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Lienhard

Lienhard aber verließ dieses Erlebnis nicht mehr bis zu seinem frühen Tod. Das schrecklich nahe Gesicht, von schwarzem Bart umwachsen, die fremden, stieren Augen und das grausame, lautlose Lachen kamen immer wieder, wenn er allzu allein war. Er verlor unter dem Banne dieses Gesichtes immer mehr von seiner Unbefangenheit und seinem kindlichen Mut, er war oft unsicher, scheu und furchtsam. Er fühlte sich verfolgt und bedrängt, und das Einschlafen war ihm zumeist eine qualvolle Arbeit. Sein Herz, das freundlichen Menschen so rasch und ungeteilt zugeflogen war – als flöge es in das vertraute Nest heim –, war für immer geschreckt und verkroch sich tief hinein in die Brust. Aus Scheu und Ängstlichkeit wurde er übermäßig vorsichtig und erweckte dadurch in den Leuten seiner Umgebung Mißtrauen und sogar Feindseligkeit. Dazu wuchs er immer mehr in das Alter hinein, das die Burschen ebenso von den Kindern absondert wie von den Erwachsenen.

So blieb er den Leuten, zu denen er floh und die ihn behielten, immer fremd. Sein Wesen wurde abseitiger von Woche zu Woche. Er sprach wenig und wurde wenig angesprochen, mit den Dorfbuben kam er wohl hie und da zusammen, aber es dauerte lange, bis sie zugänglicher wurden; er war auch hier der Zugelaufene, der Landstreicher, der Tunichtgut, der kein Recht hat, in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Er fand auch hier keinen Freund.

Der Bauer war nicht übel; aber sein Weib hielt den Buben streng und knapp. Anfang Mai schon tat sie ihn auf die Alm, wo er die Schafe zu hüten und den beiden Sennern an die Hand zu gehen hatte. Er war froh, daß es so gekommen war. Drunten beim Bauern wußte er nicht, was anfangen mit der Zeit, hier aber war er allein, ganze Tage mit den Schafen im Geschröf, er brachte ihnen das Salz, er folgte geduldig den Grasenden, begegnete viel sonderbarem Getier und wurde vertraut mit ihm.

Die beiden Senner waren gutmütige Lümmel. Sie neckten ihn gern, aber ihr Lachen klang ohne bösen Ton. Sie spannten ihn zur Arbeit ein, soviel sie konnten, aber damit taten sie ihm nichts Übles; er war froh, beschäftigt zu sein und dabei seinen Frieden zu haben. Da er mit dem Messer geschickt umzugehen wußte, brachten sie ihm Holz, und an Regentagen saß er emsig bastelnd und in das Werdende unweckbar vertieft neben dem offenen Feuer und hörte sie gerne schnarchen; draußen rauschte der Regen, neben ihm knisterte das Feuer, er wünschte sich nichts weiter.

Zweimal in der Woche schickten sie ihn mit einer schweren Kraxe voll Butter ins Dorf. Er kam in mehrere Häuser, denn das Almvieh stammte aus mancherlei Ställen. Man empfing ihn zumeist freundlich, aber viel geredet wurde nirgends. Es schien ihm so auch lieber zu sein. Er kam sich vor wie der Bote, der das Salz in die Häuser getragen und den er dabei oft begleitet hatte. Überall stellte er die Kraxe im Hausgang ab, rief nach der Bäuerin und folgte ihr das Stück Butter aus, das für sie bestimmt war. Er sah nie den fraulichen Blick des Mitleids, den mütterlich umfassenden, mit dem ihn manche Bäuerin empfing; denn er war so ausschließlich in sein Tun versenkt, daß er kaum aufschaute. Sie schätzten an ihm die stille, geschäftige und verläßliche Art, aber der ihrige war er nicht.

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Nur ein altes, gebücktes und ganz verschrumpftes Weiblein, das bei seinem Rundgang die letzte war, und dem er ein winziges Stück Butter zu bringen hatte – offenbar ein ewiges Almosen –, schloß ihn ins Herz. Sie strich ihm von dem, was er ihr abgeliefert hatte, tüchtig aufs Brot und sah mit Vergnügen, wie es ihm schmeckte. Sie fragte ihn dies und das, und er antwortete, so gut er konnte.

Einmal, er war besonders früh dran und hatte noch Zeit zu plaudern, holte sie ihn über seine Wanderung aus, und so stockend und zögernd er begonnen hatte, er kam immer geläufiger und anteilvoller ins Erzählen. Nichts schien die Mena zu verwundern. Als hätte sie genau den gleichen Weg mit den gleichen Fährnissen, Aufregungen und Zufällen schon oft gemacht, nickte sie zu seinem Bericht, ein Kopfnicken, das ihn entzückte; es hieß: ich weiß schon, Lienhard, so muß es gehn, und gut hast es gemacht, bist ein Mordskerl.

Und auch das Letzte mußte noch heraus: der seltsame Traum und das schwarze Gesicht über ihm. Da wurde ihr heller Blick ein wenig ängstlich, ihr zerknittertes Gesicht um eine Spur noch verrunzelter, und ihre alte, gebrechliche Hand strich ihm beschwichtigend über den Kopf.

»Das ist der Raz gewesen, ich kenn ihn wohl; kein feiner Mensch, ein bißl gewalttätig und voll unguter Einfälle. Aber er hat dir nichts getan, gelt Lienhard. Es wird schon nicht so arg sein mit ihm.«

Lienhard ging an diesem Abend heim, als wäre ihm Franz begegnet; die Alte war ganz ähnlich wie Franz, sagte er sich. Und er nahm sich vor, sie öfters aufzusuchen.

Wenn er Butter ins Dorf getragen hatte, blieb er die Nacht bei seinem Bauern und stieg erst am nächsten Morgen wieder zur Alm hinauf.

Nach dem Nachtessen sagte der Bauer, daß er am nächsten Tag untenzubleiben habe, es sei Zeit, zur Beichte und zum Kommunizieren zu gehen. Darauf schickte ihn die Bäuerin rasch ins Bett.

Lienhard ging. Die knappe Art, mit der man ihn abspeiste, war er längst gewöhnt. Zärtlichkeiten hatte er nie erfahren, aber ein ihm unerklärliches Bedürfnis, das ihn mitunter überfiel, war unbewußt auf einen gütigen Blick, ein liebes Wort gerichtet. Er wäre gern zur Alten geschlichen, die ihm mit ihrer zittrig behutsamen Hand so fein über den Kopf gefahren war, aber er traute sich nicht aus dem Haus.

Den nächsten Vormittag trieb er sich im Dorf herum. Drei Buben, ungefähr seines Alters, waren um ihn. Sie spielten Bauer. Aus Brettern, die sie überall zusammensuchten – das allein war schon ein wunderbar erregendes Spiel –, bauten sie kleine Ställe und Scheunen, füllten sie mit Gras und fingen Käfer, Grillen und Stallfliegen zusammen, die sie ziemlich unbarmherzig in ihre Gefängnisse steckten. Die Käfer waren die Kühe, die Grillen die Pferde und die Fliegen mußten erst hergerichtet werden, damit sie halbwegs glaubhaftes Kleinvieh abgaben: Man war gezwungen, ihnen die Flügel auszureißen und tat es mit einer nüchternen Sachkunde, einem zweckbesessenen Eifer, der kein Gefühl für die Opfer aufkommen ließ. Vielleicht schoß in dem Augenblick, in dem die sorgfältig zur Zange gekrümmten Finger den Flügel faßten und mit einem Ruck ausrissen, ein kurzer, grausam süßer Schreck durch den Täter; sobald das entflügelte Tier jedoch ebenso munter herumhüpfte, war auch diese Regung sicher vorbei. Das Tier hatte keinen Schrei getan, und seinen Augen war nicht anzusehn, ob es sie vor Schmerz aufgerissen oder mit Tränen gefüllt hatte; es tat kurze Sprünge, von denen die Buben entzückt waren. Nun stand es wie ein kleiner Bock, der zum Stoß ansetzt, Geißen und Zicken krochen um ihn herum, und alle miteinander konnten froh sein, daß es keinem der Bauern einfiel, ihnen jene zwei Beine auszureißen, die für einen Ziegenbock zuviel sind.

Ein winziges Bienenhaus war noch leer. Man suchte nach einem starken Brummer dafür. Alle vier zogen durch den Weinberg hinauf zu einem großen Misthaufen, der von schwirrendem, krabbelndem und schliefendem Getier wimmelte.

Auf dem Weg dorthin hatte sich ihnen die Rosl angeschlossen, ein zwölfjähriges Mädchen mit schwarzem Haar, dunklen Augen und einer feinen, schmalen, nahezu durchsichtigen Nase. Auch sie ging barfuß und der kurze Kittel schlug ihr um die Waden; wenn sie vorauslief und über die Steinstufen stieg, rutschte er über die Knie hinauf und gab den halben Schenkel frei; dort schimmerte die Haut, als wäre sie ganz anders nackt als unterm Knie. Lienhard spürte es heiß in seine Wangen schießen und sah weg; doch kostete es ihn Mühe, nicht gleich wieder hinzuschauen. Als er so bestürzt errötete, ging ihm zugleich die heutige Beichte durch den Kopf; er fühlte dabei so viel Heimliches, Heißes und Dunkles, daß er sich plötzlich einen Ruck gab und der Rosl vorauslief, als risse er sich von etwas los, das verführerisch nach ihm langte.

Auf dem Misthaufen funkelte ein riesiges gelbes Insekt in der Sonne. Sein Kopf war mächtig, die Länge seines Leibes übertraf die der stärksten Bienen, es sah in seiner Schlankheit, seinem goldhell schimmernden Harnisch kühn und feindselig aus. Die Buben starrten es begeistert an. Es rührte sich nicht und stand da wie ein gepanzertes, giftiges Pferd.

Rosl zeigte mit dem Finger darauf hin und meinte verächtlich, daß sich keiner traue, es zu packen. Die Buben fragten nur, ob sie verrückt sei; eine giftige Hornisse anzurühren, wo ihrer drei genügten, ein Pferd zu töten! Peters Roßknecht habe das selbst gesagt.

Dann rührte sich keiner mehr vor Erwartung und behextem Hinschaun: Lienhard hatte ganz langsam den Arm ausgestreckt, griff behutsam und so ruhig, als höbe er einen kleinen, hilflosen Vogel aus dem Nest, nach dem reglos harrenden Insekt, wölbte seine kleine Hand darüber, seine Finger schlossen sich zart und fast liebkosend um das gefürchtete Tier, und ohne daß etwas geschah, ging er wieder durch den Weinberg hinunter, gefolgt von den sich drängenden Spielkameraden, die ihn aufgeregt umlärmten. Auf Rosls finsterm Gesicht stand mitten zwischen den schwarzen Brauen, die sie böse zusammenzog, eine kleine, senkrechte Falte.

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Lienhard brachte die Hornisse glücklich in ihren winzigen Stall; er legte ihn mit der offenen Seite an seine Faust, tat sie sehr vorsichtig auf, und das Insekt spazierte, ohne sich zu ängstigen oder zu rächen, in das Bienenhaus; ein kleiner Deckel verschloß es, und erst jetzt begann die Gefangene zu brummen, immer stärker, sie brauste, sie stieß mit ihrem gewaltigen Kopf gegen die Wände, daß man das Klopfen hörte, sie schoß in dem engen, finstern Raum immer wilder herum. Die Kinder legten der Reihe nach die Schachtel an ihr Ohr, entzückt von dem Gebraus dieses Zorns und noch tiefer entzückt über seine Ohnmacht; nur ein dünnes Brettchen trennte sie von dem tödlichen Stich, ungeheuer dröhnte es im Ohr und war doch ganz und gar gebändigt.

Niemand wagte die Wütende herauszulassen. Sie gruben ein Loch in die Erde, versenkten das Bienenhaus und stampften das fürchterliche Grab zu – ihre Herzen flogen vor Erregung, wenn sie das Ohr an den Boden legten und ein tiefes Brummen aus der Erde heraufzuhören meinten.

Lienhard nahm sich vor, sobald er allein sei, die Schachtel aus der Erde zu graben und das Tier herauszulassen. Aber dann vergaß er es.

 

Er hatte mit dem Fang der Hornisse die Buben zur Bewunderung hingerissen. Es war unerhört, das gefährliche Tier mit solcher Gelassenheit in die Hand zu nehmen und durch den ganzen Weinberg zu tragen. Sie sahen von nun an mit Verehrung zu ihm auf und stritten sich eifersüchtig um seine Nähe. Er war nicht größer als die ihm Gleichaltrigen, vielleicht auch nicht kräftiger, aber sein ruhiger Mut war ihrer erregten Kühnheit überlegen. Die Selbstverständlichkeit seiner Handlungsweise verblüffte und beschämte sie. Aber da er ein Fremder war, blieb ihre Bewunderung schweigsam.

Ihr Verhalten gegen ihn wurde noch scheuer, als sich die Geschichte mit der Schlange herumsprach. Lienhard wußte nicht, daß er oft der Gegenstand ihrer Geschichten war, die sie sich mit jenem übertreibenden Eifer erzählten, der auf den früher Unterrichteten einen Abglanz des Helden wirft. Wenn aber der Held selbst zu ihnen trat, verstummten sie; er sah gar nicht danach aus. Er fügte sich in ihre Spiele und war glücklich, daß sie ihn duldeten.

Lienhard erinnerte sich nicht gern an diese Sache mit der Schlange, die ihm, ohne daß er es ahnte, so viel Ruhm eintrug. Sie war für ihn mit dem furchtbarsten Abend verknüpft, den er bei seinem Bauern erlebte.

Die Neckereien der beiden Senner waren zumeist harmloser Natur; aber es freute sie doch, wenn ihnen Lienhard ahnungslos in die Falle ging und sich wehtat; am meisten aber, wenn es ihnen gelang, ihn zu erschrecken. Denn auch sie reizte seine Gefaßtheit, mit der er den Zufällen seines kleinen Lebens begegnete. Er glaubte weder an Geister noch an Kobolde, die sie manchmal des Nachts durch die Hütte rumoren ließen, er lächelte, wenn er ihnen auf ihre umständlichen Schliche kam, ihm das Gruseln beizubringen.

Eines Morgens versuchten sie es mit einer Ringelnatter. Sie hatten das Tier aus dem Knäuel seiner Jungen gehoben, die Brut mit Steinen erschlagen, mit den schweren Holzschuhen zertreten, die Alte aber in die Hütte mitgenommen und sie Lienhard unter die Decke gesteckt. Der Bub schlief noch fest. Sein Lager war von ihrem durch eine einfache Bretterwand getrennt. Beide standen erwartungsvoll und wie bärtige Kinder an dem Spalt dieser Wand, auf den Schrei begierig, mit dem Lienhard aus den Decken fahren würde. Die Schlange war ins warme Dunkel geschlüpft und ließ sich lange nicht mehr sehen; es behagte ihr offenbar in dem fremden Nest. Die Lauerer wurden schon ungeduldig und wollten die Begegnung der beiden Ahnungslosen beschleunigen, als sie sich mit einemmal um das erwartete Schauspiel betrogen sahen.

Lienhard erwachte, schlug die Decke zurück, sah mit wachsendem Erstaunen das zusammengerollte Tier und schneller, als es sich zur Flucht zu wenden vermochte, griff er mit seiner tiervertrauten Hand nach der Schlange, faßte sie mit der Rechten geschickt hinter dem Kopf, mit der Linken am Schwanz und freute sich über die raschen und nutzlosen Wellenschläge, mit denen sich das wehrhafte Tier zwischen seinen Händen hin und her und auf und nieder warf.

»Ja, wie kommst denn du da herein, du langer schwarzer Wurm? Mußt du grad in mein Bett; ist dir zu kalt worden draußen?«

Er trug die Zappelnde an den verdutzten Sennern, die sich wie ertappte Kinder mit Schüsseln und Kübeln zu schaffen machten, vorbei ins Freie, wo er sie unter vertraulichem Zureden entschlüpfen ließ.

Die erwachsenen Kindsköpfe aber nahmen ihm die Enttäuschung, die er ihnen bereitet hatte, übel und raunzten und maulten den ganzen Tag mit ihm herum. Als sie ihm vorwarfen, er sei schuld an dem Absturz eines Kalbes, das sich vor einigen Tagen verkugelt hatte und seither kränkelte, wehrte er sich heftiger, als es seine Art war. Es kam zu einem sinnlosen Geschimpfe, Lienhard war nicht still, und der eine Senner erklärte schließlich, er werde heute selbst mit der Butter ins Dorf gehen und dem Bauern sagen, was für ein freches Bürschl er sich und ihnen da aufgehalst habe.

»Geh nur zu, mein Bauer wird dich hinauswerfen, wenn du ihm mit solchen Lügen daherkommst.«

Als aber der Senner wirklich die Kraxe packte und ging, wurde es Lienhard doch bedenklich; er nahm seinen Stecken und folgte heimlich dem Senner, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, wenn es über ihn herginge.

Er wartete versteckt, bis der Senner seinen Bauer verließ und schlüpfte ins Haus. Der Bauer empfing ihn wütend. Als der Bub den Senner der Lüge zieh, fuhr der Bauer auf, nannte ihn einen Lumpen, einen Zigeuner und langte nach dem Ochsenziemer. Lienhard brachte es nicht über sich, die Sache mit der Schlange auszukramen, ihm ging es allein nur um das Kalb, an dessen bösem Sturz er sich schuldlos wußte. Aber der Bauer wollte ihm nicht glauben, unterbrach seine Beteuerungen mit Geschimpfe und schrie sich in immer ärgere Wut hinein. Lienhard bebte. Und mit einemmal war alles vergessen, was die Leute für ihn getan hatten, die Weite lockte wieder, nur eine Tür trennte ihn von der Straße, die ihn schon leise fortzog.

»Wenn's Euch nicht paßt, lauf' ich heut noch weiter, damit Ihr Eure Ruh habt!«

Der Bauer schäumte. Das sei nun der Dank dafür, daß man ihn aufgenommen und aufgezogen habe wie ein eigenes Kind.

Lienhard wollte erwidern, aber der Alte hieß ihn schweigen. Da fuhr ein furchtbarer, ein blendendweißer Zorn aus dem Buben, schlug wie ein Blitz aus ihm; zu lange hatte es sich in ihm gesammelt; seine Augen flammten, sein Atem ging in schnellen Stößen aus dem qualvoll aufgerissenen Mund:

»Und nicht bin ich still. Schlag zu, schlag zu, es ist alles nicht wahr, ich bin den ganzen Tag hinterm Vieh her, ich mag ja das Vieh viel lieber als euch alle miteinander, ihr, ihr ……«

Schluchzen erstickte seinen Ausbruch. Dem Bauern aber war es zuviel. Sein Kinn schob sich hart und böse vor, die Ader auf seiner Stirn wurde dick, der Ochsenziemer sauste nieder.

Blindlings hieb er zu, jedes Schimpfwort, das ihm der Zorn eingab, steigerte seine Wut. Lienhard lag auf den Knien vor ihm, die beiden Arme schützend über den Kopf gespreizt, kein Schrei war aus ihm herauszuschlagen, nur ein leises Wimmern begleitete das Aufklatschen der Hiebe, und auch das erstarb, der kleine Körper fiel vornüber und rührte sich nicht mehr.

Der Bauer, das weiße Gesicht voll Schweiß, trat schwer und erschöpft schnaufend zurück und verließ die Stube; er hatte den Buben halbtot geprügelt.

Erst als Lienhard in seinem Bett lag – er wußte nicht mehr, wie er in die Kammer gefunden hatte – und die Finsternis der Nacht ihn immer dichter abschloß von aller Feindseligkeit und ihn immer näher zu sich selber brachte, grub er sein Gesicht in die zerschlagenen Hände und weinte inbrünstig, über sein Herz gekrümmt und geschüttelt von dem Elend, nur ein Kind zu sein.

 

Es kam eine traurige Zeit für ihn. Die Senner gaben es zwar auf, ihn zu hänseln und zu foppen, aber ihr stummes Neben-ihm-her-Leben bedrückte ihn noch ärger als ihre derben Späße. Er sehnte sich nach Franz. Hätte er nur die leiseste Spur von ihm gefunden, er wäre lieber heut als morgen ihn suchen gegangen. Aber es schien ihn etwas langsam zu verlassen, er wußte nicht, was; er fühlte es nur schwinden und ihn schwächen. Er wurde einsam, noch abseitiger und stummer. Als hätte jemand die Hand von seiner Schulter genommen, die ihn bisher gelenkt und beschützt hatte, spürte er leeren Raum, Kälte und Gefahr hinter sich. Ein immer stärkeres Bedürfnis, sich anzulehnen, um gedeckt zu sein, überkam ihn; vor dem, was er vor sich sah, hatte er keine Angst, es lauerte hinter ihm; was, wußte er nicht.

Die Buben steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, wenn er die Dorfstraße herabkam; der Bauer übersah ihn; die Alte, die er liebte, hatte mit ihrem Leiden zu tun, das sich verschlimmerte. Wo, wo ist Franz?

Die Geschichte mit der Schlange entzückte die Buben, ein neues Stück ihres heimlichen Helden. Aber ihre Herzen öffneten sich nicht, Scheu und Bewunderung hielten sie verschlossen und eine neidvolle Liebe, die sich völlig verschwieg.

So drängte ihn sein Geschick immer tiefer in eine Einsamkeit, die ihn seltsam verwandelte. Es war, als riefen ihn der Wald, der Fels, der brütende Mittag, der eintönige Regen zu sich, als holten ihn die hellen und die dunklen Götter heim. Er fing an, die Stimmen der Vögel hellhörig zu trennen, ward vertraut mit ihrer Art zu nisten und die Brut zu betreuen, er kannte die Wechsel des Wildes, die Fuchslöcher und das ängstliche Pfeifen der Eichkatze, wenn sie der Marder hetzt. Schon waren ihm Spuren geläufig, die sonst nur den Waldtieren verständlich waren; manchen Tag war ihm, als wittere er durch die Gerüche von verwesenden Strünken, Pilzen und Harzen hindurch die Nähe eines Tieres. Seine Sinne entfalteten sich im täglichen Umgang mit Entschlüpfendem, sich Versteckendem, seine Nerven erwiderten immer rascher und deutlicher auf die Spannungen und Lösungen der Atmosphäre, sie spürten die stummen Zeichen des Himmels, in denen sich Aufklaren und Eintrüben ankündigten, sie litten die Ladung der Baumwipfel und Felsklötze mit elektrischen Kräften mit und entluden sich mit dem ersten Blitz zu einem wollüstigen Gefühl des Befreitseins. Damit aber änderte sich in dem Knaben auch das Leben der Gefühle. Er vermied es, Beute vor dem Zugriff des Räubers zu retten, als hinderte ihn ein allgemeines Gesetz der Natur, sich in den Vollzug des Lebens und Tötens einzudrängen; er sah hundertmal zu, wie die Spinne mit einem lautlosen Ruck bei der gefangenen Fliege war, wie sie mit raschen Wendungen ihr Garn um die verzweifelt schwirrenden Flügel schlang und ihr dann in kalter Sachkenntnis in die Stirne biß, um sie blutleer zu trinken. Er spürte vieles von diesem Vorgang bis ins Mark hinein, schauernd und lustvoll zugleich.

Wirkliche Furcht war ihm draußen fremd; doch wuchs seine Scheu vor den Menschen. Er war durch und durch ein Kind geblieben und damit unbefangen und unsentimental. So blieb er davor bewahrt, sich selbst als Ausgestoßenen wahrzunehmen und zu bemitleiden; er war nicht glücklich und immer seltener traurig, Glück und Trauer waren außerhalb seines Seins, waren Dinge der Menschenwelt, der er immer fremder entwuchs. Er vergaß mit der Zeit, zu beten, es ergab sich keine Gelegenheit mehr dazu. Um diese Zeit schon begann es zuzutreffen, daß ihn eine rätselhafte Macht verderben würde, um ihn ganz zu erlösen. Noch einige Male wird sie ihn in den Kreis der Menschen drängen, um ihn zu erproben, aber schon jetzt gab es Stunden und Tage, da er sich frei und allseits bedroht fühlte wie ein Tier des Waldes oder ein Vogel der Luft.

Er trug dürres Holz den Berg hinauf. Nichts liebte er so wie das Feuer. Er kannte es zu allen Zeiten und in allen seinen unvergeßlichen Formen: das helle, lustig prasselnde des Morgens, das die Nacht rücksichtslos verscheucht und geschäftig um den Frühstückstopf leckt; das qualmende, schutzbedürftige im Regen, das einzige rote Leben im niederrieselnden Grau; das traulich warme am Abend, das einen heimlockt und in Schlaf singt; aber am seltsamsten, ja, unheimlich, das Feuer in der Sonnenglut des Bergmittags, das irre, glanzlose Geflacker, dieses trockene, geisternde, fast unsichtbare Geloder unter der Lichtfülle des tiefblauen Himmels.

Er schichtete das Holz zwischen verrußte Steine, dünnes Reisig zu unterst, darüber trockenes Astwerk, an dem die braunen Nadeln aussahen, als lechzten sie nach der Flamme; größere Stücke legte er neben sich hin, um mit ihnen das Feuer zu unterhalten. Dann schlug er den Funken auf den Zunder, freute sich, wie mit jedem Luftstoß, den er daraufblies, das Glimmen rauchlos um sich fraß, schob den Schwamm ins Reisig, kniete sich davor hin und entfachte mit regelmäßigen Atemzügen die Glut zur Flamme. Sie sprang, eben erst geboren, schon hurtig von Reis zu Reis, schwebte manchmal einen Augenblick lang frei in der Luft, stürzte sich dann auf das Holz, als spielte sie mit ihm; ihr leises Knistern schien alle Flämmchen zu wecken, die im dürren Holze schliefen, sie brachen überall hervor, immer mehr, schon prasselte es im Holzstoß, sie vereinigten sich zu langen, schmalen Zungen, die schnalzend in den Reisighaufen fuhren. Rauch schlug sie zurück, sie schossen von einer andern Seite durch die Lücken, bis sie plötzlich den Qualm durchstießen und in ein einziges Feuer zusammenlohten, unter dem das Holz weißglühend niederbrach. Es leuchtete nicht in dem ungeheuren Hell des Mittags, es hitzte dem Knaben ins Gesicht, gleich der Sonne, die auf seinen Nacken brannte; er legte langsam Stück um Stück nach, berauscht von der heiß wehenden Flagge, über der die Luft flockig verzitterte, behext von den tanzenden Bewegungen der Flammen und so gebannt von ihnen, daß sein Leib leise und rhythmisch mitzuschwanken begann. Er atmete den Geruch des Feuers; auf den blauen Spiegeln seiner Augen loderte das dämonische Element.

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Auf einmal schießt der Teufel aus der Flamme. Ein kleiner, winziger Teufel mit kohlschwarzem Gesicht und einer Zunge, die blutrot über den Hals hinabhängt. Er hopst mit den Flammen auf und ab, eine ferne Musik hebt und senkt ihn. Dann tauchen aus dem Geloder spannenlange Holzknechte in grasgrünen Röcken auf, buntgeschürzte Gesellinnen mischen sich unter sie; sie stürzen sich in die Arme, immer zwei und zwei, und tanzen so schön, leicht und schnell, als trüge jede Flammenspitze federnd ein Paar. Sie schweben, ohne die Füße zu rühren, sie springen zusammen durch die Luft, ohne zu stampfen, sie neigen sich und wiegen sich und wirbeln immer wieder durcheinander, bis sie sich stoßen; sie kommen zu raufen, die Ärmchen fliegen, und die Köpfe knallen zusammen, sie schreien und kreischen, bis der Schwarze mit herrischem Hin und Her seiner Schultern dazwischenfährt. Höher springt das Geflacker und alle verschwinden, als hätten die Flammen sie verschluckt.

Dann bringen zwei Kerle einen langen, blassen Mann, und eine freche, schnablige Dirn verlangt, sie sollen ihn köpfen. Sie legen ihn quer durch die Glut, heben ein furchtbares Messer – aber da ist es gar nicht mehr der heilige Johannes, der geköpft werden soll, und die Tochter des Herodes ist plötzlich ganz alt und hat das Gesicht der Mena; und sie will, Lienhard zulieb will sie es, daß der Raz hingerichtet werde. Aus den Flammen starrt sein umbartetes Gesicht, und der Henker fährt mit dem Messer hoch – Lienhard fängt an zu zittern und sich zu fürchten, der schwarze Mann schaut ihn durch und durch, und man sieht, er weiß, wie der Bub es nicht erwarten kann, bis das Messer herabsaust.

Da wachte Lienhard auf, noch immer bebend vor dem schrecklichen Blick des fremden Mannes. Er erinnerte sich, die Holzknechte und den Teufel und alles schon einmal gesehen zu haben.

Als er damals mit dem Salzsäumer in die abendliche Stadt einkehrte, nahm ihn dieser in das Wirtshaus mit, wo er Pferde und Wagen zu versorgen pflegte. Auf den Bänken drängten sich die Leute und lärmten. Sie sprachen und lachten laut, ihre Gesichter waren erhitzt; sie begrüßten den Fuhrmann mit Weingläsern, er nahm aus jedem einen kleinen Schluck und sagte dazu: »Gesundheit!« Lienhard, der sich anfangs scheu hinter ihm gehalten hatte, saß bald am Tisch und wußte nicht, wie er dahin geraten war. Er verstand nur Brocken aus dem Gespräch der Leute, und das laute, unverständliche Geräusch, zusammen mit dem Weindunst und dem scharfen Geruch der Schüsseln, betäubte ihn. Sein Kopf begann immer heißer zu werden, seine Augen glänzten starr; immer wieder blitzte aus roten Gesichtern das feuchte Weiß der Zähne auf oder das rollende der Augäpfel.

Die Kellnerin brachte ihm zu essen und auch ein Glas Wein.

Da wurde es auf einmal stiller, alles rückte nach einer Seite und schaute in eine Stubenecke, die bisher im Dunkel gelegen hatte. Zwei Buben machten sich dort mit Lichtern zu schaffen. Aus dem Geflacker trat immer deutlicher ein hohes, viereckiges Gestell, dem bis zur Mitte ein Vorhang herunterhing. Dahinter rumorte es, bis plötzlich ein Geigenstrich durch die Luft fuhr und eine schnelle Musik begann, die Lienhard fast von der Bank hob.

Dort spielte man mit Marionetten ein derbes Bauernspiel, das den Tod Johannes des Täufers, die Rettung Kaiser Maxens aus Bergnot und die Abmachungen Doktor Fausts mit dem Mephistopheles enthielt; zwischendurch trieb Peter, der Hanswurst, seine Späße, und bäurische Figuren tanzten zu Harfe, Geige und Klarinette.

Der Abend, von dem Lienhard am Feuer im hellen Mittag geträumt hatte, stand unverwischt vor seinem erinnernden Blick; es war ihm nicht erklärlich, wie der Raz in jenes Spiel kam, und er ging, benommen von seiner schreckhaften Erscheinung, dem weidenden Vieh nach, dessen Schellengetön ihn traut empfing.

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