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Fünfzehntes Kapitel.
Die Schießübung

»Ein Mann!«

Von Baracke zu Baracke drang die Kunde.

»Ein Mann im Lager!«

In allen Herzen sang die Hoffnung: »Besuch für mich.«

Das wird Erwin sein.

Vielleicht ist es Fritz.

Franz kommt mich holen.

Heinz, er hat sicher Urlaub.

Tina und Minna begnügten sich nicht mit diesen sonntäglichen Träumereien, sie beschlossen, einen Aufklärungsfeldzug zu machen. Bald erschienen sie in höchster Aufregung in Baracke drei wieder.

Sie haben ihn gesehen, genau und haarscharf gesehen, als er mit Fräulein Kuczinsky aus dem Verwaltungsgebäude in die »Kommandantur« ging.

»Ach, ist er schön«, schwärmte Minna und hob ihren Blick zur Decke. »Augen hat er, dunkel wie die Nacht. Mit dem würde ich gleich in einem Bett schlafen.« Dabei zog sie ihren Kopf wie ein erschrockener Vogel zwischen die Schultern.

Sofort wurde der Raum von Wiehern und Gelächter erfüllt.

»Der Ärmste, du würdest ihm doch nur alle Augenblicke ins Ohr trompeten: ›Volk ans Gewehr‹.«

»Er ist ein ganz hohes Tier«, verriet Tina wichtigtuerisch, und in ihrer Stimme zitterte Hochachtung.

»Ein hohes Tier? Ist er denn schon so alt?«

»Alt? Hast du 'ne Ahnung, er ist höchstens dreiundzwanzig.«

»Er ist Jungbannführer«, erklärte Minna.

»Bei dir piept's wohl«, schrie der »Feldwebel«, empört über solche Unwissenheit. »Er ist Oberjungbannführer.«

»Kann er gar nicht sein, er ist viel zu jung.«

»Hast du denn nicht sein Dienstgradabzeichen gesehen, die gelbe Armscheibe mit silberner Sigrune und silbernem Rand? Die Jungbannführer haben eine weiße Armscheibe mit silberner Sigrune.«

»Siehst du, er hat doch eine silberne Sigrune.«

»Ja, aber bei den Jungbannführern ist der Rand in der Oberbannfarbe.«

»Seine Führerschnur ist rot, ich wette mit dir, er ist Jungbannführer.«

»Gut, wetten wir, ich wette meine halbe Brotration. Die Jungbannführer haben eine rot-schwarze Führerschnur.«

»Ich wette meine ganze Brotration. Wenn er Oberbannführer wäre, hätte er eine goldene Sigrune.«

»Gut, wetten wir die ganze Brotration; goldene Sigrune und goldenen Rand haben nur die Obergebietsjungvolkführer.«

»Was wohl der Baldur von Schirach auf der Armscheibe trägt?« piepste das jüngste Hitlermädchen Cilly.

»Sicher doch diamantene Sigrune mit diamantenem Rand«, sagte Gretel Barth heiser und hustete dazu. Man wußte bei ihr nie, ob sie etwas ernst meinte oder nur spottete.

»Wie du dir das vorstellst«, belehrte sie Tina, die nie eine Gelegenheit vorübergehen ließ, ihre Fachkenntnisse zu zeigen. »Die Führer, die sind ganz einfach; die sollen durch ihre Einfachheit auffallen. Die haben die Kinkerlitzchen nicht nötig.«

»Sicher«, sagte Hilde und ahmte die belehrende Stimme Tinas nach. »Die Führer haben das Gold nicht auf der Armscheibe, sondern in der Tasche.«

Hilde rannte, nachdem sie das gesprochen hatte, sofort zur Tür und ließ ihre großen, dunklen Augen kampfbereit von Tina zu Minna wandern, gewärtig, einem Klaps entgehen zu müssen. Tina und Minna verrieten zwar nichts Fräulein Kuczinsky, dafür spielten sie gern selbst die strafende Gerechtigkeit.

»Der ›Knirps‹ ist wieder einmal unverschämt«, sagte Tina ganz mechanisch; heute kümmerte sie sich nicht weiter um die Frechheiten der Kleinen. Es gab noch Wichtiges zu erfahren. Was wollte der Mann im Lager?

Bald kam sie schreiend:

»Neueste Nachrichten, neueste Nachrichten!«

»Was ist los?«

»Sie stellen im Hof nach der Feldseite hin eine große Zielscheibe auf und Tische und Sandsäcke.«

»Weißt du nichts anderes?«

Bald war der allgemeinen Neugierde Genüge getan. Barbara aus Baracke zwei, die heute Führerin vom Dienst war, schrieb auf Anordnung Fräulein Kuczinskys folgendes auf das Schwarze Brett:

»Von 13 Uhr 30 bis 16 Uhr 30 Einführung in die Schießlehre unter Leitung des Oberjungbannführers von Kreuth. Aufstellung vor der Kommandantur.«

»Ach, schießen lernen wir; ich wäre lieber spazierengegangen«, sagte ein Mädchen aus Baracke zwei.

»Was für eine dumme Gans«, rief Tina wegwerfend, aber freudig erregt, denn sie hatte gewonnen.

»Au fein«, schrie Cilly, »wir lernen beim Herrn Baron schießen!«

»Wieso weißt du denn, daß er von altem Adel ist?« fragte Barbara hochmütig.

»Bei uns gibt's nur einen Adel, und den vergibt Hitler.«

Weiter gab sich Tina gar nicht mit Barbara ab, sie ging auf Minna los: »Morgen bekomme ich deine Brotration, damit du's nicht vergißt. Er ist Oberjungbannführer.«

»Könnte ich nicht in vier Raten abzahlen? Ich gebe jeden Tag ein Viertel ab.«

»Nicht zu machen, meine Liebe, du wolltest wetten, ich will mir mal den Magen richtig vollschlagen. Satt sein ist schön.«

»Aber verhungern ist nicht schön.«

»Da kannst du mich nicht erweichen, Minna.«

 

Der Oberjungbannführer schritt ahnungslos die Front der strammstehenden Mädchen ab. Er wußte nicht, daß seine Charge über Sattsein und Hunger entschied.

Oberjungbannführer von Kreuth hatte die natürliche Ungezwungenheit, die die Selbstsicherheit einer schon ererbten Stellung verleiht.

Fräulein Kuczinsky stellte ihn den Mädchen vor, indem sie die hohe Ehre, von einem so bedeutenden Schießsachverständigen in die Waffenkunst eingeweiht zu werden, betonte. Die germanische Frau sei nicht nur Hüterin des Herdes gewesen, sondern auch die heldische Brünhilde, die mit den Waffen wie kein Mann umzugehen verstand.

Während Fräulein Kuczinskys Worten lachte Oberjungbannführer von Kreuth die Mädchen mit weißblitzenden Zähnen an.

Dann hielt auch er eine kleine Ansprache, aber ganz unfeierlich: »Also, Mädels, heute wollen wir mal anfangen, schießen zu lernen; ich kann mir denken, ihr habt euch schon alle danach gesehnt. Wir wollen aus euch keine Amazonen machen; ihr wißt wohl, was Amazonen sind, das waren so olle kriegerische Griechendamen. So was wollt ihr doch wohl nicht werden; aber ihr sollt den Feind bekämpfen können, wenn er es wagte, unser geliebtes Vaterland zu überfallen.« Dann sagte er schnell noch »Heil Hitler!«

Laut und leise, kaum gehaucht, kam der Gruß wieder: »Heil Hitler!«

Der Oberjungbannführer zeigte auf das Zielbrett: »Seht mal gut her, das ist eine Zwölfer-Ringscheibe. In der Mitte liegt die Zwölf, der äußerste Ring ist eins. Die Ringe in der Mitte, zehn, elf, zwölf, sind schwarz bemalt, damit ihr beim Zielen die Scheibenmitte besser erkennen könnt, denn die müßt ihr treffen. Diese schwarzen Ringe nennen wir den Spiegel. Habt ihr verstanden?«

Von allen Seiten zustimmendes Ja.

»Wir machen heute nur so, wie wenn man mit Leuten, die das Spiel nicht kennen, Karten spielt. Da geht es nicht um Geld, bei uns geht es heute nicht um Ehre; aber aufpassen müßt ihr wie die Schießhunde, denn später soll das Spiel Ernst werden.«

»Zum Schießen gehört eine Anzahl von Amtspersonen. Heute bin ich der Schießleiter, nur heute, nächstens bekommt ihr einen anderen Schießlehrer. Später wird wahrscheinlich Fräulein Kuczinsky Schießleiterin.«

Fräulein Kuczinsky lächelte ergeben, sie konnte sich mit dieser ganzen Schießerei nur schwer abfinden. Jetzt verteilte sie an die Mädchen blaue Hefte, die sich in Schießbücher verwandeln sollten.

»Aber ich habe noch andere wichtige Ämter zu vergeben. Wir müssen immer einen Aufpasser beim Schützen haben; er steht links vom Schießenden in Höhe des Visiers. Seine Aufgabe ist, aufzupassen. Die Menschen haben nämlich die komische Gewohnheit, die Fehler anderer besser zu beobachten als die eigenen. Der Aufpasser muß alles, was der Schütze macht, überwachen: das Laden, das Sichern, das Anschlagen, das Abkrümmen, Ansagen; er soll alle Fehler verbessern, aber nicht während des Schießens. Die Bemerkungen hebt ihr euch auf, wenn der Schuß schon getan ist. Wer will Schreiber werden?«

Er zeigte auf die »Trompete«.

»Eigentlich schreibe ich nicht sehr gern«, wehrte Minna bescheiden ab.

»Sie kann nur trompeten«, brüllten die Mädchen von allen Seiten. Sie fanden es reizend, daß der Schießlehrer über ihre Bemerkungen, seine weißen Zähne zeigend, lachte. Er war so kameradschaftlich, ganz anders als Fräulein Kuczinsky.

»Du hast ja keine großen Geschichten zu schreiben, setzt dich hinter den Schießenden an den Tisch, so daß du die Scheibe gut sehen kannst. Du schreibst das Schußergebnis erst nach der Meldung auf. Der Schuß ist ein schwarzer Punkt links oder rechts, unten oder oben vom Ziel. Die Nummer zeigt an, welcher Kreis getroffen wurde. Wenn einer neben die Schießscheibe schießt, bekommt er eine Null. Und wenn er das Ziel trifft, ein Kreuz. Habt ihr verstanden?«

»Ja«, kam es etwas zögernd.

»Nun wollen wir erst einmal eine Schießkladde für das ganze Lager anlegen, für jedes Gewehr eine. Vorläufig haben wir nur ein Gewehr, also genügt uns auch eine Schießkladde.«

»Die Mädels bekommen alles weniger als die Jungens«, rief Cilly, »mein Bruder ist Pimpf, und sie hatten in ihrem Lager drei Gewehre.«

»Aber jeder von euch bekommt ein eigenes Schießbuch, genau wie die Jungens.«

Die Mädchen machten dem Oberjungbannführer Spaß.

»Ich werde euch noch erklären, wie man das Schießbuch und die Kladde führt, damit wir sehen können, wer unsere besten Schützen sind.«

Die Mädchen blickten alle interessiert zu ihm hin, aber keine wagte sich recht heran, als er das Laden, Sichern, Entsichern mit der Kleinkaliberbüchse zeigte.

»Also, wer von euch möchte anfangen?«

Erst war es ganz still; die Mädchen sahen sich unentschlossen an, nur Hilde drängte sich vor. Sie streckte ihre dünnen Arme nach dem Gewehr aus mit einer wilden, besitzergreifenden Bewegung.

»Du bist aber eine Tapfere; du bist wohl die Jüngste? Bist du schon zwölf Jahre alt?«

»Ich bin vierzehn Jahre und vier Monate alt, aber ich bin doch nicht zu jung, um schießen zu lernen. Ich darf doch auch das Gewehr haben?«

»Ist es nicht zu schwer, kannst du es auch halten? Na, ich will dich nicht länger ärgern, hier hast du es, unter meinen Pimpfen habe ich gute Schützen, die viel kleiner sind als du. Ich will sehen, ob du gut aufgepaßt hast.«

»Freilich, aber Sie müssen mir noch ganz genau erklären, wie man schießt.«

»Sei nur ganz ruhig; aber warum zittern deine Hände so?«

»Nein, nein, sie zittern nicht.«

»Also, setz dich an den Anschußtisch.«

Hilde hielt das Gewehr, das auf Sandsäcken lag; ihr Gesicht drückte solchen kindlichen Eifer aus, daß Herr von Kreuth lachen mußte: »Wie heißt du, Hilde? Also, was ich jetzt sage, erkläre ich nicht nur der Hilde, sondern auch den anderen Mädchen. Haltet die Büchse mit der linken Hand im Schwerpunkt, dort, wo das Gewicht am größten ist. Die Mündung zeigt schräg nach oben links, nun wird der Kolbenhals mit der rechten Hand von oben ganz fest umfaßt. Die Hand vorschieben, so weit, daß der ausgestreckte Zeigefinger auf der unteren Seite des Abzugbügels liegt. Ist das schwer zu kapieren? – Wohin zielst du, Hilde? Weißt du überhaupt, daß man zielen muß, um zu treffen?«

Aber die Kleine sah ihn mit so brennenden Augen an, daß er weiter ganz ernsthaft erklärte:

»Also, das gilt für euch alle. – Zielen heißt: das Auge muß über die Mitte der Kimme mit der höchsten Spitze des Korns und dem Ziel in eine gerade Linie gebracht werden. Versuch einmal zu zielen. Das Ziel ist der Spiegel.«

Hilde sah ihn verzweifelt an, wie jemand, der eine fremde Sprache lernen möchte, weil er etwas unerhört Wichtiges mitzuteilen hat, und sich mit abstrakten grammatikalischen Regeln, die er nicht begreift, abgeben muß.

»Wollen wir mal sehen, wohin du zielst; aufs Dach? Das Schießen ist eine schwere Kunst. Überlasse das Gewehr jetzt einmal einem anderen Mädchen.«

»Nein, bitte, ich möchte schießen lernen.«

»Halt. Du sollst mit dem rechten Auge zielen, das linke Auge mußt du zukneifen.«

Das Gewehr drückte sich gegen ihre spitzen, knochigen Schultern. Wie schwer lastete es auf ihr, aber niemand durfte es merken! Sie wurde ganz fahl vor Anstrengung, doch sie gab das Gewehr nicht aus der Hand.

»Ich will es dir einmal am lebenden Beispiel zeigen, wie man zielt. Wer will mal Zielscheibe sein?«

Er wählte sich unter den vielen das große, blonde Mädchen mit den weiten Wangen, über die sich solche geschlossene Ruhe verbreitete: Elisabeth.

Da stand sie als Zielscheibe. Sie spürte den Haß, die Wut dieses Kindes, das auf sie zielte, als wollte dieses bittere, ausgehungerte, kleine Mädchen gegen eine ganze Armee kämpfen.

»Wohin zielst du?« fragte der Oberjungbannführer.

»Auf die Stirn«, flüsterte Hilde mit ganz erstickter Stimme.

»Nein, du zielst auf das Dach«, lachte Herr von Kreuth. »Laß jetzt die andern ihre Schießkunst probieren!«

»Ich möchte so gern schießen lernen.«

Der Jungbannführer ließ Elisabeth wegtreten. »Also schieß mal los, Kleine.«

Hilde lauschte zitternd und überrascht dem Hall des Schusses nach.

»Fahrkarte«, erklärte der Oberjungbannführer, »so nennen wir Schützen die Fehlschüsse. Du hast die Scheibe nicht getroffen, du bist zu zapplig, zu unruhig. Du hast sicher Angst gehabt, daß der Schuß zu spät losgeht. Du hast den Abzug zu schnell gerissen, dadurch kam die Büchse aus der Visierlinie. Das nennt man reißen. Gemuckt hast du auch. Du bist ganz zusammengefahren bei dem Knall. Aber du wirst noch alles lernen, keine Bange!«

»Jetzt möchte ich rankommen«, sagte »Ichweißwas«. »Kann man mit dem da richtig Schaufenster zerschießen und alles herausnehmen, was einem gefällt?«

Herr von Kreuth schüttelte sich vor Lachen: »Du mußt dir erst ein Land erobern, bis du dir so etwas leisten kannst.«

»Wenn man gut schießen kann, kann man Land erobern«, sagte »Ichweißwas«. Sie gab schnell, ohne sich viel mit dem Ziel abzugeben, fünf Schüsse ab und traf zweimal die Scheibe, allerdings fern vom Spiegel.

Fräulein Kuczinsky betrachtete das Schauspiel mit den Augen einer Henne, die die ersten Schwimmübungen der Enten sieht: War es richtig, so wahllos jedem dieser Mädchen eine Waffe in die Hand zu geben? Freilich, sie waren alle arischer Abstammung und deutschen Geblüts, aber mußte man nicht doch Unterschiede machen? Natürlich, wenn es im Sinne des Führers war, wäre sie die letzte, die Kritik üben wollte. Doch ist dies im Sinne des Führers?

Inzwischen schossen die Mädchen mit Geschrei, von Zurufen umbraust, darauflos. Tina, die schon in der Hitlerjugend schießen gelernt hatte, traf einmal den Spiegel und wiederholt die Scheibe. Elisabeth hatte sich schon im Bogenschießen geübt, sie schoß ruhig und gleichmäßig, wenn auch nur mäßig. Minna muckte nach jedem Schusse trotz des Gelächters, das sie umbrandete.

»Bitte, lassen Sie mich noch einmal schießen«, sagte Hilde und umklammerte das Gewehr, das Minna auf den Tisch gelegt hatte.

»Also los, du hast doch nicht vergessen, was ich dir erklärt habe.«

»Ach nein.« Jetzt zitterte sie nicht mehr. Als sie die Scheibe traf, wurde ihr Gesicht von unendlicher Zufriedenheit und Triumph belichtet.

»Kannst du auch dein Abkommen melden?«

»Jawohl, oben links, acht.«

»Du machst aber wirklich Fortschritte«, sagte Herr von Kreuth anerkennend.

Ihre dünnen Kinderlippen wurden zu einem scharfen, roten Strich; ihre Nüstern erbebten. Sie war plötzlich erwachsen.

»Ihr solltet meine Pimpfe sehen«, sagte Herr von Kreuth, »wie die schießen.« Dann wandte er sich an Fräulein Kuczinsky.

»Je früher man etwas zu lernen beginnt, um so besser; mein Vater hatte mich schon mit sechs Jahren auf einen Pferderücken gesetzt, und ich war noch nicht zehn Jahre alt, als er mich schießen gelehrt hat. Er hatte nur den einen Wunsch, aus uns gute Soldaten zu machen. Wir sollten die Schmach, die Deutschland widerfahren ist, löschen. Ich verdanke es nicht mir selbst, daß ich ein guter Soldat bin.«

»Sie sind zu bescheiden«, widersprach Fräulein Kuczinsky; sie fühlte sich unruhig und fehl am Platze. Sie war sich dessen bewußt, daß ihre Unfähigkeit, den Mädchen Schießunterricht zu geben, ihrer Autorität nicht geringen Abbruch tat.

»Wieso bescheiden?« wehrte Herr von Kreuth ab, »ich glaube nur, daß man jede körperliche Übung in frühester Jugend beginnen muß. Ich bin überzeugt, daß man die Jugend zu Großem erziehen könnte. Man kommt langsam zu der Erkenntnis, daß Kinder oft größere sportliche Leistungen fertigbringen als Erwachsene. Die japanischen Wunderschwimmer sind Kinder, die besten Kunsteisläufer sind Kinder; ich versichere Ihnen, daß meine elf- und zwölfjährigen Pimpfe besser schießen lernen als ein Rekrut, dem das Ganze gar keinen Spaß macht und der nur widerwillig ein Gewehr in die Hand nimmt. – Eine Armee aufgeweckter Jungens würde größere Taten vollbringen als die alten Landstürmer; die sehnen sich nach ihrer Familie, die jammern über Unbequemlichkeiten, aber die Jungens sind biegsam, sie sind waghalsig, abenteuerlustig und opferbereit – ich meine, wenn man sie richtig erzieht.«

Fräulein Kuczinsky blickte mit starren Augen auf Herrn von Kreuth. Ihr Gesicht verlor plötzlich die Farbe des Lebens; ihr war, als könnten ihre Füße nicht mehr das Stück Erde verlassen, auf dem sie standen. In ihrem blutlosen Gehirn jagten Bilder, Bilder dieser Kinder, die grausam zerfetzt zwischen den Falten der Erde lagen.

»Aber Herr von Kreuth!« Sie konnte nur stammeln. »Die Kinder würden nicht nur schießen, sie würden auch erschossen werden.«

Der Oberjungbannführer konnte nicht ganz ein mitleidiges Lächeln unterdrücken. Jaja, die Frauen ... und wenn sie tausendmal Hitler die Treue schwören, auf sie war kein Verlaß! Natürlich, die neue Jugend, die würde anders werden.

Fräulein Kuczinsky gewann ihr Gleichgewicht nicht so schnell wieder; sie überlegte angestrengt, während sie darauf zu achten versuchte, daß sich ihre zweiflerischen Gedanken nicht in ihrem Gesicht spiegelten. Sie war ja nicht sentimental, sie war bereit, das Kranke und Schädliche rücksichtslos auszumerzen und auszurotten. Aber bestand nicht ein Widerspruch, daß man dann den gesündesten Kern der Nation opfern sollte? Oder war es unrecht, daß sie überhaupt eine Gegenrede gewagt hatte? Es war ja nicht ihre Sache, Anordnungen des Führers deuten zu wollen. Würde sie sich je auflehnen, wenn er Opfer verlangte?

Sie versuchte, ihre Sache wiedergutzumachen.

»Wir leben wirklich in den Zeiten allergrößter und wunderbarster Umwälzungen und Umwertungen.« Und nach einer kurzen Pause: »Was denken Sie von der heutigen weiblichen Jugend und von den kriegerischen Fähigkeiten der Mädchen?«

»Ich glaube nicht, daß unter Jungens und Mädchen, wenn ihre Erziehung früh genug einem neuen Ziel zustrebt, große Unterschiede sein könnten.«

»Sie glauben also, daß sich unsere Mädchen zum Kriegerhandwerk eignen würden?«

»Warum nicht? Dort zum Beispiel, dieses große, schöne Mädchen mit den glatten, hellen Haaren könnte ich mir als guten Soldaten vorstellen. Natürlich nicht als den altmodischen, schwerfälligen Rekruten, sondern als den flinken, kampflustigen der neuen Generation.«

»Ach, Sie meinen Elisabeth«, sagte Fräulein Kuczinsky.

Elisabeth spürte, daß der Oberjungbannführer über sie sprach. Er beunruhigte sie; er erinnerte sie so stark an Erwin, aber das freute sie nicht, das ängstigte sie.

Die einzige, die überhaupt noch nicht geschossen hatte, die nicht einmal das Gewehr in die Hände nahm, war Gilda. Sie beobachtete gespannt jede Bewegung der Mädchen, ihre Augen ließen nicht von dem Mund des jungen Kreuth ab, wenn er den Mädchen die Kunst des Schießens erklärte.

Aber jedesmal, wenn er zu ihr kam und fragte: »Willst du denn nicht auch schießen lernen?« schüttelte sie verneinend den schmalen Kopf mit den schweren, dunklen Locken.

Minna empörte sich innerlich und stumm über das Interesse, das der Oberjungbannführer Gilda gegenüber bezeugte.

So sind die Männer; sie schauen einfach drüber hinweg, wenn sie ein echtes deutsches Mädchen sehen, aber diesem Zigeunergesicht laufen sie nach.

Fräulein Kuczinsky aber sprach ihre ablehnenden Gedanken über Gilda ganz laut aus, als der junge von Kreuth wieder einmal Gilda zum Schießen auffordern wollte:

»Es ist schade um die Mühe, es lohnt sich nicht, sich mit ihr abzugeben. Sie ist die Eigensinnigste, die sich in keine Gemeinschaft einfügen will; körperliche Übungen sind für sie nur da, um Dummheiten auszudenken.«

Gilda ahnte jedes Wort, das Fräulein Kuczinsky sprach, sie konnte sie an ihrem Mund ablesen. Jetzt erwachte ihr Trotz.

Sie nahm das Gewehr aus der Hand des Oberjungbannführers. Sie stand jetzt vor dem Anschußtisch, ihre Augen kniffen sich wie die eines Jägers, sie sahen scharf; keine Bewegung entging ihr. Sie brauchte keine Erklärung, sie wußte Bescheid.

Sie zielte ganz ruhig, gesammelt, sie schoß. Sie traf die Mitte.

Sie jubelte, als hätte sie einen besonderen Sieg errungen. Sie schrie: »Wo ist mein Schießbuch? Ich bekomme ein Kreuz.«

Der Oberjungbannführer kam zu ihr, er nahm ihre Hand, die Linke legte sich anerkennend auf ihre Schulter. Das war ihr ein fremdes Gefühl. War es unangenehm? Nein, es war angenehm!

Jetzt wollte sie weiterschießen. Sie traf erst nur die Scheibe, dann wieder den Spiegel, sie schoß noch einmal; sie traf das Schwarze.

Die Mädchen brüllten vor Begeisterung, am lautesten Gilda: »Ich bekomme drei Kreuze! Drei Kreuze! Wo ist die Schießkladde?«

»Sehen Sie, wie sie sich entwickelt«, sagte Herr von Kreuth zu Fräulein Kuczinsky.

Er fischte aus seiner Tasche ein Notizbuch, zeichnete Gilda mit einer Krone und einem riesigen Gewehr, riß das Blatt heraus und heftete es, als verliehe er eine Auszeichnung, an Gildas Brust.

»Du bist die Schützenkönigin.«

»Wirklich, ich bin die Schützenkönigin?«

Sie lief zu Elisabeth: »Du, ich bin die Schützenkönigin. Das schreibe ich nach Hause. Sie können jetzt stolz auf mich sein; keine kann so gut schießen wie ich. Ich bin die Schützenkönigin.«

Herr von Kreuth stand wieder vor ihr und nahm ihre Hand.

»Wollen wir beide tanzen?«

»O ja, tanzen.« Hatte er erraten, daß es für sie nichts Schöneres gab als den Tanz?

Er wandte sich an Minna.

»Willst du uns die Musik liefern? Du kannst doch trompeten.«

»Aber nur ›Volk ans Gewehr‹, und darauf tanzt man nicht.« Minnas Miene drückte abweisende Mißbilligung aus. Das war aber auch stark. Einmal kam ein Mann ins Lager, der ihr gefiel, aber der wollte mit Gilda tanzen, und dazu sollte gerade sie aufspielen. Obendrein hatte sie seinetwegen ihre Brotration verloren. So viel Unglück kann kein Mensch in der Liebe vertragen. Sie trompetete, denn er hatte es ihr noch einmal ausdrücklich befohlen, und er hatte doch einen so hohen Rang, aber sie haßte ihn.

Da tanzte er mit dieser blauäugigen Zigeunerin. Eigentlich tanzte hauptsächlich Gilda. Sie tanzte ein Soldatenvolk, komisch und frech, aber Herr von Kreuth nahm nichts übel; er lachte sich schief. Und die Mädchen schrien und klatschten. Nur die Leiterin verfolgte das Schauspiel mit kalter Abweisung. Auch Minna enthielt sich jeder Beifallsbezeigung. Aber sie war entschuldigt. Sie trompetete mit vollen Backen, herzzerreißend und falsch:

»Volk ans Gewehr! Volk ans Gewehr!«


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