war selten zärtlich. Sie wurde von Tag zu Tag magerer, ihr Gesichtchen schmäler, und die grossen Augen verloren an Glanz.

Manchmal fragte ich sie:

»Worüber seufzest du, Bela? Bist du traurig?«

»Nein.«

»Vielleicht hast du einen Wunsch?«

»Nein.«

»Sehnst du dich nach deinen Verwandten?«

»Ich habe keine Verwandte.«

Es kam vor, dass man aus ihr tagelang ausser »ja« und »nein« nichts herausbrachte. Ja und darüber sprach ich dann mit ihm.

»Hören Sie, Maxim Maximytsch,« – erwiderte er, – »ich habe einen unglückseligen Charakter: ob die Erziehung daran schuld ist, oder ob Gott mich so erschaffen hat, – ich weiss es nicht; ich weiss aber nur eins, dass wenn ich die Ursache fremden Unglückes bin, ich selbst nicht weniger unglücklich bin. Selbstverständlich ist Ihnen dies ein schlechter Trost – aber die Sache ist nun einmal so. In meiner ersten Jugend, von dem Augenblicke an, als ich die Vormundschaft meiner Angehörigen los wurde, begann ich, wie wahnsinnig alle Vergnügungen, die man für Geld erhalten kann, zu geniessen, und selbstverständlich wurden sie mir bald zuwider. Dann stürzte ich mich in das Getriebe der grossen Welt und bald war ich auch der Gesellschaft überdrüssig; ich verliebte mich in schöne Weltdamen und wurde auch geliebt; aber ihre Liebe reizte nur meine Phantasie und Eigenliebe, das Herz dagegen blieb leer . . . Ich begann zu lesen, zu lernen – die Wissenschaft wurde mir auch zum Überdruss; ich sah, dass weder Ruhm noch Glück von ihr abhängt, denn die glücklichsten Menschen sind die Unwissenden, der Ruhm aber ist ein glücklicher Zufall, und um ihn zu erreichen, muss man bloss gewandt sein. Da wurde es mir langweilig Bald darauf versetzte man mich nach dem Kaukasus: dies war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich hoffte, dass die Langeweile unter den Kugeln der Tschetschenzen nicht lebe – umsonst aber: nach einem Monat hatte ich mich so an ihr Sausen und an die Nähe des Todes gewöhnt, dass ich tatsächlich mehr Aufmerksamkeit den Mücken zuwandte, und mir wurde es langweiliger, als früher, denn ich hatte fast die letzte Hoffnung verloren. Als ich Bela in meinem Hause sah, als ich zum erstenmal sie auf meinen Knien hielt und ihre schwarzen Locken küsste, dachte ich, dass sie der Engel sei, den mir das mitleidige Schicksal gesandt habe . . . Ich hatte mich wieder getäuscht: die Liebe der Wilden ist um weniges besser, als die Liebe einer vornehmen Dame; die Unwissenheit und die Einfalt der einen werden einem ebenso überdrüssig, wie die Koketterie der anderen. Wenn Sie wollen, ich liebe sie noch, ich bin ihr für ein paar süsse Augenblicke dankbar, ich kann für sie mein Leben lassen – aber es langweilt mich in ihrer Nähe . . . Bin ich ein Tor oder ein Bösewicht – ich weiss es nicht; aber das ist auch wahr, dass ich ebenso bedauernswert bin, vielleicht sogar mehr, als sie; meine Seele ist von der Welt verdorben, meine Phantasie unstet und mein Herz unersättlich. Mir ist alles zu wenig, an die Trauer gewöhne ich mich ebenso leicht, wie an den Genuss, und mein Leben wird von Tag zu Tag leerer; ein einziges Mittel ist mir geblieben, – zu reisen. Sobald es mir möglich sein wird, mache ich mich auf den Weg – aber nur nicht nach Europa, Gott behüte! Ich reise nach Amerika, Arabien oder Indien – hoffentlich sterbe ich unterwegs. Wenigstens bin ich überzeugt, dass dieser letzte Trost, dank den Stürmen und schlechten Wegen, nicht bald erschöpft wird.«

In dieser Weise redete er lange, und seine Worte prägten sich mir ins Gedächtnis ein, denn zum erstenmal hörte ich solche Dinge von einem fünfundzwanzigjährigen jungen Mann, und Gott wird geben, dass es auch zum letztenmal war . . .

»Es ist zum Verwundern! Sagen Sie, bitte« – fuhr der Stabskapitän fort, sich an mich wendend, – »Sie haben doch in der Hauptstadt gelebt und sind nicht lange fort – sind denn alle jungen Leute dort so?« Ich antwortete ihm, dass es viele Menschen gäbe, die dasselbe sprächen, und dass es wahrscheinlich auch solche gäbe, die die Wahrheit sprächen; dass übrigens der sogenannte Weltschmerz wie alle Moden, in den höchsten Schichten der Gesellschaft entstanden, in die niedrigeren gedrungen sei, wo er weiter abgetragen werde, und dass gegenwärtig die, welche am meisten und tatsächlich sich langweilten, dieses Unglück wie ein Laster zu verbergen suchten. Der Stabskapitän begriff diese Feinheiten nicht, schüttelte den Kopf und lächelte schlau. –

»Diese Mode sich zu langweilen haben, meine ich, auch wieder die Franzosen eingeführt?«

»Nein, die Engländer haben es getan.«

»Aha, so steht die Sache! . . .« – rief er aus, – »sie waren ja stets berüchtigte Trinker gewesen.«

Ich erinnerte mich unwillkürlich einer jungen Dame in Moskau, die die Behauptung aufstellte, Byron sei weiter nichts als ein Trunkenbold. Übrigens war die Bemerkung des Stabskapitäns eher zu entschuldigen; um seine Enthaltsamkeit zu stärken, suchte er sich selbstverständlich zu überreden, dass alles Unglück in der Welt von der Trunksucht stamme.

Indessen fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Kasbitsch zeigte sich nicht wieder. Aber ich weiss nicht, warum, – ich konnte den Gedanken nicht loswerden, dass er nicht umsonst gekommen sei und irgend etwas Böses im Sinne habe.

Eines Tages überredete mich Petschorin, mit ihm auf die Eberjagd zu gehen; ich sträubte mich lange: denn für mich war ein Eber nichts Wunderbares! Jedoch ich ging mit. Wir nahmen fünf Soldaten als Begleitung mit und ritten frühmorgens fort. Bis zehn Uhr streiften wir in Schilf und Wald umher – von dem Wild keine Spur.

»Ist es nicht besser, wir kehren heim?« – sagte ich, – »wozu eigensinnig sein? Wir haben offenbar einen unglücklichen Tag.«

Grigori Alexandrowitsch aber wollte nicht, trotz Hitze und Müdigkeit, ohne Beute zurückkehren . . . Er war solch ein Mensch! was ihm in den Sinn gekommen war, musste er haben; anscheinend war er als Kind von der Mama verzogen . . . Endlich stiessen wir gegen Mittag auf einen verfluchten Eber – paff! paff! umsonst aber: er war in das Schilf entkommen . . . es war nun einmal ein unglücklicher Tag! . . . Wir rasteten ein wenig und traten dann den Heimweg an. Wir ritten schweigend nebeneinander mit lose gehaltenem Zügel und waren schon fast am Fort; ein Gebüsch verdeckte es nur vor uns. Plötzlich krachte ein Schuss . . . Wir blickten einander an: uns durchfuhr ein und derselbe Verdacht . . . Wir sprengten dorthin zu, wo der Schuss gefallen war – und sahen: auf dem Walle hatten sich Soldaten versammelt und zeigten auf das Feld, dort aber flog mit rasender Eile ein Reiter und hielt etwas Weisses im Sattel. Grigori Alexandrowitsch schrie nicht schlechter, wie ein Tschetschenze, auf, riss das Gewehr aus dem Futteral und jagte nach; ich folgte ihm.

Zum Glück waren unsere Pferde dank der schlechten Jagd nicht ermüdet; sie rasten förmlich und mit jedem Augenblick kamen wir näher und näher . . . Und endlich erkannte ich Kasbitsch, konnte aber nicht unterscheiden, was er vor sich im Sattel hielt. Ich holte Petschorin ein und rief ihm zu: – »es ist Kasbitsch!« Er blickte mich an, nickte mit dem Kopfe und versetzte dem Pferde einen Peitschenhieb. Da, endlich waren wir von ihm in Schussweite; war Kasbitschens Pferd ermattet oder war es schlechter, als unsere, jedenfalls bewegte es sich trotz aller Anstrengung langsam vorwärts. Ich denke, in diesem Augenblick erinnerte er sich seines Karagës . . .

Ich sah plötzlich, wie Petschorin im vollen Rennen anlegte . . .

»Schiessen Sie nicht!« – rief ich ihm zu, – »schonen Sie den Schuss; wir holen ihn auch so ein.«

Aber diese Jugend! stets erhitzt sie sich im unpassendsten Augenblick . . .

Der Schuss krachte schon, und die Kugel traf das Pferd in ein Hinterbein; es machte noch etwa zehn Sprünge, stolperte und stürzte auf die Knie. Kasbitsch sprang ab und da erblickten wir, dass er in den Armen eine mit einem Schleier verhüllte Frauengestalt hielt . . . Es war Bela . . . die arme Bela! Er rief uns etwas in seiner Mundart zu und zückte über ihr den Dolch . . . Es war keine Zeit zu verlieren: ich schoss meinerseits auf gut Glück ab; offenbar war die Kugel ihm in die Schulter gedrungen, denn plötzlich liess er den Arm sinken. Als der Rauch sich verzogen hatte, lag auf der Erde das verwundete Pferd und neben ihm Bela; Kasbitsch aber hatte sein Gewehr weggeworfen und kletterte im Gebüsch einen Felsen, gleich einer Katze, hinan. Ich wollte ihn herunterholen – mein Gewehr war aber nicht geladen. Wir sprangen von den Pferden und stürzten zu Bela hin. Die Arme lag unbeweglich da, und das Blut floss in Strömen aus einer Wunde . . . Solch ein Bösewicht! – hätte er sie wenigstens ins Herz getroffen, so wäre mit einemmal alles aus gewesen; er hatte ihr aber den Stoss in den Rücken versetzt . . . ein echter Räuberstoss! Sie war bewusstlos. Wir zerrissen den Schleier und verbanden so fest wie möglich die Wunde. Vergebens küsste Petschorin sie auf die kalten Lippen – nichts konnte sie ins Bewusstsein bringen.

Petschorin bestieg das Pferd; ich hob sie vom Boden auf und legte sie ihm auf den Sattel; er hielt sie im Arm und so ritten wir zurück. Nach einigem Schweigen sagte Grigori Alexandrowitsch zu mir:

»Hören Sie, Maxim Maximytsch, wir bringen sie auf diese Weise nicht lebend nach Hause.«

»Sie haben recht!« – sagte ich, und wir spornten die Pferde zu vollem Galopp an.

Am Tore des Forts erwartete uns eine Menge Menschen. Wir brachten mit aller Vorsicht die Verwundete zu Petschorin hin und sandten nach dem Arzte. Obwohl er betrunken war, kam er doch, schaute sich die Wunde an und erklärte, dass Bela länger als einen Tag nicht leben könne; er hatte sich aber geirrt . . .«

»Genas sie?« – fragte ich den Stabskapitän, ihn in einer unwillkürlichen freudigen Aufwallung an der Hand fassend.

»Nein,« – antwortete er, – »der Arzt hat sich nur darin getäuscht, dass sie noch zwei Tage lebte.«

»Bitte erklären Sie mir aber, wie hatte Kasbitsch zu stande gebracht, sie zu entführen?«

»Die Sache verhielt sich so: trotz des Verbotes Petschorins war sie aus dem Fort hinaus und zu dem Flüsschen gegangen. Es war, müssen Sie wissen, sehr heiss; sie liess sich auf einen Stein nieder und tauchte ihre Füsse ins Wasser. Kasbitsch schlich sich heran, fasste sie, verstopfte ihr den Mund und schleppte sie in die Büsche, dort sprang er auf sein Pferd und machte sich aus dem Staube. Indessen war es ihr gelungen um Hilfe zu rufen; die Wachtposten schlugen Lärm, schossen auf ihn, aber vergebens, und da kamen wir denn dazu.«

»Aber warum wollte Kasbitsch sie entführen?«

»Warum? Ja, diese Tscherkessen sind doch genügend als Diebe bekannt; sie können es schwer über sich bringen, nicht zu stehlen, was schlecht verwahrt ist; auch wenn sie es nicht brauchen, stehlen sie es doch . . . das muss man ihnen nicht übel nehmen! Und ausserdem gefiel sie ihm ja schon lange.«

»Und Bela starb?«

»Ja, sie starb; sie quälte sich aber lange, und auch wir litten dabei stark. Gegen zehn Uhr abends kam sie zu sich; wir sassen an ihrem Bette; kaum öffnete sie die Augen, als sie Petschorin zu rufen begann.

»Ich bin hier, bei dir, mein Täubchen,« – antwortete er und nahm ihre Hand.

»Ich werde sterben!« – sagte sie.

Wir wollten sie trösten, sagten ihr, dass der Arzt versprochen hätte, sie unbedingt herzustellen. Sie schüttelte das Köpfchen und wandte sich zu der Wand hin: sie wollte nicht sterben! . . .

In der Nacht begann sie zu phantasieren; ihr Kopf brannte; ab und zu durchlief ihren Körper ein Fieberfrost. Sie redete ohne Zusammenhang vom Vater, dem Bruder; sie wollte in die Berge, nach Hause . . . Dann sprach sie von Petschorin, gab ihm allerhand zärtliche Namen oder warf ihm vor, dass er sein Täubchen nicht mehr liebe.

Er hörte ihr schweigend, den Kopf auf die Hände gesenkt, zu; aber die ganze Zeit hatte ich keine einzige Träne an seinen Wimpern bemerkt: konnte er tatsächlich nicht weinen, oder beherrschte er sich – ich weiss es nicht; was mich anbetrifft, so habe ich nichts Schmerzlicheres gesehen.

Gegen Morgen verging das Phantasieren; etwa eine Stunde lag sie unbeweglich, blass und so ermattet, dass man kaum merken konnte, ob sie noch atme; dann wurde ihr besser, und sie begann zu sprechen, aber, was meinen Sie, worüber? . . . Solch ein Gedanke kommt doch nur einem Sterbenden in den Sinn! . . . Sie fing an, schmerzlich zu bedauern, dass sie nicht Christin sei und dass ihre Seele in jener Welt nicht mit der Seele Grigori Alexandrowitsch zusammenträfe und dann eine andere Frau seine Gefährtin im Paradiese sein werde. Mir kam der Gedanke, sie vor dem Tode noch taufen zu lassen, ich machte ihr den Vorschlag; sie blickte mich unschlüssig an und konnte lange nichts sagen; endlich antwortete sie mir, dass sie in dem Glauben, in welchem sie geboren sei, auch sterben werde. So verging ein ganzer Tag. Wie hatte sie sich an diesem einen Tag verändert! Die bleichen Wangen waren eingefallen, und die Augen gross, sehr gross geworden; die Lippen brannten; sie fühlte eine innere Hitze, als ob in ihrer Brust glühendes Eisen läge.

Die zweite Nacht brach ein; wir wachten an ihrem Bett. Sie quälte sich entsetzlich, stöhnte, und kaum begann der Schmerz nachzulassen, als sie versuchte, Grigori Alexandrowitsch einzureden, dass es ihr besser gehe, er solle sich nur schlafen legen. Sie küsste seine Hand und liess sie aus ihren nicht los. Gegen Morgen begann sie den wehmütigen Schmerz des Todes zu empfinden, fing an sich hin und herzuwälzen, riss den Verband ab, und das Blut floss von neuem. Als die Wunde verbunden war, beruhigte sie sich für einen Augenblick und bat Petschorin, dass er sie küsse. Er lag auf den Knien neben dem Bette, hob ein wenig ihren Kopf vom Kissen und presste seine Lippen an ihre erkaltenden Lippen; sie umschlang mit zitternden Händen fest seinen Hals, als wollte sie mit diesem Kuss ihm ihre Seele geben . . . Nein, sie hat gut getan, dass sie starb! Was würde mit ihr geworden sein, wenn Grigori Alexandrowitsch sie verlassen hätte? Und das wäre geschehen, früher oder später . . .

Die Hälfte des anderen Tages war sie still, schweigsam und gefügig; unser Arzt quälte sie aber mit Medikamenten und Kompressen.

»Erbarmen Sie sich!« – sagte ich zu ihm, – »Sie haben doch selbst gesagt, dass sie unbedingt sterben wird, wozu nützen denn alle Ihre Medikamente?«

»Es ist doch besser, Maxim Maximytsch,« – erwiderte er, – »ich beruhige mein Gewissen.«

Ein gutes Gewissen!

Am Nachmittage begann schrecklicher Durst und Hitze sie zu quälen. Wir öffneten die Fenster, aber draussen war es heisser als im Zimmer; wir stellten am Bette Eis auf – nichts half. Ich wusste, dass dieser unauslöschbare Durst ein Zeichen des nahenden Endes wäre, und sagte es Petschorin.

»Wasser, Wasser! . . .« bat sie mit heiserer Stimme, sich vom Bette erhebend.

Petschorin war kreidebleich geworden, nahm ein Glas, goss es ein und reichte es ihr. Ich bedeckte meine Augen mit den Händen und begann zu beten – ich erinnere mich nicht, was ich betete . . . Ja, mein Lieber, ich habe oft gesehen, wie Menschen in Hospitälern und auf dem Schlachtfelde starben, aber dies alles war nicht das, ganz und gar nicht! . . .

Ich muss noch gestehen, eins macht mich traurig: sie hatte sich vor dem Tode kein einziges Mal meiner erinnert, und ich habe sie doch wie ein Vater geliebt . . . Na, Gott möge es ihr verzeihen! . . . Und offen gesagt, was habe ich denn gross, dessen man sich vor dem Tode zu erinnern hätte? –

Als sie das Wasser getrunken hatte, wurde es ihr besser, und nach ein paar Minuten starb sie. Wir hielten einen Spiegel an die Lippen – er blieb ungetrübt! . . .

Ich führte Petschorin aus dem Zimmer fort, und wir gingen auf den Wall; dort schritten wir lange ohne ein Wort zu sagen, die Hände auf den Rücken gelegt, nebeneinander hin und her; sein Gesicht drückte nichts Besonderes aus, und mich ärgerte es: ich würde an seiner Stelle vor Gram gestorben sein. Schliesslich setzte er sich auf die Erde im Schatten hin und begann mit einem Stab etwas in den Sand zu zeichnen. Ich wollte, wissen Sie, mehr aus Anstand ihn trösten und fing an zu sprechen; er hob den Kopf und lachte . . . Mich durchlief bei diesem Lachen ein eisiger Schauer . . . Ich ging fort, einen Sarg zu bestellen.

Offen gestanden, ich nahm diese Angelegenheit in die Hand, teilweise um mich zu zerstreuen. Ich hatte ein Stück Seidenstoff, liess damit den Sarg beschlagen und schmückte ihn noch mit tscherkessischen Silberborten, die Grigori Alexandrowitsch für sie einmal gekauft hatte.

Am anderen Tage früh morgens beerdigten wir sie hinter dem Fort, am Flüsschen, neben der Stelle, wo sie zum letztenmal gesessen hatte; um ihr kleines Grab stehen jetzt dichte Sträucher von weissen Akazien und Holunder. Ich wollte ein Kreuz aufstellen, aber, wissen Sie, es ist peinlich: sie war doch keine Christin . . .«

»Und Petschorin?« – fragte ich.

»Petschorin war lange krank, magerte ab, der arme Kerl; aber wir sprachen nie über Bela; ich sah, dass es ihm unangenehm sein würde, also wozu denn! – Nach drei Monaten versetzte man ihn in ein anderes Regiment, und er reiste nach Georgien ab. Seit der Zeit haben wir uns nicht wiedergesehen . . . Ja, ich erinnere mich, jemand erzählte mir vor kurzem, er sei nach Russland zurückgekehrt, in den Listen des Armeekorps aber stand nichts davon. Übrigens, unser einer erhält die Nachrichten spät.«

Hier liess er sich weitschweifend darüber aus, wie unangenehm es sei, alle Neuigkeiten ein Jahr später zu erfahren – wahrscheinlich um die traurigen Erinnerungen zu dämpfen.

Ich unterbrach ihn nicht und hörte ihm auch nicht zu. Nach einer Stunde bot sich die Möglichkeit, weiter zu reisen; der Sturm hatte sich gelegt, der Himmel war klar geworden, und wir begaben uns auf den Weg. Unterwegs brachte ich unwillkürlich wieder das Gespräch auf Bela und Petschorin.

»Haben Sie nicht zufällig gehört, was aus Kasbitsch geworden ist?« – fragte ich.

»Aus Kasbitsch? Ich weiss es wirklich nicht . . . Ich habe gehört, dass auf dem rechten Flügel unserer Feinde ein gewisser Kasbitsch, ein kühner Bursche, in einem roten Beschmet langsam unter unseren Kugeln vorüberreitet und sich sehr höflich verbeugt, wenn eine Kugel in seiner Nähe vorübersaust; aber es ist unwahrscheinlich, dass es derselbe sei . . .«

In Kobi trennte ich mich von Maxim Maximytsch; ich nahm Postpferde, er aber konnte mir infolge seines schweren Gepäcks nicht folgen. Wir hofften nicht, uns je wieder zu sehen, wir trafen aber doch zusammen, und wenn die Leser es wünschen, erzähle ich: es ist eine ganze Geschichte . . . Du wirst zugeben, mein Leser, Maxim Maximytsch ist ein Mensch, der alle Achtung verdient? . . . Wenn du das tust, bin ich vollkommen für meine, vielleicht zu lange Erzählung belohnt.

 


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