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Zwei blaue Vögel

Es war einmal eine Frau, die liebte ihren Mann, aber leben konnte sie nicht mit ihm. Der Mann wiederum war seiner Frau von Herzen zugetan, aber leben konnte er nicht mit ihr. Sie waren beide noch nicht vierzig Jahre alt, beide hübsch und beide anziehend. Sie brachten einander die aufrichtigste Wertschätzung entgegen und kamen sich, so wunderlich das klingen mag, wie in alle Ewigkeit verheiratet vor. Sie kannten einander genauer als Irgendwen sonst auf der Welt, und jeder von Beiden wußte, daß der Andere ihn tiefer kannte als irgendeinen anderen Menschen.

Und trotz alledem konnten sie nicht miteinander leben. Zumeist hielten sie sich, erdkundlich ausgedrückt, tausend Meilen voneinander entfernt. Ihm aber ging es so: Wenn er droben im grauen England saß, waren seine unterbewußten Gedanken mit einer Art von grimmiger Treue bei der Frau, die weit drunten in der Sonne, im Süden, ihre galanten Abenteuer erlebte und dabei (er wußte das) eine wunderliche Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Treue hatte. Und ihr ging es so: Wenn sie auf der Terrasse über dem Meere ihren Cocktail trank und mit dem bitteren Blick ihrer grauen Augen das ernsthafte dunkle Gesicht ihres Verehrers betrachtete, den sie eigentlich gern, sogar recht gern leiden mochte, so beschäftigten sich ihre Gedanken in Wahrheit mit ihrem hübschen jungen Gatten: was für ein sauber geschnittenes Gesicht er hatte, und wie er gerade eben wohl seine Sekretärin um irgendeinen Dienst bat, mit dem wohlgelaunten und zuversichtlichen Stimmklang eines Mannes, der weiß, daß sein Verlangen nur zu gern erfüllt werden wird.

Die Sekretärin betete ihn natürlich an. Sie war äußerst tüchtig, sehr jung und recht hübsch. Sie betete ihn an. Aber das taten Alle, die in seinem Dienst standen, besonders soweit sie weiblichen Geschlechts waren. Bei männlichen Bediensteten stand mit einiger Sicherheit fest, daß sie ihn beschwindelten.

Da haben wir nun also einen Mann, der von seiner Sekretärin angebetet wird: Was würde die Leserin, sofern sie mit ihm verheiratet wäre, tun? Nicht daß in unserem Falle irgend etwas ›Unrechtes‹ dabei gewesen wäre (man wird verstehen, wie ich das meine). Nichts, was man hätte ›Ehebruch‹ nennen können – wenn es schon einmal plump und deutlich gesagt werden muß. Nein, nein! Er war der junge Arbeitgeber, sie war die Sekretärin; nichts weiter. Er diktierte ihr, sie schuftete für ihn und betete ihn an, und das Ganze lief wie auf Gummirädern.

Er seinerseits betete sie nicht an. Es ist ja auch nicht erforderlich, daß man seine Sekretärin anbetet. Aber er war auf sie angewiesen. »Ich verlasse mich vollkommen auf Miß Wrexall.« Wohingegen er sich auf seine Frau niemals verlassen konnte. Das Einzige, was er von ihr ganz genau wußte, war, daß sie auch gar nicht die Absicht hatte, verläßlich zu sein.

Infolgedessen blieben sie gute Freunde; das heißt: es bestand zwischen ihnen die schauerliche wortlose Vertrautheit von Leuten, die nun einmal miteinander verheiratet sind. Fast in jedem Jahre machten sie eine gemeinsame Erholungsreise, und wenn sie nicht ›Mann und Frau‹ gewesen wären, so hätte Eins am Anderen viel Spaß und Anregung finden können. Die Tatsache aber, daß sie verheiratet waren, daß sie schon seit zwölf Jahren verheiratet waren, und daß sie nun seit drei Jahren nicht mehr miteinander leben konnten, verdarb ihnen alles. Eins hegte gegen das Andere ein stummes Gefühl der Bitterkeit.

Bei alledem waren sie so freundlich wie nur möglich. Er war ihr gegenüber die verkörperte Großmut und bewahrte ihr eine wahrhaft zärtliche Achtung; daran änderten ihre vielen galanten Abenteuer nichts. Die galanten Abenteuer gehörten eben untrennbar zu ihrem zeitgemäßen Wesen. »Schließlich und endlich muß ich doch leben! Ich kann mich nun einmal nicht in fünf Minuten in eine Salzsäule verwandeln, nur weil wir nicht miteinander leben können. Eine Frau wie ich braucht Jahre, um zur Salzsäule zu werden. Ich hoffe wenigstens, daß es so lange dauert.«

»Aber ja!« sagte er. »Aber ja! Mach sie in Lake ein, sage ich dir, mach Salzgurken aus ihnen, solange du dich noch nicht auskristallisiert hast. Einen besseren Rat kann ich dir nicht geben.«

Ja, so war er nun: so unheimlich gescheit und rätselhaft. Unter den Salzgurken konnte sie sich schließlich wohl so annähernd etwas vorstellen, aber das ›Auskristallisieren‹ – was meinte er damit?

Und – wollte er vielleicht sagen, daß er selbst sich als hinlänglich eingemacht betrachtete, daß er eine weitere Behandlung mit der Lake nicht brauchte – daß sie sein Aroma verderben würde? War es das, was er meinte? Und sie – war sie das salzige Rinnsal und das Tal der Tränen?

Man weiß doch nie, dachte sie, auf was für Schleichwegen die Gedanken eines Mannes gehen, wenn er wahrhaft gescheit und rätselhaft – und nebenbei auch ein bißchen verdreht ist. Er war nämlich anbetungswürdig verdreht – anbetungswürdig allein schon durch das Zucken seines geschmeidigen, eitlen Mundes, dessen lange Oberlippe eine Welt von Dünkel ausdrückte! Freilich, so ein hübscher junger Mann, in allen Zügen untadelig geschnitten, Schauspielerblut in den Adern – mußte der nicht eitel sein? Er war nicht schuld daran; die Frauen machten ihn dazu.

Oh, die Frauen! Wie entzückend wären die Männer, wenn es keine anderen Frauen gäbe!

Und wie entzückend wären die Frauen, wenn es keine anderen Männer gäbe! Da hat so eine Sekretärin es gut. Die hat vielleicht auch einen Mann zu Hause, aber ein Ehemann ist doch bloß ein Schnitzelchen von einem Manne, verglichen mit einem Arbeitgeber, einem Chef, einem Manne, der diktiert, dessen Worte man treulich niederschreibt und in die Maschine überträgt! Man stelle sich nur einmal eine Ehefrau vor, die alles niederschreibt, was ihr Mann zu ihr sagt! Aber eine Sekretärin –! Jedes ›und‹ und ›aber‹ von ihm bewahrt sie für die Ewigkeit auf. Eingezuckerte Veilchen sind nichts dagegen.

Nun ist das ja ganz gut und schön: Liebesgeschichten unter der südlichen Sonne erleben; aber man darf dann nicht droben im Norden eine Stätte haben, die man von Rechts wegen als Heimat betrachten müßte, und man darf nicht denken müssen, daß an dieser Stätte ein junger Ehemann sitzt, den man anbetet, und der einer Sekretärin diktiert, die man zwar nicht geradezu haßt (dazu verachtet man sie zu sehr, nicht wahr?), die man aber doch ziemlich gründlich verabscheut – obwohl man zugeben muß, daß sie auch ihre guten Seiten hat. Eine Liebesgeschichte macht nur geringen Spaß, wenn man ein Sandkorn im Auge hat! Oder einen Widerhaken im Unterbewußtsein.

Was kann man in einem solchen Falle tun? Natürlich schickte der Ehemann seine Frau nicht etwa fort.

»Du hast doch deine Sekretärin und deine Arbeit«, sagte sie. »Da ist kein Raum für mich.«

»Kein Raum?« antwortete er. »Es ist ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer ausschließlich für dich da. Und ein Garten und ein halbes Auto. Mach es dir hier so gemütlich wie möglich. Tu alles, was dir nur irgend Spaß macht.«

»Dann«, sagte sie, »will ich mal für den Winter nach dem Süden fahren.«

»Ja, tu das«, sagte er. »Das macht dir doch immer Freude.«

»Das macht mir immer Freude«, antwortete sie.

Sie trennten sich mit einer gewissen Härte, hinter der sich ein bißchen Sehnsucht und ein bißchen Empfindsamkeit verbargen. Von dannen fuhr sie zu ihren Liebeserlebnissen, die, wie das sprichwörtliche Ei des Hilfspfarrers, nur teilweise schmackhaft waren. Und er setzte sich hin und arbeitete. Er haßte die Arbeit, sagte er; aber er tat niemals etwas Anderes. Zehn oder elf Stunden täglich. Das nennt man dann ›sein eigener Herr sein‹!

So schlich sich der Winter davon, und es kam der Frühling: die Jahreszeit, wo die Schwalben heimwärts (oder in diesem Falle: nordwärts) fliegen. Dieser Winter war nur einer in der Reihe ähnlicher Winter, aber er war ein bißchen schwer auszuhalten. Das Sandkörnchen im Auge der liebesfreudigen Dame hatte sich nur um so tiefer eingebohrt, je mehr sie zwinkerte. Dunkelhäutige Gesichter mochten noch so dunkelhäutig sein, und eiskalte Cocktails mochten mit sanfter Glut ins Blut gehen; sie zwinkerte und zwinkerte, um das Sandkörnchen loszuwerden, aber es half nicht. Unter den würzig duftenden Kugelblüten der Mimose dachte sie an ihren Mann droben in seinem Bücherzimmer und an seine nette, tüchtige, aber gewöhnliche kleine Sekretärin, die tagein, tagaus alles niederschrieb, was er sagte.

»Wie kann ein Mann das nur aushalten! Und wie kann sie es nur aushalten, das gewöhnliche kleine Geschöpf, das! Ich verstehe so etwas nicht!« sagte die Frau – laut, aber zu sich selbst.

Sie meinte damit die Diktiererei, meinte die täglichen zehn Stunden des engen Beisammenseins ›à deux‹: zwei Leute, die nur durch einen Bleistift und einen Strom von Worten voneinander getrennt sind.

Was war da zu tun? Die Dinge waren nicht besser, sie waren schlimmer geworden. Die kleine Sekretärin hatte ihre Mutter und ihre Schwester in der Wohnung einquartiert. Die Mutter war so etwas wie Köchin und Haushälterin in einer Person; die Tochter betätigte sich als Hausmädchen (man kann auch ›Stütze‹ sagen) – sie besorgte die feine Wäsche, sie hielt ›seine‹ Kleidung in Ordnung, sie leistete die allerbesten Kammerdienste. Es war wirklich eine ausgezeichnete Regelung. Die alte Mutter kochte eine treffliche Hausmannskost, die Schwester der Sekretärin war ein so guter Kammerdiener, wie man ihn sich nur wünschen kann; sie wusch prächtigste hielt das Haus sauber, sie bediente bei Tisch. Und alle miteinander waren sie sparsam bis zum Geiz. Sie kannten seine Angelegenheiten bis ins Letzte. Die Sekretärin sauste zur Stadt, sobald ein Gläubiger gefährlich wurde, und steuerte ›ihn‹ sanft und glatt über jede Geldklemme hinweg.

Denn ›er‹ hatte natürlich Schulden, und er arbeitete, um sie abzahlen zu können. Wäre er ein Märchenprinz gewesen, der die Ameisen zu seiner Hilfe herbeirufen konnte, so hätte er damit nicht Wunderbareres zustande gebracht, als es ihm hier in dem Augenblick gelungen war, da er sich die Sekretärin und ihre Familie sicherte. Lohn beanspruchten sie eigentlich überhaupt nicht. Und man konnte meinen, sie vollbrächten täglich das Wunder mit den Broten und Fischen.

›Sie‹ dagegen war natürlich die Frau, die ihren Mann liebte, aber ihn in Schulden stürzte; und sie war eine besonders kostspielige Ausgabe dieser Gattung. Immerhin sobald sie in ihrem ›Heim‹ austauchte, wurde sie von der Sekretärinnenfamilie mit einer Fülle von Aufmerksamkeit und Ehrerbietung empfangen, die sorgsamsten Plan verriet. Ein Ritter, der von den Kreuzzügen heimkehrte, kann nicht mehr Trubel verursacht haben. Sie kam sich vor wie eine Königin Elisabeth in Kenilworth, wie eine Herrscherin, die ihren treuen Untertanen einen Besuch abstattet. Vielleicht aber schwamm ihr dabei immer heimtückisch ein Haar in der Suppe: Wie froh sie wohl sein würden, wenn, sie mich wieder los wären!

Dagegen aber erhoben sie heftigen Widerspruch: Nein! Nein! Sie hatten den Augenblick, da sie kommen würde, ersehnt, erhofft, herbeigebetet. Sie hatten es wie eine Himmelsgnade erfleht, daß sie dasein möchte in ihrem Rang: als Herrin, als ›seine‹ Frau. Man denke: ›seine‹ Frau!

›Seine‹ Frau! Für seinen Kopf war es ein Heiligenschein, für ihren Kopf ein Wasserkübel.

Die Mutter und Köchin rechnete sich zu den ›Leuten‹, die Tochter und Stütze nicht minder. Die Tochter kam herein und wünschte Befehle zu erhalten.

»Was für Anordnungen treffen Sie für morgen zum Frühstück und zum Essen, Mrs. Gee?«

»Tja – was pflegen Sie denn sonst so zu kochen?«

»Oh, wir möchten gern, daß Sie sagen, was Sie haben wollen.«

»Nein – was kochen Sie denn sonst

»Es ist nichts Bestimmtes festgelegt. Mutter geht einholen und kauft das Beste, was sie finden kann – was gut und frisch ist. Aber sie meinte, Sie würden ihr sagen, was sie holen soll.«

»Ach, ich weiß wirklich nicht. Ich verstehe mich nicht besonders auf so was. Sagen Sie ihr, sie soll es machen wie immer; ich bin überzeugt, daß sie am besten weiß, was richtig ist.«

Kann man sich etwas Unmöglicheres vorstellen? Der Haushalt war makellos und lief mit traumhafter Sicherheit ab. Wie konnte es da eine unzuständige und durchaus unzuverlässige Frau wagen, sich einzumischen, wenn sie diese erstaunliche und beinahe schon überirdische Sparsamkeit sah! Die Leute hielten ja den Haushalt tatsächlich ohne Geld in Gang!

Einfach erstaunliche Menschen waren das! Und wie sie ihr Palmzweige auf den Weg streuten!

Aber damit erreichten sie nur, daß sie sich lächerlich vorkam. »Findest du nicht, daß die Familie sich ausgezeichnet macht?« fragte er vorsichtig forschend.

»Fabelhaft! Also das ist schon beinahe romantisch!« antwortete sie. »Du bist wohl vollkommen glücklich?«

»Sagen wir: ich fühle mich vollkommen behaglich«, antwortete er.

»Das sehe ich«, bestätigte sie. »Es ist wirklich zum Staunen! Ich habe so etwas von Behaglichkeit noch nicht gesehen! Bist du eigentlich ganz sicher, daß es dir nicht schadet?«

Sie musterte ihn verstohlen. Er sah ausgezeichnet aus – und wunderhübsch in seiner schauspielerhaft wirkenden Art. Er war beklemmend gepflegt und gut angezogen. Und er hatte die fröhliche Sicherheit und Wohlgelauntheit, die den Mann so gut kleidet, und die ihm nur dann beschieden ist, wenn er sich Hahn im Körbchen weiß und von seinen Hennen liebend umworben wird.

»Ja! Da bin ich ganz sicher!« sagte er, nahm die Pfeife aus dem Munde und wandte sich ihr mit einem vieldeutigen Lächeln zu. »Seh ich aus wie Einer, dem was schadet?«

»Nein, das tust du nicht«, antwortete sie rasch; wobei sie natürlich, wie man es von einer Frau heutzutage erwartet, an seine Gesundheit und sein Behagen dachte: Dinge, die ja, wie Jeder weiß, die Grundlage allen Glückes sind.

Dann aber versuchte sie natürlich, ihn von hinten zu treffen.

»Vielleicht ist es aber für deine Arbeit nicht so gut wie für dich selbst«, sagte sie, und sie sagte es ziemlich leise. Sie wußte, daß er es nicht vertragen konnte, wenn sie auch nur das geringste Spottwort gegen seine Arbeit sagte. Und er wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn sie mit dieser ziemlich leisen Stimme sprach.

»Wieso?« fragte er und hob die Brauen.

»Ach, ich weiß selbst nicht«, sagte sie gleichgültig. »Vielleicht tut es eurer Arbeit nicht gut, wenn euch Männern das Leben allzu behaglich gemacht wird.«

»Na, hör mal, das kannst du aber von mir nicht behaupten!« sagte er, indem er einen bühnenmäßigen Gang durch das Zimmer machte und heftig an seiner Pfeife sog. »Wenn du bedenkst, daß ich tatsächlich nach der Uhr genau zwölf Stunden am Tage arbeite und an kurzen Arbeitstagen zehn Stunden, dann kannst du meiner Meinung nach wirklich nicht behaupten, daß ich durch behagliches Leben in meiner Leistung sinke.«

»Nein, das ist wohl richtig«, gab sie zu.

Im Stillen aber war sie anderer Ansicht. Seine Behaglichkeit bestand weniger aus gutem Essen und einem weichen Bett als darin, daß niemand, aber auch ganz und gar niemand und nichts ihm jemals den leisesten Widerspruch entgegensetzte. Wie hatte doch die Sekretärin einmal zu ihr gesagt? »Mit tut der Gedanke so wohl, daß nichts an ihn herankommt, was ihn reizen könnte.«

»Nichts, was ihn reizen könnte!« Ein netter Zustand für einen Mann! Sich von Frauen päppeln zu lassen, die nicht zulassen, daß er ›gereizt‹ wird. Wenn irgend etwas seine verwundete Eitelkeit reizen konnte, so war es das!

So dachte die Frau. Aber was konnte sie tun? Am Schweigen der Mitternacht hörte sie seine ferne Stimme, einsam und eintönig: er diktierte immerzu; und das klang wie die Stimme Gottes, der zu Samuel sprach. Und deutlich sah sie die kleine Sekretärin vor sich, wie sie am Tische saß und emsig ihre Kurzschrift auf den Block kritzelte. Dann, in den sonnigen Morgenstunden, während ›er‹ noch im Bett lag (er stand nie vor Mittag auf), kam aus einem anderen fernen Zimmer das scharfe insektenhafte Geräusch der Schreibmaschine: das klang, als wenn ein riesiger Grashüpfer zirpte und knatterte. Aber es war die Sekretärin, das arme Ding, und sie übertrug sein Diktat.

Sie bestand tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen, die Kleine, so schuftete sie; und dabei war sie erst achtundzwanzig. Ein zartes, hübsches Persönchen, aber vollkommen abgearbeitet. Sie leistete ja auch viel mehr als er, denn sie mußte nicht nur alle die vielen Worte aufnehmen, die er von sich gab – sie mußte sie auch mit drei Durchschlägen in die Maschine übertragen, während er noch im Bett lag.

»Was in aller Welt hat sie bloß davon?« dachte die Frau – »das möchte ich wirklich mal wissen. Sie schuftet, daß sie wie der leibhaftige Tod aussieht, und er zahlt ihr ein kümmerliches Gehalt dafür, und er hat sie noch nicht ein einziges Mal geküßt, und er wird sie auch niemals küssen oder ich versteh mich überhaupt nicht auf ihn.«

*

Ob nun die Tatsache, daß er sie – die Sekretärin ist gemeint – niemals küßte, die Dinge besser oder schlimmer machte, darüber kam die Frau nicht mit sich ins Reine. Er küßte überhaupt nicht. Niemanden. Ob sie selbst – diesmal ist die Frau gemeint – den Wunsch hatte, von ihm geküßt zu werden –, selbst darüber wurde sie sich nicht klar. Wahrscheinlich nicht, dachte sie.

Aber was in aller Welt wünschte sie sich eigentlich? Sie war doch seine Frau. Was in aller Welt wollte sie von ihm?

Was sie nicht wollte, wußte sie: es war keineswegs ihr Wunsch, alle seine Äußerungen in Kurzschrift aufzunehmen und nachher in die Maschine zu übertragen. Auch hatte sie tatsächlich keineswegs den Wunsch, von ihm geküßt zu werden; dafür kannte sie ihn zu gut. Ja, sie kannte ihn zu gut. Wenn man einen Mann zu gut kennt, vergeht Einem der Wunsch, von ihm geküßt zu werden.

Was aber dann? Was wünschte sie sich? Warum hing sie so an ihm, daß sie nicht von ihm loskommen konnte? Nur weil sie nun einmal seine Frau war? Warum hatte sie ihr ›Vergnügen‹ – ziemlich viel Vergnügen – an anderen Männern (und sie bestand unbedingt auf ihrem Vergnügen), ohne auch nur einen von ihnen jemals ernst zu nehmen? Und warum mußte sie ihn so verdammt ernst nehmen, wenn sie niemals wirklich ihr ›Vergnügen‹ an ihm hatte? Natürlich hatten sie auch gute Zeiten miteinander gehabt, früher einmal, bevor – ach, bevor tausend Dinge dazwischen kamen, die in ihrer Summe wahrhaftig ein Nichts waren. Aber sie hatte kein Vergnügen mehr an ihm. Sie hatte nicht einmal mehr Vergnügen an seiner Gesellschaft. Es war auch eine stumme, unablässige Spannung zwischen ihnen, die niemals nachließ, auch dann nicht, wenn sie tausend Meilen voneinander entfernt waren.

Scheußlich! Und das nennt man nun Verheiratetsein! Aber was kann man da tun? Lächerlich: das alles ganz genau zu wissen und nichts dagegen zu tun!

Wieder einmal kam sie heim, und da war sie nun, ein Gast im eigenen Hause, sozusagen ein Über-Gast, sogar für ihn. Und für die Sekretärinnenfamilie, die ihm ihr Leben weihte.

Ihr Leben weihte! Tatsächlich, so war es! Drei Frauen gaben ihr ganzes Leben für ihn hin. Tag und Nacht! Und was bekamen sie als Gegenleistung? Nicht einen einzigen Kuß! Sehr wenig Geld, denn alle seine Schulden waren ihnen bekannt, und sie hatten es sich zur Lebensaufgabe gesetzt, für ihre Abzahlung zu sorgen! Keinerlei Aussichten! Zwölf Stunden Arbeit am Tag! Und, wenn mans recht bedachte, völlige Einsamkeit, denn ihn besuchte niemand!

Und weiter? Nichts! Vielleicht ein Gefühl des Gehobenseins und der Bedeutung, weil sie manchmal sein Bild und seinen Namen in den Zeitungen sahen. Aber war es zu glauben, daß irgendein Mensch daran sein Vergnügen finden konnte?

Und doch knieten sie davor! Es schien ihnen eine tiefe Befriedigung zu bereiten. Sie waren wie Menschen, denen eine Sendung zuteil geworden ist. Ein ungewöhnlicher Fall!

Na schön, wenn sie daran genug hatten – mochten sie! Sie waren natürlich ziemlich gewöhnlich, waren ›Leute aus dem Volk‹; es haftete wohl für sie eine Art von Zauber daran.

Für ihn aber war es schlimm. Das war nun einmal gewiß. Was er schrieb, wurde weitschweifig und ließ bedenklich nach. Was Wunder! Sein ganzer Ton verlor an Feinheit – wurde gewöhnlicher. Und das war natürlich schlimm für ihn.

Ich bin ja nun einmal seine Frau, dachte sie, und da muß ich wohl eigentlich etwas tun, um ihn zu retten. Aber was konnte sie tun? Wie konnte sie gegen diese vollkommen ergebene, diese märchenhafte Sekretärinnenfamilie einen Angriff unternehmen? Und doch hätte sie am liebsten die ganze Gesellschaft in den Abgrund des Vergessens gefegt. Denn natürlich taten sie ihm Schaden; richteten seine Arbeit zugrunde, richteten seinen Ruf als Schriftsteller zugrunde, richteten sein Leben zugrunde. Richteten ihn zugrunde mit ihrem Sklavendienst.

Natürlich hätte sie einen Sturmangriff auf die Drei machen müssen! Aber wie konnte sie das? So etwas von treuer Ergebenheit –! Und was hatte sie selbst als Ersatz dafür zu bieten? Sklavische Ergebenheit ganz gewiß nicht – weder für ihn noch für seinen Wortstrom. Das ganz gewiß nicht!

Sie stellte sich vor, wie er aussehen würde, wenn man ihm die Sekretärin nebst Familie wegnehmen würde. Nackt und bloß! Sie schauderte. Das war, als würde man einen nackten Säugling in den Müllkasten werfen. Nein, dachte sie, nicht zu machen.

Irgendetwas aber mußte geschehen. Das fühlte sie. Fast war sie versucht, noch weitere tausend Pfund Schulden zu machen und ihm, wie üblich, die Rechnung zu senden oder senden zu lassen.

Aber nein! Gröber mußte es sein!

Gröber mußte es sein – vielleicht aber auch feiner. Gröber oder feiner? Bald schien ihr das Eine, bald das Andere recht. Und so, im Zögern, tat sie zunächst gar nichts, kam zu keinem Entschluß, vertrödelte müßig die Tage, wartete darauf, daß sie sich zu dem Entschluß aufraffen konnte, wieder einmal abzureisen.

Es war Frühling! Narrheit war es gewesen, im Frühjahr nach dem Norden zu kommen! Und sie war vierzig! Wie kann eine Frau etwas so Blödsinniges machen, dachte sie – vierzig Jahre alt werden!

Sie ging durch den Garten am warmen Nachmittag, Vögel flöteten laut im Gebüsch, der Himmelsraum war niedrig und warm, und sie hatte nichts zu tun. Der Garten war voll von Blüten. Sie liebte sie um ihrer theaterhaften Zurschaustellung willen. Flieder und Schneeballbüsche, Goldregen und Hagedorn, Tulpen und Anemonen und bunte Sternblumen. Scharen von Blumen! Am Wegrand Beete von Vergißmeinnicht! Lichtnelken! Was für abgeschmackte Namen doch die Blumen hatten! Wenns nach mir ginge, dachte sie, würde ich sie Blautupfen und Gelbkugeln und Weißkrausen nennen. Wozu diese Gefühlsduselei?

Der Frühling hat nun einmal ein bißchen was von Unsinn und Ausstellungsprunk und Theater an sich, mit seiner wuchernden Blätterfülle und seinen Ballettmädchenscharen von Blumen – wenigstens für Den, der nicht in seinem Busen etwas Entsprechendes aufzuweisen hat. Und das hatte sie nicht.

O Himmel! Was war da hinter der Hecke los? Sie hörte eine Stimme, eine stetig redende, wie auf dem Theater tönende Stimme. O Himmel! – ›er‹ diktierte seiner Sekretärin im Garten. Gütiger Himmel, war man denn nie und nirgends davor sicher?!

Sie sah in die Runde: ja, da war natürlich mehr als genug Raum zum Entrinnen. Aber was war damit gebessert? Er würde weitermachen – immerzu. Still trat sie an die Hecke und lauschte.

Er diktierte einen Zeitschriftenaufsatz über den ›zeitgenössischen Roman‹ »Was dem heutigen Roman fehlt, ist der strenge Aufbau.« Gütiger Gott! Aufbau! Ebensogut konnte er sagen: Was dem heutigen Roman fehlt, ist Fischbein, oder ein Teelöffel, oder eine Zahnfüllung.

Aber die Sekretärin nahm auf, nahm auf, nahm auf! Nein, das konnte nicht so weitergehen! Das war mehr, als ein gesunder Mensch ertragen konnte!

Gelassen schritt sie an der Hecke hin, mit einem Schritt, der etwas Raubtierhaftes, etwas Wolfsähnliches hatte: eine breite, starke Frau in einer kostspieligen senffarbenen Seidenjacke und einem cremefarbenen Faltenrock. Ihre Beine waren lang und wohlgeformt, ihre Schuhe hatten viel Geld gekostet.

Mit einem wunderlich wolfsähnlichen geräuschlosen Schritt kam sie um die Hecke und überblickte den kleinen überschatteten Rasenplatz, auf dem die Gänseblümchen in unverschämter Fülle blühten. ›Er‹, im weißen Serscheanzug und feinem gelben Leinenhemd, lehnte unter der blaßrosa blühenden Roßkastanie in einer bunten Hängematte. Seine schöngeformte Hand hing über den Rand der Hängematte herab und schlug so etwas wie einen Takt zu seinen Worten. An einem Korbtischchen saß die kleine Sekretärin im grünen Strickkleid, beugte ihren dunklen Scheitel über ihren Kurzschriftblock und kritzelte emsig diese scheußlichen Kurzschriftzeichen. Es war nicht schwer, ihm zu folgen, denn er diktierte langsam und hielt eine Art von Rhythmus inne, zu dem seine herabbaumelnde Hand den Takt schlug.

»Jeder Roman muß einen aus den Gestalten herausragenden Helden haben, welchem immer – nein: dem immer unser Mitempfinden gehört, auch wenn wir uns über seine – auch wenn wir seine menschlichen Schwächen sehr klar erkennen – –«

Jeder Mann sein eigener Held, dachte die Frau mit grimmigem Spott; wobei sie freilich vergaß, daß jede Frau in höchstem Maße ihre eigene Heldin ist.

Aber was ihren Blick gefangen nahm, war ein blauer Vogel, der flatternd um die Füße der vertieft kritzelnden kleinen Sekretärin herumhüpfte. Blauer Vogel – damit soll gesagt sein, daß es eine Blaumeise war, mit Grau und etwas Gelb im Gefieder. Der Frau aber kam er ganz blau vor im durchsichtigen Nachmittagslicht dieses saftigen Frühlingstages, der blaue Vogel, der die hübschen, aber doch ziemlich gewöhnlichen Füße der kleinen Sekretärin umflatterte.

Der blaue Vogel! Der blaue Vogel des Glücks! Na, da hab ich also Glück! dachte die Frau. Na, da hab ich also Glück!

Und da sie wirklich Glück hatte, kam noch ein zweiter blauer Vogel – will sagen: eine zweite Blaumeise – und geriet in ein Gefecht mit der ersten Blaumeise. Zwei blaue Vögel des Glücks, die sich um das Glück einen Kampf liefern! Na, da hab ich aber Glück!

Sie stand so, daß die beiden in ihre Arbeit Vertieften sie kaum sehen konnten. ›Er‹ aber fühlte sich gestört durch die kämpfenden blauen Vögel, deren Federchen schon durch die Luft stoben.

»Entfernt euch!« sagte er sanft und wedelte abwehrend mit einem dunkelgelben Taschentuch. »Fechtet meinethalben euren Kampf aus, aber regelt eure Privatangelegenheiten gefälligst anderswo, meine verehrten kleinen Herren!«

Die kleine Sekretärin blickte rasch auf, denn sie hatte schon begonnen, seine Rede mitzuschreiben. Er lächelte sie an, mit seinem wunderlichen etwas schiefen Lächeln.

»Nein, das brauchen Sie nicht mitzuschreiben«, sagte er. »Haben Sie gesehen, wie die beiden Meisen hier aufeinander losdroschen?«

»Nein«, sagte die kleine Sekretärin und spähte heiter umher mit ihren von der Arbeit halbblinden Augen.

Da aber sah sie die seltsame, elegante, machtvolle, wölfinnenhafte Gestalt der Frau, die hinter ihr stand, und man sah ihren Augen an, wie sie erschrak.

»Aber ich«, sagte die Frau und kam heran auf ihren seltsamen, wohlgeformten, wölfinnenhaften Beinen unter dem sehr kurzen Rock.

»Sind das nicht unglaublich bösartige kleine Biester?« sagte er.

»Unglaublich!« bestätigte sie, bückte sich und hob eine kleine Brustfeder vom Boden auf. »Unglaublich! Sieh mal, wie die Federn stiegen!«

Und sie legte die Feder auf die Spitze ihres Zeigefingers und betrachtete sie. Dann betrachtete sie die Sekretärin, und dann betrachtete sie ihn. Ihre Augen hatten einen sonderbaren, wölfinnenhaften Ausdruck.

»Ich finde,« begann sie, »so ein Nachmittag wie heute ist doch das Schönste, was man sich denken kann. Keine unmittelbar treffende Sonne; alle Töne, alle Farben, alle Düfte sind gleichsam aufgelöst – verstehst du: aufgelöst in der Luft, und alles ist gesättigt – ja: gesättigt mit Frühling. Das ist, als wäre man – drinnen; du verstehst mich wohl: als wäre man drinnen im Ei und gerade im Begriff, die Schale zu durchbrechen.«

»Richtig, ja, jawohl, so ist es«, stimmte er ohne Überzeugung bei.

Es gab eine kleine Pause. Die Sekretärin sprach kein Wort. Beide warteten darauf, daß die Frau wieder gehen sollte.

»Vermutlich«, sagte sie, »bist du schrecklich beschäftigt, wie immer?«

»Na ja, das stimmt ja wohl«, sagte er und spitzte um Entschuldigung bittend den Mund.

Wieder die stumme Pause, in der er auf ihr Fortgehen wartete.

»Und da störe ich dich natürlich«, sagte sie.

»Ach, weißt du,« sagte er, »eben hab ich den beiden Blaumeisen zugesehen.«

»Ein paar kleine Teufel«, sagte die Frau und blies die Feder von ihrer Fingerspitze.

»Sind sie auch«, sagte er.

»Na, da will ich lieber gehen und euch eurer Arbeit überlassen«, sagte sie.

»Das eilt ja nicht so«, sagte er gönnerhaft und nachlässig. »Nämlich, weißt du, ich glaube, es wird hier draußen nichts Rechtes mit der Arbeit.«

»Warum hast dus denn überhaupt versucht?« fragte die Frau. »Du mußtest doch wissen, daß es nicht gehen würde.«

»Miß Wrexall meinte, es wäre zur Abwechslung mal ganz gut. Aber ich glaube, es bewährt sich ganz und gar nicht, was, Miß Wrexall?«

»Es tut mir schrecklich leid«, sagte die kleine Sekretärin.

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen?!« sagte die Frau und sah auf sie herunter, ein bißchen mitleidig, ein bißchen gutmütig, wie etwa ein Wolf auf einen kleinen Dachshundbastard heruntersieht. »Sie haben es doch gewiß nur vorgeschlagen, weil Sie meinten, es täte ihm gut.«

»Ja, ich meinte, die frische Luft würde ihm guttun«, gab die kleine Sekretärin zu.

»Ich möchte wohl mal wissen, weshalb Menschen wie Sie nie an sich selbst denken –?« fragte die Frau.

»Ich glaube, das tun wir doch; nur – anders«, antwortete die kleine Sekretärin.

»Sehr anders, wahrhaftig«, sagte die Frau spöttisch. »Warum sorgen Sie nicht dafür, daß er an Sie denkt?« redete sie langsam weiter, in einem Ton, der absichtlich schleppend schien. »An einem linden Frühlingsnachmittag wie heute müßten Sie es doch fertigbringen, daß er Ihnen Gedichte diktiert – über die blauen Vögel des Glücks, die Ihre hübschen kleinen Füße umflattern. Ich würde das bestimmt fertigbringen, wenn ich seine Sekretärin wäre.«

Die Pause, die nun folgte, war völlig lautlos. Die Frau stand reglos, statuenhaft, in der Haltung, die für sie bezeichnend war: halb wandte sie sich zu der kleinen Sekretärin um, halb war sie abgewandt. Immer kehrte sie allen Dingen halb den Rücken zu.

Die Sekretärin sah ›ihn‹ an.

»Weißt du,« sagte er, »ich diktierte gerade einen Aufsatz über die Zukunft des Romans.«

»Ich weiß«, sagte die Frau. »Und das finde ich ja gerade so greulich. Warum soll es nicht mal etwas wirklich Lebendiges im Leben eines Romandichters geben?«

Diesmal gab es ein sehr langes Schweigen; er sah gequält aus, dabei ein wenig ferngerückt und statuenhaft starr. Die kleine Sekretärin ließ den Kopf hängen. Die Frau schlenderte langsam von dannen.

»Na – wo waren wir stehen geblieben. Miß Wrexall?« hörte sie seine Stimme.

Die kleine Sekretärin fuhr auf. Sie war tief empört. Unsere schöne Beziehung, dachte sie – wie kann man sie so besudeln!

Bald aber schoß sie, fortgerissen vom Strom, auf der Flut seiner Worte davon und war allzu emsig, um noch irgendwelche Empfindungen zu haben – nur die einer stolzen Freude darüber, daß sie so emsig war.

Die Teestunde kam; die Schwester der kleinen Sekretärin brachte das Teebrett in den Garten. Und gleich darauf erschien auch die Frau. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein zichorienblaues Kleid aus feinem Stoff. Die kleine Sekretärin hatte ihre Papiere zusammengenommen und wollte fortgehen. Ziemlich hohe Absätze hat sie, dachte die Frau.

»Bleiben Sie doch. Miß Wrexall«, sagte sie laut.

Die kleine Sekretärin blieb mit einem Ruck stehen; sie zögerte.

»Ich glaube, meine Mutter erwartet mich«, sagte sie.

»Dann sagen Sie ihr, daß Sie nicht kommen. Und lassen Sie sich von ihrer Schwester noch eine Tasse bringen. Ich möchte, daß Sie mit uns Tee trinken.«

Miß Wrexall sah ›ihn‹ an: er lag, zurückgelehnt, auf einen Ellbogen gestützt, in der Hängematte und machte ein so rätselvolles Gesicht, als sollte er den Hamlet spielen.

Er warf ihr einen raschen Blick zu und spitzte mit jungenhafter Achtlosigkeit die Lippen.

»Ja, bleiben Sie doch hier und trinken Sie mal Tee mit uns«, sagte er. »Ich sehe da Erdbeeren auf dem Tisch, und ich glaube, damit kann man Sie kapern, was?«

Sie sah ihn an, lächelte schattenhaft und eilte davon, zu ihrer Mutter. Sie nahm sich sogar die Zeit, ein seidenes Kleid anzuziehen.

»Holla, wie hübsch Sie sich gemacht haben«, sagte die Frau, als die Sekretärin in zichorienblauer Seide wieder auf dem Rasenplatz erschien.

»Ach, Sie dürfen mein Kleid natürlich nicht mit Ihrem vergleichen!« sagte Miß Wrexall. Die beiden Kleider hatten ganz genau dieselbe Farbe – ganz genau.

»Na, Sie haben sich Ihres jedenfalls selbst verdient, und das ist mehr, als ich von meinem sagen kann«, antwortete die Frau, während sie Tee eingoß. »Haben Sie ihn gern stark?«

Sie traf mit der vollen Kraft ihres Blickes die zarte, überarbeitete kleine Sekretärin, die in ihrem blauen Kleide dasaß wie ein kleiner Vogel, und dieser Blick sprach zahllose dunkle Dinge, die sich mit Worten nicht sagen ließen.

»Oh, das ist mir gleich, danke schön«, sagte Miß Wrexall und beugte sich unruhig vor.

»Na, er ist ja ganz hübsch schwarz; wenn das nur nicht Ihrer Verdauung schadet«, sagte die Frau.

»Oh, dann kann ich mir ja etwas Wasser dazugießen.«

»Tja, dazu würde ich Ihnen auch raten. – Na, und wie gehts mit der Arbeit voran? Gut?« fragte die Frau, indessen sie ihren Tee trank. Jede der beiden Frauen betrachtete der anderen blaues Kleid.

»Danke«, sagte er. »So gut, wie mans erwarten darf. Der Aufsatz war ja nur ein blauer Dunst. Aber das wollen die Leute ja haben. Furchtbarer Quatsch, was, Miß Wrexall?«

Miß Wrexall rückte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

»Mich hat er interessiert,« sagte sie, »wenn auch nicht so sehr wie der Roman.«

»Der Roman? Was für ein Roman?« fragte die Frau. »Gibts einen neuen?«

Miß Wrexall sah ihn an. Nicht um die Welt hätte sie auch nur ein Wort über seine literarischen Pläne erzählt.

»Oh, ich habe Miß Wrexall gerade vorhin eine neue Idee entwickelt«, sagte er.

»Los, erzählen!« sagte die Frau. »Miß Wrexall, erzählen Sie uns mal, was für eine Idee das ist.«

Sie wandte sich im Sitzen der kleinen Sekretärin zu und sah sie unverwandt an.

»Ich fürchte, ich –« Miß Wrexall wand sich in Qualen – »ich habs noch nicht so ganz klar erfaßt.«

»Ach was, schießen Sie los! Dann sagen Sie uns eben, was Sie erfaßt haben!«

Miß Wrexall saß stumm und in quälender Verlegenheit. Sie fühlte, daß das Ganze eine Marterung sein sollte. Und sie blickte auf die blauen Falten ihres Rockes nieder.

»Ich fürchte, es geht nicht«, sagte sie.

»Aber warum denn nicht? Sie sind doch so tüchtig. Ich bin überzeugt, daß Sie alles das so beherrschen, als hätten Sie selbst es geschrieben. Ja, ich glaube gar, Sie schreiben Mr. Gees Bücher zum großen Teil in Vertretung – wahrhaftig. Er gibt Ahnen das Gerüst, und Sie machen ein Haus daraus. Nicht wahr, so ist es doch?« Sie sprach in dem spöttischen Ton, mit dem man wohl ein Kind zu necken pflegt. Und dann blickte sie auf die feinen Falten ihres blauen Rockes nieder, der aus so schönem und teurem Stoff war.

»Das alles sagen Sie natürlich nicht im Ernst –?« sagte Miß Wrexall, die allmählich ein bißchen in Hitze geriet.

»Aber natürlich tu ich das! Schon seit langer Zeit – oder wenigstens seit einiger Zeit hab ich den Verdacht, daß Sie einen großen Teil von Mr. Gees Büchern für ihn schreiben – nach den Ideen, die er Ihnen skizziert.«

Sie sagte es in scherzendem Tone, aber es war eine bewußte Grausamkeit.

Miß Wrexall straffte sich auf. »Ich müßte mich nun wohl schrecklich geschmeichelt fühlen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mich nur vor mir selber lächerlich machen wollen.«

»Ich Sie vor sich selber lächerlich machen –? Aber, liebes Kind – nichts auf der Welt könnte mir ferner liegen. Sie sind doch doppelt so gescheit wie ich – und millionenmal tüchtiger. Wirklich, mein liebes Kind, ich bewundere Sie von ganzem Herzen! Nicht für alle Perlen Indiens würde ich leisten, was Sie leisten. Ich könnte es auch gar nicht – –«

Miß Wrexall verschloß sich und saß stumm.

»Willst du damit sagen, daß meine Bücher so aussehen, als ob – –« Nun geriet auch ›er‹ in Harnisch; seine Stimme klang gepreßt vor Ärger.

»Jawohl, eben das will ich sagen«, antwortete die Frau. »– als ob Miß Wrexall sie nach deinem Entwurf geschrieben hätte. Wahrhaftig, ich habe gemeint, es wäre so – wenn du mal zu viel zu tun hast.«

»Gescheit, sehr gescheit –!« sagte er.

»Sehr!« rief sie. »Besonders dann, wenn ich unrecht hatte.«

»Du hattest unrecht«, sagte er.

»Gar nicht zu glauben!« rief sie. »Na, da hab ich mich also mal wieder geirrt.«

Es gab ein vollkommenes Schweigen.

Miß Wrexall brach es zuerst. Sie verkrampfte nervös die Finger.

»Ich sehe schon, Sie wollen vernichten, was zwischen mir und ihm besteht«, sagte sie bitter.

»Und was ist das, meine Liebe, das zwischen Ihnen und ihm besteht?« fragte die Frau.

»Ich war glücklich in der Arbeit mit ihm, in der Arbeit für ihn! Ich war glücklich in der Arbeit für ihn!« rief Miß Wrexall, und Tränen des Zornes und der Empörung füllten ihre Augen.

»Aber mein liebes Kind!« rief die Frau mit gespielter Erregung, »so seien Sie doch weiterhin glücklich in der Arbeit mit ihm, seien Sie weiterhin glücklich, solange Sie es können! Wenn es Sie glücklich macht, ja, dann freuen Sie sich doch dran! Natürlich. Halten Sie mich denn für so grausam, daß ich es Ihnen nehmen wollte? – die Arbeit mit ihm? Ich kann weder Kurzschrift noch Schreibmaschine noch doppelte Buchführung oder wie das Zeug heißt. Ich sage Ihnen ja, ich bin so untüchtig, wie ein Mensch nur sein kann. Ich habe noch niemals Geld verdient. Ich bin der Schmarotzer auf der britischen Eiche, wie der Mistelzweig. Kein blauer Vogel umflattert meine Füße. Vielleicht sind sie zu groß und plump.«

Sie sah auf ihre kostspieligen Schuhe nieder.

»Wenn ich aber hier etwas zu bemängeln hätte,« sagte sie und wandte sich ihrem Gatten zu, »dann wäre es an deinem Verhalten, Cameron. Denn du nimmst so viel von ihr und gibst ihr nichts.«

»Aber er gibt mir alles, alles!« rief Miß Wrexall. »Er gibt mir alles!«

»Wieso: alles? Was meinen Sie damit?« fragte die Frau streng und wandte sich ihr zu.

Miß Wrexall fing sich mit einem Ruck. Man konnte meinen, ein scharfes Knacken zu hören. Und nun war der Wind umgesprungen.

»Ich meine nichts damit, was Sie mir zu mißgönnen brauchen«, sagte die kleine Sekretärin ziemlich hochmütig. »Ich habe mich niemals weggeworfen.«

Es folgte eine lautlose Pause.

»Großer Gott!« sagte die Frau. »Was verstehen Sie denn eigentlich unter ›sich wegwerfen‹? Sie bekommen überhaupt nichts von ihm – Sie geben doch immer nur! Und wenn Sie das nicht ›sich wegwerfen‹ nennen – gütiger Gott!«

»Ja, sehen Sie, wir haben eben ganz verschiedene Anschauungen«, sagte die Sekretärin.

»Das kann man wohl sagen! – Gott sei Dank!« antwortete die Frau.

»Wer hat nach deiner Meinung Ursache, Gott zu danken?« fragte er spöttisch.

»Wir alle Drei, glaube ich! Du, weil du alles bekommst und nichts dafür gibst, Miß Wrexall, weil ihr das anscheinend gefällt, und ich, weil ich so hübsch außerhalb stehe.«

»Sie brauchten aber gar nicht außerhalb zu stehen,« rief Miß Wrexall großmütig, »wenn Sie sich nicht selbst ausschließen würden.«

»Schönen Dank, meine Liebe, für Ihr Anerbieten«, sagte die Frau und stand auf. »Aber ich fürchte, kein Mann darf erwarten, daß zwei blaue Vögel des Glückes seine Füße umflattern und sich gegenseitig die Federchen ausraufen.« Worauf sie sich entfernte.

Es gab eine qualvoll gespannte und verzweifelte Pause; dann rief Miß Wrexall:

»– – und braucht nun wohl wirklich irgendeine Frau auf mich eifersüchtig zu sein?!«

»Aber ja!« sagte er.

Und das war alles, was er sagte.

*

Druck der Offizin Haag-Drugulin AG. in Leipzig

 


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