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Im Dorf herrschte Verzweiflung. Felder und Weinberge lagen zerschlagen, die Obstbäume standen leer, nur zerfetzte Blätter hingen an den Ästen. Vom Berg war die Mur ins Tal gebrochen, mitten durch trächtige Felder, ein breiter, graubrauner Strom Erde, Stein und Wasser. In die Kirche war der Blitz gefahren, hatte gezündet und den Dachstuhl verbrannt, den Turm zerrissen. Tage- und nächtelang standen die Bauern bis zu den Knien im Wasser, bauten Steinwälle, schichteten Reisigbündel, hielten die Baumstämme auf, die der Bach mitführte, und rollten die Felsbrocken aus den Äckern. Die ältesten Leute wußten kein solches Wetter, solange sie lebten. Die Weiber jammerten; die ganze Ernte war zertrümmert, die Arbeit vieler Jahre vertan, das Feld auf lange Zeit hinaus unfruchtbar.
Der Pfarrer las die Messe im Freien und predigte den Leuten von diesem Strafgericht des Himmels, das sie mit ihren Sünden herabbeschworen hätten.
Mit welchen Sünden? Wir haben keine Zeit für Sünden, wir bauen den Acker, jäten den Weinberg, binden die Reben, gehen in die Kirche, haben Kinder und ernähren sie, wo ist da der Übermut, von dem er redet? Wann könnten wir sündigen? Hergehext ist das Wetter worden, nicht anders als hergehext. Warum ist dieser Bankert, der fremde, hergelaufene, so den Berg heruntergerannt? Hat er sich nicht vor dem Blitz fürchten müssen, den er hergezogen hat? Der Senner Stefan und der Raz haben ihn mit eigenen Augen gesehn, wie er auf einem Stecken den Hang herabreitet, und drei Schritt vor ihnen bleibt er stehen und schreit den Blitz an: »Mutter, Mutter, bleib!« Und augenblicks geht das Wetter los, hagelt es auch schon wie beim Jüngsten Gericht. Und warum ist er denn nicht untergestanden bei den zweien? Das schlechte Gewissen hat ihn nicht lassen, es war ihm zuwider, ihnen in die Hände zu laufen, die alles gesehen und gehört haben. Hat er nicht zu Kupferschmieds Rosl gesagt, er könnt den Schlangen pfeifen, daß sie kommen müssen, und er hätt ein Roß, mit dem könnt er den Berg ausreiten so schnell wie der Wind, er könnt die Kröten verhexen, daß sie keinen Schritt mehr weiterkönnen, ja, das hat er alles eingestanden. Und wer war denn bei der Leichenmena, als der Schwarze sie geholt hat? Immer hat er bei der Alten gesteckt, und man kann sich schon denken, was die zwei miteinander verhandelt haben.
In allen Häusern sprach man von Lienhard. Der Pfarrer versuchte umsonst, die Leute zu beruhigen und ihnen die furchtbaren Anklagen auszureden. Wenn er die verkohlten Sparren seiner Kirche sah, die so viele Hochwetter überstanden hatte, und sich die Erzählungen der Leute der Reihe nach durch den Kopf gehen ließ, erschrak er selber vor der dämonischen Folgerichtigkeit, mit der sich aus dem Ablauf des Geschehnisses und den Reden und seltsamen Handlungen Lienhards ein Malefiz ergab. Er schlug immer wieder den Hexenhammer auf, in dem von den Künsten die Rede war, mit denen der Teufel seine Buhlinnen begabt. Er hatte nie recht an die Zusammenkünfte alter Weiblein mit dem Satan geglaubt; die Prozesse, die geführt wurden und meistens mit dem Scheiterhaufen endeten, waren seiner unverwickelten Vernunft zuwider; die Geständnisse der armen Sünderinnen waren zumeist mit der Folter erpreßt und ein so phantastischer Unsinn, daß er geneigt war, alle Hexen für Opfer eines unseligen Wahns zu halten: die einen machte das peinliche Verhör verrückt, die andern waren es von Haus aus. Er las freilich auch von Kindern, die dem Teufel in das Netz gegangen seien, aber nun, da er ein solches Wesen in seiner eigenen Gemeinde hatte, das er von Angesicht zu Angesicht kannte, das er sprechen, lachen, weinen, spielen und arbeiten gesehen hatte, erschien ihm der Gedanke, Lienhard hätte eine Buhlschaft mit dem Bösen, so verkehrt, daß er beschloß, alles daranzusetzen, um ihn vor der Besessenheit des Dorfes zu schützen. Und doch schlug er wieder den Hexenhammer auf, las und suchte nach Gewißheit, schrak zusammen, wenn er auf Zutreffendes stieß, und wurde nicht fertig.
Als er Lienhard besuchte, lag dieser noch im Bett, blaß und erschöpft. Der Pfarrer war in der Begierde gekommen, durch einige Fragen seine letzten Zweifel zu beseitigen. Aber nun fand er die Worte nicht, aus denen er hätte Fragen formen können. Der dankbare Blick, mit dem ihn Lienhard empfing, das zarte Rot, das ihm dabei ins Gesicht stieg, die große Verwirrung, die über das Kind kam, verschlossen dem Pfarrer den Mund; jedes Wort über Hexerei und Teufelsdienst wäre an dieser weißen Stirn und den glücklich aufgetanen Augen zuschanden geworden.
So fragte er ihn nur nach seinem Befinden und warum er so oft zur alten Mena gegangen sei.
»Weil ich sie so gern gehabt hab', Herr Pfarrer.«
»Und hast du nie gehört, Lienhard, was die Leut über sie geredet haben?«
»Das ist alles nicht wahr, ganz gewiß nicht wahr; so viel versteh ich auch.«
»Jetzt werd nur recht bald wieder gesund, und dann kommst einmal zu mir, Lienhard.«
»Ja, gern.«
Der Pfarrer ging. Er schwor sich, den Kampf aufzunehmen, den er kommen sah.
Die Gemeinde umging ihren Seelsorger; sie traute ihm in dieser Sache nicht; sie schlug den geraden Weg zum geistlichen Gericht ein. Die Sünde des fremden Buben liegt auf der Hand, das Unglück, das er verschuldet hat, ist ungeheuer, Lienhard muß weg.
Die Weiber gingen mit ihm strenger ins Gericht als die Männer; das unaufhörliche Getratsch über jedes kleinste Glied ihrer Beweiskette brachte sie außer sich; sie redeten und disputierten sich in einen Rausch von Abscheu, Haß und Entsetzen hinein, der ihre stumpfen Seelen kitzelte und aufrührte. Sie zwangen die Männer zum Handeln. Das Dorf, schwer heimgesucht von der Wildheit der Natur, brauchte einen Schuldigen; anders war solche Zerstörung nicht zu verstehen. Der fremde Bub kam gerade recht, er gehörte nicht zu ihnen, seine Art war ihnen ungemäß, vieles, was er gesagt und getan hatte, wies auf eine Verbindung mit finsteren Mächten hin.
Als hätte ihn das Verhängnis, das er nicht ahnte, unwiderstehlich angezogen, hatte er Hassan gebändigt, die Hornisse gefangen, die Zuneigung der alten Mena errungen und Rosl von seinen Künsten vorgeprahlt. Er hatte zu lange geschwiegen, und da brach es einmal aus ihm los: daß er ein Roß habe, das ihn über die Berge trüge, daß er den Tieren des Waldes und der Nacht zu befehlen verstünde; er wollte seine Einsamkeit durchbrechen und seine Liebe dartun; aber eine Stunde später hatte es ihn gereut, so gelogen zu haben, er hatte sich vorgenommen zu widerrufen; das Hochwetter und sein Fieber waren ihm dazwischengekommen.
Die Begegnung mit dem Raz lag fortan wie ein Alp auf ihm. Er konnte sich nicht erklären, wie der Mann da hinaufgekommen war, er hatte ihn die ganze Zeit her nicht gesehen. Und doch juckte ihn manchmal die Neugier nach dem seltsamen Menschen. Wer der wohl ist, Was er wohl tut?
Der Bauer behielt Lienhard bei sich. Er ließ ihn fast gar nicht mehr ins Dorf, beschäftigte ihn im Stall und in der Küche. Ein eisiges Schweigen legte sich in einem immer breiteren Ring um den Knaben.
Die Dorfjugend wich ihm aus. Die Bewunderung schlug in abergläubische Furcht um; jeder wußte irgendein Hexenstück zu berichten. Sie hätten vielleicht weiter zu ihm gehalten, wenn er einer der Ihren gewesen wäre, aber so nahm ihn die Fremdheit, aus der er zögernd zu ihnen gekommen war, wieder auf, und sie wurde durch alles, was man in den Häusern redete, noch geheimnisvoller und undurchdringlicher. Er blieb trotzdem eine Art Held für sie, aber ein Held, den man erwischt hatte, ein gefangener Räuberhauptmann, und die Neugier, mit der sie sein Schicksal miterlebten, war mit schönem Grauen untermischt.
Eine Woche, nachdem der Pfarrer ihn besucht hatte, kam ein Schreiben an den Seelsorger. Es war von der heiligen Inquisition und enthielt den Auftrag, die Untersuchung gegen den Hexenmeister einzuleiten, das Material, das gegen ihn vorliege, zu sammeln, zu ordnen, durch Verhöre zu ergänzen und an das geistliche Gericht gelangen zu lassen.
Der Pfarrer war aufs tiefste betroffen. So weit war es schon! Er betete viel in den nächsten Tagen; er bedurfte einer göttlichen Erleuchtung, denn er litt unter dem Zwiespalt: sollte er seiner nüchtern urteilenden Natur nachgeben und den von ihm verlangten Dienst verweigern oder war er dem geistlichen Amte Gehorsam schuldig? Er wußte es nicht übers Herz zu bringen, Lienhard der Inquisition auszuliefern und scheute doch vor dem Gedanken zurück, der kirchlichen Gewalt in den Arm zu fallen. Nur eine offene Aussprache mit dem Knaben konnte nach der Meinung des Pfarrers die Fäden zerreißen, ehe sie noch recht geknüpft waren. Denn so viel sah er in Sorge und Schrecken voraus: sind sie einmal verbunden, dann ziehen sie sich auch ohne Dazutun der Beteiligten zusammen, immer dichter und straffer, bis das Gewebe unzerreißbar ist.
Er ließ Lienhard rufen. Der Bub kam freudestrahlend zu ihm; er hatte sich so weit erholt, daß seine Augen wieder frisch in die Welt sahen.
Der Pfarrer räusperte sich. Er zögerte sein Vorhaben hinaus, so lange er konnte, fragte ihn über seine Herkunft aus, ließ sich Flucht, Wanderschaft und das Leben auf der Alm erzählen. Sie waren zum Hochwetter gekommen.
»Warum hast du gerufen: ›Mutter, bleib!‹ als der Blitz vor dir herabgefahren ist? Was hast du gemeint damit? Was hast denn wollen von der Mutter?«
»Es ist alles genau so gewesen wie vor einem Jahr; und da hab' ich die Mutter gesehn, wie sie auf dem Fuder steht, und da hab' ich gerufen.«
»Gut, Lienhard, lassen wir das so gelten. Aber warum bist du denn so den Berg heruntergelaufen, wie du den Stefan und den Raz gesehn hast?«
Lienhard staunte.
»Den Stefan hab ich gar nicht gesehn. Ist der auch droben gewesen?«
»Vom Stefan weiß es doch das ganze Dorf, wie es zugegangen ist.«
»Nicht vom Raz?«
»Warum fürchtest du dich so vor dem Raz?«
Nie wird sich Lienhard besinnen und erklären können, warum er dem Pfarrer von seinem Traum und dem schrecklichen Erwachen, dem schwarzen Gesicht über dem seinen, nichts erzählte.
»Ich will dir was sagen, Lienhard, aber bleib jetzt so gescheit wie du bist: Die Leut im Dorf sagen, du hättest das Hochwetter hergehext.«
Der Pfarrer atmete auf, als er merkte, daß Lienhard nicht zusammenfuhr, daß es ihm eher spaßhaft erschien, auf so unsinnige Gedanken zu kommen. Er hörte ihn lächelnd sagen:
»Ja, wie hätt ich denn das machen sollen? Ich bin doch davongelaufen vor dem Wetter, ich hab' höchste Zeit gehabt, mit dem Vieh herunterzukommen, bevor es der Blitz erwischt. Und wenn ich das Wetter machen könnt, tat ich nimmer Schaf hüten, das wär ein besseres Geschäft.«
Er hielt inne; es schien ihm nicht schicklich, vor dem Herrn Pfarrer soviel daherzureden.
Der seufzte. Da stand nun das Ungeheuer, ein heller, gerade gewachsener Bub, ohne Hintergedanken, sicher und unbefangen in seiner gesunden Natur, und der soll nun vor den Inquisitor, und alle werden sich gegen ihn stellen, niemand wird sich durch einen einzigen Blick in dieses wahrhaftige Gesicht von seinem Wahn abbringen lassen. Dem Pfarrer wurde heiß in seiner Soutane; das schwarze Gewand begann ihn zu beengen, er war gebunden, eingezwängt, und in diesem Falle ganz gegen seinen Willen, seine Vernunft, sein Herz. Je stärker ihn Lienhards kindliche Offenheit rührte, je schwächer er sich vor diesem lauteren Blick und Mund werden fühlte, desto mehr zwang er sich zu einem strengen Ton. Er erinnerte ihn an seine letzte Mahnung, alles zu unterlassen, was zu Gerede führen könnte; er fragte ihn, was es mit dem Roß für eine Bewandtnis habe, das schneller sei als der Wind.
Lienhard wurde über und über rot, er litt darunter, den Pfarrer gekränkt zu haben, er wollte alles wieder gutmachen.
»Ich hab' – die Rosl – ich hab' –«
Der Pfarrer schien erbittert. Jetzt wisse er nichts zu sagen, und bei der Rosl sei ihm das Mundwerk wie eine Mühle gegangen.
Lienhard sah zur Seite. Er wollte nicht weinen, aber es war nicht aufzuhalten, dicke Tränen rannen ihm über die Wangen.
Der Pfarrer kämpfte mit seinem Schmerz. Wenn ich jetzt nicht nachgebe, bringe ich auch dieses Argument zu Fall, und das Kind ist gerettet. Er verharrte schweigend, bis sich Lienhard so weit gefaßt hatte, um sich zu rechtfertigen.
»Ich hab gelogen, Herr Pfarrer«, und dabei schaute er ihm wieder voll ins Gesicht, »weil der Peter einen Fuchs zum Reiten hat und weil die Rosl – weil die Rosl –«
Der Pfarrer wartete.
»– weil die Rosl den Peter lieber mag als mich.«
Nun war es da. Eine Last war abgewälzt. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Der Pfarrer verstand nicht allzuviel davon.
»Du wolltest also auch einen Fuchs haben?«
Lienhard nickte.
»Es ist gut, Lienhard, du kannst gehen.«
Lienhard hat gewonnen: der Pfarrer ist ihm wieder gut.
Er ging, beglückt von der Freundlichkeit der letzten Worte, die Dorfstraße hinab und blieb vor einem Bauerngärtlein stehen. Ein winziges Stück Garten, aber voll Rot, Blau und Gelb. Ein heißer Qualm von Düften lag über ihm: Reseda, Rosen und Minzen. Lienhard stützte die Arme auf den Zaun und legte den Kopf auf sie. Er versank in den Anblick der wuchernden Farben, er war still und zufrieden.
Aus dem Haus trat die Bäuerin, eine Milchschüssel in der Hand. Als sie Lienhard sah, blieb sie stehen und schrie:
»Schau, daß du weiterkommst, Hexer, verdammter! Willst mir den Garten verhexen? Geh! Geh!«
Lienhard wollte was sagen, aber sie blickte ihn so bös und zugleich angstvoll an, daß ihm das Wort im Hals steckenblieb. Er schlich bedrückt heim.
Der Mann, den man überall nur den Raz hieß, war aus der Gegend verschwunden. Man war das gewohnt, denn es lag in seiner seltsamen Natur, für eine Weile aufzutauchen und auf einmal nicht mehr da zu sein. Über sein eigentliches Tun und Treiben war wenig bekannt. Er war weder in den Dörfern noch auf den Almen ein gern gesehener Gast. Sein stummes, breites Dahocken beunruhigte die Leute. Sie sprachen anders miteinander, wenn er dabei war. Von seinem mächtigen Leib, seinem schwarz umhaarten Gesicht, seinen großen kugeligen Armen strömte eine Gewalt aus, die keiner Worte bedurfte, um zu herrschen und zu bannen. Er mischte sich fast niemals in die Gespräche der Männer und Frauen, und dennoch schien er sie wortlos zu lenken. Mädchen verfielen ihm rasch und auf eine unheimliche Art: man sah und hörte nicht, welche gerade daran war, aber in der ganzen Gegend gab es Kinder, die man ihm zuschrieb. Er kümmerte sich nicht um sie, die jungen Mütter vergaß er. Wenn er ihnen wieder einmal über den Weg lief, schauerten sie stumm zusammen und verschwanden hinter der nächsten Haustür. Er vertrug unheimlich viel Wein, ohne betrunken zu werden, niemand wußte, womit er ihn eigentlich bezahlte, denn man sah ihn nicht arbeiten, manche meinten, er präge sich Silber und Kupfer selbst. Obwohl man in Gesellschaften selten über ihn sprach, gingen merkwürdige Meinungen über ihn herum; so, daß er den größten Teil des Sommers in Höhlen hause, daß er Kugeln zu gießen verstünde, die unfehlbar treffen; andere wußten, daß er fest sei. Wildernde Burschen, die aus nächster Nähe auf ihn geschossen hätten, seien seines höllischen Gelächters wegen verrückt geworden. Niemand aber hätte sagen können, ob in all dem ein wahrer Kern stecke, er war eben ein Mann, um den sich Legenden ansetzten wie Kristalle um gewisse Steine.
Es ist durchaus möglich, daß er es war, von dem Lienhards Stiefvater erzählt hatte, als Franz ihn besuchte. Er kam landein, landaus und kannte sehr viele Leute. Vielleicht war wirklich er es, der die Mutter des Knaben aufsuchen wollte und so grinste, als er von ihrem seltsamen Tod und dem Lachen, mit dem sie ihn erlitt, gehört hatte. Nichts Sicheres läßt sich über diesen Menschen ermitteln.
Seit dem Hochwetter blieb er verschwunden. Allmählich ging das Gerede von Haus zu Haus, das geistliche Gericht habe ihn eingezogen. Man beschuldige ihn dort der Verführung junger Burschen zur Zauberei; manche wollten sogar wissen, daß man ihm auch das Hochwetter anlaste. Er hätte Lienhard die Macht gegeben, Blitz und Hagel herbeizuhexen, hätte ihn angelernt, mit einer geweihten Karsamstagskohle einen Kreis zu ziehen und den mit gotteslästerlichen Worten zu besprechen.
Die Inquisition hatte ihn tatsächlich verhaften lassen. Als er zum erstenmal vor dem Inquisitor stand, hatte dieser auf den ersten Blick den Eindruck, ein Sohn des griechischen Gottes Pan stehe vor ihm. Um den feinen und geistigen Mund des Mönches ging ein Lächeln darüber, daß ihm seine heidnische Bildung in ein so christliches Verfahren hineinspiele. Er bemühte sich, es wieder gutzumachen, indem er den Sohn des Pan einfach als eine Ausgeburt der christlichen Hölle nahm.
Doch war aus dem verstockten Schweiger nichts herauszubringen. Er schien die meisten Fragen des Geistlichen gar nicht zu verstehen und begrinste sie auf eine unschuldig-törichte Weise. Als es ernster wurde und die Folter drohte, wies er mit breiter Beredsamkeit darauf hin, daß er doch der vom weltlichen Gericht bestallte Henker sei; er habe schon einige Hexen und Hexenmeister vom Leben zum Tode befördert und immer zur vollsten Zufriedenheit seiner Richter gearbeitet.
Der Inquisitor stutzte. Er vermied es, den Hinrichtungen beizuwohnen und kannte daher den Scharfrichter nicht. Aber es schien ihm wohl möglich, daß der Kerl zu solchem Amte tauge, er hatte in seiner Klugheit den Henker immer für einen Teil des Verbrechens gehalten: als eignete sich gerade derjenige zu diesem Geschäft am besten, der es nötig hat, sich die immer wieder nachwachsenden Köpfe des Bösen selber abzuhacken. So einer schien ihm der Raz zu sein. Und er pries die reichen Möglichkeiten der Güte und der Verruchtheit, der Buße und der Vergeltung, des Auslieferns und des Ausgeliefertseins innerhalb der menschlichen Welt, die er von seinem Schreibtisch aus zu durchschauen gewohnt und geübt war.
Über Lienhard gab der Raz keinerlei Auskunft; er warf nur einmal kurz und brummend das Wort »Unsinn« in eine Frage des Mönches.
Das weltliche Gericht bestätigte die Aussage des Mannes, und er wurde nicht weiter verhört, aber bis zum Abschluß des Prozesses gegen Lienhard auch nicht freigelassen.
Der Pfarrer schrieb dem Inquisitor, Lienhard sei kein Hexenmeister; die Gemeinde habe in der Erregung über das Unglück, das sie betroffen, übereilt und ohne haltbaren Grund die heilige Inquisition bemüht; er bürge mit seinem Eid dafür, daß der Knabe so unschuldig an der Katastrophe sei wie jeder andere Dorfgenosse; sein Umgang mit Tieren aller Art überschreite in keiner Weise das natürliche Verhalten anderer Menschen; seine Behauptungen, auf hergewünschten, nicht vorhandenen Pferden reiten, Schlangen und Kröten bannen zu können, seien nichts als harmlose Prahlereien, die er zwar verurteile, deren Ursprung er aber verstehe; sie seien erstens unter Buben keine Seltenheit und zweitens bei Lienhard aus seiner großen Vereinsamung erflossen. Er habe das Kind verhört und sei zur Überzeugung von seiner vollen Glaubwürdigkeit gelangt; ja, er stehe nicht an, hinzuzufügen, daß er es liebe, ebenso seiner Unschuld wie seines offenen Mutes willen. Da es eine Waise und zugewandert sei, habe es seitens der Bauern wenig Zuneigung empfangen; er bezweifle, daß sie eines ihrer eigenen Kinder dem von ihnen geforderten Verfahren ausliefern würden. Er bitte, den Fall für erledigt zu erachten und die Untersuchung einzustellen. Im übrigen werde er für den Knaben einen Platz in einer andern Gemeinde suchen und die Leute zu beruhigen trachten.
Um Lienhard wurde es still wie vor einem Gewitter. Er fühlte die Spannung in diesem Schweigen aller gegen ihn, er versuchte sie zu durchbrechen, aber es gelang ihm nicht. Man war von einer nahezu fürsorglichen Schonung für ihn, aber er spürte das lauernde Zuwarten, die feindselige Neugier dahinter. Es sammelte sich um ihn etwas, das seinem Wesen gar nicht entsprach, das er nicht begriff und dem er sich nicht gewachsen fühlte. Er ging öfters zum Pfarrer, der ihn abzulenken suchte und schon vorsichtig davon redete, Lienhard könne in ein anderes Dorf kommen, er wisse einen guten Platz für ihn. Der Bub sagte nicht ja und nicht nein, und als der Pfarrer ihn zu drängen begann, verstummte er, zuckte die Achseln und ging verschüchtert heim.
Hinter dem Rücken beider schritt die Sache ohne Aufenthalt vorwärts. Die Gemeinde blieb in ständiger Verbindung mit der kirchlichen Behörde. Sie sah ihren Verdacht, der Pfarrer stehe schützend hinter dem Sünder, bald bestätigt, und immer mehr Leute des Dorfes begannen ihren Seelsorger ebenso zu hassen wie den Hexenmeister. Als sie von dem Brief des Pfarrers an das geistliche Gericht erfuhren, brach ihre Wut drastisch hervor.
Es war in der Nacht von einem Samstag auf den Sonntag. Im Zimmer des Pfarrers war es schon dunkel; er war zu Bett gegangen. Nun löschte die Wirtschafterin auch in der Küche das Licht. Hinter Zäunen und im Schatten der Mauern hatten die Burschen des Dorfes mit einigen Weibern diesen Augenblick abgewartet. Jetzt traten sie hervor und auf das Pfarrhaus zu, vor dem sie sich aufstellten. Jeder hatte ein Instrument bei sich, mit dem sich Lärm schlagen ließ: Gießkannen, Pfannendeckel, Hirtenhörner, Klappern, einer eine hohe Landsknechttrommel, Kuhschellen und dergleichen. Ein grauenhaftes Ständchen, Gejohle, Gepfeife und Geplärr, begleitet von den malträtierten Instrumenten, riß den Pfarrer aus dem Schlaf. Er stürzte ans Fenster und schrie hinab. Aber darauf hatte die Meute nur gewartet: ein verdoppeltes Gejohle und Gerassel verschluckte seinen Ruf. Und nun wurde er Zeuge eines Schauspiels, das ihm seine Niederlage eindringlich vor Augen führte und ihn erzittern machte.
Die Weiber trugen eine Puppe mit sich, einen Strohwisch auf langer Stange, der die Größe und Gestalt des Knaben hatte. Die ihn schleppte, stellte sich in die Mitte der Versammlung, steckte ihn in die Erde und fragte schreiend:
»Was hat mit dem Hexenmeister zu geschehn?«
Die Umstehenden versetzten im Chor:
»Man muß ihn verbrennen.«
»Soll ihn der Pfarrer versehen?«
»Der Pfarrer soll ihn nicht versehen, der Pfarrer hält zu ihm und dem Teufel.«
»Richter, brich den Stab!«
Ein Bursche trat vor und brach einen Stab übers Knie.
Der Pfarrer schlug das Fenster zu und ließ sich auf das Bett fallen, er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und betete, verzweifelnd an der Welt und noch mehr an dem Bild, das er von ihr hatte. Als er sich aufrichtete, flog ein roter Schein übers Fenster, flammte höher auf, füllte die ganze Stube, glühte dem starken Mann in die Seele, erlosch zuckend und ließ eine vollkommene, tödliche Finsternis zurück.
Am nächsten Tag brachte ein Kurier einen schwerversiegelten Brief ins Pfarrhaus. Die Leute gafften den Reiter an, der das bischöfliche Wappen im Schilde führte. Er zeigte auf die verkohlte Stange, die noch in der Erde stak.
Man kicherte, aber gab keine Aufklärung. Der Reiter wandte sich seinem Pferde zu, stieg in den Sattel und sprengte davon.
Der Pfarrer saß vor dem Brief, noch bleich von der schlaflos verbrachten Nacht; sein Gesicht begann zu verfallen. Er setzte die Brille auf, schlug ein Kreuz, ehe er zu lesen anfing, legte den Hexenhammer neben sich und seufzte.
Das Schreiben lautete:
Geliebter Bruder in Christo! Gruß und Segen!
Wir haben Euren Brief empfangen und mit Verwunderung gelesen. Ihr scheint uns nicht auf dem rechten Wege zu sein. Ihr tut eine Sache, die unsere gründlichste Aufmerksamkeit verdient, mit Argumenten eines allzu schlichten Verstandes ab. Wir brauchen Euch wohl nicht erst darüber zu belehren, daß die menschliche Natur von Grund aus böse ist und das Böse anstrebt; es erscheint uns daher absurd, daß Ihr gerade die Natur des Knaben zum Beweise für seine Unschuld heranzieht, zu einem Beweise, der doch eben gegen diese Natur zu führen ist. Ihr besitzt wohl das vorzügliche Werk der päpstlichen Inquisitoren Henricus Institoris und Jacobus Sprenger, den Malleus maleficarum, zu deutsch Hexenhammer; wir empfehlen Euch eine aufmerksame Lektüre dieses Buches, daraus Ihr einen Begriff von der teuflischen Bosheit und Tücke, der Verirrung und blinden Verstocktheit der menschlichen Natur im allgemeinen und jener Personen im besondern gewinnen werdet, die das Volk Hexen und Hexenmeister nennt.
Ihr irrt desgleichen, wenn Ihr hofft, wir fühlten uns imstande, eine Untersuchung einzustellen, die uns von Gott und seiner heiligen Kirche aufgetragen ist. Es ist nichts damit getan, daß Ihr zur Überzeugung gekommen seid, der Knabe sei schuldlos – Bruder, Bruder, wer ist schuldlos, wo der Gerechte im Tag siebenmal fällt? –, seine Worte und Taten, die uns zu Ohren gekommen sind, scheinen uns ein schwacher Beleg für Eure Meinung, und wir vermögen uns Eure Haltung nur daraus zu erklären, daß Ihr den Knaben, wie Ihr selbst sagt, liebt.
Nun dürfte Euch die Lehre der Kirche geläufig sein, die von der Liebe sagt, ihr vornehmster Gegenstand sei weder die Schönheit des Leibes noch die Eigenschaften der Person, sondern das Heil ihrer Seele; wir lieben am Menschen nicht das Vergängliche sondern das Unvergängliche, nicht sein irdisches Wesen sondern sein ewiges. Wir bekehren aus dem gleichen Grunde die Heiden, verurteilen die Ketzer und liefern die Hexen der weltlichen Gerechtigkeit aus; wir tun das ausschließlich in Ansehung der Seele und ihres himmlischen Glückes, nicht der Person und ihres irdischen Wohlbefindens. Die Scheiterhaufen, die brennen, sind Feueröfen, aus denen die Seele geläutert vor das Angesicht Gottes aufsteigt, mag auch ihr Gefängnis, der Leib, in Asche zerfallen. Unsere Liebe ist darauf aus, das beschmutzte Kleid der Gotteskindschaft reinzuwaschen und sei es auch durch unsägliche Leiden, Martern und den schimpflichsten Tod der Person. Wir geben nie dieser die Ehre, sondern Gott, und wir erinnern Euch an dieser Stelle an das große Wort, das unsere Moralphilosophie vor jeder anderen auszeichnet: omnia ad majorem Dei gloriam, alles zur größeren Ehre Gottes.
Ihr zeigt Euch auf dem Gebiete der Teufelsbuhlschaften, Hexereien und schwarzen Künste wenig bewandert; sonst hätte Euch müssen die geradezu wunderbare Logik auffallen, mit der sich die Seele des Knaben immer vollständiger dem Bösen hingab; es hätte Euch müssen die Logik sämtlicher Geschehnisse bis zu ihrer Krönung durch das sündhaft herbeigerufene Hagelgewitter auch die Augen für die scharfsinnige Art Beelzebubs öffnen, in der er sich um eine Seele wehrt, deren er so restlos habhaft werden konnte: er stattet sein Opfer mit dem unschuldigen Blick eines Kindes aus, färbt seine Wangen mit dem bestechenden Rot der Scham und bläst ihm die harmlosesten Antworten ein, die am trefflichsten dazu geeignet sind, den Richter in Verwirrung zu stürzen. Daher bedarf es fast immer der Folter, um der Seele den Schrei der Wahrheit zu entlocken, ihr die Abkehr vom Bösen zu ermöglichen und sie zu Gott zurückzuführen, dessen Ebenbild sie ist. Keine Hexe würde zu einem Geständnis ihrer scheußlichen Liebschaft gelangen, wenn wir ihr nicht mit körperlichen Schmerzen zu Hilfe kämen; oder wenn wir sie so verhörten, wie Ihr den Knaben Lienhard verhört zu haben scheint.
Falls Ihr Euch wirklich weigern solltet, die Untersuchung fortzuführen, fielet Ihr unter die kanonische Gerichtsbarkeit, die über Mittel verfügt, den Ungehorsam zu strafen, der gegen die heilige Ordnung der kirchlichen Gewalten gerichtet ist.
Für jeden Fall aber nehmen wir mit heutigem Tage die Untersuchung selbst in die Hand und werden in Kürze das Nötige verfügen.
Die Gnade Gottes und der Friede des Herrn sei mit Euch!
Gegeben zu Meran, am Feste Bartholomä 1679.
Der Pfarrer ließ den Kopf sinken; er hatte das nicht vorausgesehen. Sein rechtwinkliger Verstand vermochte nur mit Mühe die gewundenen Wege zu gehen, die in den innersten Sinn dieses Schreibens führten; er war immer wieder stehengeblieben, wenn es nach Hinterhalt aussah. Doch war ihm schließlich klar und deutlich geworden: es ist aus. Dem Scharfsinn des Teufels, der sich der Unschuld und Wahrhaftigkeit bedient, um Schuld und Lüge zu bemänteln und damit die Rettung des Guten vor dem Bösen zu vereiteln, war er, so sehr er sein Hirn anstrengte, nicht gewachsen. Je länger er darüber nachdachte, desto wunderlicher verschlangen sich die Sätze des Briefes, und er kam immer nur zu dem einen Ende: mit Lienhard ist es aus, und ich kann ihm nicht mehr helfen.
Er war selber einmal ein Bauernbub gewesen, hatte nie viel studiert und gedacht, sondern seine wache Vernunft so verwendet, wie es ihm gut und nützlich schien. Er sah die Dinge der Welt in einem einfachen, aber genügend hellen Licht, um auch die Schatten wahrzunehmen, die alle Dinge werfen; seine gutmütige Natur neigte freilich dazu, die Schatten nicht scharf genug zu sehen, die Welt für ein wenig schöner und besser zu halten als sie ist; aber Schaden richtete er damit keinen an. Die Kirche und der Dienst in ihr waren ihm immer als das Höchste und Menschenwürdigste erschienen – bis er diesen Brief in die Hand bekam. Bis zu seinem Tode, der ihn nach langen Jahren kindisch friedlichen Greisenalters sanft überraschte, blieb dieser Brief seine Lektüre und sein Studium. Er wurde dabei weder klüger noch dümmer – die Sätze des Inquisitors beschäftigten fortan nur mehr seinen Verstand, nachdem sie das erstemal sein ganzes Wesen völlig zerbrochen hatten. Denn jetzt, da er noch im Mannesalter stand und sein Gemütsleben von seinem Denken noch nicht fürsorglich getrennt war, zuckten diese Sätze wie Säbelklingen gegen sein Herz und verwundeten es tödlich. Er betete eine ganze Nacht auf den bloßen Knien vor dem Kreuz in seiner Stube und war am Morgen entschlossen, seine Weigerung aufrechtzuerhalten. Zitternd wie ein Todkranker schrieb er es seinem Bischof. Dann schloß er sich in seinem Zimmer ein und sang mit Tränen in der Stimme das Tedeum.
Das geistliche Gericht hatte die Untersuchung in die Hand genommen. Das Material, das der Inquisitor vom Pfarrer verlangt hatte, lag längst auf das sorgfältigste geschrieben und numeriert bei ihm. Lienhard war dem geistlichen Richter völlig bekannt, bevor noch der Pfarrer sich zu entscheiden hatte, ob er ihn verhören wolle oder nicht; man war jedem Hindernis von dieser Seite mit größter Gewissenhaftigkeit zuvorgekommen.
Am Montag früh schon – zur gleichen Stunde, in welcher der Pfarrer dem Bischof seinen Entschluß mitteilte – ließ der Inquisitor zwei Knechte verständigen, die mit Folterwerkzeugen umzugehen wußten, sie möchten sich für die nächsten Tage bereithalten und sich nach der Messe bei ihm melden. Zugleich schickte er einen schnellen Boten an den Gemeindeältesten ab, dem er mitteilen ließ, daß Ende der Woche zwei Häscher eintreffen würden; man möge Lienhard im Auge behalten, damit er nicht in letzter Stunde noch entwische.
Er selbst zog sich in seine Studierstube zurück und las noch einmal die Akten. Bei einigen Stellen machte er ein rotes Kreuz an den Rand, bei andern schrieb er eine Seitenzahl aus dem Hexenhammer hin. Sein Gesicht verriet nicht im mindesten, was in ihm vorging; er schien nur aufmerksam in eine heikle Arbeit vertieft. Dann las er noch einmal die Abschrift seines Briefes an den Pfarrer und legte auch sie zu dem Bündel, auf dessen Deckel in großen, deutlichen Buchstaben Leonhart Tenng stand.