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»Wenn's auch nur eine Heilsordnung wäre«, sagte er sich manchesmal. Denn zu Rezensionen fühlte er gleich von Anfang die größte Abneigung. Sein Urteil andern Menschen aufbinden zu wollen, war nie sein Fall gewesen. Und der Stolz, der sich da hineinmischt, war ihm eine peinlichere Empfindung, als die größte Demütigung, die er hätte erleiden müssen. »Ein solcher Mensch«, sprach er zu sich selbst, »macht, wenn andere und besonders vernünftige und gescheute Leute seinem Urteil nicht beipflichten, sein Leben zur Hölle und umsonst hat der Mund der Wahrheit nicht gesagt: Richtet nicht, daß ihr auch nicht gerichtet werdet.«
Aber die Autorschaft – andern Leuten Brillen zu schleifen, wodurch sie sehen können, ohne welche ihnen tausend Sachen verborgen blieben. – »Es ist doch groß das«, meinte er.
»Vor alten Zeiten schrieben die Prediger Postillen; als der Postillen zu viel waren, ward darüber gelacht und gespottet, da setzten sie sich auf ihre Kirchhöfe (die mehrstenmale freilich nur in Gedanken) und lasen den unsterblichen Engländer, den erhabenen Young. Da erschienen Christen bei den Gräbern, Christen in der Einsamkeit, Christen am Morgen, Christen am Abend, Christen am Sonntage, Christen am Werktage, Christen zu allen Tagen und Zeiten des Jahrs. Die Buchhändler wollten deren auch nicht mehr, und warum sollte ein Prediger nicht auch durch Romanen und Schauspiele nützen können, wie durch Predigten und geistliche Lieder? Der Nutzen müßte noch weit größer sein, weil dergleichen Bücher in weit mehrere Hände kommen, weit begieriger gelesen werden, wenn es dem Verfasser an Witz nicht mangelt und –«
Wir setzen mit Fleiß diese lange Stelle aus dem Selbstgespräch des ehrwürdigen Johannes Mannheim her, um unsern Lesern ein Pröbchen, wie weit in so kurzer Zeit durch einige Zeilen nur die verborgene Radix Ruhmsucht in diesem gesunden Herzen aufgegäret war und sich seinen edelsten Säften mitgeteilt hatte. Fast ein ganzes Vierteljahr wälzte er's mit sich im Bette herum, einen Roman im Geschmack des Richardson oder Fielding der gelehrten Welt vorzulegen; verschiedene Begebenheiten aus seiner eigenen Lebensgeschichte hineinzuspinnen, das Ganze aber etwan als die Geschichte eines Prinzen, oder eines Ritters, oder eines – Bauren oder eines – was weiß ich's, einzukleiden, das noch nicht vorgekommen wäre, nota bene. Der gute Mann bedachte nicht, daß durch seine freiwillige Entfernung von dem, was man große Welt nennt, und überhaupt von dem Gange der menschlichen Angelegenheiten in Städten und an Höfen, so wie von dem Ton der Gesellschaften und dem Hervorstechenden in Charakteren und Sitten, sich ihm alles nur durch das Prisma seiner Korrespondenz, oder des Hörensagens, oder gar gewisser Bücher, bald – dreieckig, bald – rautenförmig, bald – vieleckig, bald spitz, bald stumpf, bald platt weisen würde, was sonst schlechtweg rund oder gerade war, und umgekehrt. Die Begierde, ein Romanschreiber zu werden, drückte und folterte ihn Tag und Nacht, wo er ging; was er sah, was er anrührte, wollte er alles in seinen Roman bringen und der arme Mann saß beständig in seiner fröhlichen Gesellschaft da, wie ein Elefant mit einem Ring in der Nase –
»Hol' der Henker Roman und alles« – schrie er eines Tages überlaut beim Mittagessen, als ihm kein Bissen Brots mehr schmeckte – seine Frau und Lieschen starrten ihn mit großen Augen an – und einer seiner Fremden, der durch die Sympathie was davon geahndet haben mochte, fing überlaut an zu lachen. »Kinder, ich muß euch gestehen«, sagte er, und wischte sich den Schweiß von der Stirne, »ich bin einige Monate her nur halb bei euch gewesen – aber es ist vorbei, gottlob! und ich hoffe, es soll nicht wiederkommen.« »Wie, Mann!« fing Albertine an, »du hast doch wohl keinen Roman schreiben wollen.« »Was denn anders?« sagte Johannes Mannheim, »der Teufel hat mich versucht und du hast mir helfen sollen. Aber, laßt uns von was anders sprechen, und wer unter euch sich untersteht, mir von dem Roman auch nur mit einer Silbe wieder zu erwähnen, den erkläre ich für den allertödlichsten Feind, den ich in meinem Leben gehabt habe.«
Den Nachmittag war er in einer Laune, daß ihn alle die Seinigen hätten fressen mögen. Besonders merkte dies sein alter Assoziierter, der seit einiger Zeit einen so schläfrigen Gang in seinen Wirtschaftsgeschäften wahrgenommen, daß er hundertmal auf dem Sprung stand, deswegen zu ihm zu gehen, wenn ihn nicht immer die Ehrfurcht, mit der er ihn sonst zu behandeln gewohnt war, zurückgehalten hätte. »Gott tröst'« sagte er den andern Tag zu Albertinen, »was ist mit unserm Herrn Pfarr vorgegangen? Er ist ein ganz andrer Mensch, als er diese ganze Zeit über war. Ich dachte schon, er wäre krank, oder müßt' ihm sonst was fehlen im Unterleib. Wie es den gelehrten Herren zu gehen pflegt.«
Nichtsdestoweniger hat man nach dem Tode unsers Johannes Mannheim einige fürtreffliche Traktate gefunden, die in einer Sammlung seiner Schriften sämtlich zu Amsterdam in groß 8 vo herausgekommen sind. Darunter war eine Abhandlung von der Viehseuche, von den Pferdekuren, von dem Wieswachs und dem Nutzen der englischen Futterkräuter, von dem Klima und dessen Einfluß auf Menschen, Tiere und Pflanzen, besonders der Bevölkerung, worinnen Blicke in die Menschennatur und in die allgemeine organisierte Natur waren, die einem Montesquieu würden haben erröten machen. Er fand das große Geheimnis der Ähnlichkeit des Menschen mit der ganzen Schöpfung, die ihn umgibt, ja er fand, welches Montesquieu selbst nicht gesucht haben würde, selbst die Unterschiede der Regierungsform in der Natur des Bodens und dem Einfluß desselben auf Charaktere, Sitten und Meinungen seiner Bewohner. Durch diesen Schlüssel erklärte er die wunderbarsten Phänomene in der Geschichte und noch Erscheinungen, die heutzutage sich ergeben, auf eine Art, die keinen Zweifel übrigließ. Vorausgesetzt, daß er Handel und Veränderungen dieses Bodens und seiner Produkte mit zu den Ursachen rechnete, ferner, daß er abrechnete, was herumziehende Nationen wie z. B. die Römer selbst anfangs, wie hernach die Longobarden, die Goten, die Alemannen und Franken selber, von ihrem Boden und von ihren Sitten mitgebracht, das sich hernach mit der neueren Denkart vermischt. So behauptete er, die Römer wären eigentlich bis zu den Zeiten der Kaiser keine italienische Nation gewesen, sondern ein Haufen Kriegsleute, der sich beständig zu wehren hatte und alles unter sich bringen wollte, weil er diese Tapferkeit und den kriegerischen Hang mitgebracht. Unter den Kaisern wies sich erst der Einfluß des Bodens, der sie zu einer Nation machte, die von der heutigen italienischen durch wenig Schattierungen unterschieden ist. So leitete er von den Steinkohlen die Melancholie der Engländer, von dieser ihren Eigensinn, ihre Freiheitsliebe, ihre Regierungsform: von den flüchtigen Weinen der Franzosen ihren Leichtsinn, von dieser ihre Sorglosigkeit für die öffentlichen Geschäfte, von dieser ihre Liebe zur Monarchie, wo alles von selbst geht und sie sich nur zu bücken und zu schmeicheln haben, um höher zu kommen. Von dem rauhen Klima der Deutschen und dem Bier ihre Festigkeit, wobei er jedoch die Einschaltung machte, daß seit dem häufigen Gebrauch des warmen Wassers, besonders des Kaffee, diese Tugend sehr abgenommen und in eine weibische Weichlichkeit und Unentschlossenheit ausgeartet wäre, die, wenn sie nicht noch bisweilen vom Boden und Himmel überstimmt würde, den ganzen Nationalcharakter verändern könnte. Aus dieser Festigkeit und Mannheit leitete er die ganze Verfassung des h. Römischen Reichs her, und zeigte, daß sie in ihren Grundfesten nicht zu erschüttern wäre, es müßten denn die Sitten der Nation ganz umgegossen werden. Deutschland wäre das einzige Reich in der Welt, wo sich die alte Lehnsverfassung noch bis auf den heutigen Tag erhalten, eine Menge kleiner Fürsten nebeneinander, die unter ihren Lehensleuten und Vasallen herrschten, nur sollte der Adel nicht ungekränkt fremde Dienste nehmen dürfen, weil es wider die Lehenspflicht sei. So aber, wenn sie lang in fremden Ländern lebten, verlören sie ihr Deutsches, ihre Mannheit und Festigkeit, ihren Trotz für ihre Rechte und die Rechte ihres Landesherrn, ihre Anhänglichkeit an ihren Boden, brächten weibische Unentschlossenheit statt guten Sitten zurück, und könnten leicht Knechte des ersten werden, der sie finde. Übrigens gestand er selbst ein, daß nichts liebenswürdiger sei, als ein Deutscher, der gereist hat, ein Franzose, der alt geworden ist, und ein Engländer, der lange Jahre unter den Russen gewesen. Den Despotismus dieser Nation schrieb er der Strenge ihres Klima, der Kargheit ihres Bodens und dem daher rührenden Mangel des großen Haufens der Einwohner zu, denn überall, wo Mangel ist, ist Despotismus, weil der, der sich nicht zu helfen weiß, sich alles blindlings gefallen läßt.
Alle diese Sachen aber verhehlte Johannes Mannheim sorgfältig den Seinigen, weil er den Schatz seiner Erfahrungen und seiner drüber angestellten Meditationen seinem Sohn als ein Erbstück hinterlassen wollte, das ihm noch nach seinem Tode zu einer Art von Führer und Schutzgeist durch die Welt dienen könnte. Wir werden in der Folge sehen, wie sein Sohn sich gegen das Andenken seines Vaters dankbar erwiesen.
Albertine aber, anstatt sich von dem Beispiel ihres Mannes warnen zu lassen, ließ sich von demselben anstecken, und Gedanken, die nie in ihrem Herzen aufgekommen waren, verderbten auf einmal die Unschuld ihrer Seele.
An einem schönen Sommerabend, da die kleinen gefleckten Wolken, wehmütig und rührend wie Engel, um die scheidende Sonne hingen, konnte sie ihrem Herzen nicht widerstehen; sie zitterte, nahm ihr Mäntelchen und ihre Kappe und ging ganz allein in die kleine Wiese hinten am Hause hinaus, wo der Bach sich im Widerschein des Himmels wollüstig langsam dahin wand. Sie warf sich in ein Gesträuch, das neben ihm stand, und, fast wie der Allmutter Eva, nach Geßners reizender Beschreibung,im Tode Abels. ihr erster Sohn ohne Schmerzen geschenkt ward, ward ihr hier das erste Gedicht verliehen, das sie, mit warmem schlagendem Herzen und sich jagenden Tränen auf den Backen, ihrem Mann und ihrer Freundin machte. Sie kam nach Hause; man sah eine außerordentliche Bewegung ihrem Gesicht an. »Was hast du?« fragte der Mann, der ihr im Hoftor entgegentrat. Sie wies ihm ihre kleine Täfelchen (Tablettes, wie man sie in Frankreich nennt), auf die sie mit Bleistift ziemlich unleserlich einige Verse geschrieben hatte, die sein sympathetisches Gefühl sogleich entzifferte. Ein langer Handdruck, eine stumme Umarmung waren der ganze Dank, den er ihr gab. »Ich werde sie abschreiben und deiner Freundin vorlesen«, sagte er, und steckte die Täfelchen zu sich.
Das geschah. Aber er löschte die Bleistift aus und gab ihr die Verse nicht wieder. Sie bat ihn oft drum. »Ich will's dir vorlesen«, sagte er, wenn sie's zu arg machte.
Nun fing sie an, öfter nach demselben Fleckchen zu gehn und sich dort in Begeisterung zu setzen. Sie machte in demselben Gesträuch ein Gedicht auf den Morgen, das sie ihrem Mann brachte. »Ich will's behalten«, sagte er; »aber da, da und da hast du dieselben Gedanken wieder gebraucht, die im ersten waren, nur unter einem andern Kleide und du merkst wohl, daß das bei weitem nicht so herzlich ist. –
Wenn ich dir raten kann, mach keine Verse mehr.«
»Wenn es dir keine Freude macht«, sagte sie mit einem etwas finstern Gesicht –
»Nein, es macht mir keine«, versetzte er mit einem ungewöhnlichen Ton. Sie ging fort.
Das Fleckchen ward unaufhörlich besucht, und alle Sachen, die dort gemacht wurden, Lieschen vorgelesen, die sie denn, wie natürlich, alle außerordentlich fand und sich in ein dichterisches Entzücken darüber versetzte. Mannheim, der sie bisweilen behorchte, grämte sich innerlich.
Lieschen machte auch Verse. Sie wurden gegen ihn damit geheimnisvoll und zurückhaltend, aber sie waren es nicht gegen die Welt. Lieschen hatte einen Bekannten, der ein schöner Geist war. Dem wurden die Sächelchen zugeschickt. Er machte ein Wesens davon, daß die große Bühne des Himmels hätte einfallen mögen. Zu großem Glück fiel sein dithyrambischer Brief darüber Johannes Mannheim in die Hände. Er hatte ihn gerade an seine Heva gerichtet, und, da Mannheim in der Geschwindigkeit nicht nach der Aufschrift sah (denn er pflegte niemals Briefe an seine Frau aufzumachen), fiel ihm dieser Schlangenkopf gerade in die Augen, als er seinem Weibe den giftigen Apfel reichte. Er verbarg ihn in seinen Busen, ging zu seiner Frau aufs Zimmer und fragte, ob sie den Nachmittag spazierengehen wollte, er wollte sie in eine Gegend führen, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hätte. Nichts konnte der Frau willkommener sein, als ein so poetischer Antrag, wo sie neue Ideen zu einer Ode zu sammlen hoffte, die sie schon lange über die Einsamkeit zu machen willens war.