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Firnos hatte etwas so Sanftes in seinem Charakter und Angenehmes in seinem Blick, etwas so Einnehmendes in seinem Betragen, daß er bald der Liebling des ganzen Schiffes wurde. De Grey liebte ihn wie seinen Bruder. Oft machten sie stundenlang Pläne zur Entdeckung der unglücklichen Prinzessin; die Gefühle, die Firnos über die Größe seines Verlustes äußerte, knüpften ihn immer mehr und mehr an seinen Reisegefährten. De Grey erzählte von Europas Sitten und Gebräuchen, beschrieb die Pflichten der Eheleute, der Eltern und Kinder – oder zergliederte die in Europa herrschenden Begriffe von Liebe, von Keuschheit und Treue; der Prinz hatte gewöhnlich etwas einzuwenden; oft unterbrach er schnell das Gespräch, indem er mit Ungeduld fragte: »Ist sie denn nicht so frei als er? wie kann er wissen, daß er die männliche Mutter ist? (der Name Vater ist in der Sprache der Naïren unbekannt) wie kann Keuschheit eine Tugend sein? Gesetzt, alle Menschen wären keusch, würde diese Tugend nicht schädlicher sein als Hunger, Feuer und Schwert? würde sie nicht bald das Menschengeschlecht von der Erde vertilgen?«
De Grey war weit entfernt, den Prinzen zu den europäischen Meinungen und Grundsätzen bekehren zu wollen; er fühlte selbst zu wohl, wie abgeschmackt und albern sie meistenteils waren; er wollte ihm nur die Notwendigkeit begreiflich machen, daß ein Ausländer sich überall in die Gewohnheiten und angenommenen Vorurteile fügen und den Sitten und Gebräuchen in einem fremden Lande nicht zuwiderhandeln müsse, aber der Prinz meinte immer: Gesetzt, eine Frau liebe ihn und er liebe sie, so dürfe sich kein Dritter dareinmischen.
Als sich das Schiff schon den englischen Küsten näherte, kehrte sich Firnos plötzlich zu De Grey: »Ihr seid weniger lächerlich als Eure Landsleute und habt eine schöne Schwester – werdet Ihr mich ihr wohl empfehlen?«
»Ich hatte eine Schwester,« antwortete De Grey mit einem Seufzer, »eine Schwester, deren liebenswürdiger Charakter, deren Schönheit und andere gute Eigenschaften in jeder Rücksicht Eure Liebe verdient hätten, aber – sie ist nicht mehr – Ihr werdet ihrem traurigen Schicksale eine mitleidige Träne weihen. – O daß ich Euch mit einem ruhigen Gewissen erzählen könnte – doch, mein lieber Firnos, da ich Euch bald meiner Familie vorzustellen gedenke, so ist es notwendig, Euch mit den Hauptbegebenheiten meines Lebens bekannt zu machen.« Nach einer Pause fing er an:
»Ich will des Adels meiner Familie nicht erwähnen – ich sehe schon das Lächeln auf Euren Lippen. – Die Behauptung, die wieder auf Eurer Zunge sitzt: daß niemand seinen Vater kennen könne, würde den ersten Heraldiker in Verlegenheit setzen; sonst könnte ich Euch versichern, daß die De Greys schon seit siebenhundert Jahren adelige Ritter sind – ich könnte Euch Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle, Minister, Helden, Tempelherren und Kreuzfahrer aus unserer Familie nennen; da Ihr aber die Verwandtschaft zwischen Mutter und Sohn nicht bezweifeln könnt, so hoffe ich, daß es Eure Achtung für unseren Namen nicht vermindern wird, wenn ich Euch sage: die Mutter Wilhelms des Eroberers hieß Charlotte De Grey.
»Meine Mutter wurde in ihren besten Jahren Witwe, mit einer Tochter und zwei Söhnen, von denen ich der ältere bin. Ihr werdet sie wahrscheinlich tadeln, daß sie in der Folge alle Anträge von Liebe und Heirat ausschlug. Ihr werdet behaupten, sie hätte die Pflichten der Mutter und die der guten Bürgerin zugleich erfüllen können und als eine junge Dame zur Bevölkerung ihres Landes das Ihrige beitragen sollen. – Wenn sie hierin fehlte, so war ihr Fehler nicht ohne Verdienst: sie handelte nach Grundsätzen. Der Sorgfalt dieser tugendhaften Mutter habe ich eine glänzende Erziehung und manche gute Eigenschaften, die nur zu oft vernachlässigt werden, zu verdanken. Sie flößte mir edle und erhabene Grundsätze ein, die mir Ehre und meinem Vaterlande Nutzen gebracht hätten; aber ach! ein einziger Unfall zerknickte die schönen Knospen meiner Hoffnungen und verbannte mich aus meinem Vaterlande.
»Ich wurde auf einer öffentlichen Schule erzogen und widmete mich nachher der Rechtsgelehrsamkeit – kein Stand ist in unserem Lande so ehrenvoll, keiner gewährt so glänzende Aussichten, so entscheidende Belohnungen.
»Einer meiner Oheime war damals Großkanzler von England. Welche Aufmunterung, welcher Sporn für meinen keimenden Ehrgeiz, welche ausgezeichnete Bahn öffnete mir sein Einfluß! Oft dachte ich mich schon als künftigen Nachfolger in der Kanzlerwürde – meine Mutter schmeichelte meinen Hoffnungen – so gewann der trockene seelenlose Schlendrian der Jurisprudenz neuen Reiz für mich, mein Fleiß und meine Beharrlichkeit nahmen mit jedem Tage zu.
»Ich war der Liebling meines Oheims und mußte oft mehrere Wochen bei ihm auf dem Lande zubringen.
»Meine Tante, eine empfindsame Dame, die Anspruch auf Geschmack und Kunst machte, hatte mitten in einem prächtigen Park eine Einsiedelei angelegt, die sie mit den schönsten Stelen unserer Dichter ausgeschmückt hatte.
»Eines Abends, als ich vorbeiging, hörte ich in der Eremitage flüstern – ich wurde aufmerksam, näherte mich und erblickte durch eine kleine Öffnung in der Tür die Frau Großkanzlerin in den Armen – eines Gärtnerburschen. Ein Naïr kann meine Empfindung bei diesem Anblick nicht fühlen. Euch würde es sehr gleichgültig sein, ob Eure Tante einem Bauernjungen oder einem Fürstensohne ihre Gunst bezeigte; ich schauderte bei dem Gedanken, daß ein gemeiner Mensch eine der ersten Familien in England so schändlich entehren sollte. Mein würdiger Oheim hatte mit Aufopferung seiner Gesundheit Tag und Nacht gearbeitet, sich beinahe jede Freude, jeden Lebensgenuß versagt, um sich Ehre und Rang zu erwerben – die Pairswürde wurde ihm als Belohnung seines Fleißes, seines patriotischen Eifers zuteil, und jetzt sollte eine untergeschobene Brut diese wohlverdienten Vorzüge genießen. Der Gedanke raubte mir beinahe meine Vernunft – ich verfiel in eine Art Schwermut – ich vernachlässigte meine Studien – ich konnte kein Familiengemälde mehr mit Vergnügen ansehen, in jedem Ehemanne sah ich einen Betrogenen, in jedem Sohne einen in die Familie seines vermeinten Vaters eingedrungenen Unhold. Sonst betrachtete ich oft mit Entzücken meinen Stammbaum – ich brannte oft vor Begierde, einst auch in der Geschichte zu glänzen, ein Fräulein zu heiraten, dessen Name und Rang dem meinigen gleichkäme, und Vater eines Sohnes zu werden, der der rechtmäßige Erbe meiner Würden und Titel werden sollte. Ach, mit einemmal verschwand die Täuschung – ich faßte den Entschluß, nie zu heiraten, und sollte ich Ehre und Ruhm erringen, sie mit mir im Grabe verscharren zu lassen. Der Anblick meiner Tante war mir unerträglich, ich nahm Abschied von meinem Oheim und kehrte traurig und niedergeschlagen auf unsere Güter zurück.
»Bald darauf wünschte meine Mutter, daß ich ein reiches Fräulein aus unserer Gegend heiraten möchte – sie erschrak, als ich ihr meinen Entschluß, unverheiratet zu sterben, bekannt machte. Sie drang so lange in mich, bis ich ihr endlich die Schande meines Oheims entdeckte. ›Mein lieber Walther,‹ sagte sie, ›laß doch die üble Aufführung einer Pflichtvergessenen nicht deinen Glauben an weibliche Tugend vernichten – sieh, zum Beispiel, dein anderer Oheim hat eine Gattin, deren Tugend allgemein anerkannt ist; sie wird von jedermann für eine der ersten Schönheiten gehalten, sie ist so jung, daß sie seine Enkelin sein könnte, seine Gesundheit hat durch das westindische Klima viel gelitten, er hat in seiner Jugend ziemlich frei gelebt, und doch wagte die Verleumdung nie, ihre Tugend nur mit dem leisesten Laut anzugreifen. – Geh, mein Sohn, der Gouverneur hat dich oft eingeladen, besuche ihn auf seinem Gute, sieh, wie glücklich er mit seiner Gattin lebt. Wenn er mit allen seinen Gebrechen doch eine tugendhafte treue Gattin gefunden hat, sollte es dir – begabt mit so vielen guten Eigenschaften – in der Blüte deiner Jugend fehlen können?‹
»Ihr anhaltendes Zureden bewog mich endlich, einige Wochen bei dem glücklichen Oheim zuzubringen.
»Bei meiner Ankunft fand ich den alten Invaliden in einem Armstuhl; das Podagra spielte ihm fürchterlich mit. Meine Tante war eine Rose, die aber schon in der ersten Blüte zu verwelken schien; ihr Wuchs war zart und schön, und das Schmachtende in ihrem blauen Auge, die weiche Blässe auf ihren Wangen, gab ihrer regelmäßigen Gesichtsbildung mehr Reiz als die blühendste Gesundheit. Er war eifersüchtig und hatte selten Gesellschaft in seinem Hause – die Nachbarn, die diese Ungeselligkeit verdroß, nannten sie Jänner und Mai! – doch schien meine Tante munter und zufrieden in ihrer Einsamkeit – ich muß gestehen, die Sorgfalt, womit sie den leisesten Wünschen ihres kranken Gatten zuvorkam, erbaute mich; sie führte ihn am Arm herum, wenn er ja vermochte in der Stube auf und ab zu gehen, oder rollte ihn in seinem Räderstuhl von einem Zimmer in das andere, wenn er unvermögend war, seine Beine zu bewegen; des Abends las sie ihm vor, da er bei Licht nicht selbst lesen konnte, oder hörte mit Geduld die langweiligen, oft wiederholten Geschichten seiner Jugendstreiche – die Gutmütige schien nicht zu bemerken, daß er nicht mehr der liebenswürdige Eroberer war, der einst der Keuschheit der Mulattendirnen so gefährlich war. Wenn sie zuzeiten von ihren Nachbarn Besuch bekamen, so schien sie sich mehr über ihren Abschied als über ihre Ankunft zu freuen; kurz, ich fand, daß mein Oheim glücklicher war, als er verdiente; ich hätte meinen Kopf auf die Tugend meiner Tante gesetzt, und ihre Glückseligkeit hätte mich beinahe wieder mit dem Ehestand ausgesöhnt.
»Ein Mädchen von dreiundzwanzig Jahren war das einzige Geschöpf, das unsere Gesellschaft vermehrte; sie wurde als Kind mit meiner Tante in einer Kostschule erzogen, die Armut ihres Vaters, eines benachbarten Pächters, nötigte sie, bei ihrer Jugendfreundin als Kammermädchen in Dienst zu gehen, bis diese sie liebgewann und in den Rang einer Gesellschafterin erhob.
»Da ich keine Geschäfte hatte, so war ich mehr als gewöhnlich zur Liebe geneigt – kein würdiger Gegenstand war im Hause – meine Gedanken fielen also auf Marien – sie war, was man in Europa ein Mädchen von gutem Rufe nennt, das ist: eine, die so glücklich gewesen ist, ihre Liebschaften den Argusaugen ihrer Nachbarinnen entziehen zu können. Bei der ersten Gelegenheit drückte ich ihr die Hand – sie erwiderte den Druck – ich sah ihr, so oft als möglich, starr ins Gesicht, zuweilen mit aller Unverschämtheit, deren ich fähig war; sie errötete nie, war nie verlegen. Ich hielt das alles für Zeichen, die meiner Liebe günstig wären, und – aber, was soll ich Euch lange mit dem Anfang und dem Fortschritt meiner Liebe aufhalten, genug! ich war bald so glücklich als ich wünschte; sobald ich sah, daß der alte Gouverneur seinem jungen Weibchen zärtlich die Hand drückte, so verließ ich das Zimmer und Marie folgte mir.
»Das geschah gewöhnlich nach Tische; eines Tages war große Gesellschaft da – ich wurde länger aufgehalten. Sobald die Fremden Abschied genommen hatten, flog ich auf ihr Zimmer – sie war nicht da; ich versteckte mich in ihr Kabinett und wollte sie da erwarten; da ich aber mehr als gewöhnlich getrunken hatte, schlief ich ein und erwachte erst, als es schon dunkel war. Ich hörte zwei Stimmen im Nebenzimmer – Könnte Marie mich hintergehen? dachte ich, hat Marie wirklich einen anderen Liebhaber? Ich horchte, ich hätte geschworen, daß ich die Stimme kennen müßte; ›ach! warum‹ hieß es, ›ist mein Gemahl nicht so liebenswürdig als meine Marie!‹ Ich sah durch das Schlüsselloch, die Vorhänge hinderten mich, meinen Rival zu sehen; ich wollte ihn kennen lernen, stürzte in das Zimmer, und – ich blieb stumm und ohne Bewegung – die Haare standen mir zu Berge, mein Blut stockte. Meine Tante war mein Rival – meine tugendhafte Tante war eine Sappho.«
De Grey wollte weiter erzählen, welchen Verdacht ihm dieser Anfall gegen die sogenannten tugendhaften Weiber einflößte; aber das Erstaunen, die Art der Verwunderung, die der Prinz äußerte, überzeugte ihn zu sehr, daß dieser sich keinen Begriff von einem Vergehen machte, das zwar ein Nonnenkloster, einen Harem oder eine Kostschule entehren kann, aber in einem Lande unbekannt sein muß, wo die Weiber vollkommene Freiheit genießen. Wo Unwissenheit Segen ist, dachte er, ist es Torheit, weise zu sein; er gönnte also dem Prinzen seine Unwissenheit und fuhr in seiner Geschichte fort: »Mein lieber Prinz, wie vermessen sind alle Gelübde und Schwüre bei so veränderlichen Geschöpfen, als die Menschen sind. Ein Gelübde, nie heiraten zu wollen, und der Schwur zur ewigen Liebe und Treue bei der Trauung sind gleich abgeschmackt.
»Die Schönheit eines siebzehnjährigen Mädchens triumphierte bald über mein Gelübde, und schon war ich im Begriffe, meinen Vorsatz, nie zu heiraten, mit dem Schwur der ewigen Treue zu vertauschen, als mir am Tage des Verlöbnisses der Vater meiner Geliebten ein Gemälde zeigte. ›Kennt Ihr dieses weibliche Porträt?‹ sagte er zu mir. – ›Nein, die Dame gehört wohl auch nicht zu Eurer Familie?‹ ›Ihr irrt Euch,‹ war seine Antwort, ›sie ist mir nur zu nahe verwandt, obgleich ihr Bild jahrelang auf dem Boden unter Staub und Spinngewebe herumgeworfen wurde; ach! sie ist meine Mutter,‹ fuhr er nach einer Pause fort und wischte sich eine Träne aus dem Auge; ›mein Vater war kaum mündig, als er sie in ihrem sechzehnten Jahre heiratete, kein Ehepaar liebte sich so in der ganzen Provinz. Meine alte Amme erzählte mir oft mit Tränen in den Augen, wie untröstlich meine Mutter war, wenn mein Vater sie wegen einer Jagd oder Parlamentsgeschäften auf einige Tage verließ. Nach einigen Jahren trat er, er wußte selbst nicht, aus welcher Grille, in Militärdienste. Vergebens bestrebte sich meine Mutter, ihn davon abzuhalten. Sein Regiment wurde wider alle Erwartung nach Westindien kommandiert; ihre Schwangerschaft hinderte sie, ihn zu begleiten – ihr Herz schien ihr bei der Trennung zu brechen. – Aber die Zeit, dieses Universalmittel wider alle Seelenleiden, heilte auch endlich die Schmerzen meiner Mutter. Es fand sich ein Liebhaber – Ihr versteht mich – sie war keine Penelope – sie wurde des Ehebruchs wegen angeklagt und ihre Ehre gebrandmarkt. Sie starb im Gefängnis als eine Verworfene, in Elend und Not, ohne Trost in dieser Welt, ohne Hoffnung jenseits des Grabes. Das war das Ende meiner Mutter – ich habe ihrem Porträt erst wieder seinen vorigen Platz eingeräumt. Ihr werdet Euch also nicht wundern,‹ fuhr er fort, indem er ein Papier hervorzog, ›wenn ich meine Tochter vor einem ähnlichen Schicksal zu sichern suche. Ihr künftiger Gemahl muß das Versprechen unterschreiben, daß er nie ohne ihre freiwillige Einwilligung Militär- oder Seedienst nehmen wolle, oder, wenn er sie je wider ihren Willen verlassen sollte, daß ihm jedes Recht genommen sei, irgendeine Rechenschaft von ihrer Aufführung während seiner Abwesenheit fordern zu können.‹
»Jetzt gestehe ich gerne, daß dieses Verlangen dem alten Manne leicht zu verzeihen und selbst im Grunde billig war, aber zu jener Zeit hielt ich es für einen unnatürlichen Eingriff in die Freiheit und Rechte des Mannes; ich verweigerte mit Stolz und Verachtung die verlangte Unterschrift und schlug auf der Stelle, ohne mir einen Seufzer zu erlauben, die Heirat aus.
»Dieses war das einzige Mal, daß ich mich am Rande des Ehestandes befand. Bei der Bemerkung eines berühmten Philosophen, daß die größten Männer fast immer unverheiratet gewesen, lebte mein Entschluß, nie zu heiraten, wieder von neuem auf. –
»Ungefähr ein Jahr darauf hatte meine Mutter die Freude, daß mein jüngerer Bruder die reiche Erbin heiratete, die sie mir bestimmt hatte. Ich widmete mich mit neuem Eifer den Rechten, erhielt bald eine Stelle im Obergerichte, wurde zum Deputierten unserer Grafschaft im Parlament erwählt – mit einem Worte: ich besaß alles, was mir eine glänzende Karriere versprechen konnte: Geburt – Konnexionen – Fleiß, wohl auch Talente; als ein unglücklicher Zufall alle meine Hoffnungen auf ewig vernichtete.
»Meine arme Schwester! Von ihrer Schönheit wurde in der ganzen Gegend gesprochen – sie war das beste Geschöpf von der Welt, ihr Herz und ihre übrigen guten Eigenschaften erhöhten noch ihre Schönheit. Oh, mein Freund! könnte ich Euch noch ein Glück wünschen – es wäre eine solche Schwester – Ach! dieses vortreffliche Mädchen ist nicht mehr.
»Es war natürlich, daß so viele Vorzüge mehrere Bewunderer fanden. Unter anderen besuchte uns ein Major, der in einem benachbarten Städtchen im Quartier lag, sehr oft auf unserem Landgut; ich sah mit Vergnügen, daß es um meiner Schwester willen geschah. Er besaß alle Eigenschaften, die einen Mann schätzbar machen. Seine Gestalt nahm beim ersten Anblick für ihn ein; ein eitleres Mädchen als die gute Emma würde ihn gewählt haben, wäre es auch nur gewesen, um sich an dem Neide ihrer Freundinnen zu ergötzen. Ich betrachtete sie schon als Mann und Frau, ob mir gleich meine Schwester versicherte, daß er ihr noch keine Erklärung gemacht hätte – ich glaubte diese Versicherung nicht, ich hielt sie bloß für eine falsche Delikatesse, die unseren Weibern oft so eigen ist, und verschaffte ihnen Gelegenheit, allein zu sein. Ich war glücklich in der Freundschaft eines Mannes, dessen liebenswürdiger Charakter von jedermann hochgeschätzt wurde. Meine Schwester konnte selbst die Heirat nicht sehnlicher wünschen als ich.
»Plötzlich schien sein ganzer Charakter verändert, seine vorige Lebhaftigkeit war dahin, er saß bei Tisch, ohne zu reden – wenn wir über sein Stillschweigen scherzten, so zwang er seine Lippen zu einem Lächeln, während seine Stirn umwölkt blieb. Er kam seltener; wenn er kam, so sah er meine Schwester oft an und seufzte, sprach gar nicht mit ihr oder nur wenige abgebrochene Worte, und floh in den Garten, um seine Unruhe vor unseren Augen zu verbergen; kurz: es war nur zu sichtbar, daß etwas schwer auf seinem Herzen lag – daß er vor seinen eigenen Gedanken zu fliehen schien. Ach! ich war damals selbst noch unschuldig und kannte nicht die Zeichen eines nagenden Gewissens. Meine Schwester wurde auch mit jedem Tage ernster und tiefsinniger. Vergebens bat ich sie, umsonst drang ich in sie, mir die Ursache ihres Kummers zu entdecken, sie seufzte und schwieg. Meine Mutter fürchtete, daß sie schwanger wäre. Den Tag darauf sah ich den Major in den Garten gehen – ich folgte und fand ihn bald in tiefem Nachdenken an einem Bache sitzen – ich eile auf ihn zu, er sieht sich um – in seinem Auge war eine Träne, der Anblick brachte mich wieder zu mir selbst – er gestand sein Vergehen. – Ich reichte ihm meine Hand und bat ihn, seinen Fehler durch eine schnelle Heirat gutzumachen. ›Ich bin verheiratet,‹ sagte er, indem er sich vor die Stirn schlug; ›Unmensch,‹ rief ich, ›so konntest du Gastfreiheit mißbrauchen – die Bande der Freundschaft, die Pflichten der Ehre mit Füßen treten. Oh, daß ich ohne Waffen bin!‹ – ›Hier sind Waffen,‹ sagte er mit einer Stimme, die mir Mitleid hätte einflößen sollen. Er zog ein Paar Pistolen aus seiner Tasche, wir waren ohne Sekundanten – wir nahmen jeder das Ende eines Schnupftuchs, drückten zugleich ab, und – er stürzte zu meinen Füßen.
»Ich stand ohne Bewegung, ohne Gedanken an Hilfe. Er öffnete noch einmal die Augen. – ›Ihr braucht nicht zu fliehen,‹ sagte er, ›Ihr seid sicher – sagt – Ihr habt mich so gefunden – ich sei Selbstmörder; verzeih, Emma – verzeiht, De Grey!‹ – Die Worte starben auf seinen Lippen. Noch einmal wollte er mir die Hand zur Versöhnung reichen, es fehlte ihm die Kraft dazu. – Er war tot und meine Ruhe auf ewig dahin.
»O Firnos! was müßt Ihr denken von einem Manne, der imstande war, seinen Nebenmenschen zu ermorden, weil er seine Schwester liebte! – Ach! ich habe genug für ein Verbrechen gelitten, an dem mehr die Sitte meines Vaterlandes, als mein Herz schuld war. Jeder Europäer von Ehre würde an meiner Stelle ebenso gehandelt haben. Oft rief ich diesen Gedanken in meine Seele zurück, und doch kann er mich nicht von meiner Schwermut heilen. Umsonst floh ich die Einsamkeit – in den fröhlichsten Zirkeln tönten die letzten Worte meines gemordeten Freundes fürchterlich in meinen Ohren. In meinen Träumen sah ich ihn in seinem Blute sich wälzen; das waren meine Qualen, da mir das Glück lächelte; urteilet nun von meiner Lage, als mir dieses den Rücken kehrte, als ich in einer langen Sklaverei schmachtete – und doch ist dies noch nicht alles. – O meine unglückliche Emma, ich bin die einzige Ursache aller deiner namenlosen Leiden!
»Noch stand ich sinnenlos neben dem verblichenen Freunde, als ein fürchterlicher Schrei mich aufschreckte; Emma stürzte bleich und zitternd mit wildem Blicke durch das Gesträuch – sie warf sich über den Leichnam, überhäufte ihn mit Küssen, suchte das Blut zu stillen. ›Kamst du zu spät,‹ rief sie, ›um ihn zu retten?‹ ›Zu retten?‹ sagte ich – ›ich bin der Mörder!‹ Ihre Sinne schwanden; ohnmächtig lag sie über dem Toten, an den sie sich so fest anklammerte, daß die Bedienten sie mit Mühe von ihm trennten.
»Ja, Prinz, es ist nur zu wahr, was Ihr so oft sagtet: Unsere größten Unfälle kommen von den falschen Begriffen, die wir von der Ehe und der Liebe haben; ohne diese wären meine Schwester und mein Freund glücklich gewesen, ohne diese wäre ich nie zum Mörder, nie zum Verbannten geworden.
»Aber hört jetzt die Geschichte meines unglücklichen Freundes.
»Ehe noch sein Verstand gebildet war, ohne Welt- und Menschenkenntnis, verliebte er sich in ein leichtsinniges Mädchen, die in mehr als einer Rücksicht seiner unwürdig war; ich habe sie gesehen – ich kann nicht begreifen, wie es ihm möglich war, ein so unbedeutendes Geschöpf liebenswürdig zu finden. Aber die Liebe ist blind – er heiratete sie. Da er voraussah, daß weder seine Familie, noch weniger sein Oheim, von dem er ganz abhing, in diese Heirat willigen würde, so mußte er sie geheim halten; aber seine Gemahlin hatte ihn nicht aus Liebe, sondern aus Eitelkeit gewählt. Er war der einzige Erbe seines Oheims, der im Oberhause Sitz und Stimme hatte; sie hoffte bei der nächsten Krönung als die Gemahlin eines Pairs in dem feierlichen Einzug zu glänzen; ihr Hochmut ging so weit, daß sie einem Fräulein bei Gelegenheit eines Rangstreites auf einem Balle öffentlich sagte: daß sie sich einst sehr glücklich schätzen würde, mit ihr in einer Reihe stehen zu dürfen. Das Fräulein, das ihre Feindin und Nebenbuhlerin war und von der Kostschule her noch einen Groll auf sie hatte, schöpfte Verdacht und erfuhr durch Bestechung des Kammermädchens das Geheimnis. Erwünscht kam ihr diese Gelegenheit der Rache, sie fand Mittel, die Aufmerksamkeit des alten Pairs auf sich zu ziehen, entdeckte bald seine schwache Seite, lobte seine guten Eigenschaften, frönte seinen Wünschen und – wurde des alten Mannes, dessen Enkelin sie sein konnte, Gemahlin; ihre Kinder sollten seine Erben und Nachfolger in der Pairswürde werden. Die fehlgeschlagene Hoffnung verrückte der Gattin meines Freundes das Gehirn. Sie mußte in ein Narrenhaus gebracht werden. Der alte Oheim verbot ihm bei seiner Ungnade, seine Heirat bekannt zu machen. Was konnte er tun? er hing zu sehr von seinem Oheim ab. So kam er in unsere Nachbarschaft – und wurde allgemein für einen unverheirateten Mann gehalten.
»Er lernte meine Schwester kennen. Die Liebe stahl sich unter der Maske der Freundschaft in beider Herzen – ich war das unglückliche Werkzeug ihres Verderbens, ich war es, der meine Schwester auf seine Neigung aufmerksam machte, ich wünschte ihr Glück zu ihrer Eroberung, ich nährte in ihr die Hoffnung, einen so liebenswürdigen Mann zu besitzen. Armer Mann! wie verschieden wirkte in ihm die nämliche Entdeckung. Er blickte in sein Herz; ach! er zitterte, als er nur zu spät an die Unmöglichkeit dachte, meine Schwester heiraten zu können.«
»Die Unmöglichkeit? wieso?« fragte Firnos.
»Hab' ich Euch nicht gesagt, mein Prinz,« versetzte De Grey, »daß er schon verheiratet war; es ist wahr, in einem anderen Lande würden ihn die Gesetze aus seinem Unglück befreit und die Verbindung mit einer Verrückten für null und nichtig erklärt haben, um so mehr, als sie selbst vor ihrer Tollheit keine der Eigenschaften besaß, die einen Mann über die Flitterwochen hinaus glücklich machen können. Ach! er war nicht in Berlin, er war in England, dem Lande der Freiheit, wo sich zwei Menschen gesetzlich unglücklich machen können, wo zur Ehre Gottes die Ehescheidung verboten ist, und wo die Geistlichkeit, diese Diener des Fürsten des Friedens, einem schwindelnden Jüngling, der nach einem unüberlegten Schritte wieder zu Sinnen kommt, die Mittel versagt, von seiner gänzlichen Genesung Nutzen zu ziehen.«
De Grey fuhr in seiner Erzählung fort: »Der Major war entschlossen, meine Schwester zu vermeiden – uns weniger oft zu besuchen. Es gelang ihm anfangs, seine Geliebte einige Tage nicht zu sprechen – allein er war ein ehrlicher, aber schwacher Mann. Er kehrte immer wieder zurück, so sehr ihm auch sein Gewissen ahnungsvoll seine wenige Standhaftigkeit vorwarf und die Schwermut über seine Seele verbreitete, die uns so sehr beunruhigte. Vielleicht wäre er doch noch Herr über seine Leidenschaft geworden, aber ich führte ihn leider selbst in eine Gefahr, der er nicht widerstehen konnte.
»Einige Tage nach meiner Wahl zum Deputierten gab ich in einem nahe gelegenen Städtchen einen Ball. Meine Schwester, die bei diesem Feste die Honneurs machte, wünschte früher nach Hause zu fahren; da meine Gegenwart noch notwendig war, um nach dem althergebrachten Brauch mit den Landedelleuten und Junkern, die mich gewählt hatten, einige Flaschen zu leeren, so ersuchte ich den Major, meine Schwester zu begleiten. Er machte mehr Entschuldigungen, als man sonst von einem Liebhaber von gutem Tone erwarten konnte; indes fiel mir die Weigerung damals nicht auf. –
»Die Enthaltsamkeit eines Derwisches hätte vielleicht bei dieser Gelegenheit die Probe nicht ausgehalten. Alles verschwor sich gegen des guten Majors Tugend; sonst liebte er den Wein nicht – doch hatte er seit einiger Zeit, wahrscheinlich um seine unglückliche Leidenschaft zu ersticken, öfter mehr als er sollte getrunken, und mochte wohl auch diese Nacht ein Glas zu viel zu sich genommen haben. Mit einem Worte, er vergaß seinen Entschluß, und meine Schwester ihre Ehre.
»Den Tag vor unserem unglücklichen Zusammentreffen schrieb ihm meine Schwester ihre traurige Lage und beschwor ihn, das Pfand ihrer Liebe und sie durch eine schnelle Heirat von ewiger Schande zu retten. Seine Antwort war zärtlich, aber dunkel und geheimnisvoll. Er flehte um ihre Vergebung, klagte sich als einen Elenden an, der ihrer Gegenwart unwürdig wäre, und schloß mit den Worten: daß er eine weite Reise in ein sehr entferntes Land nicht vermeiden könne. Sie sah durch den Schleier des Geheimnisses, sie ahnte, daß er unter dem entfernten Lande die Ewigkeit verstand. Sie fiel in Ohnmacht! Als sie sich wieder erholt hatte, war ihr eigenes Unglück vergessen – ihre Zärtlichkeit wurde durch seine Gefahr neu belebt, sie suchte ihn im ganzen Hause und kam endlich auch in den Garten. Ach! es war zu spät; die Vorsehung hatte mich zum Werkzeug gewählt, ihn von einem zweiten Verbrechen zu retten. Sein Gewissen wurde von einer neuen Bürde befreit, die mir aufgelastet wurde.
»Indessen sein Vorhaben zum Selbstmord ist nicht zu bezweifeln. Die Pistolen, die er sonst nie bei sich trug – sein letzter Wille, den er den Abend vorher eigenhändig geschrieben hatte, sind hinlängliche Beweise.
»Das war das schreckliche Ende dieses unglücklichen Freundes; urteilet von meinen Empfindungen, als ich nachher erfuhr, daß er meine Schwester und mich von dem wenigen, worüber er disponieren durfte, zu Erben ernannt hatte.
»Ich hatte keinen Augenblick zu verlieren. Die Gesetze in England kennen keine Parteilichkeit; der Neffe des Großkanzlers hätte als Mörder dem Arm der Gerechtigkeit im Lande nicht entgehen können. Entschlossen, die Ehre unserer Familie selbst mit Gefahr ihres Lebens zu retten, brachte ich meine Schwester, mehr tot als lebendig, in eine Postkutsche – in vierundzwanzig Stunden gingen wir im Hafen von Dover unter Segel.
»Mein rauhes Betragen kostete ihr beinahe das Leben. Auf der Reise war ich zu erbittert, um ihr auf ihre Klagen zu antworten. Ach! sie bedurfte Trost, und meine Blicke waren bittere Vorwürfe. In Calais erkrankte sie. Die Frucht ihrer Liebe kam tot zur Welt. Sie selbst war dem Tode nahe.
»Sobald es ihre Kräfte erlaubten, eilte ich mit ihr nach dem mittäglichen Frankreich und übergab sie zu A… dem Schutz einer alten römisch-katholischen Tante.
»Ich durchschwärmte Europa. Zerstreuung hatte sonst nie einen großen Wert für mich. Müßiggang verabscheute ich von jeher. Ich bereute jeden Augenblick, der mich nicht dem Ziele meiner Ehrsucht näher führte. Aber jetzt, jede Hoffnung des Glücks und der Größe war mir in meinem Vaterlande auf ewig geraubt; eben da ich über alle die Schwierigkeiten meines Standes gesiegt hatte, da ich schon die Arme nach dem Lohne meines Fleißes ausstreckte, sank ich in ein fürchterliches Nichts herab. Sollte ich ohne Konnexionen in einem fremden Lande eine fremde Bahn betreten, wo die Verdienste des Ausländers mit den Kabalen des Familieneinflusses so viel zu kämpfen haben? Ich floh von einem Hofe zum anderen, von einer Hauptstadt in die andere. Zum Militärdienst war mein Charakter nicht geeignet. Der Tempel der Ehre war für mich verschlossen; die Freude winkte mich in ihre Arme, es war die einzige schwankende Zuflucht, die mir offen blieb.
»Wenn ich in einer englischen Zeitung den Namen eines Jugendfreundes las, der sich als Patriot, als Redner öffentlich ausgezeichnet, so brachte mich die Erinnerung an mein Vaterland, aus dem ich verbannt war, beinahe zur Verzweiflung. Ich suchte Trost bei der Flasche, oder eilte von Boudoir zu Boudoir, um meinem beklommenen Herzen Luft zu machen; mein gekränkter Ehrgeiz gab mir endlich Leichtsinn, ohne jedoch meine Sitten zu verderben. Ich lebte meistens an dem Hofe eines deutschen Fürsten, wo die verfeinerte Galanterie der Damen die Männer von rohen Ausschweifungen abhielt.
»Indessen starb meine Mutter; es war mir versagt, sie in ihrer letzten Stunde zu trösten – doch nicht sie – ich hatte Trost nötig. – Ihr Leben konnte anderen zum Beispiel dienen. Der letzte Wunsch der besten Mutter war, ihre Kinder glücklich zu sehen – in ihren Armen zu sterben. Oh wie fruchtlos war ihr Wunsch, wie unmöglich dessen Erfüllung! Ich ein elender Verbannter, ein mit der ganzen Welt und mit mir selbst unzufriedener Flüchtling – meine Schwester eine arm Entehrte, ausgestoßen aus der Gesellschaft. Ich floh nach Calais, jede Post brachte mir Nachricht von dem Zustand ihrer Krankheit, nur ihr ausdrückliches Verbot hielt mich ab, mein Leben um ihren letzten Segen zu wagen. Sie starb, sonst hätte der Schmerz über unsere nachherigen Unglücksfälle sie gewiß ins Grab gestürzt.
»Das Schicksal der unglücklichen Emma weckte mich aus meiner Lethargie. Meine Mutter hatte ihr verziehen, hatte sie auf dem Totenbette meiner Sorge empfohlen. – Die französische Revolution war eben ausgebrochen – ich hatte meiner Schwester verboten, an mich zu schreiben, ich war hart genug, ihre Briefe uneröffnet zurückzuschicken. Erst bei meiner Ankunft in A… erfuhr ich den Tod meiner Tante. Meiner Schwester Aufenthalt war unbekannt; nur nach einiger Zeit, und nach vielen fruchtlosen Nachforschungen, entdeckte ich den Zufluchtsort, den sie sich gewählt hatte. Unglückliches Mädchen! ihr Herz war zerrissen, ihre Ehre war verloren; und ihr, ohne Hoffnung eines Trostes in dieser Welt – schilderten die bigotten Katholiken die gräßlichen Martern, die sie jenseits des Grabes erwarteten. Der Papst allein konnte sie nach ihrer Lehre von ihren Sünden lossprechen – er war der einzige Anker, der sie noch retten konnte. Zu schwach wider die Anfälle von so vielen Seiten wurde sie eine Proselytin der katholischen Religion – die gute Tante starb und ernannte meine Schwester zur einzigen Erbin. Ihr Beichtvater, getäuscht in der Hoffnung, den Reichtum der guten Dame bei dem Tode in seinen Orden zu ziehen – faßte den Entschluß, die reiche Beute der leichtgläubigen Erbin zu entreißen. Er überredete sie, daß das Klosterleben das einzige Mittel wäre, wodurch sie ihr Gewissen vor einem Rückfall sichern, das einzige, wodurch sie die ewige Seligkeit erlangen könne.
»Nach einem Jahr nahm meine Schwester den Schleier.«
Hier mußte De Grey dem Prinzen das Klosterleben beschreiben – der Prinz wußte nicht, ob er mehr dessen Grausamkeiten bedauern, oder seine Ungereimtheiten belachen sollte.
»Indessen«, fuhr De Grey fort, »war der Wunsch, seinen Obern zu gefallen, nicht der einzige Beweggrund zu dem Verfahren des Mönchs. Liebe oder vielmehr Sinnlichkeit war die gewöhnliche Triebfeder seiner Handlungen. Das Kloster der Augustinerinnen war sein Serail. Die Äbtissin regierte zwar, dem Anschein nach, mit despotischer Gewalt in ihrem Kloster; aber der schlaue Mönch, der einst ihr Liebhaber gewesen und nachher ihr Tyrann geworden war, herrschte unter ihrem Namen nach seinem Gefallen. Keine Nonne getraute sich, seinen Wünschen zu widerstreben, als meine Schwester Emma. Die Lehre des katholischen Glaubens und die Pflichten ihres Standes wurden lange das Schild, womit sie sich gegen seine Bestürmung verteidigte; allein er war ein schöner Mann – mit einem feinen Betragen konnte er alle Gestalten annehmen; es gelang ihm endlich, meiner Schwester Herz zu gewinnen. Sie gestand ihm, daß sie ihn liebte, daß die Grundsätze ihres Glaubens die einzigen Hindernisse wären, die ihrem beiderseitigen Glück im Wege ständen. Der verschmitzte Pfaffe war nach diesem Geständnis seines Sieges gewiß, es war ihm leicht, dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen. Solltet Ihr wohl glauben, er brachte meiner Schwester ein geweihtes Strumpfband, das einst ein Papst seiner Geliebten verehrte, und das nach der lateinischen Urkunde, worin es aufbewahrt war, die Wunderkraft hatte, jede Tochter in Christo von jeder erdenklichen Sünde loszusprechen, die sie, mit diesem Strumpfband um ihr Knie gebunden, je begehen könnte. Meine Schwester war für das kostbare Geschenk von Dank durchdrungen, der Beichtvater band es ihr selbst das erstemal um; Natur und Gewissen waren nicht länger im Streit, ihr Glück war vollkommen.
»Doch welche vollkommene Glückseligkeit war je von Dauer!
»Die Äbtissin starb; eine Nonne, die häßlichste von Gestalt, die einzige vielleicht, die sich nie der Gunst des Mönches erfreuen konnte und ihn deswegen haßte, wurde zur Äbtissin erwählt. Eine gänzliche Reform wurde vorgenommen, alles im Kloster umgeändert. Einige junge Mädchen, die aus der Kinderstube in den Orden traten, waren die erklärten Favoritinnen der neuen Äbtissin; diese hatten die ausschließende Freiheit, ihre älteren Schwestern nach Gefallen zu necken und zu peinigen – alles war ihnen erlaubt – von Morgen bis Abend spielte man Blindekuh und andere Kinderspiele. – Das Kloster glich einem Narrenhaus.
»Meine Schwester zeigte nie jene Willfährigkeit, mit denen sonst die Novizen den Neigungen ihrer älteren Schwestern Genüge leisten.« (De Grey fand nicht notwendig, dem jungen Prinzen weiter zu erklären, worin eigentlich diese Willfährigkeit bestände.) »Meine arme Schwester war schon längst der Domina verhaßt, und nun als Äbtissin benutzte diese jede Gelegenheit, dem Mädchen ihren Groll fühlen zu lassen – es wäre unmöglich, aller der Mittel zu erwähnen, deren sie sich bediente, ihr das Leben zu verbittern; Mittel, die nur das harte Herz einer Nonne erdenken und gutheißen konnte. – Sie hatte durch die Beichte ihre erste Liebe in England entdeckt. Jede Schmach, jede Erniedrigung wurde ihr unter dem Vorwand, ihr Fleisch zu kasteien, auferlegt. Bald mußte sie an irgendeinem Orte, wo alle vorbeigingen, in tiefster Demut knien, bald mußte sie den anderen Schwestern bei Tische aufwarten, ohne selbst essen zu dürfen. Ein Abkömmling unserer Familie«, rief De Grey, indem er sich vor die Stirne schlug, »mußte die verworfenen Lieblinge bei Tafel bedienen, doch – ich will mit den unglücklichen Kindern nicht zürnen, die mehr unser Mitleid als unseren Haß verdienen – aber grausam ist es, hungernd zuzusehen, wie andere mit Leckerbissen vollgestopft werden, und sich selbst mit einer Brotkruste, von Tränen befeuchtet, begnügen zu müssen. – Bald war sie verurteilt, mit Erbsen in den Strümpfen herumzugehen, bis die Fußsohlen bluteten, bald mit ausgespannten Armen stundenlang zu beten. War irgend im Krankenzimmer oder sonstwo eine verächtliche Arbeit zu verrichten, so wurde sie ihr aufgetragen. – Oft mußte sie, Rücken und Schulter von der Geißel wund, Holz und Wasser tragen. Um sie ganz der Verachtung ihrer Schwestern auszusetzen, wurde ihre Zelle mit Bildern von drei Heiligen ausgeziert, deren übertriebene Frömmigkeit den Fanatikern auf das Vergehen meiner Schwester einen Fingerzeig gab. Eines war das Bild des heiligen Niklas, der seine Zunge herausbiß und einem Mädchen ins Gesicht warf, das ihn mit ihren Liebesanträgen in seiner Andacht störte – das zweite der heilige Clerus, der sich verschnitt, um den Versuchungen des Fleisches zu entgehen – das dritte war die heilige Clelia, die sich in ihrem zwanzigsten Jahre mit Nadel und Zwirn außerstand setzte, einen kastilianischen Kavalier, der sie heiraten wollte, zu lieben.
»Einmal wurde ihr befohlen, eine ganze Nacht vor diesen Heiligen zu knien und ihren Kopf auf den bloßen Steinboden ihrer kalten Zelle zu legen.
»Den Morgen kam sie in das warme Zimmer der Äbtissin, um ihr die Hand zu küssen, um ihr für die Sorge zu danken, die sie für ihr Seelenheil hatte; der plötzliche Übergang von der Kälte in die Hitze verursachte ihr eine gefährliche Ohnmacht. Die Nonnen, die zu ihrer Hilfe herbeigerufen wurden, entkleideten sie und entdeckten ihre – Schwangerschaft. – Der Beichtvater machte sich aus dem Staube.
»Sie hatte sich kaum von ihrer Ohnmacht erholt, als die Glocke geläutet und die Nonnen zusammenberufen wurden, um über sie Gericht zu halten. Ohne Furcht, und ohne sich eines Vergehens bewußt zu sein, zeigte sie getrost das Strumpfband mit dem Ablaß vor; so schuldig sie sich in ihrer ersten Liebe fühlte, so ruhig und frei war jetzt ihr Gewissen. Die Äbtissin, die schon das Urteil über sie sprechen zu können hoffte, konnte ihren Ärger nicht verbergen, als das Kapitel aus Hochachtung vor dem heiligen Vater auf ihre Lossprechung erkannte.
»Auf einmal brachte eine der älteren Nonnen ein ähnliches Strumpfband, einen ähnlichen Ablaßbrief zum Vorschein, sie hoffte, die Versammlung würde ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie ihr Gelübde nie anders als unter dem Schutz und der Salvaguardia dieser heiligen Ligatura cruralis überschritten hätte; würde aber die Unechtheit desselben bewiesen, so hätte sie in dieser Welt das Leben, in jener aber die ewige Seligkeit verwirkt.
»Die beiden Strumpfbänder wurden miteinander verglichen, die Ablaßbriefe untersucht. Sie schienen eines und dasselbe zu sein; die Meinungen der Nonnen waren in dieser kitzligen Sache mit ungewöhnlicher Unparteilichkeit geteilt, sie glaubten, die Schlüssel des heiligen Petrus in ihren Ohren rasseln zu hören. Drei Monate vergingen, ohne daß sie sich trauten oder einig werden konnten, ein bestimmtes Urteil zu fällen. Endlich machte die Äbtissin die Entdeckung, daß ihr Todfeind der Verführer meiner Schwester wäre. Das entschied; sie wußte auf eine geschickte Art das Kapitel zu überzeugen, daß jenes der alten Nonne das echte Strumpfband war, das die Gräfin Vanotia weiland von seiner Päpstlichen Heiligkeit Alexander dem Sechsten mit dem lateinischen Ablaßbrief erhalten hatte Siehe Thümmels Reisen..
»Das Urteil wurde gesprochen und meine Schwester verdammt, lebendig begraben zu werden. Aber die Augen der Nation waren damals schon geöffnet, die Klöster und ihre Bestimmung waren verhaßt – sie würden nie eine solche Barbarei zugegeben haben. Indessen, was geschah nicht alles innerhalb der hohen Mauern dieser heiligen Gebäude! Die Nonnen nahmen das Abendmahl und schwuren bei dem Leibe und Blut Christi, den Tod meiner Schwester nie zu verraten.
»Um diese Zeit erfuhr ich den Aufenthalt meiner Schwester. Ich eilte nach dem Kloster; die Pförtnerin erschrak, stotterte, wußte nicht, was sie auf meine Frage antworten sollte. Endlich kommt die Frau Äbtissin an das eiserne Gitter des Sprechzimmers und versichert mir, daß meine Schwester in einem hitzigen Fieber vor kurzem gestorben wäre. In ihrem Benehmen herrschte eine Güte, eine Frömmigkeit, eine gewisse Erhabenheit über die weltlichen Dinge, die mir Liebe und Ehrfurcht einflößten; sie sprach mit so vieler Teilnahme von meiner verstorbenen Schwester, erzählte mir von ihren guten Eigenschaften, nannte sie ihren Liebling, ihre teuerste Freundin; ›sie starb‹, sagte sie, ›in meinen Armen, mit einem seltenen Hingeben in den göttlichen Willen; sie ist unter den Auserwählten, ihre irdischen Leiden sind nun mit den ewigen himmlischen Freuden belohnt.‹ Konnte die Heuchelei je weiter getrieben werden?! Halb außer mir kehrte ich in den Gasthof zurück – ich war das schreckliche Werkzeug ihres Todes – ich hatte sie unter den abergläubischen Fremden verlassen, ihre Briefe uneröffnet zurückgeschickt – ich sah sie, wie sie mit dem Tode rang, in dem letzten Augenblick nach mir seufzte. – Die Veränderung der Luft, dachte ich, könnte sie vielleicht gerettet haben, aber keine Nonne darf auch in diesem Fall außerhalb der Mauern ihres Klosters gebracht werden. Alle ihre guten Eigenschaften, jeder kleinste Vorfall der glücklichen Tage unserer Kindheit stellte sich lebhaft in meinem Gedächtnisse dar; es war Nacht – ich hatte keinen Appetit, der Schlaf war aus meinen Augen verbannt. Der Verzweiflung nahe ging ich heftig im Zimmer auf und ab – als mich plötzlich die Sturmglocke aus meiner Sinnlosigkeit weckte. Die ganze Stadt schien in Aufruhr. Mit Fackeln in den Händen, mit Spießen und Stangen, Gabeln und Äxten, mit Gewehren aller Art strömten die Menschen durch die Straßen. Die Luft erdröhnte von Drohungen und Flüchen. Umsonst rief ich meine Bedienten, umsonst fragte ich nach der Ursache dieses Aufstandes; niemand antwortete; ein innerer Trieb riß mich mit dem Haufen fort.
»Unterwegs erfuhr ich, daß einige Fischer hinter dem Kloster der Augustinernonnen ein totes Kind mit ihrem Netze aus dem Flusse gezogen hätten. Aller Anschein war wider die Nonnen. Der souveräne Pöbel ist fürchterlich in der Vollziehung seines Urteils. Ohne weitere Untersuchung, ohne eine Ausnahme zu machen, wurden die Nonnen von der ersten bis zur letzten als Mitschuldige des Mordes erklärt; in wenigen Augenblicken wurden vielleicht die Unschuldigsten die Opfer ihrer Wut, ihre Köpfe wurden auf Spieße und Pfähle gesteckt, ihre Leiber gemißhandelt. Bei meiner Ankunft wurde eben einer der Ältesten der Strick um den Hals gezogen – urteilet von meinem Schrecken: es war die ehrwürdige Äbtissin, um deren Tugend ich meine Seligkeit gewagt hätte. Als ich mich von meinem Erstaunen ein wenig erholt hatte, wollte ich für sie bitten, sie der Wut des ergrimmten Pöbels zu entreißen versuchen – ich wollte mein Leben für sie wagen – mein Leben, das für mich allen Wert verloren hatte, ich wünschte in einem so verdienstvollen Unternehmen zu sterben, als sie plötzlich ein Zeichen machte, als wenn sie etwas zu entdecken hätte. – Alles schwieg. – ›Das Kind starb‹, sagte sie, ›aus Mangel an nötiger Pflege, tot ließ ich es in den Fluß werfen, aber rettet die Mutter,‹ rief sie. Vor dem Lärm der Umstehenden konnte ich ihre weiteren Worte nicht hören, ich wurde mit dem Strom fortgerissen. Alles eilte nach der Kirche, die Türen sprangen auf, ein Gewölbe wurde mit Gewalt erbrochen. – ›Platz! Platz!‹ schrien die Nächsten. – Eine ausgezehrte Gestalt in einem Nonnengewande wurde hervorgetragen und auf eine Bank gesetzt – kaum gab sie noch einige Zeichen des Lebens. – Es wurde ihr zur Ader gelassen und jedes Mittel angewendet; endlich öffnete sie die Augen; ›wo bin ich,‹ sagte sie; ›sie spricht Englisch,‹ rief einer, der neben mir stand; ich dränge mich näher. Gott! es war meine arme Schwester.
»Ach! das Maß ihres Elends war nicht voll, sie wurde noch für größere Leiden aufbewahrt; ich nahm sie mit mir – nach und nach wurde ihre Gesundheit langsam hergestellt, aber ihre Ruhe war auf immer dahin; umsonst bezeugte das Volk seine Freude, ein unschuldiges Opfer den Klauen des Aberglaubens entrissen zu haben, umsonst bestrebten sich die Ersten der Stadt, sie mit Höflichkeiten zu überhäufen, umsonst wurden wir von der Munizipalität zu allen Festen gebeten. Sie war tot für alles – unaufhörlich seufzte sie um ihr Kind. Die Teilnahme ihrer Freunde an ihrer Rettung erinnerte sie nur an ihren Verlust.
»Ich glaubte, daß eine Veränderung der Gegenstände ihrer Umgebung vielleicht zu ihrer Heilung etwas beitragen würde. – Ich reiste mit ihr nach Nizza; aber würdet Ihr wohl glauben, daß dort ihre eigenen Landsmänninnen sie wegen ihres Vergehens in England aus ihrer Gesellschaft verbannten? Jahre waren verflossen, aber selbst die Länge der Zeit konnte nicht eine Schuld aus dem Gedächtnis dieser Spröden verlöschen, eine Schuld, worin sie vielleicht selbst gefallen wären, wenn es ihnen nicht an Schönheit oder Gelegenheit gefehlt hätte. Wo sie hinkam, wendeten ihr die Weiber den Rücken. Oft war ich im Begriff, von ihren Männern Genugtuung zu fordern, aber ich hatte schon den Tod eines Mitmenschen auf der Seele, ich wollte meine Hände nicht wieder mit unschuldigem Blute besudeln. Ihr werdet Euch über die Idee wundern, daß ich von den Männern Genugtuung für die Ungezogenheiten ihrer Weiber fordern konnte; aber die Weiber in Europa werden in einem solchen Stand von Unmündigkeit gehalten, daß die Männer nicht nur das Recht haben, ihnen ihr Benehmen vorzuschreiben, sondern sogar für jede Beleidigung durch sie, für jeden ihrer Fehler haften müssen. Ich suchte meine Schwester, so gut ich konnte, zu trösten. – Ich hatte lange genug auf dem festen Lande unter Menschen gelebt, die frei von englischen Vorurteilen waren – ich hielt ihren Fehler nur für Leichtsinn, nicht für Verbrechen. Bestätigt durch die gütige Vorsehung, die sie so wunderbar und unerwartet vom Tode rettete, war ich weit entfernt, ihr den geringsten Vorwurf zu machen. Mit Vergnügen tat ich Verzicht auf den Umgang mit meinen Landsleuten – ich beschloß, in eine Gegend zu reisen, wo keine Engländer und Engländerinnen sich aufhielten, oder wo sie wenigstens den Ton nicht angeben konnten. Wir kamen überein, Italien zu bereisen. Versehen mit Empfehlungsschreiben an die vornehmsten Familien in Florenz und Neapel, schifften wir uns in Antibes ein, mit dem Vorsatz in Genua zu landen. Wir hatten einige Tage glücklich an der Küste hingesegelt, als ein katholischer Festtag einfiel.
»Unsere Matrosen waren diesen Tag, vermutlich den Heiligen des Festes zu ehren, betrunken. Ein plötzlich entstandener Sturm trieb uns in die offene See und gab uns ohne Hilfe den sich immer mehr und mehr türmenden Wellen preis.
»So nüchtern auch unser ganzes Schiffsvolk in dem Augenblick der Gefahr wurde, so konnte das uns doch nichts frommen. Sie waren zwar geschickt genug, an den Küsten zu fahren, aber die Kunst, auf der hohen See zu segeln, verstanden sie nicht. In dieser Not nahmen sie Zuflucht zu ihrer Religion und hofften, diese würde alle Kunst und Geschicklichkeit ersetzen. Sie überlegten, ob sie mich und meine Schwester über Bord werfen sollten, und meinten, daß sie der Tod von zwei Ketzern, die ihnen an einem Feiertage Pökelfleisch angeboten hätten, unfehlbar vom Untergang retten würde – der Steuermann gelobte der heiligen Maria, daß seine Tochter Nonne werden sollte, wenn er wieder glücklich nach Hause käme. Urteilet von dem Schrecken meiner Schwester, die etwas Italienisch verstand! Wahrscheinlich würden wir dem Aberglauben geopfert worden sein, wenn uns nicht ein portugiesisches Schiff, das nach Livorno segelte, an Bord genommen hätte. Aber kaum hatten wir uns von unserem Schrecken erholt, als wir ein großes Schiff entdeckten. Zu unserer allgemeinen Bestürzung war es ein Barbaresken-Seeräuber, der mit vollen Segeln auf uns Jagd machte. Wir bereiteten uns zur Verteidigung – die grenzenlose Angst der Weiber läßt sich nicht beschreiben.
»Ehe ich unseres weiteren Unglücks erwähne,« sagte De Grey, »muß ich Euch noch einen Vorfall erzählen, der Euch auf die abgeschmackten Begriffe, die man in Europa von Keuschheit hat, ein noch klareres Licht werfen wird. Eine junge englische Dame, die zur Herstellung ihrer Gesundheit nach Lissabon reiste, war mit ihrer Gouvernante auf unserem Schiffe. Die alte Hofmeisterin warf sich zu den Füßen ihrer Gebieterin, die wirklich ein schönes Mädchen war, und beschwor sie, ihr Gesicht mit einem Messer zu verunstalten, um ihre Tugend zu retten und der ewigen Verdammnis zu entgehen. Ich hatte alle erdenkliche Mühe, um die junge Schwärmerin von der tollen Tat abzuhalten; ich stellte ihr vor, wie vor tausend Jahren die Nonnen zu Coldingham von den Dänen ermordet worden, weil sie sich mutwillig bei ihrer Ankunft die Gesichter verstümmelten; ›und glaubt mir aufs Wort,‹ sagte ein Matrose, der Englisch verstand und mein Zureden hörte – ›glaubt mir aufs Wort, die Mohren werfen Euch über Bord, wenn Ihr Eure Haut nur mit einem Ritzchen verletzet – fangt bei Euch selbst an, alte Katze,‹ sagte er zur Gouvernante, ›wenn Ihr Eure Keuschheit höher schätzt als Euer Leben – an beiden ist wenig gelegen. – Ich war einst‹, fuhr er fort, »Gefangener in Syrien und habe die Ruinen eines Nonnenklosters zu Akkow gesehen. Die Frau Äbtissin war auch eine solche Närrin wie Ihr und überredete die Nonnen, ihre Nasen abzuschneiden. Die Türken ehrten ihre sogenannte Tugend, hackten aber die Kaninchen alle zu einem Brei zusammen, und ich will verdammt sein, wenn ich solche ekelhaften Streiche zugebe; die ganze Schiffskompagnie könnte dafür büßen.‹
»Ich habe dieses Gespräches lediglich erwähnt,« fuhr De Grey fort, »um Euch zu zeigen, wie töricht die Christen zu allen Zeiten waren; die Liebe ist ein freies Geschenk, ein Zeichen des guten Willens, das unter dem Schutz der Gesetze stehen sollte. Notzucht sollte hart bestraft werden, doch – in einem solchen Falle – wäre es nicht besser, sich notzüchtigen zu lassen, als die Nase zu verlieren?
»Unterdessen kam der Seeräuber näher, er gab uns das Signal zur Übergabe; wir antworteten mit einer Kanone; ein hartes Treffen begann, wir fochten mit Mut und Entschlossenheit. Viele der Unsrigen fielen – die Leichname schwammen auf dem Verdeck im Blute, wir blieben fest und strichen die Segel nicht. Endlich enterten die Seeräuber doch unser Schiff mit dem Schwert in der Hand – die Verwundeten wurden über Bord geworfen, alle übrigen in Ketten gelegt und in verschiedenen Teilen des Schiffes eingeschlossen.
»Unterdessen wurden die Weiber, die bei diesen Seeräubern einen Handelsartikel ausmachen, ohne weitere Umstände untersucht; die junge englische Dame, die als eine Jungfrau befunden wurde, ließ der Kapitän in einer besonderen Kajüte einsperren, um ihren Preis auf dem nächsten Markte desto höher anschlagen zu können. Die alte Gouvernante, die nichts zu verlieren hatte, wurde von einem Liebhaber dem andern übergeben, sie unterwarf sich jeder Behandlung mit christlicher Geduld. Meine unglückliche Schwester behielt der Kapitän für sich selbst. Urteilet von meinen Empfindungen; ich, der einst einen Liebhaber, der ihrer Liebe wert war, ermordete; ich, der sie nötigte, das Land, wo sie geboren und erzogen war, zu verlassen; ich, der die erste und einzige Ursache ihrer gegenwärtigen Schmach war – mußte sehen, wie sie mit Gewalt in die Kajüte des Barbaren geschleppt und ein Opfer der tierischen Lust eines Seeräubers wurde. Ich hörte sie seufzen und wehklagen und konnte nur mit meinen Ketten rasseln und mit den Zähnen knirschen.
»Wir segelten gerade nach Tetuan. Der Kaiser von Marokko war zu Mesquinez. Alle männlichen Gefangenen mußten hin, er wollte sich selbst einige Sklaven aussuchen. Ein häßlicher Schurke von einem Mohren kam mit dem Knüttel in der Hand und befahl uns, das Schiff zu verlassen.
»Gütiger Himmel! ich sollte von meiner Schwester getrennt werden, sollte sie hilflos in den Händen der Barbaren zurücklassen! – Ich bat, ich flehte, beschwor sie, uns nicht zu trennen; umsonst! Ich bat um die einzige Gnade, einen Augenblick mit ihr zu reden, ihr in Gegenwart eines Renegaten, der den Dolmetscher machte, den letzten Trost geben zu dürfen; auch das wurde mir unbarmherzig verweigert. ›Wie,‹ sagte der Hauptmann, ›willst du mich auch hintergehen wie der Italiener, der seiner Tochter Herz durchbohrte und mir dadurch eine Jungfrau raubte, die mager, und ehe sie fett gefüttert war, dreihundert Zechinen gegolten hätte?‹ Meine Schwester entkam doch ihrer Wache und flog auf das Verdeck in dem Augenblick, als sich unser Boot vom Schiff entfernte. Bei dem Anblick stürzte sie ohnmächtig zu Boden.
»O meine teure Schwester – es war das letztemal, daß wir uns sahen. Gott allein weiß ihr Schicksal.
»Unser Marsch war schrecklich – ein ödes Land – die heißeste Sonne gerade über uns – kein Schatten – keine Erfrischung – in jedem Dorfe, durch das wir zogen, wurden wir als Christen beschimpft – von den Kindern mit Kot und Steinen verfolgt – die Hunde auf uns gehetzt.
»Den Tag nach unserer Ankunft in Mesquinez wurden wir vor den Kaiser gebracht. Er saß auf einer großen Matte, ein tückischer Ernst lag in seinem Gesichte – vor dem seine Höflinge zitterten. Er rauchte seine Pfeife – und schien wenig aufmerksam auf das Trommel- und Pfeifenkonzert, das nur eines Mohren oder Tanzbären würdig war – wir standen in Erwartung unseres Schicksals – sein erster Minister getraute sich nicht, seine Zerstreuung zu unterbrechen. Endlich entstand ein Lärm im Schloßhofe; drei Sklaven, die sich in den Garten des Harems gewagt hatten, sollten ihre Köpfe verlieren.
»In diesem Lande, wo die Weiber in der niedrigsten verächtlichsten Sklaverei gehalten werden – hätten sie den Bruder ermordet, Vater und Mutter mit Gift getötet – das schändlichste Verbrechen an Gott und Menschen begangen, sie hätten noch auf Gnade hoffen können, aber sie wagten sich in den Garten des Harems; die Mohren konnten die Milde ihres Fürsten, die gelinde Strafe nicht genug bewundern, sie konnten nicht begreifen, warum er sie für ein solches Verbrechen nicht zu längeren und größeren Martern verurteilte.
»Der Henker hatte den einen geköpft – als der Kaiser ausrief: ›Ungeschickter Dummkopf! Nicht einmal einen Sklavenkopf kann der Kerl, wie sich's gehört, abschlagen.‹ Er gab ein Zeichen, innezuhalten; die beiden anderen hofften schon auf Gnade; der Kaiser erscheint, köpft in höchsteigener Person die beiden Unglücklichen und kehrt in den blutigen Kleidern in den Audienzsaal zurück, wo ihn die Höflinge über seine Geschicklichkeit mit Lob überhäufen.
»Nachdem uns der Kaiser alle gesehen hatte, wählte er sich zwei Kapuziner und einen Benediktiner. ›Pfaffen!‹ sagte er, ›ihr seid zwar euer Futter nicht wert, aber ihr bringt hohes und sicheres Lösegeld.‹
»Den nächsten Morgen wurden uns die Sklavenkittel, die wir gleich bei der Gefangennehmung für unsere Kleider erhielten, abgenommen, und nackend wurden wir auf den Batistan oder Sklavenmarkt geführt. Jeder Käufer hatte das Recht, uns nach dem Lande unserer Geburt, nach unseren Talenten und Eigenschaften zu fragen – unsere Gesundheit, ob wir zur Arbeit tauglich wären, zu untersuchen. Mit einem Wort, wir wurden wie Pferde besehen – wir mußten gehen, laufen und springen. Ach! ich werde nie diese schändliche Behandlung vergessen. Endlich wurde ich nach einem langen Streit, ob die Summe in Gold oder Silber bezahlt werden sollte, von einem Mohren gekauft.
»Mein Herr lebte auf dem Lande – meine Bestimmung war, im Garten zu arbeiten. Von der Art, wie ich behandelt wurde, will ich nicht reden – Ihr wißt, wie die Perser mit ihren Sklaven verfahren, und in diesem Punkte gleichen sich alle mohammedanischen Völker, als wenn sie in einer Form gegossen wären.
»Der Anstand erlaubt mir nicht, Euch eine genaue Schilderung von den Liebschaften der Muselmänner zu machen. Die schrecklichen Folgen der unnatürlichen Trennung beider Geschlechter lassen sich weder denken noch beschreiben. Stellt Euch zehn, zwanzig, hundert Weiber vor, die, in den Mauern eines Harems eingesperrt, bestimmt sind, den Lüsten eines einzigen Mannes zu frönen, vielleicht eines unvermögenden gebrechlichen Graubarts. Rund um dieses fürchterliche Grab der Liebe, wo Jugend und Schönheit lebendig eingescharrt werden, sind die engen Schlafbehältnisse einer Anzahl unglücklicher, trost- und hoffnungsloser Sklaven, die weder Grundsätze noch Scham haben. Da liegen sie in einem heißen Klima, das jedes Gefühl, jede Sinnlichkeit aufweckt, ausgeschlossen von allem Umgang mit dem anderen Geschlecht, haben vielleicht in ihrem Leben nicht die Gelegenheit, mit einem Weibe zu reden; oft in Monaten keine Gelegenheit, eines zu sehen. Ist es ein Wunder, wenn sie die Natur vergessen – sie, die von der ganzen Welt vergessen werden – die in einem Lande leben müssen, dessen Gesetzgeber und Prophet sie selber an ihre Ketten geschmiedet, ihre Leiden durch Gesetze bestätigt hat.
»Ein neapolitanischer Renegat war unser Aufseher und herrschte mit einer eisernen Rute. Seine Lieblinge hatten nicht nur ein erträgliches, sondern auch ein bequemes Leben. Anfangs schien er auch mich seiner Gunst wert zu halten, da ich aber nicht so gefällig war, als er erwartete, schwur er mir Rache. Nach geendigtem Tagewerk wurde den Sklaven eine Stunde vor Sonnenuntergang Ruhe erlaubt. Ich suchte seinen Nachstellungen zu entgehen, beweinte mein Schicksal und dachte an Emma. Ohne unsere Vorurteile wärest du glücklich gewesen in den Armen deines Geliebten, des Mannes, den ich ermordete, glücklich könnten wir in England zusammenleben. Ich weinte, bis die Glocke das Zeichen gab und wir in unsere Gefängnisse gejagt wurden, bis der nächste Morgen unsere harte Arbeit wieder erneuern sollte.
»Aus Furcht, daß wir unsere Gefängnisse in Brand stecken könnten, wurde uns kein Licht gestattet. Eine Anzahl Männer mit rohen Lüsten und dem verdorbensten Geschmack lagen nur durch eine dünne Mauer von dem Harem getrennt. Die ausgelassenste Einbildung war hier geschäftig. Aber ich will nicht die Orgien der Dunkelheit und des Lasters beschreiben. Was sind die schrecklichen Folgen der Vielweiberei! in einem Lande, wo ein Mulay Ismael dreitausend Weiber und fünftausend Konkubinen haben darf – müssen achttausend Männer ganz ohne Weiber leben.
»Unser Herr war schon über fünfzig Jahre alt, mit seiner ersten Frau hatte er keine Kinder; er legte deshalb die Schuld auf sie – ohne zu bedenken, was die Folgen seiner jugendlichen Ausschweifungen sein müßten; er hatte eben ein Mädchen von siebzehn Jahren zur Frau genommen. Ich war lange sein Sklave, ohne daß ich von diesen Umständen etwas erfuhr – er hatte viele Sklavinnen, ohne daß ich je eine davon zu Gesichte bekam.
»Eines Abends fand ich in einem abgelegenen Winkel eine Querpfeife; da ich in England auf der Flöte blasen gelernt, so hob ich das elende Instrument auf und versuchte zuweilen meinen Kummer damit wegzuspielen.
»Zu meinem Unglück hörte mich das junge Weib und verlangte, daß man mich holen lasse, um ihr etwas vorzuspielen. Die Eifersucht des alten Mannes, der sie kindisch liebte, war sehr wider diesen Vorschlag; einen Sklaven in das Innerste eines Harems einzulassen, war wider alle Gewohnheit. Indessen besprach er sich mit seinem ersten Vertrauten, dem Neapolitaner. Der Schurke, der immer einen Groll auf mich hatte, säumte nicht, ein Mittel vorzuschlagen, wie diese Schwierigkeit leicht gehoben werden könnte. Oh! kann ich das Wort aussprechen, kann ich das Unglück beschreiben, das meiner wartete? Der Neffe des britischen Großkanzlers sollte um seine Mannheit gebracht werden.
»Ich will meine Angst, meine Wut und Verzweiflung nicht beschreiben; hätten mich nicht einige Sklaven abgehalten, ich hätte den Aufseher erwürgt. Ich würde doch meinem verhaßten Dasein ein Ende gemacht haben, wenn sie mir nicht alle Waffen und gefährlichen Werkzeuge aus dem Wege geräumt und mich in Ketten geschlossen hätten. Unseres Herrn Wundarzt war zum Glück einige Meilen weit verschickt, um eine Sklavin zu heilen, die sich die Gurgel abgeschnitten hatte, als sie ihren Liebhaber, der sie zu befreien versuchte, vor der Tür des Harems an einem Pfahle gespießt erblickte.
»Seine Abwesenheit verzögerte die schreckliche Operation, und eine von den gewöhnlichen Revolutionen in der Barbarei rettete mich. Abdalla, der ältere Prinz, entdeckte, daß ihn sein Vater einer Leidenschaft zu einem jungen Weibe aufopfern und ihren Sohn zu seinem Thronfolger ernennen wollte. Mit dem Versprechen einer doppelten Löhnung brachte er bald die Armee auf seine Seite – er ermordete seinen Vater und zehn Brüder – nahm den achttausend Weibern seines Vaters ihr Gold und ihre Edelsteine, bezahlte die erkauften Truppen und wurde als Kaiser ausgerufen. Das ist das Schicksal des mohammedanischen Despotismus!
»Der Wundarzt war zurück, bereitete schon seine Instrumente, der Neapolitaner frohlockte schon über mein Elend; man erwartete nur die Zurückkunft unseres Herrn, der bei Hofe war und zu meinem Glück nicht mehr zurückkehrte; er war Hauptmann der Leibgarde und hatte die Ehre, beim Ausbruch der Revolution, als treuer Anhänger seines Kaisers, von der Hand des Prinzen ermordet zu werden. Der neue Kaiser schenkte seine beweglichen und unbeweglichen Güter, seine Sklaven und Sklavinnen und alles vorrätige Vieh einem seiner Favoriten.
»Mein neuer Herr verkaufte die Weiber wie eine Stuterei – die Sklaven schickte er zur Arbeit auf ein anderes seiner Güter. Mich allein behielt er zurück, als er hörte, daß ich ein Engländer wäre.
»Er ließ mich bald zu sich rufen und entdeckte mir, daß sein Sohn seit einiger Zeit als marokkanischer Gesandter am Hofe von England wäre. ›Ich habe‹, sagte er, ›eine junge Zirkassierin gekauft, sie ist nun seit einigen Monaten mit Reis gemästet worden und hat jetzt ein anständiges Gewicht und Fett. Ich bedaure meinen Sohn,‹ fuhr er fort, ›Eure Landsleute haben keinen Geschmack, er schreibt mir, daß wenig Weiber in England hundertundfünfzig Pfund wiegen. Ich gedenke sie meinem Sohn mit vier Sklavinnen und vier Verschnittenen nach England zu schicken.‹ Kurz, der alte Mann versprach mir meine Freiheit, wenn ich die Oberaufsicht über ihren Transport übernehmen und sie sicher an Ort und Stelle bringen wollte. Die Zirkassierin wurde in einer Kiste nach dem Schiffe gebracht, ihre Begleiterinnen vom Kopf zum Fuß verschleiert, die Verschnittenen mußten mit Knütteln in der Hand den Pöbel entfernen.
»Wir hatten kaum das atlantische Meer erreicht, als die Verschnittenen schon alle betrunken waren und unsere englischen Matrosen mit den vier Begleiterinnen auf dem vertrautesten Fuß lebten. Die christlichen Weiber sind mehr Sklaven ihrer Vorurteile und ihres Ehrgefühls, als eines eigentlichen Zwangs. Sie haben eine Art Widerwillen, ihre Männer zu betrügen, sie haben Grundsätze; aber ein Weib aus einem Harem hat keinen Begriff von Ehre, keinen Begriff davon, seinen guten Namen zu verlieren; sie wird sich ebenso leicht in die Arme des ersten besten Mannes werfen, der ihr in den Wurf kommt, als der Schuljunge seinen Lehrer betrügt, oder der Verbrecher aus dem Gefängnisse entflieht, wenn die Tür offen steht. Alles ist Wasser auf ihre Mühle. Das ganze Schiffsvolk war ihnen also willkommen, und als wir landeten, hatte diese neue Lebensart so viele Reize für sie, daß sie sich entschlossen, immer bei den Matrosen zu bleiben. Ich war indessen so glücklich, meine Zirkassierin bei meiner Ankunft in England unberührt zu überliefern. Ich erstaunte über die Gleichgültigkeit, mit der der Gesandte das so kostbare Geschenk seines Vaters annahm; allein er war verliebt, wie ich in der Folge von einem meiner Korrespondenten hörte; und, würdet Ihr es wohl glauben, er liebte eine der magersten Damen in England. So verschieden ist der Geschmack und die Laune der Liebe. Seine Zirkassierin vertauschte er bald an einen englischen Lord für einen Wettläufer.
»Die Familie des Majors war ihrer Nachstellungen noch nicht müde; ich mußte mich während meines Aufenthalts in England noch immer verborgen halten, und wer weiß, welche Gefahren mich jetzt noch erwarten.
»Ehe ich Algier verließ, erfuhr ich den Namen des Sklavenhändlers, der meine Schwester kaufte, er hatte die Lieferung der Weiber in den Harem des Großsultans. – So bald als möglich schiffte ich mich nach Konstantinopel ein.
»Mein lieber Firnos,« fuhr De Grey nach einer Pause fort, »ich will Euch die Geschichte meiner Reise nur mit kurzen Worten erzählen.
»Seit dieser Zeit habe ich umsonst ganz Asien durchreist, überall wurde ich in meinen Hoffnungen, meine unglückliche Schwester zu finden, getäuscht. Wo ich immer hinkam, habe ich die menschliche Natur durch die abscheuerregende Vielweiberei so verdorben gefunden, daß mich die Mißbräuche des Mohammedanismus mit unseren Vorurteilen und Aberglauben wahrscheinlich wieder ausgesöhnt haben würden, wenn mir nicht das so vollkommene System der Narren, das über das unserige so sehr, als dieses über das der Mohammedaner, erhaben ist, gegen jedes andere einen Abscheu eingeflößt hätte.
»In Konstantinopel gab ich mir umsonst alle erdenkliche Mühe, den Sklavenhändler ausfindig zu machen. Der englische Gesandte unterstützte mich, so viel als möglich, mit seinem Ansehen, aber alles Nachforschen war vergeblich.
»Als ich eines Tages am Gestade spazierenging und traurig nach den hohen Mauern des Serails blickte, kam mir ein Haufen Menschen mit einem Pagen des Großsultans entgegen, der einen anderen aus Eifersucht erstochen hatte und dafür gespießt werden sollte. Den armen Jüngling in der Blüte seiner Jugend und Schönheit einen so schrecklichen Tod sterben zu sehen, war ein wahrer Seelengenuß für die Barbaren. Eine Szene, die ihre Herzen mit Abscheu erfüllen sollte, schien sie zu entzücken. Der türkische Pöbel ist weit ausgelassener als jeder andere. Meine Religion gab mich bald ihren Beleidigungen preis – sie fingen an, auf mich zu schimpfen, und würden gewiß weiter gegangen sein, wenn ich mich nicht in das nächste Haus geflüchtet hätte.
»Wäre es das Haus eines Muselmanns gewesen, so würde ihn seine Eifersucht berechtigt haben, mich zu morden, weil ich seine Schwelle betrat. Zu meinem Glück war es das Haus eines griechischen Popen.
»Nach den ersten Komplimenten war unsere Bekanntschaft gemacht – seine offene Miene, sein freundschaftliches Betragen hatten mich gleich in dem ersten Augenblick für ihn eingenommen. Seine Traurigkeit erregte in mir den Wunsch, ihm zu dienen. Er bot sich an, mich nach Hause zu bringen; ich bewog ihn, bei mir zu speisen.
»Als ich ihn mit der Ursache meines Aufenthaltes in Konstantinopel bekannt machte, erzählte er mir, daß ein bürgerlicher Krieg in Mingrelien ausgebrochen und der Sklavenhändler hingereist sei, um Sklaven einzukaufen. ›Glaubt mir,‹ sagte er, ›ich kenne den Mann, er ist ein Armenier und ein so großer Schurke, als ein Papist nur sein kann. Er suchte auch von meinem Unglück Vorteil zu ziehen. Die Patriarchen unserer Kirche, die vielleicht unsere Weiber als die ihrigen angesehen haben, machten die ganz seltene Verordnung, daß ein griechischer Priester, der eine Frau heirate, die nicht schön sei, seiner Priesterwürde beraubt und wieder in den Rang eines Diakonus zurückgesetzt werden solle. Ich hatte eine ganz gemächliche Pfarre und wählte mir ein junges Mädchen, die alle Eigenschaften besaß, ihren Gatten glücklich zu machen. Ich stellte sie unserem Bischof vor. Das Gesetz lautet: sie soll eine reine Jungfrau, ehrlich, gesund, jung und schön sein. Nun hatte sie die vier ersten Eigenschaften ganz, hatte aber das Unglück, Seiner Gnaden dem Bischof zu mißfallen; er machte mir Einwendungen wegen ihrer Gesichtszüge. – Ich bestand darauf, sie zu heiraten, und verweigerte, ein anderes Mädchen, die mir Seine Hochwürden in Gnaden vorschlug, zu nehmen. Ich verlor dadurch meine Stelle; meine Not wurde bald so groß, daß ich in einem dumpfen Keller beinahe verhungerte. Der Schurke von Armenier machte mir das Anerbieten, meine Frau zu kaufen, die er gerade Gelegenheit hätte, außer Landes zu verhandeln.‹
»Ich suchte die dringendsten Bedürfnisse des Expriesters zu erleichtern«, fuhr De Grey fort, »und reiste nach Mingrelien. Ich fand das Land als einen Schauplatz der Verwirrung und des Blutvergießens. Jeder Edelmann führte mit seinem Nachbarn Krieg, stahl seine Bäuerinnen und verkaufte sie als Sklavinnen. Die Harems in Konstantinopel erhielten von hier neuen Zuwachs, denn die Sklavenhändler lauerten wie die Raubvögel in der Nähe, um immer bei der Hand zu sein und von dem glücklichen Erfolg beider Teile Nutzen zu ziehen.
»Ich kam nach der Hauptstadt – ich wohnte bei einem der vornehmsten Einwohner, an den ich empfohlen war. Da erfuhr ich, daß der Sklavenhändler zum Jahrmarkt in ein kleines Provinzstädtchen gereist sei. ›Unsere Landedelleute‹, sagte er, ›spielen stark; wenn sie ihr Geld verloren haben, so verkaufen sie ohne Umstände ein oder ein paar Bauernmädchen. Er hofft da, guten Handel zu machen, wird aber bis morgen oder übermorgen gewiß zurückkommen; indessen betrachtet mein Haus als das Eurige.‹
»Den folgenden Tag kam er zu mir. – ›Heut abend‹, sagte er, ›bin ich zu einem Abendessen gebeten, Ihr müßt uns Gesellschaft leisten. Wenn in unserem Lande‹, fuhr er fort, ›ein Liebhaber von einem Ehrenmann in den Armen seines Weibes überrascht wird, so ist der Liebhaber verbunden, ihm ein fettes Schwein zu schicken Siehe Chardins Reisen. – wogegen der Mann, um zu zeigen, daß er zu leben weiß, gewöhnlich den Liebhaber zu einem Souper einladet. Vor kurzem war ich so unglücklich, von einem Manne in einer Lage getroffen zu werden, die nichts weniger als zweideutig war. Ich schickte ihm gestern das fetteste Schwein, das auf dem Markte zu finden war. Heut abend haben wir bei ihm ein kleines Fest; er erfuhr, daß ich einen Gast bei mir hätte, und hat Euch mit gebeten.‹
»Die Idee gefiel mir, ich dachte, in wie vielen Ländern der Welt eine solche Galanterie mit Tod und Schande geendet hätte. Ein Engländer, dachte ich, der einen Liebhaber bei seinem Weibe anträfe, würde sie ohne weiteres verstoßen – ein Jude steinigen – ein Russe halbtot prügeln – ein Türke würde die Unglückliche in einen Sack einnähen und in den Bosporus werfen lassen – ein Franzose würde sie um Vergebung bitten, aber in Mingrelien wird der Liebhaber noch zu einem Nachtessen gebeten. Ich war nie in besserer Laune; wir aßen, tranken, sangen; der Morgen dämmerte, als wir auseinander gingen.
»Aber ach! ich vergaß meine Schwester! Während des Banketts zog der Armenier mit Sklavinnen durch die Stadt – ich folgte ihm, sobald ich Pferde und einen Wegweiser finden konnte. Ich erreichte seinen Wohnort zu spät – er ließ nur einige Weiber, die fett gemästet werden sollten, zu Hause, mit den übrigen zog er nach Aleppo und Damaskus. – Ich reiste ihm nach, ich verfolgte ihn auf seinem Weg nach Kairo, selbst bis nach Abessinien, wo er einige schwarze Verschnittene einzuhandeln dachte, überall verfehlte ich ihn – ich kehrte nach Bagdad zurück, wo ich erfuhr, daß er nach Ispahan gereist sei.
»Ich verlor keine Zeit, ihm auch dahin nachzufolgen.
»Als ich durch das Land der Gebern reiste, traf ich einen Kaufmann, der mir schon vorher einmal das Leben gerettet hatte.
»Während meines dortigen Aufenthaltes sah ich eine Braut in das Zelt ihres Bräutigams führen. Sie war mit Blumen und Blättern geschmückt und saß auf einem Kamel, vor dem ihre Familie in Prozession einherging und Hochzeitslieder sang – ich folgte – die Gelegenheit, etwas von den Gebräuchen der Nation zu sehen, kam mir erwünscht. – Werdet Ihr's wohl glauben, bei dieser Lustbarkeit unterhielten sich die beiden Geschlechter in zwei verschiedenen abgesonderten Zelten; so strenge ist die Eifersucht der Ismaeliten. Übrigens sind sie gastfrei, ich wurde, obgleich fremd und unbekannt, in das Zelt der Männer geladen, unsere Unterhaltung war indessen ernst, traurig und äußerst still. Niemand sprach. Die Araber saßen alle wie Statuen und betrachteten den Rauch ihrer Pfeifen. Überhaupt würde ein Araber glauben, den höchsten Gipfel von Weisheit erreicht zu haben, wenn er sprechen könnte, ohne die Lippen zu bewegen; und das Lachen ziemt sich, nach seiner Meinung, allein für Weiber; auch waren diese in dem anderen Zelte viel lustiger und jovialer – sie lachten, tanzten und sangen in einem fort.
»Sobald die Nacht hereinbrach, wurden Braut und Bräutigam in ein besonderes Zelt geführt. Ich bin gewiß, ihr Naïren werdet uns Christen hierin Gerechtigkeit widerfahren lassen und eingestehen, daß unsere Unterwürfigkeit als Liebhaber lobenswerter ist, als der Hochmut der Mohammedaner. Sie haben so wenig Begriff von der Galanterie, die mich der Gesellschaft in Virnapor so lächerlich machte, daß sich die Braut dem Bräutigam zu Füßen werfen muß. Er bindet ihr dann eine goldene und silberne Münze um die Stirn.
»Nach einiger Zeit kam der Bräutigam in unser Zelt, mit einem blutigen Schnupftuch, dem Zeichen des Sieges, wozu ihm seine Freunde Glück wünschten.
»Indessen fing die Fröhlichkeit in dem Zelte der Weiber von neuem wieder an – Da die Männer alle von Tabaksrauch und Opium betrunken waren, schlich ich mich, ohne daß es jemand gewahr wurde, hinter das Zelt der Weiber, legte mich in den Sand und guckte unter die Leinwand – Was erblickte ich – eine Menge Weiber tanzten wie Bacchantinnen um ein blutiges Bettuch. Ich ergötzte mich kaum einige Augenblicke an diesem erbaulichen Anblick, als ich einen fürchterlichen Schlag auf meinen Kopf bekam. Ein Kameltreiber hatte mich entdeckt, und ich wäre zu Stücken zerhauen worden, hätte mich nicht der ehrliche Geber – der, indem er viel gereist war, imstande war, die erschreckliche Lage eines freundlosen Fremden zu fühlen – mit einer nicht geringen Geldsumme losgekauft. Der englische Konsul in Aleppo ersetzte ihm in der Folge die ausgelegte Summe. Dieser würdige Mann freute sich, mich wiederzusehen, er tat sein möglichstes, meinen Aufenthalt nur noch auf einige Tage zu verlängern. ›Mein Sohn‹, sagte er, ›wird die kommende Woche seine Schwester heiraten, es sind meine einzigen Kinder – und mich und ihre Mutter macht diese Heirat glücklich – ich habe den größten Teil von Asien durchreist, habe gesehen, wie die Weiber überall mißhandelt werden – ich kann also meine Tochter dem Schutze ihres Bruders mit mehr Zuversicht anvertrauen, als einem Fremden. Ihr müßt Zeuge sein unserer Glückseligkeit.‹
»Ich wußte, daß die Anbeter des Feuers seit undenklichen Zeiten ihre Schwestern geheiratet haben – ich wäre gern bei einer Hochzeit gewesen, die mich an die Vermählung des Cyrus erinnert hätte, allein der Wunsch, meiner Schwester Ketten zu lösen – die Furcht, den Sklavenhändler wieder zu verfehlen, ließen mir nirgends Ruhe.
»Ich kam nach Ispahan, aber wie unglücklich. – Ein Mirza, der Günstling des Schahs, hatte dem Sklavenhändler den Abend zuvor den Kopf abgehauen, weil er ihn betrügen und ein entehrtes Mädchen für eine Jungfrau in sein Frauen-Haus liefern wollte.
»Mit dem Tod dieses Elenden war auch meine Hoffnung dahin, meine Schwester je zu entdecken. Ihr, mein teurer Firnos, habt nun in Europa so viele Gelegenheit, Eure Mutter ausfindig zu machen. Ihr könnt ihr von ungefähr in einer Gesellschaft, im Schauspielhause oder auf der Promenade begegnen, aber die Mohammedaner halten keine Gesellschaften, haben kein Theater, keine Promenaden. Ihr könnt es in einer oder mehr Zeitungen bekannt machen lassen, die von einem Ende der Christenheit zu dem anderen gehen, aber in Asien sind keine Zeitungen, beinahe kein Umgang, kein Verkehr unter den nächsten Nachbarn. Jedes Haus, jeder Garten ist ein kleines Königreich, die Weiber leben in den Frauen-Zimmern eingesperrt – die Männer selbst empfangen in ihren Wohnungen wenige Besuche; wenn sie miteinander Geschäfte auszumachen haben, bestimmen sie irgendein Kaffeehaus zu ihrer Unterredung. – In einigen Gegenden überschreitet sogar die Eifersucht ihre Andacht so weit, daß sie ihre Weiber nicht in die Moschee gehen lassen, ja nicht einmal gestatten, daß ihre Pfaffen nach dem ausdrücklichen Befehl ihres Propheten die Betstunde verkündigen, damit sie nicht von der Höhe ihrer Türme in die Häuser sehen können. Wo war denn eine Möglichkeit, meine Schwester zu entdecken – wie oft war ich vielleicht ihr nächster Nachbar – wie oft hab' ich vielleicht mit ihr unter einem Dache gewohnt – mit ihr dieselbe Karawane gemacht? Ich habe sie vielleicht gesehen, ohne sie unter den Schleiern zu erkennen. – Oh, alle Hoffnung war verloren. – Ich ging von Ispahan nach Candabar, und dann über den Indus.
»Ich kann Euch meine Gefühle bei dem Eintritt in Euer Reich nicht beschreiben – es war, als ob ich aus der Finsternis in das Licht, aus dem Fegefeuer in den Himmel gekommen wäre. – Ich reiste durch mehrere Fürstentümer; welche Szenen von Glückseligkeit sah ich – welchen Überfluß traf ich, wo ich hinkam – ich eilte nach Kalekut, wo ich die Gräfin von Raldabar antraf, die mich Eurem Onkel, dem Kaiser, zu Virnapor vorstellte.
»Zu einer Reihe von so beschwerlichen und gefahrvollen Reisen, als ich gemacht habe, möchte ich unmöglich meinen ärgsten Todfeind verdammen. Wenn Ihr aber alles das in der Welt gesehen hättet, wovon ich Augenzeuge war, würde es wenigstens den Nutzen für Euch haben, daß Ihr wahrscheinlich meine Landsleute weniger beleidigen, und nicht über jedes Vorurteil, jede Ungereimtheit Eure Unzufriedenheit äußern würdet.
»Die Meinungen aller Nationen sind fast über jeden Gegenstand verschieden – folglich auch ihre Begriffe von Anstand, Liebe und Ehe.
»In Europa würde es indezent sein, wenn ein Mädchen einen Mann um seine Liebe bitten sollte, ja in einigen Gegenden muß der bittende Liebhaber das erste Mal abgewiesen werden, nur einem zum dritten Male wiederholten Liebesantrag darf ein sittsames Mädchen Gehör geben.
»In der Ukraine hingegen, wenn ein Kosakenmädchen für einen Jüngling Neigung fühlt, so besucht sie seine Eltern, setzt sich in der Mitte der Stube nieder und sagt zu dem Geliebten: ›Ivan Fedor, die Güte, die in deinen Zügen liegt, ist ein gewisses Zeichen, daß du dein künftiges Weib gut halten und lieben wirst – ich bin also gekommen, dich um deine Hand zu bitten‹ – sie wiederholt beinahe dieselbe Anrede den Eltern und bittet sie um ihre Einwilligung. Wird ihr diese abgeschlagen, so sagt sie, daß sie das Haus nicht verlassen wird, bis sie einwilligen. Öfters bestehen sie auf ihrer Weigerung; wenn aber das Mädchen einige Tage oder Wochen in ihren Bitten beharrt – so müssen sie nicht nur selbst die Heirat zugeben, sondern noch ihren Sohn, wenn sich dieser weigern sollte, dazu zu bereden suchen. Keine Eltern können ein solches Mädchen mit Gewalt aus dem Hause jagen, es würde dessen Familie beschimpfen und den Zorn des Himmels auf ihre eigene bringen.
»In einigen Ländern wird die Jungfrauschaft über alles geschätzt; ein Sklavenhändler würde mit dem Tode bestraft, der es wagte, ein Mädchen, das nicht eine reine Jungfrau ist, in den Harem des Sultans zu bringen; daher kommt die Achtung, die die Araber, Türken und Juden den Hochzeitsbettüchern erzeigen. Es würde sehr unschicklich sein, einen Türken nach der Gesundheit seines Weibes zu fragen, und doch sind die Begriffe von Dezenz so verschieden, daß er es nicht unschicklich findet, besagte Tücher öffentlich zu zeigen.
»In der Ukraine gehen sie noch weiter; die Braut wird von ihren weiblichen Verwandten untersucht: werden die Zeichen der unbefleckten Jungfrauenschaft gefunden, so wird sie zu Bette gebracht – die Hochzeitsgäste kommen tanzend in das Zimmer – hört man sie seufzen und stöhnen, so wird der Tanz lebhafter, und die ganze Gesellschaft bricht in Freuden- und Jubelgeschrei aus. Wenn die Braut aber still liegt, so hört der Tanz auf: die Fröhlichkeit der Gäste geht in Traurigkeit und Stille über; das Hemd wird vorgezeigt; sind die gehörigen Zeichen darin sichtbar, so wird eine rote Flagge vor das Haus ausgehangen und die Braut mit Glückwünschen und Geschenken überhäuft; wo nicht, so wird eine zerrissene Flagge aufgesteckt und die Braut sowohl als ihre Mutter mißhandelt.
»In anderen Weltteilen wird die Jungfrauenschaft für eine Blume gehalten, die des Pflückens nicht wert ist; und die faulen Bräutigame in den neuentdeckten Ländern haben oft die europäischen Matrosen bezahlt, die Pflichten der Brautnacht zu erfüllen.
»In Persien, wie Ihr gehört habt, wurde ich zu einer Hochzeit zwischen Bruder und Schwester geladen – zum Gegensatz hatte ich vorher einen jungen Griechen gekannt, der in ein artiges Mädchen, voll guter Eigenschaften, verliebt war und sie doch nicht heiraten durfte; die Popen hielten diese Verbindung für eine Blutschande, weil seine Eltern zufällig die Taufpaten des Mädchens waren. Die Juden nötigten wieder einen Mann, seines Bruders Witwe zu heiraten, um seinen Stamm fortzupflanzen. Bei den alten Ägyptern war die Heirat zwischen Bruder und Schwester nicht nur erlaubt, sondern von den Gesetzen anbefohlen, weil Isis und Osiris, die Stifter ihres Glaubens, in ihrer Ehe so glücklich waren.
»In Armenien darf nur der Junggeselle eine Jungfrau heiraten, der Witwer muß wieder eine Witwe nehmen – und eine dritte Heirat wäre schändlich.
»Unter den Hottentotten besteht die Zeremonie darin, daß der Priester die Braut bep…st, und doch ist die Heirat eine solche Epoche in ihrem Leben, daß eine Witwe, so oft sie wieder heiratet, jedesmal ein Glied von einem Finger abschneiden muß. Bei einigen Nationen dürfen die Weiber Liebesintrigen haben, solange sie unverheiratet bleiben; bei anderen, sobald sie verheiratet sind.
»Das Hottentottenmädchen (vergebt, daß ich einer so barbarischen Nation erwähne) darf so viel Liebhaber haben, als sie will, aber es kostet ihr das Leben, wenn sie außer der Ehe Mutter wird; wenn hingegen ein Kosakenmädchen das Unglück hat, zur Bevölkerung ihres Landes beizutragen, so wird sie zwar nicht am Leben bestraft, aber an die Kirchentür festgebunden, und jeder gute Christ hat vollkommene Freiheit, ihr ins Gesicht zu spucken.
»In einigen Ländern werden die Kinder in der Wiege von den Eltern einander zur Ehe versprochen, und kein Armenier, Mann oder Knabe, sei er auch noch so jung, darf außer Landes gehen, ohne vorher förmlich verlobt zu sein.
»Bei den Mohammedanern sieht sich das Brautpaar nicht eher, als bis die Zeremonie der Trauung vorbei ist, und bei den strengen Armeniern muß die Braut, mit einer großen Mütze auf dem Kopf und in einen langen Scharlachschleier eingehüllt, drei Tage wie eine Statue auf dem Sofa sitzen bleiben.
»Die Vermählung des Gallanegers in Abessinien ist wieder viel einfacher. Er besitzt nichts Kostbareres als seine Kuh, und seine Erkorene mit diesem nutzbaren Tiere zu vergleichen, ist bei ihm die größte Ehrenbezeugung, der größte Beweis seiner Liebe. Der Verlust seiner Kuh würde die größte Strafe seines Meineids sein. Er nähert sich seiner Schönen mit Grashalmen in der einen Hand, mit Kuhmist in der anderen, indem er sie feierlich anredet: ›Möge dies nie hineingehen, oder dieses nie herauskommen, wenn ich dich je verlasse.‹
»Könnte wohl irgend etwas auffallender sein, als der Unterschied zwischen den Sitten und Gebräuchen der Perser und der Abessinier? Ich habe Perser gekannt, die in ihrem Leben nie die Gesichter ihrer eigenen Töchter gesehen haben; in Abessinien habe ich mit den vornehmsten Damen des Landes gespeist. Hier ist der Cicisbeismus so allgemein wie in Italien. Bei ihren Banketten wird sogar auf die Galanterie Rücksicht genommen, und jeder Kavalier sitzt neben der Dame seines Herzens; wer würde diese Verfeinerung in Afrika erwarten? Ich habe gesehen, daß ein liebendes Paar in der Mitte des Festes aufgestanden ist und sich auf dem Teppich ohne Scheu unterhalten hat; bei ihrer Zurückkunft haben ihre nächsten Nachbarn auf ihre Gesundheit getrunken und sie mit Gelegenheitskomplimenten überhäuft.
»Es gibt Länder, wo die Weiber so gering geachtet werden, daß der Mörder eines Kindes, Sklaven oder Weibes nur die Hälfte der Strafe bezahlt, die ihm der Mord eines Mannes kosten würde. Was würde Sir Philipp Sidney zu diesem Gesetze sagen? er, ein Engländer, der, nachdem er zum König von Polen erwählt worden, eine Monarchenkrone ausschlug, um seiner Dame als ein wahrer Ritter zu dienen.
»In dem Lande, wo Lykurg die spartanischen Weiber nackend miteinander ringen ließ, würde es vielleicht für eine heutige Griechin sehr unschicklich sein, die Spitzen ihrer Finger zu zeigen. In jenen Gegenden, wo Eure unnachahmliche Semiramis regierte, würde sich eine Hausmutter, die die Hühner füttert, mit ihrem Schleier bedecken, wenn ihr der Hahn zu nahe kommen sollte.
»Mein lieber Firnos, ich habe diese Eigenheiten nicht etwa erwähnt, um Euch einen prahlerischen Beweis meiner Kenntnisse zu geben, sondern um Eure Verwunderung oder Euren Abscheu zu vermindern, die Euch vielleicht manches, was Ihr in England sehen oder hören werdet, verursachen wird.
»Jede Nation hat nicht nur ihre eigenen Meinungen und Gebräuche, sondern sie zieht sie auch den Gewohnheiten anderer vor. Die Mohammedaner finden nicht nur keine Unschicklichkeit oder keinen Mißbrauch in der Vielweiberei, sondern es gibt deren viele, die leben und sterben, ohne sich einzubilden, daß ein anderes System bestehen könne. Ich bitte Euch also, predigt nicht gleich jedem Neubekannten von den Vorteilen des Systems der Naïren. Euer Enthusiasmus würde sie nur unterhalten, oder Eure Ketzerei die nämliche Gefahr laufen, wie der Christ, der versuchen wollte, einen Türken zu bekehren, oder ihm raten sollte, seinen Harem zu entlassen. Laßt Euch aber auch nicht durch die Fehler anderer Nationen irre führen, zweifelt nicht an der Möglichkeit, der wahren Weisheit nahen zu können. Natur, diese wohltätige Göttin, hat den übrigen Geschöpfen der Erde Instinkt gegeben. Instinkt ist ihr einziges, aber auch ein unfehlbares, untrügliches Gesetz. Nur dem Menschen wollte sie kein Gesetz auflegen. Sie gab ihm Vernunft, und der Vernunft ist verstattet, für sich selbst zu urteilen. Die Menschen können ihre Systeme einrichten und verändern, so oft sie wollen; aber so, wie die Kunst nie vollkommener ist, als wenn sie die Natur nachahmt, so ist die Vernunft nie weiter vom Irrtum entfernt, als wenn sie den Instinkt nachahmt; und jeder wird eingestehen, daß das System der Galanterie und der Erbfolge in Eurem Lande, wo beide Geschlechter in der Liebe frei sind und die Kinder nur der Mutter angehören, die höchste Nachahmung des Instinkts dieses ewigen Gesetzes der Natur sei.«