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Als die Frau des Vikars mit einem jungen Habenichts durchbrannte, gab es eine Entrüstung ohne Grenzen. Ihre beiden kleinen Mädchen waren doch erst sieben und neun Jahre alt. Und der Vikar war ihr ein so guter Mann. Gewiß, er hatte graues Haar. Aber sein Schnurrbart war noch schwarz, er sah gut aus, und er war seiner leidenschaftlichen und schönen jungen Frau mit stummer Glut zugetan.
Warum ging sie davon? Warum brannte sie mit einer derartig aufregenden Plötzlichkeit durch, als hätte sie den Verstand verloren?
Niemand wußte die Frage zu beantworten. Bis auf die Frommen: die sagten, sie wäre eine Verworfene. Ein paar von den guten, also nicht verworfenen Ehefrauen schwiegen dazu. Sie kannten den Grund.
Die beiden kleinen Mädchen erfuhren ihn nie. Sie waren tief getroffen und kamen zu dem Schluß, daß ihre Mutter sich nichts aus ihnen gemacht habe.
Der böse Wind, der noch niemals Irgendwem etwas Gutes zugeblasen hat, fegte die Vikarsfamilie mit schlimmem Stoß hinweg. Aber man sehe und staune: Da bekommt der Vikar, der sich mit einiger Auszeichnung durch Aufsätze und Streitschriften hervorgetan hat und der sich durch sein Schicksal das Mitgefühl der Gelahrten erwarb, die Pfarre in Papplewick. Der Herr hat ihn gnädigen Sinnes vor dem Unheilswind in eine Pfarre im Norden gerettet.
Das Pfarrhaus war ein ziemlich häßliches Steingebäude; man sieht es, bevor man ins Dorf kommt, am Ufer der Papple liegen. Weiterhin, nachdem die Straße den Fluß gekreuzt hat, kommt man an die Steingebäude der alten Baumwollspinnereien, die sich früher ihre Antriebskraft aus dem Wasser holten. Dann schwingt sich die Straße hügelan, in die kahlen Steinstraßen des Dorfes.
Für die Vikarsfamilie bedeutete die Verpflanzung in die Pfarrstelle eine gründliche Veränderung. Der Vikar – oder vielmehr jetzt: der Pfarrherr – holte sich seine alte Mutter, seine Schwester und auch einen seiner Brüder aus der Stadt herbei. Die beiden kleinen Mädchen lebten nun in einer ganz anderen Umwelt als früher.
Der Pfarrer war zu dieser Zeit siebenundvierzig Jahre alt; er hatte sich nach der Flucht seiner Frau einem heftigen und nicht eben durch Würde gehemmten Kummer hingegeben. Mitfühlende Damen hatten ihn vom Selbstmord zurückgehalten. Sein Haar war nun fast weiß, und er blickte aus wilden Augen mit tragischem Ausdruck um sich. Man brauchte ihn nur anzusehen, so wußte man gleich, wie furchtbar das alles war und wie schlimm das Geschick ihm mitgespielt hatte.
Und doch war da irgendein falscher Ton in dem Ganzen. Und einige gerade von den Damen, deren Mitgefühl mit dem Vikar am tiefsten gewesen war, hatten gegen den Pfarrer so etwas wie eine heimliche Abneigung. Es war, wenn man ihn einmal recht besah, ein Zug versteckter Selbstgerechtigkeit in seinem Wesen.
Die kleinen Mädchen machten sich natürlich, in der noch unbewußten Art von Kindern, das in der Familie geltende Urteil zu eigen. ›Großmuttchen‹, die über Siebzig war und nicht mehr gut sah, spielte die Hauptrolle im Hause. Tante Cissie führte den Haushalt: über Vierzig, blaß, fromm, von einem verborgenen Leiden innerlich zernagt. Blieb noch Onkel Fred, ein kümmerlicher, graugesichtiger Mann von vierzig Jahren, der schmuddlig für sich hinlebte und jeden Tag zur Stadt fuhr. Nun, und der Pfarrer war natürlich die Hauptperson – nächst Großmuttchen.
Großmuttchen wurde ›Mater‹ angeredet. Sie gehörte zu den grobschlächtigen, gerissenen alten Haudegen, die ihr Leben lang ihren Willen kriegen, weil sie den Schwächen ihres Mannsvolks Butter aufs Brot zu schmieren verstehen. Und sie wußte sofort, wie das Ding anzufassen war. Der Pfarrer ›liebte‹ die Pflichtvergessene noch immer und würde sie lieben bis ans Grab. Also – psst: heilig war des Pfarrers Gefühl. In seinem Herzen beschlossen wie in einem Schrein war das reine Geschöpf, das er umworben und angebetet hatte.
Durch die böse Welt da draußen wanderte währenddessen eine mit Schande bedeckte Frau, die den Pfarrer betrogen und ihre kleinen Kinder verlassen hatte. Sie war nun an einen jungen und niederträchtigen Mann gefesselt, und er würde ihr ganz gewiß die Erniedrigung antun, die sie verdiente. Dies war mit aller Deutlichkeit klarzumachen, und dann – psst! Denn in der erhabenen Reinheit des pfarrherrlichen Herzens blühte noch immer im reinen Weiß eines Schneeglöckchens das Bild seiner jungen Braut. Das weiße Schneeglöckchen welkte nicht. Jenes andere Geschöpf, das mit dem niederträchtigen jungen Manne durchgebrannt war, hatte nichts damit gemein.
Also bestieg die Mater, die als Witwe in einem kleinen Hause ein bißchen an Würde und Bedeutung verloren hatte, ihren Thron im beherrschenden Lehnstuhl des Pfarrhauses und pflanzte ihren massigen alten Leib wieder fest in den Boden. Sie würde sich nicht wieder entthronen lassen. Listig weihte sie der pfarrherrlichen Treue für das weiße Schneeglöckchen einen ehrfürchtigen Seufzer, während sie Mißbilligung dafür heuchelte. Mit listig betonter Ehrfurcht vor der großen Liebe ihres Sohnes unterdrückte sie jedes abfällige Wort gegen die Nessel, die jetzt draußen in der bösen Welt wucherte und einst den Namen Mrs. Arthur Saywell geführt hatte. Da sie sich wieder verheiratet hatte, hieß sie jetzt, Gott sei Dank! nicht mehr Mrs. Arthur Saywell. Keine Frau trug den Namen des Pfarrherrn. Das reine weiße Schneeglöckchen blühte in perpetuum, ohne Benennung. Und in den Gedanken der Familie lebte es als ›sie, die einst Cynthia war‹.
Das alles war Wasser auf die Mühle der Mater. Es sicherte sie gegen die Gefahr, daß Arthur sich wieder verheiratete. Sie gängelte ihn an der schwächsten aller Schwächen: an seiner heimlichen Eigenliebe. Er hatte ein unvergängliches weißes Schneeglöckchen geheiratet. Der Glückliche! Ihm war Leid geschehen. Der Arme! Er hatte gelitten. Aber ach, welch ein wahrhaft liebendes Herz! Und er hatte – verziehen! Ja, dem weißen Schneeglöckchen war verziehen worden. Er hatte der Ungetreuen sogar in seinem letzten Willen gedacht, für den Fall, daß der Andere, der Schurke, einmal – – Aber psst! Nicht einmal in Gedanken sollte man der Nessel da draußen in der verderbten Welt zu nahe kommen! ›Sie, die einst Cynthia war.‹ In unzugänglicher Höhe soll das weiße Schneeglöckchen auf dem Gipfel der Vergangenheit blühen. Die Gegenwart steht auf einem anderen Blatt.
In dieser Luft, gemischt aus Gerissenheit, Selbstheiligung und bewußtem Verschweigen, wuchsen die Kinder auf. Auch sie sahen das Schneeglöckchen auf unzugänglicher Höhe blühen. Auch sie wußten, daß es in einsamem Glanze über ihrem Leben thronte, auf ewig unberührbar.
Dennoch drang zuweilen aus der unreinen Welt ein böser Pesthauch von Selbstsucht und verderbter Lust herein: der Hauch von jener Nessel, von ›ihr, die einst Cynthia war‹. Die Nessel brachte es tatsächlich fertig, von den beiden kleinen Mädchen, ihren Töchtern, dann und wann ein Briefchen zu ergattern. Und die silberhaarige Mater bebte insgeheim vor Wut. Denn wenn ›sie, die einst Cynthia war‹, jemals wiederkam, dann würde von ihr, der Mater, nicht viel übrig bleiben, das wußte sie. Ein heimlicher Strom des Hasses ging von der Großmutter aus und traf die beiden Mädchen: Waren sie doch die Kinder jener geil wuchernden Nessel, jener Cynthia, die der Mater mit so leidenschaftlicher Verachtung begegnet war.
Für die Kinder mischte sich mit alledem eine vollkommen deutliche Erinnerung an ihr eigentliches Heim, an das Vikarshaus im Süden, und an Cynthia, ihre zauberhafte, aber nicht eben verläßliche Mutter. Ein großer Glanz war um sie gewesen, ein Flutwirbel von Leben, wie eine fliegende und gefährliche Sonne kam und ging sie, kam und ging sie im Hause. Die Erinnerung an sie war für immer eine Erinnerung an Glanz, aber auch an Gefahr; an Zauber, aber auch an beklemmende Selbstsucht.
Nun war der Zauber dahin, und frierend stand, wie eine porzellanene Blüte, das weiße Schneeglöckchen auf seinem Grabe. Nicht minder dahin war die Gefahr der Unstetigkeit, war jene besonders gefährliche Art von Selbstsucht, bei der man an Löwen und Tiger denken mußte. An ihre Stelle war eine vollkommene Stetigkeit getreten, in der man ganz ungestört zugrunde gehen konnte.
Aber die Beiden gingen nicht zugrunde – sie wuchsen heran. Und je größer sie wurden, um so deutlicher wurde ihre Verwirrung, ihre Verwunderung, ihr Erstaunen vor dem Leben. Die Mater verlor im Altern immer mehr ihr Augenlicht. Sie mußte sich im Hause umherführen lassen. Sie stand erst gegen Mittag auf. Aber blind oder nicht, bettlägerig oder nicht – sie gab die Herrschaft im Hause nicht aus der Hand.
Übrigens war sie gar nicht bettlägerig. Sobald sie die Männer im Hause wußte, saß die Mater auf ihrem Thron. Sie war zu schlau, um sich zur Nachlässigkeit verlocken zu lassen. Besonders da sie Nebenbuhlerinnen hatte.
Ihre eigentliche Nebenbuhlerin war Yvette, die jüngere der beiden Schwestern. Yvette hatte etwas von der ungreifbar schweifenden, achtlosen Heiterkeit der entschwundenen Cynthia. Nur daß sie lenksamer war. Die Mater hatte sie vielleicht noch rechtzeitig in den Zügel genommen. Vielleicht –!
Der Pfarrer war vernarrt in Yvette und verzog sie mit seiner blind verliebten Zuneigung; auf eine Art, die immer zu sagen schien: Bin ich nicht ein weichherziger, nachgiebiger alter Knabe? Er gefiel sich in dieser Rolle, und die Mater kannte seine Schwächen haargenau. Sie kannte sie und schlug Kapital daraus, indem sie lauter schmückende Vorzüge und gute Eigenschaften daraus machte. Er sah sich gern im Besitz bestrickender Eigenschaften, so wie Frauen sich gern im Besitz bestrickender Kleider sehen. Und die Mater klebte klug und umsichtig Schönheitspflästerchen auf seine Mängel und Gebrechen. Ihre Mutterliebe verlieh ihr eine hellsichtige Erkenntnis seiner Schwächen, und sie verbarg sie vor seinem Blick unter ehrendem Schmuckwerk. Wohingegen ›sie, die einst Cynthia war‹ – Aber nicht einmal erwähnen sollte man sie in solchem Zusammenhang. In ihren Augen war doch der Pfarrer beinahe ein Krüppel und ein Idiot gewesen.
Hier ist die wunderliche Tatsache zu erwähnen, daß die Mater insgeheim Lucille, die ältere Schwester, gründlicher haßte als die verzogene Yvette. Lucille, schwierig und reizbar, empfand die Macht der Mater mehr und schwerer als die verzärtelte und ungreifbar schweifende Yvette.
Tante Cissie wiederum haßte Yvette. Sie haßte schon den Namen – ›Yvette‹. Tante Cissie hatte ihr ganzes Leben der Mater geopfert, und Tante Cissie wußte es, und die Mater wußte, daß sie es wußte. Im Laufe der Jahre freilich war eine Überlieferung, ein vertraglicher Zustand daraus geworden. Dieser überlieferte Zustand wurde von Allen anerkannt, Tante Cissie selbst mit einbegriffen. Diese Erkenntnis spielte eine große Rolle in ihren Gebeten. Womit wiederum bewiesen ist, daß auch sie irgendwo ihr eigenes und selbständiges Empfinden hatte, die Arme. Sie war kein eigener Mensch namens Cissie mehr, sie hatte ihr Leben und ihr Geschlecht eingebüßt. Und nun, da sie den Fünfzigern zuschlich, flackerten zuweilen seltsame grüne Flammen der Wut in ihr auf, und in solchen Augenblicken war sie wie von Sinnen.
Aber die alte Mater hatte sie und ließ sie nicht los. Tante Cissie hatte nur eine Aufgabe im Leben: sie mußte für die Mater sorgen.
Dieser höllische Haß, der manchmal wie grüne Flammen in Tante Cissie aufschoß, richtete sich gegen alles, was jung war. Dann betete sie, die Arme, und versuchte vom Himmel Vergebung zu erlangen. Sie aber konnte nicht vergeben, was ihr angetan war, und zuweilen hatte sie siedendes Gift in den Adern.
Nun muß man nicht glauben, daß die Mater eine warme, gütige Seele war. Das war sie keineswegs. Sie verstand es, pfiffig, wie sie war, nur zu scheinen. Und den Enkelinnen dämmerte allmählich die Erkenntnis ihres wahren Wesens. Unter ihrem altmodischen Spitzenhäubchen, unter ihrem Silberhaar, unter der schwarzen Seide, die sich über ihrem stämmigen, kurzen, vorgewölbten Körper spannte, verbarg die alte Frau ein schlau berechnendes Herz, das immer und immer nur auf Erhaltung ihrer weiblichen Macht sann. Mit der Schwäche der unfrischen, unlebendigen Männer hatte sie diese Macht gleichsam großgefüttert, und sie hielt sie unwandelbar fest, indessen ihre Jahre dahinflossen: vom siebzigsten zum achtzigsten und vom achtzigsten, mit neuem Anlauf, dem neunzigsten entgegen.
Denn es gab da ein überliefertes Familiengesetz, das ›festes Zusammenhalten‹ verlangte: Zusammenhalten Aller untereinander, vor allem aber im Verhältnis zur Mater. Die Mater war natürlich die Achse, um die sich das Leben der Familie drehte. Die Familie war eigentlich nur ihr erweitertes Ich. Die Macht, unter der sie die Familie hielt, war Naturgesetz. Da ihre Söhne und Töchter schwach waren, jeder für sich ein unselbständiger Splitter, so waren sie natürlich zum ›Zusammenhalten‹ geneigt. Denn – fanden sie draußen, außerhalb der Familie, etwas anderes als Gefahr und Kränkung und Schmach? Vorsicht also! hieß die Losung. Vorsicht und Zusammenhalten gegenüber der bösen Welt! Mochte es auch innerhalb der Familie noch so viel Haß und Reiberei geben – darauf kam es nicht an. Der Welt gegenüber mußte die Familie ein Wall unzerstörbarer Einheit sein.
Aber erst, als die beiden Schwestern endgültig von der Schule heimkamen, fühlten sie das volle Gewicht, mit dem die tote alte Hand der Mater auf ihrem Leben lastete. Lucille war damals fast einundzwanzig, Yvette neunzehn. Sie hatten eine gute Mädchenschule besucht und waren dann ein abschließendes Jahr in Lausanne gewesen; nun waren sie genau das, was man erwarten durfte: schlanke junge Geschöpfe mit frischen, beweglichen Gesichtern, mit kurzem Haar und jungenhaften Ich-scher-mich-den-Teufel-Manieren.
»Was ich so scheußlich öde in Papplewick finde,« sagte Yvette, indessen sie auf dem Kanaldampfer standen und die grauen, grauen Klippen von Dover langsam näherrücken sahen, »-es sind überhaupt keine Männer da. Weshalb hat Papa nicht ein paar nette alte Kerle in seiner Freundschaft? Na, und Onkel Fred – ich danke!«
»Oh, man weiß doch nie – es kann ja was auftauchen«, sagte Lucille, die mehr zu weltweiser Betrachtung neigte.
»Tu nicht so, als ob du nicht wüßtest, was uns erwartet«, sagte Yvette. »Sonntags Chorgesang, und ich kann gemischten Chor nicht ausstehen. Jungenstimmen allein sind entzückend, aber es dürfen keine Frauenstimmen dazwischen kommen. Na, und Sonntagsschule, und Jungfrauenverein, und gesellige Zusammenkünfte – alle die lieben alten Seelen, die wissen wollen, wie es Großmuttchen geht. Meilenweit nicht ein einziger netter Junge.«
»Na, ich weiß doch nicht –!« sagte Lucille. »Da sind doch schließlich immer noch Framleys. Und Gerry Somercotes himmelt dich an, das weißt du doch.«
»Ich kann Bengels, die mich anhimmeln, nicht ausstehen!« rief Yvette und kehrte ihre nervöse Nase zum Himmel. »Sie öden mich an. Sie hängen Einem an wie Blei.«
»Also anhimmeln sollen sie dich nicht. Schön. Aber was verlangst du denn eigentlich? Ich finde es furchtbar nett, sich anhimmeln zu lassen. Daß man sie nicht heiratet, versteht sich von selbst – also weshalb sollen sie nicht himmeln, wenn es ihnen Spaß macht?«
»Ich will mich aber verheiraten«, rief Yvette.
»Schön. Dann laß dich doch von ihnen anhimmeln, bis du einen darunter findest, der allenfalls fürs Heiraten in Frage kommt.«
»Auf die Art finde ich nie einen. Nichts bringt mich dermaßen auf wie ein augenverdrehender Verehrer. Sie öden mich an! Mir wird hundsmiserabel davon.«
»Mir auch, wenn sie Einem zu nahe rücken. Aber aus einiger Entfernung finde ich sie ganz nett.«
»Ich möchte mich mal ganz furchtbar verlieben.«
»Das sieht dir ähnlich! Ich nicht! Ich würde es abscheulich finden. Du wahrscheinlich auch, wenn es dir tatsächlich passierte. Und schließlich müssen wir uns wohl erst mal ein bißchen einleben, bevor wir wissen, was wir wollen.«
»Aber findest du es nicht auch scheußlich, daß wir jetzt wieder nach Papplewick müssen?« sagte Yvette und kehrte ihr nervöses Näschen zum Himmel.
»Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Gewiß, wie werden uns wohl ein bißchen langweilen. Ich wollte, Papa schaffte sich einen Wagen an. Wahrscheinlich müssen wir unsere alten Fahrräder wieder aus dem Stall holen. Wär's nicht nett, mal wieder nach Tansy Moor hinaufzufahren?«
»Oh, entzückend! Wenn es auch ein gräßliches Stück Arbeit ist, so eine alte Tretmühle die Hügel hinaufzustrampeln.«
Das Schiff näherte sich den grauen Klippen. Es war Sommer, aber der Tag war grau. Die beiden Mädchen hatten die Pelzkragen ihrer Mäntel hochgeklappt und ihre flotten kleinen Hüte über die Ohren herabgezogen. Hochgewachsen waren sie, schlank, mit frischen Gesichtern, unverbildet kindlich, dabei selbstbewußt, allzu selbstbewußt in ihrem schulmädchenhaften Dünkel – und in alledem so furchtbar englisch. Sie schienen so frei – und waren natürlich innerlich in lauter Vorurteile verwickelt und verstrickt. Sie schienen so kühn und unabhängig – und waren in Wahrheit natürlich ganz und gar abhängig und in sich selbst wie in einen Käfig eingesperrt. Sie sahen aus wie mutige, schlanke Segler, die eben aus dem Hafen auf das weite Meer des Lebens hinausfahren. Und sie waren natürlich nichts weiter als zwei arme steuerlose Lebensschiffe, die vom einen Ankerplatz nur losgekettet waren, um zum anderen zu treiben.
Als sie ins Pfarrhaus kamen, fuhr ihnen ein Frösteln ins Herz. Es kam ihnen häßlich, fast schmutzig vor; es hatte die muffige Atmosphäre jener kleinbürgerlichen, ungepflegten Behaglichkeit, die aufgehört hat, behaglich zu sein und nur noch staubig und unsauber ist. Das unfreundliche steinerne Haus mutete sie beklemmend unsauber an, sie hätten nicht zu sagen gewußt, warum. Die schäbigen Möbel schienen ihnen irgendwie schmutzig – nichts im ganzen Hause atmete Frische. Sogar das Essen, das auf den Tisch kam, hatte jene abscheuliche trostlose Gewöhnlichkeit, die für ein ›von draußen‹ kommendes junges Geschöpf so ekelerregend ist. Rostbraten und nasser Kohl, kaltes Hammelfleisch und Kartoffelbrei, saure Gurken und unentschuldbare Puddinge.
Großmuttchen, die ›gern ein Häppchen Schweinernes aß‹, bekam auch besondere Gerichte, Fleischbrühe und Zwieback oder ein Schüsselchen mit duftendem Eierrahm. Die graugesichtige Tante Cissie aß überhaupt nichts. Sie saß stumm am Tisch und legte sich nichts weiter als eine einzige einsame nackte gekochte Kartoffel auf den Teller. So saß sie mit bösartiger Beharrlichkeit während der ganzen Mahlzeit, indessen Großmuttchen eilig das für sie Zubereitete hinunterschlabberte – man konnte von Glück sagen, wenn sie sich dabei nicht den vorgewölbten Bauch bekleckerte. Was auf den Tisch kam, war in keiner Weise verlockend; wie konnte es das auch sein, wenn Tante Cissie alles Eßbare, ja den Vorgang des Essens selbst verabscheute und niemals ein Dienstmädchen auch nur ein Vierteljahr im Hause halten konnte? Die beiden Schwestern aßen mit Widerwillen, wobei Lucille wacker Haltung wahrte, während Yvettes empfindsames Näschen deutlich ihre Abneigung ausdrückte. Nur der Pfarrer, weißhaarig, machte eine Ausnahme: er wischte seinen langen grauen Schnurrbart mit dem Mundtuch und machte behaglich seine Witzchen. Auch er begann schwerfällig und träge zu werden, da er den ganzen Tag in seinem Studierzimmer saß und jede körperliche Anstrengung mied. Aber er riß immerzu seine spöttischen Witzchen und saß behaglich unter der schirmenden Obhut der Mater.
Die Landschaft mit ihren steilen Hügeln und ihren tiefen, schmalen Tälern war ernst und düster, aber es lag eine ganz eigene mächtige Kraft darin. Zwanzig Meilen entfernt begann die schwarze Industriegegend des Nordens. Aber das Dorf Papplewick war so etwas wie eine Insel, und das Leben darin war steinig und starr. Alles war aus Stein und von einer schroffen Härte, die in ihrer Unnachgiebigkeit beinahe etwas Erhabenes hatte.
Alles traf ein, wie es die Schwestern vorausgesehen hatten: sie traten wieder in den Chor ein, sie halfen in der Kirchspielarbeit. Aber Yvette wehrte sich entschieden gegen die Sonntagsschule, den Hoffnungsbund und den Christlichen Jungfrauenverein – kurz gegen alle die Betätigungen, die von ausgemachten alten Jungfern und eigensinnigen, beschränkten ältlichen Männern ausgeübt wurden. Sie drückte sich soviel wie möglich um die Kirchenpflichten und verließ das Pfarrhaus bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Die Framleys, eine große, schmuddelige, vergnügte Familie droben auf dem Grange, waren ihr da eine unschätzbare Zuflucht. Jede Einladung zu einer Mahlzeit außerhalb des Hauses nahm sie sogleich an, sogar wenn eine von den Arbeiterfrauen sie einlud, zum Tee zu bleiben. Sie spürte ein seltsames Gefühl der Erregung, wenn sie in solche Häuser kam. Sie unterhielt sich gern mit den Arbeitern; viele von ihnen hatten, fand sie, so prachtvoll geschnittene, hartlinige Köpfe. Aber sie lebten natürlich in einer anderen Welt.
So gingen die Monate hin. Gerry Somercotes war ein treuer Anbeter. Natürlich waren auch noch andere da – Söhne von Landwirten oder Mühlenbesitzern. Eigentlich hätte es für Yvette eine gute Zeit sein müssen. Es gab ununterbrochen Gesellschaften und Tanzabende, Freunde holten sie im Wagen ab und sausten mit ihr zur Stadt, zum Nachmittagstanz im vornehmsten Hotel oder in dem ›fabelhaften‹ neuen Tanzpalast, ›Pally‹ genannt.
Bei alledem ging sie immer umher wie unter einem hypnotischen Bann. Niemals fühlte sie sich so frei, daß sie wahrhaft heiter sein konnte. Tief in ihr wühlte unablässig ein unerträgliches Gefühl der Gereiztheit, die ihr selbst wie ein Unrecht vorkam, die ihr selbst verhaßt war, und die dadurch nur um so schlimmer wurde. Sie wurde sich niemals darüber klar, wodurch dieses Gefühl entstand.
Zu Hause war sie tatsächlich äußerst reizbar und benahm sich gegen Tante Cissie abscheulich grob. Yvettes böse Launenhaftigkeit wurde sprichwörtlich in der Familie.
Lucille, die schon immer mehr zum Praktischen neigte, nahm in der Stadt eine Stellung als Privatsekretärin bei einem Manne an, der Jemanden mit fließendem Französisch und Stenographie brauchte. Sie machte die Fahrt zur Stadt und von der Stadt täglich im gleichen Zuge wie Onkel Fred. Aber sie fuhren niemals gemeinsam; Lucille radelte bei gutem wie bei schlechtem Wetter zum Bahnhof, und Onkel Fred ging zu Fuß.
Die beiden Schwestern waren sich in einem Punkte einig: Sie wollten ein wirklich kurzweiliges gesellschaftliches Leben führen. Und es war für sie ein immer neuer Anlaß zur Wut, daß das Pfarrhaus für ihre Freunde ›unmöglich‹ war. Im Erdgeschoß waren nur vier Räume: die Küche, in der die beiden mißvergnügten weiblichen Dienstboten hausten; das dunkle Speisezimmer; das Studierzimmer des Pfarrers; und das große, ›gemütliche‹, traurige Wohnzimmer, auch ›Salon‹ genannt. Im Speisezimmer war ein Gasofen. Nur im Wohnzimmer wurde ein richtiges wärmendes Feuer unterhalten. Denn hier war natürlich Großmuttchens Thron aufgeschlagen.
In diesem Raum versammelte sich die Familie. Abends, nach dem Essen, pflegten der Pfarrer und Onkel Fred mit Großmuttchen unweigerlich Kreuzworträtsel zu lösen.
»Na, Mater, bist du so weit? N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»Wie? Was? M Punkt Punkt Punkt W?«
Großmuttchen war schwerhörig.
»Nein, Mater. Nicht M! N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein siamesischer Beamter.«
»N Punkt Punkt Punkt Punkt W: ein chinesischer Beamter.«
»Wie –?«
» Siamesisch! Siam!«
»– ein siamesischer Beamter! Was kann das wohl sein?« sagte die alte Dame tiefsinnig und faltete die Hände über dem rundlichen Bauch. Die beiden Söhne stellten Vermutungen an, und die alte Dame sagte »Aha! aha!« dazu. Der Pfarrer war erstaunlich findig beim Lösen von Kreuzworträtseln. Fred aber verfügte über einen gewissen technischen Wortschatz.
»Das ist aber mal eine harte Nuß«, sagte die alte Dame, wenn sie sämtlich nicht weiter wußten.
Lucille saß derweil in einer Ecke, hielt sich die Ohren zu und tat, als läse sie; Yvette arbeitete mit verärgertem Gesicht über ihrem Zeichenblock oder summte laute und herausfordernde Melodieen, um so zum Familienkonzert beizutragen. Tante Cissie holte sich Schokolade aus der Schachtel, ein Stück nach dem anderen, ihre Kinnladen arbeiteten pausenlos. Sie lebte buchstäblich von Schokolade. Sie saß abseits, schob ein neues Stück in den Mund und sah dann wieder in die Kirchenzeitschrift. Schließlich hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zeit war, für Großmuttchen die abendliche Tasse Horlicks zu holen.
Sobald sie draußen war, öffnete die nervöse Yvette mit einer erbitterten Bewegung das Fenster. Die Luft im Zimmer war niemals frisch, und Yvette meinte immer einen Geruch zu spüren: es roch nach Großmuttchen. Die Mater, schwerhörig, wie sie war, hatte Ohren wie ein Wiesel, sobald sie etwas nicht hören sollte.
»Hast du das Fenster aufgemacht, Yvette? Ich finde, du solltest eigentlich daran denken, daß wir Älteren schließlich auch noch da sind«, sagte sie.
»Man erstickt hier ja! Es ist nicht auszuhalten! Kein Wunder, daß wir alle immer erkältet sind.«
»Ich finde, das Zimmer ist groß genug, und das Feuer brennt ausgezeichnet.« Die alte Dame schüttelte sich ein bißchen. »Es zieht hier, daß wir uns alle den Tod holen können.«
»Kein bißchen zieht es«, schrie Yvette. »Bloß ein bißchen frische Luft.«
Die alte Dame schüttelte sich abermals und sagte:
»Frische Luft. Soso.«
Worauf der Pfarrer zum Fenster ging und es fest zumachte. Dabei sah er seine Tochter nicht an. Er handelte höchst ungern gegen ihren Willen. Aber sie mußte doch schließlich die Grenze kennen.
Die Kreuzworträtselraterei, vom Teufel persönlich erfunden, ging weiter, bis Großmuttchen ihre Tasse Horlicks getrunken hatte und den Weg ins Bett antrat. Nun kam die feierliche Handlung des Gutenachtsagens. Alle standen auf. Die Schwestern bekamen von der blinden alten Dame ihren Kuß, der Pfarrer reichte ihr den Arm, und Tante Cissie folgte mit einer Kerze in der Hand.
Dies alles geschah erst um neun Uhr, obwohl Großmuttchen nun wirklich alterte und eigentlich schon eher hätte im Bett sein sollen. Wenn sie dann aber im Bett lag, konnte sie nicht schlafen, bis Tante Cissie kam.
»Seht ihr,« sagte Großmuttchen, »ich habe niemals allein geschlafen. Vierundfünfzig Jahre lang habe ich keine Nacht geschlafen, ohne daß der Pater seinen Arm um mich gelegt hatte. Und als er von mir gegangen war, hab ich versucht, allein zu schlafen. Aber jedesmal, sobald ich die Augen zugemacht hatte, gabs meinem Herzen einen Stoß, daß es mir fast aus dem Leibe sprang, und ich flog an allen Gliedern. Ach, denkt meinetwegen, was ihr wollt, aber es war fürchterlich – nach vierundfünfzig Jahren einer wunschlos glücklichen Ehe. Ich hätte gewünscht, daß der Herr mich vor dem Pater heimrief, aber der Pater – ja, also ich glaube wirklich, er hätts nicht überstanden.«
Infolgedessen schlief Tante Cissie bei Großmuttchen. Und sie beklagte sich bitter. Sie käme niemals zum Schlafen, sagte sie. Und sie wurde grauer und grauer, und das Essen, das auf den Tisch kam, wurde immer schlechter, und schließlich mußte Tante Cissie sich operieren lassen.
Großmuttchen aber stand, wie immer, gegen Mittag auf, und beim Mittagessen führte sie, mit vorgewölbtem Bauch in ihrem Lehnstuhl thronend, den Vorsitz; ihr gerötetes Gesicht mit den Hängebacken – sein Ausdruck war so etwas wie abscheuliche Majestät – fiel unter der Mauer ihrer hohen Stirn in sanften Wellen herab, und ihre blauen Augen spähten blicklos umher. Ihr weißes Haar wurde dünn, und das Ganze war ein bißchen unappetitlich. Aber der Pfarrer schoß wohlgelaunt seine Witzchen auf sie ab, und sie tat, als ärgere sie sich darüber. In Wahrheit aber saß sie in ihrer betagten Fülle vollkommen zufrieden und behaglich da; nach den Mahlzeiten pflegte sie den Wind aus ihrem Magen zu entfernen, indem sie die Hand auf den Busen drückte und mit großem körperlichen Behagen rülpste.
Der schlimmste Ärger für die beiden Schwestern war die Tatsache, daß unabänderlich, wenn sie das ihnen befreundete junge Volk ins Haus brachten, Großmuttchen auf ihrem Platz thronte und alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte: ein greuliches Götzenbild aus vielem alten Menschenfleisch. Es war ja nur ein einziges Zimmer für Alle da. Da saß denn die alte Dame, und Tante Cissie hielt scharfe Wacht. Jeder Besucher mußte zuerst der Mater vorgestellt werden; sie war geneigt, leutselig zu sein, denn sie hatte gern Gesellschaft. Von Jedem mußte sie wissen, wer er war, und woher er kam; dazu alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte.
Dann, wenn sie ›im Bilde‹ war, konnte sie die Führung des Gesprächs an sich reißen.
Nichts hätte die beiden Schwestern ärger aufbringen können. »Ist sie nicht wundervoll, die alte Mrs. Saywell?« sagten die Besucher. »Wieviel Anteil nimmt sie noch am Leben – mit ihren beinahe neunzig Jahren!«
»Sie nimmt Anteil an den Angelegenheiten anderer Leute – wenn ihr das ›Leben‹ nennt«, sagte Yvette.
Sogleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich war es doch wirklich wundervoll, beinahe neunzig Jahre alt und dabei so klaren Geistes zu sein! Und dann tat Großmuttchen, wenn man es recht bedachte, niemals Irgendwem etwas zuleide. Es lag mehr daran, daß sie im Wege war. Und eigentlich war es doch wohl recht häßlich, einen Menschen nur deshalb zu hassen, weil er alt und im Wege war.
Yvette also bereute sogleich und war nett. Großmuttchen blühte auf und schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war, in einem Städtchen in Buckinghamshire. Sie schwatzte und schwatzte und wußte ihre Hörer so zu unterhalten–! Ja, sie war eigentlich doch wirklich wundervoll.
Nachmittags kamen dann Lottie und Ella und Bob Framley mit Leo Wetherell.
»Oh, kommt herein!« – und dann ging der ganze Schwarm ins Wohnzimmer, wo Großmuttchen mit ihrem weißen Häubchen beim Feuer saß.
»Großmuttchen, darf ich dir Mr. Wetherell vorstellen?«
»Mr. –, wie war Ihr Name? Sie dürfen mir nicht böse sein, ich höre ein bißchen schwer.«
Großmuttchen gab dem jungen Manne, dem unbehaglich zumute war, die Hand und starrte ihn stumm, blicklos an. »Sie sind wohl nicht aus unserem Kirchspiel?« fragte sie.
»Aus Dinnington!« brüllte er.
»Wir möchten gern morgen einen Ausflug machen, nach Bonsall Head, in Leos Wagen. Wir können uns alle hineinquetschen«, sagte Ella leise zu den Anderen.
»Bonsall Head, haben Sie gesagt, nicht?« fragte Großmuttchen.
»Ja.«
Verblüfftes Schweigen.
»Im Wagen wollen Sie hinfahren, haben Sie gesagt, nicht?«
»Ja! in Mr. Wetherells Wagen.«
»Hoffentlich fährt er gut. Es ist eine gefährliche Straße.«
»Er fährt sehr gut!«
»Er fährt nicht gut?«
»Doch! Er fährt sehr gut!«
»Wenn ihr nach Bonsall Head fahrt, muß ich euch wohl eine Nachricht für Lady Louth mitgeben.«
Großmuttchen wußte diese elende Lady Louth jedesmal ins Gespräch zu bringen, wenn Besuch da war.
»Wir fahren aber die andere Strecke!« schrie Yvette.
»Welche Strecke denn?« fragte Großmuttchen. »Ihr müßt doch über Heanor fahren.«
Worauf sie, um mit Bob Framley zu reden, alle miteinander dasaßen wie die Stopfgänse und unbehaglich auf ihren Stühlen rückten.
Tante Cissie kam herein – und das Mädchen mit dem Tee. Nun erschien das unabänderliche und augenscheinlich für die Ewigkeit reichende Stück Bäckerkuchen auf dem Tische. Aber es kam auch eine Schüssel mit frischen kleinen Kuchen. Tante Cissie hatte tatsächlich zum Bäcker geschickt.
»Der Tee, Mater!«
Die alte Dame griff nach den Armlehnen ihres Sessels. Alle standen auf und blieben stehen, während sie, an Tante Cissies Arm, langsam und schwerfällig zu ihrem Platz am Tische ging.
Während sie Tee tranken, kam Lucille von ihrer Arbeit in der Stadt heim. Sie war ganz einfach erschöpft und hatte schwarze Schatten unter den Augen. Und sie schrie auf, als sie die ganze Gesellschaft versammelt sah.
Sobald das Durcheinander der Stimmen verstummt und wieder verlegenes Schweigen eingetreten war, sagte Großmuttchen:
»Du hast mir nie von Mr. Wetherell erzählt, nicht, Lucille?«
»Ich kanns wirklich nicht sagen«, antwortete Lucille.
»Nein, du hast mir bestimmt nicht von ihm erzählt. Ich habe den Namen nie gehört.«
Yvette nahm sich noch ein Stück Gebäck von der jetzt beinahe leeren Schüssel. Tante Cissie, die durch Yvettes ungreifbar schweifende und achtlose Art fast zum Wahnsinn getrieben wurde, fühlte, wie in ihrem Herzen wieder die grünen Flammen der Wut aufzüngelten. Sie nahm ihren Teller mit dem einen einzigen Stück Gebäck darauf, das sie sich gestattete, bot ihn Yvette an und fragte mit vergifteter Höflichkeit:
»Möchtest du nicht meines nehmen?«
»Oh, danke«, sagte Yvette und fuhr aus ihrer verärgerten Gedankenlosigkeit auf. Und sie nahm, achtlos wie immer, Tante Cissies Gebäck; um dann, mit nachträglichem Bedenken, hinzu zufügen: »Möchtest du's denn aber auch wirklich nicht selbst ...?«
Nun hatte sie zwei Stück Kuchen auf ihrem Teller. Lucille war geisterblaß geworden und neigte sich über ihre Teetasse. Tante Cissie hatte den grünen Blick giftiger Entsagung. Die Verlegenheit wurde zur Todesqual.
Großmuttchen aber, behäbigen Leibes thronend und völlig ahnungslos, sagte inmitten des Unwetters nur:
»Wenn ihr morgen nach Bonsall Head fahrt, Lucille, dann nimm doch, bitte, eine Nachricht von mir für Lady Louth mit.«
»Oh!« sagte Lucille und warf über den Tisch hinweg einen sonderbaren Blick auf die blinde alte Dame. Lady Louth war das überlieferte Prunkstück der Familie und wurde von Großmuttchen unweigerlich zur Bewirtung von Besuchern hervorgeholt. »Na schön.«
»Sie war vorige Woche wieder so sehr liebenswürdig. Sie hat mir durch ihren Chauffeur ein Kreuzworträtselbuch geschickt.«
»Aber du hast dich doch bei ihr bedankt«, schrie Yvette.
»Ich möchte ihr aber gern einen Brief schicken.«
»Den können wir ja in den Postkasten stecken«, schrie Lucille.
»Nein, nein. Ich möchte lieber, daß ihr ihn mitnehmt. Als Lady Louth mich das letzte Mal besuchte – –«
Das Jungvolk saß da wie ein Schwarm junger Fische, die lautlos an der Oberfläche des Wassers nach Luft schnappen; während Großmuttchen sich weiterhin über Lady Louth verbreitete. Mit Tante Cissie war, wie die Schwestern wohl wußten, noch immer nicht zu rechnen, da sie in einem wahren Krampf fast besinnungsloser Wut über die Geschichte mit dem Kuchen dasaß. Vielleicht betete sie auch, die arme Tante Cissie.
Es war eine Erlösung, als die Freunde schließlich aufbrachen. Nun aber waren auch die beiden Schwestern so weit, daß ihnen die wilde Wut aus den Augen sprang. Und da nun geschah es, daß Yvette bei einem Rundblick durchs Zimmer plötzlich den steinernen und unbezähmbaren Willen zur Macht erkannte, der in dem alten und scheinbar so mütterlichen Großmuttchen lebte. Da saß die alte Dame gewölbten Leibes in ihren Stuhl zurückgelehnt, unempfindlich; ihr gerötetes altes Gesicht mit den Hängebacken, ein wenig fleckig, trug jetzt kaum den Ausdruck der Bewußtheit und war doch unerbittlich: wie eine Maske, hinter der sich etwas Steinernes und Erbarmungsloses barg. Dieses Etwas war die unerschütterlich im Gleichgewicht bleibende Beharrungskraft ihrer haßerregenden Macht. Eine Minute noch, dann würde sie den Mund auftun, um Alles und Jedes über Leo Wetherell zu ermitteln. Jetzt, für den Augenblick, war sie wie eingeschlossen in einen Dämmerschlaf ihrer uralten Betagtheit. In einer Minute aber würde sie den Mund auftun, ihr Geist würde in einem Aufflackern wach werden; und mit ihrer unersättlichen Gier nach Leben, nach dem Leben Anderer, würde sie mit der Fragerei nach Allem und Jedem beginnen. Sie glich der alten Kröte, von deren Anblick Yvette einmal wie gebannt gewesen war: auf dem Rande des Bienenkorbes hatte das Tier gesessen, unmittelbar vor dem Flugloch, durch das die Bienen ins Freie kamen; und mit einem teufelhaft blitzschnellen Zuschnappen seiner beutelartigen Backen hatte es jede Biene gefangen, die herauskam, um in die Luft zu entschweben; eine nach der anderen hatte es verschlungen, als könnte es den ganzen Inhalt des Korbes in seinem alten, gewölbten, beutelartigen, runzeligen Bauche verschwinden lassen. So hatte es die Bienen verschluckt, die herauskamen, um in die Lenzluft zu entschweben, Jahr auf Jahr, Jahr auf Jahr, Generationen.
Der Gärtner aber, den Yvette herbeirief, geriet in Wut und tötete das Geschöpf mit einem Stein.
»Von mir aus magste ja gut gegen die Schnecken sein«, sagte er, als er mit dem Stein herbeikam. »Aber du sollst mir hier doch nicht das ganze Bienenvolk in deinen dicken Bauch runterschlucken.«
Der nächste Tag war trübe und bedrückend grau, und die Straßen waren fürchterlich, denn es hatte seit Wochen geregnet; dennoch fuhr das junge Volk los, wie es geplant war, und zwar ohne Großmuttchens Brief mitzunehmen. Die Beiden entwischten, als die alte Dame nach dem Frühstück langsam die Treppenreise in ihr Zimmer machte. Um keinen Preis hätten sie bei Lady Louth Besuch gemacht. Die Witwe des geadelten Doktors, übrigens ein durchaus harmloses Geschöpf, war eine verhaßte Plage in ihrem Leben geworden.
Sechs junge Empörer waren sie, und sie saßen recht hochnäsig in dem Wagen, der durch den spritzenden Kot sauste. Aber auch ein wenig ratlos und verlegen sahen sie aus. Wenn man es recht bedachte, so gab es eigentlich gar nichts, wogegen sie sich hätten auflehnen können – für keinen von ihnen. Sie waren so ganz und gar frei in ihrem Tun und Lassen. Ihre Eltern ließen sie fast völlig tun, was ihnen beliebte. Da gab es keine Fesseln zu sprengen, da gab es kein Gefängnisgitter zu durchsägen und keinen Riegel zu brechen. Sie hatten den Schlüssel zu ihrem Leben in der eigenen Hand. Und schlenkerten damit umher, ohne ihn verwenden zu können.
Es ist so sehr viel leichter, Gefängnisriegel zu sprengen, als unentdeckte Tore ins Leben aufzuschließen. Das junge Volk pflegt die Wahrheit dieses Satzes mit einigem Ärger zu erfahren. Gewiß, da war Großmuttchen; aber – armes altes Großmuttchen, man konnte doch wohl schließlich nicht zu ihr sagen: »Du bist alt genug geworden; nun leg dich hin und stirb!« Wenn sie auch eine rechte alte Plage war – sie tat doch Niemandem jemals wirklich etwas zuleide. Es war nicht anständig, sie zu hassen.
Da fuhren nun also die Sechs und versuchten sich recht großartig und selbständig zu gebärden. Infolgedessen konnten sie natürlich gar nichts weiter tun, als im Wagen sitzen und eine Menge Abschätziges über andere Leute reden und ein bißchen spielerische Liebelei treiben, auf eine törichte Art, die eigentlich ziemlich langweilig war. Hätten sie wenigstens ein paar ›strenge Verbote‹ gehabt, die sich übertreten ließen! Aber nichts dergleichen war vorhanden: abgesehen allenfalls von dem nicht mitgenommenen Brief an Lady Louth, aber da war die Billigung des Pfarrers zu erwarten, denn er stand dem Familienprunkstück ebenfalls ablehnend gegenüber.
Sie sangen, ein bißchen durcheinander, die neuesten angeblich komischen Schlager, indessen sie durch die verdrossen aussehenden Dörfer fuhren. Im großen Park war das Wild in Rudeln bis dicht an die Straße herangekommen, Damhirsche und Rehe; sie ruhten im trüben Nachmittagsdämmer unter den Eichen an der Straße, als suchten sie den Anreiz menschlicher Gesellschaft.
Auf Yvettes Verlangen mußte der Wagen halten: sie wollte aussteigen und zu den Tieren reden. So stapften die Mädchen in ihren hohen Russenstiefeln durch das nasse Gras, indessen die Tiere ihnen mit großen, furchtlos erwartungsvollen Augen entgegenblickten. Der Hirsch trottete davon, ohne Hast, den Kopf, der das schwere Geweih trug, in den Nacken geworfen. Die Hindin aber, mit den großen Ohren wedelnd (ihre halberwachsenen Jungtiere waren um sie versammelt), blieb ruhig auf ihrem Platz unter dem Baume liegen, bis die Mädchen ganz dicht herangekommen waren; dann schritt sie leichtfüßig davon, den Schwanz von den gefleckten Flanken hebend. Die Kälber trotteten flink hinterdrein.
»Sind sie nicht furchtbar süß? Sieh mal, wie zierlich!« rief Yvette. »Ich möchte nur mal wissen, wie sie so behaglich in dem feuchten Grase liegen können.«
»Na, manchmal müssen sie sich ja wohl hinlegen, denk ich mir«, meinte Lucille. »Und unter den Bäumen ist es ganz hübsch trocken.« Sie besah sich das niedergedrückte Gras an der Stelle, wo die Tiere gelegen hatten.
Yvette ging hin und legte die Hand ins Gras, um zu erproben, wie es sich anfühlte.
»Ja –,« sagte sie zweifelnd, »ich glaube, es ist ein bißchen warm.«
Das Wild hatte sich in ganz geringer Entfernung wieder zum Rudel gesammelt und stand reglos im trüben Nachmittagsdämmer. Fern, am Fuße der grasigen und bewaldeten Hügelhänge, jenseits des rasch strömenden Flusses und des Geländers, das die Brücke säumte, hockte das mächtige herzogliche Schloß; aus ein paar Schornsteinen stieg bläulicher Rauch. Dahinter hoben sich purpurne Wälder.
Die Mädchen klappten die Pelzkragen ihrer Mäntel bis zu den Ohren auf und standen, mit den langen Armen schlenkernd, in stummer Betrachtung; ihre großen Russenstiefel schützten sie vor der Nässe des Grases. Das große Haus hockte vierkantig und gelblichgrau drunten. Ganz nahe bei ihnen, unter den alten Bäumen, stand da und dort in kleinen Rudeln das Wild. Und das Ganze war unendlich still, unendlich schlicht – und traurig.
»Ich möchte wohl mal wissen, wo der Herzog jetzt ist«, sagte Ella.
» Hier jedenfalls nicht«, sagte Lucille. »Der ist gewiß irgendwo im Ausland, wo die Sonne scheint.«
Von der Straße her rief die Hupe, und sie hörten Leos Stimme:
»Kommt doch, Jungens! Wenn wir noch auf den Head fahren und unten in Amberdale Tee trinken wollen, wirds hohe Zeit!«
Sie pferchten sich wieder in den Wagen, mit eiskalten Füßen, und fuhren los – durch den Park, vorüber am stumm ragenden Spitzturm der Kirche, hinaus durch das große Tor, über die Brücke, in das große, feuchte, steinerne Dorf Woodlinkin, das am Flusse lag. Von da ab ging es lange Zeit durch die schlammige und feuchte Dunkelheit des Tales, oft an steil aufragenden nackten Felsen dahin: zur einen Seite der Straße das brodelnde Wasser, zur anderen jähe Felsen oder düstere Bäume.
Schließlich, im Dunkel von Bäumen, die sich tief über die Straße neigten, ging es bergauf, und Leo ging auf den zweiten Gang zurück. Langsam und mühevoll kletterte der Wagen durch den weißlichgrauen Schlamm, in das steinerne Dorf Bolehill, das am Felshang hing; dann im Bogen um das alte Kreuz mit den Stufen davor: es stand an der Stelle, wo die Straße sich gabelte; vorüber an den niedrigen Häusern, aus denen ein wundervoller Duft von heißem Teekuchen kam; weiter, immer bergan, unter tropfenden Bäumen und vorüber an zerklüfteten, mit Farnkraut bewachsenen Abhängen – immer bergan. Schließlich verengte sich die Schlucht, die Bäume hörten auf, die Abhänge zur Rechten und zur Linken waren nun mit dürftigem, trübsinnigem Grase bewachsen; niedrige, aus rohen Steinen gefügte Mauern schlossen die Straße ein. Sie kamen auf den Kamm des Head.
Alle hatten schon seit einer Weile geschwiegen. Zu beiden Seiten der Straße zog sich ein Grasstreifen dahin; dann kam eine niedrige Steinmauer und die geschwungene Bogenlinie des Gipfels. Darüber der tiefhängende Himmel.
Unter dem tiefhängenden grauen Himmel, auf der kahlen Gipfelstraße lief der Wagen dahin.
»Soll ich mal einen Augenblick halten?« rief Leo.
»Oh ja!«
Und abermals kletterten die Mädchen aus dem Wagen, um einen Rundblick zu tun. Der Gipfel des Berges war ihnen seit langem vertraut. Und doch – wenn man auf den Head kam, mußte man einen Rundblick tun.
Die Hügel glichen den Knöcheln einer Hand; nach der Tiefe zu, zwischen den Fingern, waren die Täler, eng, steil und dunkel. Drunten, ganz tief, qualmte ein Eisenbahnzug, der langsam nordwärts kroch: ein winziges Geschöpf der Tiefenwelt. Wunderlich klang, vom Echo zurückgeworfen, der Lärm der Maschine herauf. Dann kam der dumpfe, altbekannte Ton einer Sprengung in einem Steinbruch.
Leo, unrastig wie immer, trieb zum Aufbruch.
»Wollen wir nicht weiter?« sagte er. »Wie ist's – wir wollten doch zum Tee nach Amberdale runterfahren? Oder wollen wirs mal irgendwo mehr in der Nähe versuchen?«
Nein; alle stimmten für Amberdale, und zwar für den ›Marquis of Grantham‹.
»Schön; und welchen Weg wollen wir auf der Rückfahrt nehmen? Wollen wir über Codnor und Croßhill fahren oder über Ashbourne?«
Das war die Frage, die sich jedesmal erhob. Schließlich wurde beschlossen: die Höhenstraße über Codnor sollte es sein. Mit prachtvollen Schwung sauste der Wagen los.
Nun waren sie auf dem Gipfel der Welt: auf dem Rücken der Faust. Er war kahl, wie ein Handrücken es ist; er war dem Himmel ganz nahe und von einem düsteren, schweren Grün. Wie Adergeflecht zog sich ein Netzwerk alter Steinmauern darüber hin und teilte die Felder, da und dort unterbrochen von den verfallenen Resten alter Bleibergwerke und Gruben. Ein einsam stehendes steinernes Gutshaus streckte sechs kahle spitze Bäume wie Borsten von sich. Fern war ein Dörfchen: ein grauer rauchender Steinhaufen. Auf einigen Feldern grasten düstergraue Schafe, stumm. Kein Ton war zu vernehmen, keine Bewegung zu sehen. Sie waren auf dem Dache Englands, und es war steinern und kahl, wie Dächer nun einmal sind. Fern, tief drunten, lagen die Grafschaften.
»All die Farben in den Grafschaften da unten –!« sagte Yvette zu sich selbst. Hier oben freilich gab's keine Farben. Ein Schwarm Krähen strich aus dem Nichts heran. Sie waren nickend und pickend über ein kahles frischgedüngtes Feld gegangen. Der Wagen lief zwischen den Grasstreifen und Steinmauern der Hochlandstraße dahin, und die Mädchen ließen stumm die Blicke wandern: hinaus über das ferne Netzwerk der Steinmauern unter dem Himmel, hinab zu den Krümmungen der Straße, deren Gefälle den Abstieg in eines der verborgenen Unterweltstäler ankündigte.
Vor ihnen fuhr ein leichter Karren, von einem Manne gelenkt; nebenher trottete eine stämmige ältere Frau, die einen Sack auf dem Rücken trug. Der Mann hatte sie eingeholt und hielt nun mit ihr Schritt.
Die Straße war schmal. Leo ließ heftig die Hupe dröhnen. Der Mann auf dem Wagen sah sich um; die Frau trottete stetig und rasch weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden.
Yvettes Herz tat einen Sprung. Der Mann auf dem Wagen war ein Zigeuner: einer von der schwarzen, ganz und gar unbekümmerten, hübschen Art. Er blieb auf seinem Karren sitzen, wandte sich und starrte unter dem Schirm seiner Mütze hervor die Insassen des Autos an. Seine Haltung war nachlässig, sein Blick unverschämt in seiner Gleichgültigkeit. Unter seiner schmalen, geraden Nase wuchs ein dünner schwarzer Schnurrbart; um den Hals trug er ein großes rot und gelb gemustertes seidenes Taschentuch. Jetzt sagte er ein Wort zu der Frau. Sie blieb eine Sekunde lang stehen, auf stämmigen Beinen, um sich umzudrehen und die Insassen des Wagens zu betrachten, der nun ganz dicht herangekommen war. Leo ließ abermals die Hupe dröhnen, mit gebieterischem Nachdruck. Die Frau, die ein grau und weiß gestreiftes Tuch um den Kopf geschlungen trug, wandte sich mit einer entschiedenen Schwankung, um wieder mit dem Karren Schritt zu halten; der Lenker hatte sich, auch er, wieder zurechtgerückt und hob die Zügel an, mit einer Bewegung seiner locker gehaltenen schmalen Schultern. Aber er wich nicht von der Straße.
Leo ließ die Hupe brüllen, indessen er auf die Bremse trat und der Wagen dicht hinter dem Karren seinen Lauf verlangsamte. Bei dem Lärm wandte sich der Zigeuner und sagte etwas, das sie nicht hören konnten; sein dunkles Gesicht unter der dunkelgrünen Mütze lachte, die weißen Zähne unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart blitzten, und er machte eine Bewegung mit der dunklen lässigen Hand.
»Geht doch gefälligst aus dem Wege!« brüllte Leo.
Statt jeder Antwort brachte der Mann das Pferd, das nach dem Straßenrand zu ausbog, mit kundigem Griff zum Stehen. Es war ein tüchtiger Rotschimmel und ein tüchtiger, nett aussehender, dunkelgrün gestrichener Karren.
Der wütende Leo mußte durchbremsen und ebenfalls anhalten.
»Wollen die hübschen jungen Damen nicht ihre Zukunft hören?« fragte der Zigeuner auf dem Karren, und sein ganzes Gesicht lachte – nur die schwarzen aufmerksamen Augen nicht, die von Einem zum Andern wanderten und auf Yvettes zartem jungen Gesicht verweilten.
Eine Sekunde lang begegnete sie den schwarzen Augen: ihrem ganz unverhüllten Suchen, ihrer Unverschämtheit; ihrer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen Leute wie Bob und Leo; und ein Feuer sprang auf in ihrer Brust. Sie dachte: »Er ist stärker als ich! Ihm ist alles gleich.«
»Oh ja! ja!« rief Lucille sofort.
»Oh ja!« stimmten die anderen Mädchen ein.
»Na hört mal! Wie lange soll denn das nun wieder dauern?« rief Leo.
»Dauern – ! Dauern – ! Irgendwer muß einem doch immer die Uhr unter die Nase halten!« rief Lucille.
»Na, also wenn es euch egal ist, wann wir nach Hause kommen – mir ist es nicht egal!« sagte Leo heldenhaft.
Der Zigeuner hatte mittlerweile lässig seitwärts auf seinem Karren gesessen und aufmerksam die Gesichter betrachtet. Nun sprang er von der Deichsel herab, mit etwas steifen Knieen. Er mochte etwas über dreißig Jahre alt sein und war gewiß nach den Begriffen seines Volkes ein schöner Mann. Er trug eine Art von Joppe, zweireihig, aus dunkelgrün und schwarz gestreiftem Fries, die nur bis zu den Hüften reichte; ziemlich enge schwarze Hosen, schwarze Stiefel und eine dunkelgrüne Kappe; dazu das breite rot und gelb gestreifte Halstuch. Sein ganzer zigeunerhafter Aufzug wirkte sonderbar elegant und war auch wohl verhältnismäßig kostspielig. Auch sah er hübsch aus, wie er jetzt mit dem ererbten Dünkel der Zigeuner das Kinn an den Kragen preßte und für die Fremden scheinbar keinen Blick mehr hatte, während er seinen guten Rotschimmel von der Straße führte, um den Karren zurückzusetzen.
Erst jetzt sahen die Mädchen, daß hier zur Seite der Straße eine tiefe Einbuchtung war, und daß zwei rauchende Wohnwagen dastanden. Yvette stieg rasch aus. Sie waren plötzlich an einen stillgelegten Steinbruch gekommen, der in den Felshang an der Straßenflanke geschnitten war; und auf diesem unvermittelt aufgetauchten Lagerplatz, der fast wie eine Höhle wirkte, standen drei für den Winter außer Betrieb gesetzte Wohnwagen. Ganz im Hintergrunde war auch eine aus Zweigen gebaute Hütte, die als Stallung für das Pferd diente. Der graue, grobe Felsen hob sich hoch über die Wagen empor und schwang sich im Bogen der Straße zu. Der Boden bestand aus geschichteten Steintrümmern, zwischen denen Gras wuchs. Es war ein wohlgeborgenes, behagliches Winterlager.
Die ältliche Frau mit dem Sack auf dem Rücken war in einen der Wagen gegangen und hatte die Tür hinter sich offen gelassen. Zwei Kinder schoben ihre schwarzen Köpfe durch die Tür und gafften herüber. Der Zigeuner stieß einen kurzen Ruf aus, während er den Karren rückwärts in den Steinbruch schob; worauf ein älterer Mann herauskam, um ihm beim Ausspannen zu helfen.
Nun ging der Zigeuner zu dem am neuesten aussehenden Wohnwagen, dessen Tür geschlossen war, und stieg die Stufen hinan. Ein unter dem Wagen angeketteter Hund bellte. Es war ein weißer, mit leberfarbenen Flecken gesprenkelter Jagdhund. Er stieß ein leises Knurren aus, als Leo und Bob herankamen.
Im gleichen Augenblick erschien in der Tür dieses Wagens eine dunkelhäutige Zigeunerin, die ein hellrotes Tuch um den Kopf und große goldene Ohrringe trug; ihr gefalbelter weiter grüner Rock schwang um ihre Beine, als sie die Stufen herabkam. Ihr kühnes, dunkles, längliches Gesicht war in seiner Art hübsch, wenngleich etwas darin an einen Wolf gemahnte. Man mußte an die kühnen umherziehenden Zigeuner Spaniens denken.
»Guten Morgen, meine Damen und meine Herren«, sagte sie und betrachtete die Mädchen mit ihren kühnen, gierigen Augen. Sie sprach mit der leichten Ungelenkheit fremden Beiklangs.
»Guten Abend!« sagte die Mädchen.
»Welche von den schönen kleinen Damen möchte hören ihre Zukunft? Muß mir dann geben ihre kleine Hand.«
Sie war hochgewachsen, und ihre Art, den Kopf vorzustrecken, hatte etwas Erschreckendes, wie eine Drohung. Ihre Augen wanderten vom einen Gesicht zum andern, sehr lebhaft, mit einem grausamen Forschen, das erspähte, was sie wissen wollte. Jetzt erschien der Zigeuner, offenbar ihr Mann, wieder oben an der Treppe; er rauchte eine Pfeife und hielt ein kleines schwarzhaariges Kind im Arm. So stand er da auf seinen geschmeidigen Beinen und sah sozusagen beiläufig, wie aus einer Ferne, auf die Gruppe herab: wobei er seine langen schwarzen Wimpern von seinen großen hochmütigen unverschämten schwarzen Augen hob. Sein Blick hatte etwas seltsam Durchdringendes. Yvette fühlte es, fühlte es in den Kniegelenken. Sie tat, als beschäftigte sie sich mit dem weißen gelbgefleckten Hund.
»Wieviel verlangen Sie, wenn wir alle uns wahrsagen lassen?« fragte Lottie Framley. Die sechs jungen Christen mit den frischen Gesichtern hielten sich mit deutlichem Zögern von der heidnischen Frau aus geächteter Rasse fern. »Alle miteinander? Damen und Herren – alle?« fragte die Frau mit listigem Blick.
»Nee, ich danke! Macht ihr, was ihr wollt!« rief Leo.
»Ich danke auch«, sagte Bob. »Also – ihr vier Mädels.«
»Die vier Damen?« sagte die Zigeunerin und ließ ihren listigen Blick von einer zur anderen wandern, nachdem sie Bob und Leo gemustert hatte. Und sie war sich schlüssig über ihren Preis. »Jede soll mir geben einen Schieling– und ein bißchen drauf für Glück? ein bißchen drauf!« Sie lächelte auf eine Art, die mehr wolfhaft gierig als schmeichlerisch war, und unter der samtenen Weichheit ihrer Worte war die harte Kraft ihres eisernen Willens spürbar.
»In Ordnung«, sagte Leo. »Einen Schilling pro Kopf. Aber machen Sie's ein bißchen kurz, ja?«
»Ach, du–!« rief Lucille ärgerlich. »Wir wollen doch alles hören!«
Die Frau holte unter einem der Wagen zwei Holzstühle hervor und stellte sie am Rade auf. Dann nahm sie die hochgewachsene dunkle Lottie Framley bei der Hand und bat sie, sich hinzusetzen.
»Ist Ihnen gleich, wenn alle Anderen hören?« fragte sie und sah Lottie neugierig ins Gesicht.
Lottie wurde dunkelrot vor Aufregung, als die Zigeunerin ihre Hand hielt und mit harten, grausamen Fingern über die Innenfläche strich.
»Oh, ja, mir ist es gleich«, sagte sie.
Die Zigeunerin sah aufmerksam in die Handfläche und folgte den Linien der Hand mit ihrem Zeigefinger, der hart und braun war. Aber sie hielt anscheinend auf Sauberkeit.
Und langsam gab sie ihre Wahrsagungen, während die Anderen zuhörten und laut ihre Bemerkungen dazwischenriefen. »Oh, damit ist Jim Baggaley gemeint! Du, das glaub ich nicht! Nein, das stimmt nicht! Eine schöne Frau, die unter einem Baume wohnt? Nanu, wer mag denn das wohl sein?«– bis Leo mit einer männlichen Warnung dazwischenfuhr.
»Hört doch auf, Mädels! Ihr verratet ja alles!«
Lottie, rot und verwirrt, trat zurück, und nun war die Reihe an Ella. Sie benahm sich viel ruhiger und gewitzter und versuchte die orakelhaften Worte zu deuten. Lucille platzte wieder mit ihren Bemerkungen dazwischen: »Na, also so was!« Der Zigeuner oben auf der Wagentreppe stand unerschütterlich, ohne irgendeinen erkennbaren Ausdruck. Aber seine kühnen Augen ließen Yvette keinen Augenblick los; sie fühlte den Blick auf ihrer Wange, auf ihrem Nacken, und sie wagte nicht den Kopf zu heben. Nur Bob Framley sah manchmal zu ihm auf und bekam den gleichen geraden unverwandten Blick der dunklen hochmütigen stolzen Augen in dem hübschen Gesicht als Antwort. Es war ein seltsamer Blick; es waren Augen, die zur Welt der Unterdrückten gehörten: war der Stolz des Geächteten, die halb spöttische Herausforderung des Ausgestoßenen, der die Befolger der Gesetze höhnt und seinen einsamen Weg geht. Während der ganzen Zeit blieb der Zigeuner droben stehen, das Kind im Arm, und sah zu, ohne irgendwie beteiligt zu sein.
Lucille ließ ihre Handlinien deuten: »Sie sind gewesen übers Meer, und dort haben Sie kennen gelernt einen Mann – einen braunhaarigen Mann – aber er war zu alt für Sie – –«
»Na, also so was!« rief Lucille und sah sich nach Yvette um. Aber Yvette hörte kaum zu; sie war geistesabwesend, erregt, war wieder einmal wie unter einem hypnotischen Bann.
»Sie werden heiraten in ein paar Jahren – nicht jetzt, aber in ein paar Jahren – vier vielleicht – und Sie werden nicht sein reich, aber sie werden haben genug – reichlich genug zum Leben – und sie werden wegreisen, einen langen Weg.«
»Mit Mann – oder ohne?« rief Lucille.
»Mit ihm –«
Als die Reihe an Yvette war und die Frau lange Zeit kühn und grausam forschend ihr Gesicht betrachtete, sagte Yvette nervös:
»Nein, ich glaube, ich will mir nicht wahrsagen lassen. Nein, ich will nichts wissen. Wirklich, ich möchte nicht.«
»Sie haben Angst vor etwas?« sagte die Zigeunerin grausam.
»Nein, nicht deshalb–« Yvette wandte sich unruhig hin und her.
»Sie haben ein Geheimnis? Sie haben Angst, daß ich es werde sagen? Kommen Sie – wollen Sie nicht gehen in den Wagen, wo niemand hört?«
Der Ton der Frau hatte etwas seltsam Lockendes und Eindringliches; Yvette war während des ganzen Vorganges unzugänglich und eigensinnig. Auch ihr zartes, schmales junges Gesicht hatte nun diesen Ausdruck des Eigensinns, der es seltsam hart erscheinen ließ.
»Ja«, sagte sie plötzlich. »Ja! Das möchte ich wohl tun!«
»Ach, Unsinn!« riefen die Anderen. »Zier dich doch nicht so!«
»Du, mach das lieber nicht!« rief Lucille.
»Doch!« sagte Yvette in dem trotzigen Ton, den sie zuweilen unvermittelt anschlug. »Ich tus. Ich gehe mit in den Wagen.«
Die Zigeunerin rief dem Manne auf der Treppe etwas zu. Er verschwand für ein paar Sekunden im Innern des Wagens; dann kam er wieder heraus, stieg die Stufen herab, setzte das kleine Kind ab – es stand auf unsicheren Füßen – und nahm es bei der Hand. So schlenderte er, ein wenig stutzerhaft mit seinen blanken schwarzen Stiefeln, seinen engen schwarzen Hosen und seiner enganliegenden Wolljoppe, langsam über den Platz mit dem verdorrten Farnkraut zwischen den Steinen, das watschelnde Kind an der Hand – zu der Asthütte in der Höhle grauen Felsgesteins, wo der ältere Mann eben dem Rotschimmel seine Haferration in die Krippe schüttete. Als der Zigeuner an Yvette vorüberkam, sah er ihr gerade in die Augen, mit seinem unverwandten, kühnen, unverhüllt dreisten Blick – dem Blick des Geächteten. Irgend etwas in ihr wurde hart und wehrte sich gegen diesen Blick. Zugleich war es ihr, als löste sich die ganze Oberfläche ihres Körpers auf und würde zu Wasser. Dabei stellte das unbenennbare harte Etwas in ihr fest, wie klar und untadelig sein Gesicht geschnitten war, wie schön die Linie seiner geraden, schmalen Nase, seiner Wangen, seiner Schläfen war; wie seltsam die dunkle, lockende Anmut seines ganzen Körpers, dessen Linien die graue Wolljacke so deutlich erkennen ließ: eine Anmut, die wie menschgewordene höhnische Herausforderung wirkte.
Als er langsam an ihr vorüberschritt und sich dabei in den geschmeidigen Hüften wiegte, dachte sie abermals: Er ist stärker als ich. Von allen Männern, die mir je begegnet sind, ist dieser eine Einzige stärker als ich – in dem, was meine eigene Kraft ausmacht, in der Art, wie ich das Leben begreife.
So erkletterte sie neugierig hinter der Frau die Stufen des Wagens; der Saum ihres gutsitzenden gelbbraunen Mantels schwang um ihre Beine und gab unter dem blaßgrünen Stoff des Kleides beinahe die Kniee frei. Sie hatte lange, langausschreitende, feingeformte Beine, die eher zu schlank als zu stark waren, und trug Strümpfe aus feiner Wolle mit einem wunderlichen hellen und rehfarbenen Muster: man mußte an die Beine eines anmutigen Tieres denken.
Oben auf der Treppe blieb sie stehen und sah sich nach den Anderen um, freundlich; dabei sagte sie in ihrer unbefangen hochmütigen Art, so beiläufig:
»Ich sorge dafür, daß es nicht lange dauert.«
Der graue Pelzkragen ihres Mantels stand nun offen und ließ ihren zarten schlanken Hals und den blaßgrünen Stoff ihres Kleides sehen; ihr kleiner schmiegsamer gelbbrauner Hut war tief auf die Ohren herabgezogen und umrahmte ihr weiches frisches Gesicht. So wirkte sie: weich und doch irgendwie hochmütig und bedenkenlos. Sie wußte, daß der Zigeuner sich umgewandt hatte, um ihr nachzusehen. Sie sah sehr deutlich die schöne Linie seines braunen Nackens unter dem sorgsam gebürsteten schwarzen Haar. Er blickte hinter ihr her, als sie sein Haus betrat.
Was die Zigeunerin zu ihr sagte, hat niemand je erfahren. Die Anderen fanden, daß es sehr lange dauerte. Aus dem düsteren Tageslicht wurde Dämmerung, und die Luft wurde rauh und kalt. Aus dem Schornstein des zweiten Wohnwagens stieg Rauch; es roch nach kräftigem Essen. Das Pferd war gefüttert und in eine mit Riemen befestigte gelbe Wolldecke gehüllt; fern von der Gruppe standen zwei Zigeuner und unterhielten sich gedämpft. Es lag eine seltsame Stimmung über dem einsamen, verborgenen Steinbruch – Schweigen und Geheimnis.
Endlich öffnete sich die Wagentür, und Yvette kam heraus; sie beugte sich vor und schritt auf langen zauberhaften schlanken Beinen die Stufen herab. Es war eine ehrfürchtige, gebannte Stille um sie her, als sie im Dämmerlicht unter den Anderen erschien.
»Hat's lange gedauert?« fragte sie gedankenlos und ohne Irgendwen dabei anzusehen. Was die Anderen hören wollten, verschwieg sie mit dem sanften, ungreifbar schweifenden Eigensinn, der ihre Art war. »Hoffentlich habt ihr euch nicht gelangweilt! Jetzt freu ich mich aber auf den Tee. Wollen wir fahren?«
»Steigt nur ein!« sagte Bob. »Ich zahle inzwischen.«
Die Zigeunerin kam die Treppe herab; der weite metallisch glänzende Rock aus jadegrünem Alpaka schwang um ihre Beine. Sie richtete sich zu voller Höhe auf: eine hochgewachsene, siegesbewußt blickende Frau mit einem dunklen Wolfsgesicht. Das blaßrote, mit roten Rosen gemusterte Kaschmirtuch um ihren Kopf war zur Seite geglitten und ließ ihr krauses schwarzes Haar sehen. So stand sie im Dämmerlicht und betrachtete die jungen Leute mit kühnem anmaßendem Blick.
Bob steckte ihr zwei halbe Kronen in die Hand.
»Ein klein bißchen mehr, für Glück, für Glück Ihrer jungen Dame«, schmeichelte sie – es klang wie schmeichelndes Wolfswinseln. »Noch ein klein bißchen Silber, zu bringen Glück.«
»Sie haben schon einen Schilling für Glück gekriegt, das langt«, sagte Bob gelassen, während sie zum Wagen gingen.
»Noch ein klein bißchen Silber! Nur ein klein bißchen, für Ihr Glück in Liebe!«
Yvette, mit einer der plötzlichen weitausschwingenden erregenden Bewegungen ihrer langen Schenkel, schwang sich in dem Augenblick herum, als sie in den Wagen stieg; sie ging, den langen Arm ausgestreckt, auf die Zigeunerin zu und steckte ihr etwas in die Hand. Dann kam sie zurück und stieg ein – gebückt, da sie so groß war.
Der Anlasser sirrte einmal, zweimal leidenschaftlich, dann sprang der Motor an. Leo schaltete das Licht ein, und sogleich versank der Steinbruch mit den Zigeunern hinter ihnen in der Schwärze der Nacht.
»Gute Nacht!« rief Yvettes Stimme, als der Wagen anfuhr. Ihre Stimme übertönte als einzige das Geräusch des Motors, lustig und herausfordernd keck in ihrer Achtlosigkeit. Die Scheinwerfer beglänzten mit scharfem Licht die zu Tal führende Steinstraße.
»Yvette, jetzt mußt du uns aber mal erzählen, was sie dir gesagt hat«, rief Lucille, unbekümmert darum, daß Yvette durch ihr Schweigen den Wunsch ausdrückte, nicht gefragt zu werden.
»Oh, nichts – jedenfalls gar nichts Aufregendes«, sagte Yvette mit unechtem Eifer. »Bloß den üblichen alten Quatsch: von einem dunklen Mann, der Glück bedeutet, und von einem hübschen Manne, der Unglück bedeutet; und von einem Todesfall in der Familie, und wenn damit Großmuttchen gemeint ist, dann wäre es ja schließlich nicht so furchtbar schlimm; und ich soll mit dreiundzwanzig Jahren heiraten und einen Haufen Geld kriegen und furchtbar viel Liebe und zwei Kinder. Klingt alles riesig nett, aber ich finde, es ist doch ein bißchen zu viel des Guten, nicht?«
»– und warum hast du ihr noch mehr Geld gegeben?«
»Na, weil es mir eben Spaß machte. Man muß ein bißchen großzügig sein gegen solche Leute – –«
Es gab einen furchtbaren Krach unten im Pfarrhaus, als die Geschichte mit Yvette und der ›Fensterstiftung‹ herauskam. Nach dem Kriege hatte Tante Cissie ihr ganzes Herz an den Plan gehängt, in der Kirche ein farbiges Glasfenster zum Andenken der Gefallenen aus dem Kirchspiel zu schaffen. Da aber die Gefallenen in der Mehrzahl Nonkonformisten gewesen waren, kam bei der Sache nichts weiter heraus als ein häßlicher kleiner Gedenkstein vor der wesleyischen Kapelle.
Tante Cissie ließ sich dadurch nicht entmutigen. Sie stickte, sie veranstaltete Wohltätigkeitsfeste, sie brachte es fertig, daß die Mädchen Liebhaberaufführungen veranstalteten – alles für ihr geliebtes Fenster. Yvette, der die Betätigung und das Sichzeigenkönnen bei der Sache ganz gut gefiel, übernahm die Aufführung des Schwankes ›Maria im Spiegel‹ und sammelte die Beträge ein, die bei der Abrechnung an die ›Fensterstiftung‹ zu zahlen waren. Jede der Schwestern hatte eine Geldbüchse, in der die Summen für die Fensterstiftung zu sein hatten.
Als Tante Cissie zu wissen meinte, daß die vereinigten Summen nun ungefähr genügen müßten, forderte sie plötzlich Yvettes Büchse an. Sie enthielt fünfzehn Schillinge. Es gab einen Augenblick grasgrünen Entsetzens.
»Und wo ist der ganze Rest?«
»Oh –!« sagte Yvette leichthin. »Das hab ich mir geliehen. Es war übrigens gar nicht so furchtbar viel.«
»Und die drei Pfund dreizehn für ›Maria im Spiegel‹?« fragte Tante Cissie mit einem Gesicht, als sähe sie in den gähnenden Schlund der Hölle.
»Die auch. Ich sage ja: geliehen. Ich kann es ja zurückzahlen, nicht?«
Arme Tante Cissie! Das grüne Krebsgeschwür des Hasses barst in ihr, und es gab einen ungewöhnlich widerwärtigen Auftritt. Hinterher zitterte Yvette vor Furcht und nervösem Abscheu.
Sogar der Pfarrer nahm den Fall einigermaßen ernst.
»Wenn du Geld brauchtest – weshalb hast du es mir dann nicht gesagt?« fragte er kalt. »Hab ich dir je einen vernünftigen Wunsch abgeschlagen?«
»Oh – ich dachte, es wäre nicht so wichtig«, stotterte Yvette.
»Und was hast du mit dem Gelde gemacht?«
»Ausgegeben, glaub ich«, sagte Yvette mit weit offenen Augen. Sie sah zerstreut aus, ihr Gesicht war blaß.
»Ausgegeben – wofür?«
»Ich kann mich nicht so genau erinnern – Strümpfe – und so was. Etwas hab ich auch verschenkt.«
Arme Yvette! Schon mußte sie es erleben, daß ihre hochmütige Miene und Art sich gegen sie selbst kehrte. Der Pfarrer war ärgerlich: sein Gesicht hatte einen mürrischen bissigen Ausdruck – etwas wie Hohn lag darin. Er begann zu fürchten, daß bei seiner Tochter jetzt einige von den bösen und verderbten Eigenschaften der entschwundenen Cynthia zum Vorschein kommen würden.
»Das macht dir wohl Spaß, die Großartige zu spielen – mit dem Geld anderer Leute, was?« sagte er höhnisch; und es war ein kalter, häßlicher Hohn, der bewies, daß der Pfarrer keine Spur von Glauben hatte in seinem Herzen. Es war die Niedrigkeit eines leeren Herzens, in dem nichts von der Wärme des Glaubens zu spüren ist, nichts von Stolz auf die eigene lebendige Kraft. Er glaubte nicht an Yvette – keinen Augenblick glaubte er an sie.
Yvette wurde blaß und war mit einem Male sehr ferngerückt. Ihr Stolz, die zarte, kostbare Flamme, die Alle in ihr zu löschen trachteten, wich zurück, als hätte ein kalter Wind sie weit hinweggeführt, ja, als hätte er sie ausgelöscht; ihr Gesicht, das nun bleich und still war wie eine Schneeblume, wie das weiße Schneeglöckchen, das er sich erfunden hatte, schien nun ganz ohne Leben; nur diese völlige, seltsame Abgeschiedenheit war darin.
»Er hat keinen Glauben an mich!« dachte sie in ihrer Seele. »Ich bedeute ihm nichts, gar nichts. Ich bin weiter nichts als ein schändliches Geschöpf. Alles ist schändlich, alles, alles!«
Wäre er jetzt erregt, ja in flammender Wut gewesen, so wäre sie vielleicht zusammengebrochen, vielleicht auch selbst in Wut geraten; aber sie hätte sich nicht so erniedrigt gefühlt wie durch diesen Unglauben, wie durch die Erkenntnis, daß er in einem solchen Augenblick nur Hohn für sie hatte.
Das Schweigen ängstigte ihn ein wenig; man kam ins Denken, und das war unheimlich. Er brauchte wenigstens den Anschein von Liebe und Glauben und lebendiger Freudigkeit; nie hätte er gewagt, dem gemästeten Drachen seines eigenen Unglaubens, der sich in seinem Herzen regte, ins Auge zu sehen.
»Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?« fragte er.
Sie aber sah ihn nur an, mit ihrem wie erstorbenen schneeblumenblassen Gesicht, das ihn ängstigte und mit einem machtlosen Schuldbewußtsein quälte. Auch jene Andere, ›sie, die einst Cynthia war‹, hatte ihn mit dieser starren schneeblassen Angst angesehen, Angst vor seinem erniedrigenden Unglauben, vor dem Wurm, der in seinem Herzen wohnte. Ja, er wußte, daß in seinem Herzen nichts weiter wohnte als dieser gemästete scheußliche Wurm. Und immer ängstigte ihn der Gedanke, daß auch ein Anderer es merken möchte. Deshalb richtete sich sein angstvoller Haß gegen Jeden, der es erkannte und davor zurückwich.
Er sah, daß Yvette zurückwich, und sogleich wandelte sich sein Wesen. Er schlüpfte wieder in die Maske des weltläufigen, immer gutgelaunten alten Spötters.
»Na schön«, sagte er. »Du mußt es eben zurückzahlen, verehrte Tochter, und damit holla. Ich will dir die Summe auf dein Taschengeld vorschießen. Aber ich werde dir vier Prozent Monatszinsen berechnen. Sogar der Teufel persönlich muß seine Schulden verzinsen. Und wenn es mal wieder vorkommt, daß dir die Pferde durchgehen, dann vergreif dich nicht an Geld, das dir nicht gehört. Unehrenhaftigkeit steht nicht gut zu Gesicht.«
Auch jetzt noch fühlte Yvette sich zermalmt, geschändet, erniedrigt. Sie schlich durchs Haus, und ihr Stolz ließ die zerzausten Flügel hängen. Ja, sie verstand sich selbst nicht mehr. Oh, warum nur hatte sie das schmutzige Geld angerührt! Sie spürte einen zuckenden Schauder wie von einer körperlichen Besudelung. Warum nur war das so? Warum, warum war das so?
Sie gestand sich ein, daß es unrecht von ihr gewesen war, das Geld auszugeben. ›Natürlich hätte ich es nicht tun sollen. Sie haben ganz recht, wenn sie sich darüber aufregen‹, sagte sie sich.
Woher aber kam dieser furchtbare zuckende körperliche Schauder? Warum war ihr zumute, als hätte etwas mit widerlicher Ansteckung ihre Haut berührt?
»Was ich so schrecklich dumm von dir finde,« sagte Lucille in ihrer Strafpredigt (die arme Lucille ärgerte sich sehr), »ist, daß du dich ihnen allen so richtig ausgeliefert hast. Du hättest doch wissen müssen, daß sie es herauskriegen würden! Ich hätte das Geld für dich aufgetrieben, und dann wäre uns der ganze Krach erspart geblieben! Es ist ganz einfach scheußlich! Daß du dir auch niemals vorher klarmachst, wie sehr du dich in die Patsche bringen kannst! Man muß sich nur mal vorstellen, was Tante Cissie dir da für Sachen gesagt hat! Scheußlich! Was hätte Mama wohl gesagt, wenn sie das hätte mit anhören müssen?«
Wenn es ihnen in irgendeiner Hinsicht sehr schlimm erging, dachten sie an ihre Mutter und verachteten ihren Vater und die ganze minderwertige Sippe der Saywells. Ihre Mutter hatte natürlich einer höheren, wenn auch gefährlicheren und ›verderbten‹ Welt angehört. Sicherlich auch einer selbstsüchtigeren. Aber einer Welt, in der man mehr Sinn für Glanz und Anmut hatte. In der man bedenkenloser und leichter zur Verachtung geneigt war: in der es aber nicht solche Demütigungen gab.
Yvette war von jeher der Meinung gewesen, daß sie ihre zarte Haut und die Schlankheit ihres Körpers von der Mutter geerbt habe. Die Saywells sahen alle ein bißchen wie Leder aus und waren alle irgendwo ein bißchen wurmstichig. Freilich – die Saywells ließen Einen nicht im Stich. ›Sie, die einst Cynthia war‹ dagegen, die Schöne, die Feine, hatte den Pfarrer mir nichts, dir nichts im Stich gelassen, und mit ihm seine kleinen Kinder. Ihre kleinen Kinder! Das konnten sie ihr niemals ganz verzeihen.
Nach der großen Auseinandersetzung begann Yvette, undeutlich noch, ihre anders geartete Reinheit und Unberührbarkeit zu begreifen – die Unberührbarkeit ihres feinnervigen und edlen Fleisches und Blutes, die von den Saywells mit ihrer sogenannten Sittlichkeit besudelt werden sollte. Immer trachteten sie danach, sie zu besudeln. Sie waren die Ungläubigen, die nicht an das Leben glaubten. ›Sie, die einst Cynthia war‹ dagegen hatte vielleicht nur an die landläufige Sittlichkeit nicht geglaubt.
Yvette ging betäubt und blaß und verwirrt durchs Haus. Der Pfarrer gab Tante Cissie das Geld, sehr zum Ärger dieser würdigen Dame. Das Krebsgeschwür ihrer ohnmächtigen Wut eiterte noch immer. Am liebsten hätte sie die Untat ihrer Nichte gedruckt im Kirchspielblatt gelesen. Es war für das zerstörte alte Mädchen ein wahrer Schmerz, daß sie die Geschichte nicht aller Welt mitteilen konnte. Die Selbstsucht! Die Selbstsucht! Die Selbstsucht!
Dann überreichte der Pfarrer seiner Tochter eine kleine Rechnungsaufstellung: Das Geld, das sie ihm schuldete, zuzüglich Zinsen, war gegen ihr kleines Taschengeld aufgerechnet. Aber er hatte ihr eine Guinee gutgeschrieben: das war der Betrag, den er selbst für seine Mitschuld zu zahlen hatte.
»Als Vater der Verbrecherin«, sagte er wohlgelaunt, »werde ich zu einer Geldstrafe von einer Guinee verurteilt. Und damit wasche ich mir nun die Asche wieder aus dem Haar.«
In Gelddingen war er immer großzügig. Aber es war ihm zuzutrauen, daß er sich überhaupt für hochherzig glaubte halten zu dürfen, wenn er freigebig mit Geld war. Während ihm in Wahrheit das Geld und sogar seine Großmut nur ein Mittel war, sie unter seiner Fuchtel zu halten.
Aber er ließ die Sache völlig fallen. Er war, wenn man aus seiner Miene schließen durfte, damals eher belustigt als beunruhigt. Er hielt sich damals noch für sicher.
Tante Cissie dagegen wurde mit ihrer krampfigen Wut nicht so leicht fertig. Eines Abends war Yvette ziemlich früh und in elender Stimmung zu Bett gegangen und lag wach, eine kranke, schmerzende Schwäche in allen Gliedern, ein Gefühl von Dumpfheit und Besudeltsein. Lucille hatte eine Abendeinladung. Plötzlich öffnete sich leise die Tür; da stand Tante Cissie und schob ihr graugrünes Gesicht durch den Türspalt. Yvette fuhr entsetzt auf.
»Lügnerin! Diebin! Selbstsüchtiges kleines Biest!« zischte das wahnsinnige Gesicht, das zu Tante Cissie gehörte.»Du kleine Heuchlerin! Du Lügnerin! Du selbstsüchtiges Biest! Du gieriges kleines Biest!«
Die graugrüne Maske und die wahnwitzigen Worte flammten von einem so schrankenlosen und unpersönlichen Haß, daß Yvette den Mund auftat, um vor wahnsinniger Angst zu schreien. Aber Tante Cissie machte die Tür ebenso plötzlich wieder zu, wie sie sie geöffnet hatte, und verschwand. Yvette sprang aus dem Bett und drehte den Schlüssel um. Dann kroch sie wieder unter die Decke, halb von Sinnen vor Angst vor diesem widernatürlichen und schmutzigen Haß, halb betäubt von dem lähmenden Gefühl verletzten Stolzes. Und mitten in alledem stieg, wie eine Blase, eine kitzelnde wahnsinnige Lachlust auf. Das alles war von einer so hundsgemeinen Lächerlichkeit!
Yvette fühlte sich durch Tante Cissies Benehmen gar nicht einmal so sehr getroffen. Das alles war doch eigentlich ein bißchen überspannt. Und doch war sie getroffen – in ihren Gliedern, in ihrem Körper, in ihrem Geschlecht; ja, getroffen. Getroffen, betäubt und halb zerstört, nun ihre Nerven zitterten und schrillten. Und da sie noch so jung war, vermochte sie nicht zu begreifen, was vorging.
Da lag sie nun und wünschte, sie wäre eine Zigeunerin. Das hieß: in einem Lager leben, in einem Wohnwagen, nie ein Haus betreten, nichts vom Vorhandensein eines Kirchspiels wissen, nie eine Kirche auch nur ansehen. Ihr Herz wurde hart vor Widerwillen gegen das Pfarrhaus. Sie haßte diese Häuser mit ihren eingebauten ›gesundheitlichen Einrichtungen‹, ihren Badezimmern und ihrer unübertrefflichen Widerlichkeit. Sie haßte das Pfarrhaus und alles, was darin war. Wie ekelerregend war dieses ganze stockige, kanalisierte Dahinleben, in dem die Kanalisation nie erwähnt wurde, in dem man aber ihren Geruch aus den Tiefen des Hauses bis zu allen zweibeinigen Bewohnern, von der Mater bis zu den Dienstboten zu spüren meinte! Mochten die Zigeuner keine Badezimmer haben – sie hatten wenigstens keine Kanalisation. Bei ihnen gab es frische Luft. Am Pfarrhaus gab es niemals frische Luft. Und in den Seelen der Menschen stockte die Luft, bis sie stank.
Haß entbrannte in ihrem Herzen, indessen sie mit tauben Gliedern dalag. Und sie dachte an die Worte der Zigeunerin: »Ich sehe einen Mann mit schwarzem Haar, der nie gewohnt hat in einem Hause. Er liebt Sie. Die anderen Leute treten mit Füßen auf Ihr Herz. Sie werden treten mit Füßen auf Ihr Herz, bis Sie glauben, es ist tot. Aber der Mann mit schwarzem Haar wird wieder anblasen den letzten Funken, bis er Feuer ist – gutes Feuer. Sie werden sehen, was für gutes Feuer.«
Noch während die Frau redete, fühlte Yvette, daß da irgendwo eine verborgene Absicht lauerte. Aber sie machte sich nichts daraus. Mit dem kalten, schneidenden Haß eines Kindes haßte sie das Pfarrhaus mit allem, was darin war, haßte die ganze Fäulnis gestockten Lebens. Sie liebte das große, schwarzhaarige, wolfhafte Zigeunerweib mit den großen goldenen Ohrringen, dem hellroten Tuch über dem welligen schwarzen Haar, dem enganliegenden Mieder aus braunem Samt, dem grünen fächerartig sich ausbreitenden Rock. Sie liebte ihre braunen, starken, unbarmherzigen Hände, die sich so fest, Wolfsklauen gleich, in Yvettes weiche Handfläche gepreßt hatten. Sie liebte die Zigeunerin. Sie liebte ihre Gefährlichkeit und ihre im geheimen bereite Furchtlosigkeit. Sie liebte ihre im verborgenen lauernde, rücksichtslos fordernde Geschlechtskraft, die nach landläufigen Begriffen unsittlich war, aber ihren ganz eigenen harten trotzigen Stolz hatte. Keine Macht der Welt würde je diese Frau bezähmen. Sie würde das Pfarrhaus und seine Sittlichkeitsbegriffe maßlos verachten. Sie würde Großmuttchen mit einer Hand erdrosseln. Und mit derselben Verachtung, die sie für Rover, den fetten alten sabbernden Neufundländer hätte, würde sie auch auf Papa und Onkel Fred als Männer herabsehen. Eine große bittere Verachtung würde sie in ihrer weiblichen Kraft für solche Haushunde haben, die sich Männer nannten.
Und dann der Zigeuner – Yvette erschauerte plötzlich, als hätte sie den Blick seiner großen kühnen Augen mit seiner unverhüllten Begierde gespürt. Diese völlig unverhüllte Begierde lähmte sie so, daß sie flach in den Kissen lag, als hätte ein Betäubungsmittel sie aufgelöst und ganz verwandelt.
Sie hat niemals Irgendwem gestanden, daß zwei Pfund aus der unseligen ›Fensterstiftung‹ in die Tasche der Zigeunerin gewandert waren. »Wenn Papa und Tante Cissie das erst wüßten–!« dachte Yvette und reckte sich lustvoll in den Kissen. Der Gedanke an den Zigeuner hatte das Leben in ihren Gliedern aus der Starre erlöst und in ihrem Herzen den Haß gegen das Pfarrhaus Gestalt werden lassen: so daß sie nun Kraft in sich spürte statt Ohnmacht. Als Lucille heimkam und von Tante Cissies dramatischer Einlage in der Schlafzimmertür erfuhr, war sie empört. »Ach, hol sie der Henker!« rief sie. »Jetzt könnte sie doch endlich mal damit aufhören! Ich denke, wir haben nun allmählich genug davon gehört! Guter Gott, man sollte tatsächlich glauben, Tante Cissie wäre ein weißgewaschenes Engelchen! Papa hat die Geschichte begraben, und wenn sie überhaupt Irgendwen angeht, dann geht sie doch wohl schließlich ihn an! Soll Tante Cissie doch den Schnabel halten!«
Gerade dies aber war die Ursache, die Tante Cissies Galle in giftigem Fluß erhielt: daß der Pfarrer die Geschichte begraben hatte und die ungreifbar schweifende und achtlose Yvette wieder so behandelte, als wäre sie ein mit besonderen Vorrechten ausgestattetes Wesen. Die Tatsache, daß Yvette wirklich die Gefühle Anderer meistens gar nicht bemerkte und sich, da sie sie nicht bemerkte, auch nicht darum kümmern konnte, trieb Tante Cissie fast zur Raserei. Sie sah nicht ein, weshalb dieses junge Geschöpf, Tochter einer verworfenen Mutter, auch noch Vorrechte genießen sollte und das Vorhandensein anderer Leute einfach übersehen durfte, selbst wenn sie ihm unmittelbar unter der Nase lebten.
Lucille war damals sehr reizbar. Man hatte den Eindruck, daß ihre Nerven richtig ein bißchen aus dem Gleichgewicht gerieten, sobald sie das Pfarrhaus betrat. Die arme Lucille; sie war so gewissenhaft und nahm jede Kleinigkeit so schwer! Sie bürdete sich sämtliche besonderen Scherereien auf, sie sorgte für Ärzte, Arzneien, Dienstboten und alles, was es sonst so gab. Sie schuftete pflichtgetreu jeden Tag in der Stadt ihre Arbeitsstunden herunter und arbeitete von zehn bis fünf in einem Zimmer bei künstlichem Licht. Und dann kam sie heim – nur um sich die Nerven durch Großmuttchens fürchterliche und beharrliche Wißbegier und schmarotzerhafte Altersgewohnheiten beinahe bis zum Wahnsinn zerfetzen zu lassen.
Der Sturm um die ›Fensterstiftung‹ hatte offenbar ausgetobt, aber es blieb eine dumpfe Spannung in der Luft des Hauses. Das schlechte Wetter dauerte an. Lucille blieb an ihrem freien Nachmittag zu Hause, aber sie hatte nicht viel davon. Der Pfarrer war in seinem Studierzimmer, Großmuttchen schlief auf dem Sofa. Die Schwestern schneiderten gemeinsam ein Kleid für Yvette.
Es war ein Kleid aus französischem Seidensamt, und man sah schon, daß es sehr hübsch werden würde. Auf Lucilles Verlangen mußte Yvette es noch einmal anproben: denn Lucille konnte sich über den Sitz unter den Armen durchaus noch nicht beruhigen.
»Immer diese Aufregung!« rief Yvette und reckte ihre langen schlanken kindhaften Arme, die bei Kälte dazu neigten, bläulich anzulaufen. »Sei doch nicht so gräßlich püttjerig, Lucille! Es sitzt doch ausgezeichnet.«
»Na, wenn das der ganze Dank dafür ist, daß ich meinen freien Nachmittag hier bei der Schneiderei für dich versitze, dann könnte ich ebensogut was für mich selber tun.«
»Du weißt ganz genau, daß ich dich nicht darum gebeten habe! Aber du mußt ja immer und überall die Aufsicht führen, sonst hältst du's nicht aus«, sagte Yvette in ihrer aufreizend freundlichen Art, hob die nackten Ellbogen und besah sich über die Schulter hinweg im Stehspiegel.
»Das stimmt! Gebeten hast du mich nie!« sagte Lucille heftig. »Als ob ich nicht ganz genau wüßte, was dahintersteckt, wenn du mit der Stöhnerei und dem Gezappel anfängst!« »Ich –?« sagte Yvette mit gedankenloser Verwunderung. »Wieso? Wann hab ich denn gestöhnt und gezappelt?«
»Du weißt ganz genau, daß du's getan hast.«
»Tatsächlich –? Nein, ich weiß es wirklich nicht! Wann war denn das?« Yvette verstand es, ihren sanften, ziellos abschweifenden Fragen einen Klang zu geben, der regelrecht aufreizend wirkte.
»Also ich mache nicht einen einzigen Stich mehr an deinem Kleid, wenn du nicht stillstehst und aufhörst«, sagte Lucille; ihre Stimme klang jetzt tief, und man spürte die schwellende Erregung.
»Hör mal, du bist doch eigentlich ganz schrecklich nörglerisch und empfindlich, Lucille«, sagte Yvette und trat von einem Fuß auf den anderen, als würde ihr der Boden zu heiß.
»Schluß jetzt, Yvette!« schrie Lucille, und ihre Augen schossen plötzlich wilde Blitze. »Sofort Schluß, sag ich dir! Ich möchte wirklich mal wissen, wer sich eigentlich deine scheußlichen und rücksichtslosen Launen gefallen lassen soll!«
»Ich habe an mir noch nichts von Launen bemerkt«, sagte Yvette, indessen sie sich langsam dem halbfertigen Kleide entwand und wieder in ihr altes Kleid schlüpfte.
Dann setzte sie sich an den Tisch und begann im trüben Nachmittagslicht an dem blauen Stoff zu nähen; ihr Gesicht sah, wie immer nach solchen Auseinandersetzungen, ein bißchen trotzig aus. Blaue Stoffschnitzel lagen überall im Zimmer umher, die Schere war zu Boden gefallen, der Inhalt des Nähkorbes war über den ganzen Tisch verstreut, und ein zweiter Spiegel stand, bedrohlich nahe am Abgrund, auf dem Klavier.
Großmuttchen hatte auf dem breiten, weichen Sofa in jenem Halbschlummer gelegen, den man ›Drusseln‹ nennt. Jetzt richtete sie sich auf und rückte ihr Häubchen zurecht.
»Dabei soll man nun in Frieden ein bißchen schlafen können«, sagte sie und betastete langsam ihr dünnes, weißes Haar, um sich zu überzeugen, ob es in Ordnung war. Sie hatte unbestimmte Geräusche gehört.
Tante Cissie kam herein und suchte in einem Beutel nach Schokolade.
»In meinem Leben hab ich nicht so eine Wirtschaft gesehen!« sagte sie. »Es wäre ganz angebracht, wenn du hier mal ein bißchen aufräumen würdest, Yvette.«
»Wird gemacht«, sagte Yvette. »In einer Minute.«
»Was so viel heißt wie: überhaupt nicht«, höhnte Tante Cissie, um plötzlich mit einem Satz heranzuschießen und die Schere vom Boden aufzunehmen.
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen; Lucille, die jetzt in einem Buche las, schob langsam die Hände ins Haar. »Ich fände es angebracht, wenn du aufräumen würdest, Yvette«, sagte Tante Cissie beharrlich.
»Ich sage doch: ja. Vor dem Tee«, antwortete Yvette; sie erhob sich wieder, zog das blaue Kleid über den Kopf und steckte die langen nackten Arme durch die ärmellosen Achsellöcher. Dann stellte sie sich zwischen die beiden Spiegel, um sich abermals zu betrachten.
Dabei stieß sie gegen den zweiten Spiegel, den sie achtlos auf das Klavier gestellt hatte; er fiel klirrend zu Boden. Glücklicherweise zerbrach er nicht. Aber es gab für alle einen bösen Schreck.
»Sie hat den Spiegel kaputt gemacht!« schrie Tante Cissie.
»Spiegel kaputt gemacht? Welchen Spiegel? Wer hat ihn kaputt gemacht?« tönte Großmuttchens scharfe Stimme.
»Gar nichts hab ich kaputt gemacht«, tönte Yvettes gelassene Stimme. »Er ist ja heil geblieben.«
»Stell ihn lieber nicht wieder da oben hin«, sagte Lucille.
Yvette, mit einem kleinen ungeduldigen Achselzucken über so viel aufgeregtes Getue, versuchte den Spiegel an einem anderen Platze unterzubringen. Aber es gelang ihr nicht.
»Wenn man ein Feuer in seinem eigenen Zimmer hätte,« sagte sie verdrießlich, »dann brauchten sich nicht immer so viele Leute aufzuregen, wenn man mal was nähen will.«
»Mit was für einem Spiegel ziehst du da umher?« fragte Großmuttchen.
»Mit einem von unseren eigenen, die wir aus dem Vikarshause mitgebracht haben«, sagte Yvette grob.
»Dann mach ihn, bitte, nicht hier im Hause kaputt, ganz gleich, woher er stammt«, sagte Großmuttchen.
Es bestand eine Art von Familienacht über die Gegenstände die ›sie, die einst Cythia war‹ besessen hatte. Sie wurden zumeist in die Küche und in die Schlafzimmer der Dienstboten abgeschoben.
»Oh« sagte Yvette, »ich bin nicht abergläubisch, weder mit Spiegeln noch mit sonst was.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Großmuttchen. »Wer sich nicht für seine eigenen Handlungen verantwortlich fühlt, dem ist es meistens gleichgültig, was geschieht.«
»Na,« sagte Yvette, »kaputt gemacht oder nicht – schließlich war es doch wohl mein Spiegel, nicht? So viel sag ich nur.«
»Und ich«, sagte Großmuttchen, »sage nur so viel, daß hier im Hause überhaupt keine Spiegel kaputt gemacht werden sollen, so lange ichs verhindern kann; ganz gleich, wem sie gehören oder gehört haben. Cissie, sitzt meine Haube grade?«
Tante Cissie ging hin und rückte der alten Dame das Häubchen zurecht. Yvette trällerte laut und aufreizend eine unmelodische Melodie.
»Und nun räumst du wohl endlich auf, was, Yvette?« sagte Tante Cissie.
»Verflixt nochmal!« schrie Yvette ärgerlich. »Es ist einfach scheußlich, sich immer mit Leuten herumärgern zu müssen, die einem fortwährend mit Kleinkram schikanieren.«
»Darf ich fragen, von was für ›Leuten‹ du redest?« fragte Großmuttchen in unheildrohendem Ton.
Ein neuer Streit lag in der Luft. Lucille hob den Kopf und sah Yvette an, mit einem sonderbaren Blick. ›Sie, die einst Cynthia war‹ erwachte im Blut der Schwestern.
»Natürlich darfst du fragen! Du weißt ganz genau, daß ich die Leute in diesem verdammten Hause meine«, sagte die rasende Yvette.
»Wir,« sagte Großmuttchen, »wir können wenigstens von uns sagen, daß wir nicht aus einer halb verkommenen Familie stammen.«
Es gab eine kurze elektrisch geladene Pause. Dann sprang Lucille von ihrem niedrigen Sitz auf, funkensprühend vor Wut.
»Du hältst den Mund!« schrie sie. Der Schlag fuhr mit voller Wucht auf die etwas zerfranste Majestät der alten Dame nieder.
Großmuttchens Busen begann heftig zu wogen – wer weiß, was für Erregungen darin tobten. Diesmal gab es ein eisiges Schweigen, wie nach einem Donnerschlag.
Dann sprang Tante Cissie, leichenfahl, eine Furie, auf Lucille zu und stieß sie vor sich her.
»Geh auf dein Zimmer!« schrie sie heiser. »Geh auf dein Zimmer!«
Und sie knuffte die bleiche Lucille, deren Augen Feuer sprühten, aus dem Zimmer, Lucille ließ es ohne Widerrede geschehen. Tante Cissies Stimme gellte:
»Du bleibst auf deinem Zimmer, bis du um Verzeihung gebeten hast! – bis du die Mater um Verzeihung gebeten hast!«
»Ich bitte nicht um Verzeihung«, tönte Lucilles klare Stimme aus dem Treppenhaus, indessen Tante Cissie sie noch immer vor sich herknuffte.
Und Tante Cissie trieb sie mit noch wilderer Kraft nach oben.
Yvette stand hochaufgeschossen und nachdenklich im Wohnzimmer, mit der Miene gekränkter Würde, aber, wie es ihre seltsame Art war, zugleich nachdenklich. Sie trug noch immer das halbfertige Kleid, aus dem die nackten Arme hervorsahen. Und auch sie war halb betäubt vor Staunen über Lucilles Angriff auf die Majestät des Alters. Aber sie war auch voll kalter Empörung über die Art, wie die Mater das mütterliche Blut in ihren Adern beschimpft hatte.
»Ich habe natürlich Niemanden beleidigen wollen«, sagte Großmuttchen.
»Nein –?« sagte Yvette kühl.
»Natürlich nicht. Ich habe nur sagen wollen: man braucht noch nicht heruntergekommen zu sein, wenn man glaubt, daß ein zerbrochener Spiegel Unglück bedeutet.«
Yvette traute kaum ihren Ohren. Hatte sie recht gehört? War es möglich? Oder hatte Großmuttchen ihr ehrwürdiges Alter durch eine nackte Lüge geschändet?
Yvette wußte, daß die alte Dame kaltblütig eine glatte Lüge aussprach. Aber sie wußte auch, daß Großmuttchen die eigene Behauptung in dem Augenblick, da sie gesagt war, auch schon glaubte.
Der Pfarrer hatte erst einmal gewartet, bis die Gemüter sich ein bißchen beruhigt haben würden. Jetzt erschien er.
»Was ist denn los?« fragte er vorsichtig und munteren Tones.
»Ach, nichts!« sagte Yvette unlustig. »Großmuttchen sagte was, und da hat Lucille ihr gesagt, sie soll den Mund halten. Und dann hat Tante Cissie sie nach oben in ihr Zimmer geschubst. Tant de bruit pour une Omelette! Allerdings ist Lucille diesmal doch wohl ein bißchen zu weit gegangen, glaub ich.«
Die alte Dame hatte nur zum Teil verstehen können, was Yvette sagte.
»Lucille muß wirklich lernen, ihre Nerven zu beherrschen«, ließ sie sich vernehmen. »Der Spiegel fiel hin, und darüber ärgerte ich mich. Das sagte ich Yvette, und da sagte sie was von Aberglauben und von den Leuten in diesem verdammten Hause. Ich meinte, die Leute hier im Hause wären noch nicht heruntergekommen, bloß weil es ihnen nicht einerlei ist, wenn ein Spiegel kaputt geht. Na, und da sprang Lucille mir ins Gesicht und sagte, ich soll den Mund halten. Es ist wirklich eine Schande, wie die Kinder ihren Nerven die Zügel schießen lassen. Ich weiß natürlich, daß es nur die Nerven sind.«
Inzwischen war Tante Cissie hereingekommen. Zunächst war sogar sie stumm. Dann aber kam sie zu der Ansicht, daß Großmuttchens Darstellung stimmte.
»Ich habe ihr gesagt, daß sie nicht eher wieder herunterkommen darf, als bis sie die Mater um Verzeihung bittet«, sagte sie.
»Ich bezweifle, daß sie um Verzeihung bittet«, meinte Yvette kühl und hochmütig und streckte die nackten Arme in die Luft.
»Das soll sie auch gar nicht«, sagte die alte Dame. »Es sind ja nur die Nerven. Aber was soll nur aus den Kindern werden, wenn sie es in ihren jungen Jahren schon so mit den Nerven haben! Ich glaube, Lucille muß Vibrofat nehmen. – Und nun will Arthur gewiß gern seinen Tee haben, Cissie.«
Yvette fegte ihre Näharbeit zusammen, um nach oben zu gehen. Dabei trällerte sie wieder ihre Melodie, ziemlich schrill und unmelodisch. Aber im geheimen bebte sie vor Wut.
»Schon wieder eine Festfahne!« sagte der Pfarrer heiter.
»Schon wieder eine Festfahne!« wiederholte sie friedfertig und schlenderte nach oben, ihr Alltagskleid über dem Arm. Sie wollte Lucille trösten und sie fragen, wie das blaue Kleid jetzt saß.
Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie, wie sie es fast immer tat, stehen, um durch das Fenster zur Landstraße und zur Brücke hinüberzusehen. Es ging ihr wie Tennysons Lady von Shalott – ihr war immer zumute, als müßte Jemand am Ufer daherkommen und ›trali-trala‹ singen – oder etwas ähnlich Gescheites.
Es war kurz vor der Teestunde. Zur Seite des kurzen Fahrweges, der vom Hause zum Heckentor führte, waren die Schneeglöckchen schon heraus, und auf der nassen Grasfläche, die sich zum Fluß hin senkte, arbeitete der Gärtner an den runden, feuchten Blumenbeeten. Am Heckentor vorüber führte die weißliche schlammige Fahrstraße, um dann fast unmittelbar auf die steinerne Brücke zu münden und jenseits des Flusses in einem Bogen zu dem enggedrängten, steinernen, rauchigen Hochlandsdorfe hinanzuklettern: es hockte auf steiler Höhe über den düsteren Steinbrüchen, auf die Yvette durch das schmale Tal hinabsah, und deren schlanke Schornsteine hoch und gerade aufragten.
Das Pfarrhaus lag auf dem einen Ufer der Papple in dem ziemlich engen Tal, das Dorf auf dem anderen Ufer des raschfließenden Stromes, über dem Tal und ein Stück weiter flußabwärts. Hinter dem Pfarrhause stieg der Hügel steil an, und die Landstraße verschwand in einem Gehölz düsterer kahlstämmiger Lärchen. Unmittelbar gegenüber dem Pfarrhause, auf dem anderen Ufer, stieg die Böschung schroff und buschig an zu den kahlen Wiesen am Hügelhang; noch weiter bergaufwärts stand Wald, da und dort unterbrochen von grauem Felsgestein.
Von dieser Ecke des Hauses konnte Yvette freilich nur die Landstraße sehen, die einen Bogen um die Mauer mit der Lorbeerhecke beschrieb, dann zur Brücke hinabführte und jenseits um die Bergschulter herum, hinter den Steinmauern der abschüssigen Felder, den ersten harten Häuserklumpen des Dorfes Papplewick erreichte.
Immer verweilte Yvette zögernd am Fenster auf dem Treppenabsatz, immer meinte sie, irgend etwas müßte doch einmal auf der Straße von Papplewick her zu Tal kommen. Oft kam ein Karrenwagen oder ein Auto oder eine Lore mit Steinen oder ein Arbeiter oder jemand von den Dienstboten. Niemals aber kam Einer am Flusse daher, der ›trali-trala‹ sang. Die Trali-trala-Tage waren, so schien es, dahin.
Diesmal aber war es anders; diesmal kam, um die Biegung der weißgrauen Landstraße, zwischen den Grasstreifen und den niedrigen Steinmauern, ein guter Rotschimmel wacker und munter herabgeschritten; der Lenker des leichten Karrenwagens, den er zog, war ein Mann mit einer Kappe auf dem Kopfe. Der Mann hielt sich mit lässigen Körperbewegungen auf dem schwankenden Karren im Gleichgewicht, indessen das Pferd im stummen düsteren Dämmerlicht des Nachmittags zu Tal schritt. Hinten aus dem Karren ragten lange Staubbesen aus Ried und Federn hervor und nickten auf ihren Rohrstielen.
Yvette stand dicht am Fenster; sie ließ die Vorhänge hinter sich zusammenfallen und umklammerte ihre nackten Oberarme mit den Händen.
Am Fuße des Abhanges, vor der Brücke, schlug das Pferd einen munteren Trab an. Der Karren ratterte über die Steinbrücke, die Besen wedelten und wehten durcheinander, der Karrenlenker, mit lässig schwingenden Bewegungen des Oberkörpers, saß wie schlafend. Es war ein Bild, wie man es wohl im Traum erblickt.
Als indessen der Wagen von der Brücke kam und an der Mauer des Pfarrhauses dahinfuhr, sah der Mann auf zu dem düsteren Steingebäude, das am Fuße des Hügels stand, als hätte es sich von der Straße dahin zurückgezogen. Yvettes um die Arme geklammerte Hände machten eine rasche Bewegung. Und ebenso rasch wurde, als er sie unter dem Mützenschirm hinweg erspäht hatte, sein tiefdunkles Räubergesicht wach und belebt.
Vor dem weißen Gittertor hielt er, immer noch zu Yvettes Fenster hinaufspähend, mit plötzlichem Ruck an; indessen Yvette, die immer noch ihre kalten, rotgefrorenen Oberarme fest umklammert hatte, immer noch gedankenverloren starr auf ihn herabsah.
Er gab mit einem raschen Ruck des Kopfes ein Zeichen und lenkte sein Pferd sorgsam von der Straße auf den Rasen. Dann schlug er, mit einer flinken und geschmeidigen Bewegung, das Segeltuchverdeck des Karrenwagens zurück, holte verschiedene Gegenstände hervor, nahm zwei oder drei von den Ried- oder Truthahnfederbesen heraus, bedeckte den Wagen wieder und wandte sich dem Hause zu. Er sah zu Yvette hinauf, als er die weiße Pforte öffnete.
Sie nickte ihm zu; dann rannte sie hastig ins Badezimmer, um ihr Kleid anzuziehen. Hoffentlich, dachte sie, habe ich so undeutlich genickt, daß er nicht genau weiß, ob ich genickt habe oder nicht. Und schon hörte sie, wie draußen Rover, der närrische alte Köter, sein tiefes heiseres Heulen ausstieß, und wie der dumme junge Trixie mit spitzem Gekläff dazwischenfuhr.
Yvette und das Hausmädchen kamen im gleichen Augenblick vor der Wohnzimmertür an.
»Ist das der Mann, der Besen verkaufen will?« fragte Yvette. »Dann lassen Sie nur.« Und sie öffnete die Tür. »Tante Cissie, draußen ist ein Mann, der Besen verkaufen will. Soll ich hingehen?«
»Was für ein Mann denn?« fragte Tante Cissie, die mit dem Pfarrer und der Mater beim Tee saß: denn die Schwestern waren diesmal vom Teetisch verbannt.
»Ein Mann mit einem Wagen«, sagte Yvette.
»Ein Zigeuner«, sagte das Hausmädchen.
Natürlich stand Tante Cissie sofort auf. Den Zigeuner mußte sie sich ansehen.
Er stand vor der Hintertür, am Fuße des steilen dunklen lärchenbestandenen Hügels. Die langen Staubwedel hielt er mit zierlicher Bewegung in der einen Hand, aus der anderen hingen etliche Gegenstände aus blankem Kupfer und Messing herab: eine Pfanne, ein Leuchter, Teller aus gehämmertem Kupfer. Der Mann sah sauber und gutgehalten, fast etwas stutzerhaft aus mit seiner dunkelgrünen Kappe und seinem zweireihigen grüngewürfelten Rock. Sein Auftreten aber war gedämpft und sehr gelassen: bei alledem war ein Hauch von Herablassung und Zurückhaltung darin.
»Heute etwas gefällig, meine Dame?« sagte er und sah Tante Cissie mit seinen schwarzen verschlagenen forschenden Augen an; seiner Stimme aber gab er einen sehr ruhigen, fast zärtlichen Klang.
Tante Cissie sah, wie hübsch er war; sie sah den biegsamen Bogen seiner Lippen unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart; und schon war sie halb gewonnen. Hätte der Mann in seinem Benehmen auch nur die leiseste Spur von Gewaltsamkeit oder Zudringlichkeit gezeigt, so hätte sie ihm verächtlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aber er brachte es fertig, in seine männliche Haltung eine so sachte und geschickte Andeutung von Unterwürfigkeit zu legen, daß sie zu zögern begann.
»Der Leuchter ist entzückend!« sagte Yvette. »Haben Sie den selbst gemacht?«
Und sie sah zu ihm auf, mit ihren unbefangenen, kindhaften Augen, die ebenso doppeldeutig zu blicken vermochten wie die seinen.
»Ja, meine Dame.« Eine Sekunde lang erwiderte er ihren Blick, und sie sah in seinen Augen wieder den Ausdruck unverhüllten Verlangens, der wie ein Zauber auf sie wirkte und ihr den Willen raubte. Ihr zartes Gesicht sah aus, als sänke sie in Schlaf.
»Er ist furchtbar hübsch«, murmelte sie geistesabwesend. Tante Cissie begann um den Leuchter zu feilschen; es war eine kurze, dicke Kupferröhre, die sich aus einer zweiteiligen Schale erhob. Mit geduldiger Zurückhaltung ging der Mann auf Tante Cissies Fragen ein; für Yvette, die nachdenklich am Türrahmen lehnte und zusah, hatte er keinen Blick.
»Wie gehts Ihrer Frau?« fragte sie plötzlich, als Tante Cissie ins Haus gegangen war, um den Leuchter dem Pfarrer zu zeigen und ihn zu fragen, ob das Stück den geforderten Preis wert war.
Der Zigeuner sah Yvette gerade in die Augen, und ein kaum merkliches Lächeln kräuselte seine Lippen. Seine Augen lächelten nicht mit: der Ausdruck des Begehrens in ihnen härtete sich zu starrem Glanz.
»Es geht ihr gut. Wann kommen Sie wieder zu uns herauf?« sagte er leise in einem vertraulichen Ton, der wie ein Streicheln war.
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Yvette gedankenlos.
»Sie kommen Freitags, wenn ich da bin«, sagte er.
Yvette sah über seine Schulter hinweg ins Leere, als hätte sie nichts gehört. Tante Cissie kam zurück, in der Hand den Leuchter und das Geld, mit dem sie ihn bezahlen wollte. Yvette wandte sich gleichgültig ab, trällerte eine ihrer bruchstückhaften Melodieen und zog sich mit der ihr eigenen Rücksichtslosigkeit von der ganzen Sache zurück.
Dennoch stellte sie sich an das Treppenfenster, um ihn fortgehen zu sehen; und diesmal verbarg sie sich. Sie wollte wissen, ob der Mann wirklich irgendwelche Macht über sie hatte. Aber sehen sollte er sie jetzt nicht.
Sie sah ihm nach, wie er zum Heckentor hinab und dann zu seinem Wagen ging, mit seinen Besen und Pfannen. Er verstaute die Pfannen und Besen sorgsam im Karren und zog das Verdeck darüber. Dann, mit einem langsamen mühelosen Schwung seiner geschmeidigen Lenden, war er auf dem Karren und ließ die Zügel leicht auf den Rücken des Pferdes niederwippen. Schon hatte der Rotschimmel den Wagen hinweggezogen, die Räder ächzten bergan, und der Zigeuner war fort, ohne sich noch einmal umzusehen. War dahin wie ein Traum, der nichts als ein Traum war und doch ein Bann, den sie nicht abschütteln konnte.
›Nein, er hat keine Macht über mich, gar keine‹, sagte sie zu sich selbst: und sie sagte es ehrlich enttäuscht, denn es war ihr Wunsch, daß Irgendwer oder Irgendetwas Macht über sie gewinnen möchte.
Dann ging sie nach oben, um mit der bleichen und überreizten Lucille zu reden und sie zu schelten, weil sie sich durch nichts und wieder nichts dermaßen hatte aus der Fassung bringen lassen.
»Was erreichst du denn damit, daß du der Mater sagst, sie soll den Mund halten!« meinte sie lehrhaft. »Natürlich, Jedem soll man das ins Gesicht sagen, wenn er gemein wird. Aber sie meinte es wirklich nicht böse. Nein, das tat sie nicht. Und es tut ihr richtig leid, daß sie so was gesagt hat. Du hast gar keinen Grund, die Geschichte dermaßen aufzupusten. Komm, wir wollen über alle Toppen flaggen und zum Essen hinuntersegeln wie die Herzoginnen. Dann sehen sie, daß wir uns nichts draus machen. Los, komm, Lucille!«
Yvettes ziellos schweifende Lustigkeit, ihre wunderliche, ungreifbar entgleitende Art, einem unangenehmen Erlebnis auszuweichen, hatte etwas Seltsames und Verwirrendes; das war, als legten sich Einem Spinnweben übers Gesicht. Gewiß, die Heiterkeit steckte an. Aber es war dem Anderen dabei zumute, als wanderte er durch Herbstnebel, und der Wind triebe ihm Altweibersommer ins Gesicht. Man wußte nie so recht, woran man mit ihr war.
Aber sie brachte es fertig, Lucille zu überreden, und die Beiden zogen ihre besten Gesellschaftskleider an: Lucille ein grünsilbernes, Yvette ein blaßveilchenfarbenes mit türkisblauem Chenillebesatz. Ein bißchen Rot und Puder, dazu die besten Abendschuhe – und die Gärten des Paradieses begannen zu blühen. Yvette summte vor sich hin und betrachtete sich im Spiegel und setzte das unbefangenste Gesicht auf, das sie zustande brachte – was sie ›wie eine von den jungen Gräfinnen aussehen‹ nannte. Sie hatte eine ganz eigene Art, die Augenbrauen schräg nach oben zu ziehen und die Lippen zu spitzen und scheinbar die Beachtung alles Irdischen gänzlich von sich abzutun und durch die perlfarbenen Wolken ihrer ganz eigenen abgelegenen Welt zu schweben. Es war belustigend und nicht völlig überzeugend.
»Ich bin natürlich schön, Lucille«, sagte sie sanft. »Und du bist ganz einfach entzückend, wenn du ein bißchen vorwurfsvoll aussiehst, so wie jetzt. Du wirkst natürlich viel aristokratischer als ich, mit deiner Nase! Und wenn du diesen vorwurfsvollen Ausdruck in den Augen hast, dann siehst du noch besonders anziehend aus, und dann bist du wunderhübsch – ganz einfach wunderhübsch. Aber ich habe mehr Gewinnendes, auf meine Art, glaub ich. Meinst du nicht auch?« Und sie wandte sich der Schwester zu, völlig unbefangen, schalkhaft und doch undurchschaubar.
Was sie sagte, war durchaus aufrichtig und ehrlich. Sie sprach eben nur aus, was sie dachte. Neben diesen Gedanken aber war ein gänzlich anders geartetes Empfinden in ihr, das nicht minder mächtig war, und das ihre Worte nicht einmal andeuteten: das Empfinden nämlich, daß ein fremder Blick sie betrachtet hatte; nicht ihr Äußeres, sondern ihr Inneres, ihr verborgenes weibliches Selbst. Wenn sie jetzt ihren besten Staat anlegte und so verführerisch wie nur möglich aussehen wollte, so tat sie das alles nur, um die Macht unwirksam zu machen, die der Zigeuner über sie gewonnen hatte, als er sie ansah und sein Blick nicht ihr hübsches Gesicht, nicht ihre Anmut traf, sondern das dunkle bebende mächtige Geheimnis ihrer Unberührtheit.
Als der Gong zum Essen rief, gingen die Beiden aufgeregt zur Treppe; aber sie warteten, bis sie die Stimmen der Herren hörten. Dann ›segelten‹ sie hinunter und ins Eßzimmer: Yvette, mit sorgsamer Hand ihr Kleid glättend, freundlich und ein wenig geistesabwesend lächelnd, in ihrer ungreifbar schweifenden Art; Lucille, scheu und bereit, beim geringsten Anlaß in Tränen auszubrechen.
»Grundgütiger Himmel!« rief Tante Cissie, die ihre dunkelbraune gestrickte Sportjacke auch jetzt keineswegs abgelegt hatte. »Wie seht ihr denn aus? Was habt ihr denn vor?«
»Wir haben vor, mit der Familie zu speisen,« sagte Yvette unbefangen, »und wir haben unsere besten Fahnen gehißt, um den Anlaß würdig zu feiern.«
Der Pfarrer lachte laut, und Onkel Fred sagte:
»Die Familie weiß die hohe Ehre zu schätzen.«
Aber die beiden ältlichen Herren benahmen sich ganz ritterlich, und eben das war es, was Yvette wollte.
»Kommt mal her, laßt mich mal eure Kleider fühlen!« sagte die Mater. »Sind das eure besten? Es ist wirklich ein Jammer, daß ich sie nicht sehen kann!«
»Heute abend, Mater,« sagte Onkel Fred, »müssen wir die beiden jungen Damen zu Tisch führen, um uns der Ehre würdig zu erweisen. Willst du mit Cissie zu Tisch gehen?«
»Natürlich will ich«, sagte Großmuttchen. »Jugend und Schönheit haben den Vortritt.«
»Jedenfalls heute Abend, Mater«, sagte der Pfarrer wohlgelaunt.
Und er bot Lucille den Arm, während Onkel Fred Yvette führte.
Dennoch schleppte die Mahlzeit sich lustlos und langweilig hin. Lucille gab sich Mühe, eine heitere und ungezwungene Unterhaltung zu führen, und Yvette war so liebenswürdig wie nur möglich (in ihrer ungreifbar schweifenden Art, bei der man an Spinnweben denken mußte). In ihrem Unterbewußtsein aber, undeutlich, saß die Frage: Warum kommt es mir vor, als wären wir alle nur vergängliche Einrichtungsstücke? Warum ist nichts wichtig?
Dies war immer der geheime Kehrreim ihrer Gedanken: Warum ist nichts wichtig? Ob sie in der Kirche saß, ob eine Gesellschaft jungen Volkes sie umgab, ob sie in einem der Stadthotels tanzte – immer wieder stieg das Fragenbläschen an die Oberfläche ihres Bewußtseins: Warum ist nichts wichtig?
Es waren genug junge Leute da, die ihr den Hof machten; manche taten es sogar mit Leidenschaft. Aber sie schüttelte alle ungeduldig ab; sie konnte einfach nicht anders. Warum waren sie so belanglos? so aufreizend belanglos?
Sie dachte nicht an den Zigeuner; mit keinem Gedanken. Er war ein völlig bedeutungsloser Zwischenfall. Aber es kam ihr vor, als wäre der kommende Freitag sonderbar wichtig. »Was haben wir für Freitag vor?« fragte sie Lucille. Worauf Lucille antwortete, sie hätten für Freitag gar nichts vor. Und Yvette ärgerte sich.
Der Freitag kam, und sie mußte den ganzen Tag an den Steinbruch droben an der Landstraße auf dem Head denken. Sie wünschte, sie wäre dort. Das war alles, was ihr zum Bewußtsein kam. Sie wünschte, sie wäre dort. Aber es kam ihr nicht einmal entfernt in den Sinn, hinaufzufahren. Außerdem regnete es wieder. Aber indessen sie das blaue Kleid fertig nähte, um es morgen auf der Gesellschaft in Lambley Close tragen zu können, fühlte, ja fühlte sie, daß ihre Seele dort oben war, in dem Steinbruch, mitten zwischen den Wohnwagen, bei den Zigeunern. Es war, als träumte sie, oder als hätte man ihr die Seele gestohlen: sie war nicht mehr in ihrem Körper, in der Hülle, die ihr Körper war. Ihr eigentliches Selbst war weit weg, droben im Steinbruch, bei den Wohnwagen.
Am anderen Tage, auf der Gesellschaft, hatte sie keine Ahnung, daß sie Leo auf begeisternde Art auszeichnete. Sie hatte auch keine Ahnung, daß sie ihn der gemarterten Ella Framley ausspannte. Das kam ihr erst zum Bewußtsein, als sie ihr Pistazieneis aß; da sagte er nämlich:
»Warum verloben wir uns eigentlich nicht, Yvette? Ich glaube wirklich, daß wir beide großartig zueinander paffen. Wirklich.«
Leo war ein bißchen unfein, aber gutmütig und reich. Yvette fand ihn ganz lieb und nett. Aber verloben –? Was für ein ausgefallener Unsinn! Fast hätte sie gesagt: Willst du dich nicht mit einem Exemplar meiner seidenen Unterwäsche verloben?
Laut und in erstauntem Ton sagte sie: »Aber ich dachte doch, du wolltest dich mit Ella –?«
»Tja. Das hätt ich ja vielleicht auch getan, wenn du nicht wärst. Aber seit damals, als die Zigeuner da oben euch wahrsagten, hab ich immer denken müssen, daß kein Anderer zu dir paßt als ich, und daß keine Andere zu mir paßt als du.«
»So was –!« sagte Yvette, überwältigt von fassungslosem Staunen. »So was –!«
»Ist dir nicht auch ein bißchen so zumute gewesen?« fragte er.
»So was –!« Yvette schnappte noch immer nach Luft, lautlos, wie ein Fisch.
»Dir ist auch ein bißchen so zumute gewesen, nicht?« fragte er.
»Wieso? Inwiefern?« fragte sie rasch, wie erwachend.
»Ich meine: Du hast doch auch das Gefühl, daß ich für dich – ich meine, daß du für mich – –«
» Was für ein Gefühl? – daß wir uns verloben sollen, meinst du? Was? Ich? Nein! Wie kommst du denn auf so was?! Noch nicht mal im Traum ist mir etwas so Unmögliches eingefallen.«
Sie sagte es mit ihrer gewohnten achtlosen Aufrichtigkeit, ohne auch nur die geringste Rücksicht auf seine Empfindungen zu nehmen.
»Wieso denn nicht? Weshalb denn nicht?« fragte er ein bißchen gekränkt. »Ich meinte, du dächtest wie ich?«
»Hast du das tatsächlich geglaubt?« staunte sie atemlos, mit der sanften, ganz mädchenhaften, achtlosen Aufrichtigkeit, der sie ihre Bewunderer und ihre Feinde verdankte. Vor diesem unverkennbar vollkommenen Staunen blieb ihm nichts weiter übrig, als dazustehen und verärgert die Daumen zu drehen.
Die Musik setzte ein, und sie fühlte seinen Blick.
»Nein, ich will nicht mehr tanzen«, sagte sie. Und sie reckte sich auf und ließ den Blick ein wenig hochmütig in die Runde schweifen, als wäre Leo gar nicht vorhanden. Es lag etwas wie ein Hauch verwirrten Staunens auf ihrer Stirn, und wer ihr weiches verschleiertes unberührtes Gesicht sah, mochte sich wirklich an das Schneeglöckchen gemahnt fühlen, das ihres Vaters gefühlsselige Phantasie erdacht hatte.
»Aber du sollst natürlich tanzen«, sagte sie und wandte sich ihm mit einer Herablassung zu, die sehr jugendlich wirkte. »Hol dir eine Tänzerin, damit du zu deinem Recht kommst.«
Er stand auf, ärgerlich, und ging durch den Saal.
Sie blieb zurück, mit sanftem und fernem Lächeln, und überließ sich ihren verwunderten Gedanken. Auf alles Andere wäre sie eher gefaßt gewesen als auf einen Antrag Leos. Überhaupt – Verlobung? Unvorstellbar, an wen sie auch denken mochte. Gütiger Himmel, nein, etwas Unmöglicheres konnte es überhaupt gar nicht geben.
In diesem Augenblick geschah es, daß ein flüchtig aufblitzender Gedanke ihr das Vorhandensein des Zigeuners in Erinnerung brachte. Und sogleich war sie empört. Ausgerechnet Leo! Der –! Niemals!
»Aber warum denn eigentlich?« fragte sie sich und versank wieder in ihr stilles Verwundern. »Warum? Es ist vollkommen unmöglich: vollkommen! Aber warum?«
Die Frage war eine harte Nuß. Sie sah sich die jungen Herren an, wie sie durch den Saal tanzten, mit gespreizten Ellbogen, ausladenden Hüften und elegant betonter Schmalheit der ›Taille‹. Die brachten sie der Lösung der Frage nicht näher. Und doch spürte sie einen regelrechten Widerwillen gegen die gewaltsam betonte Eleganz der schlanken ›Taillen‹ und die ausladenden Hüften, die von den untadelig fallenden Rockkunstwerken ›erster‹ Schneider mit einer so weibisch wirkenden zarten Betonung bedeckt waren.
»Es ist etwas in meinem Wesen, das sie nicht sehen und auch niemals sehen werden«, sagte Yvette erbittert zu sich selbst. Und trotzdem fühlte sie sich erleichtert bei dem Gedanken, daß sie es nicht sahen und nicht sehen konnten. Das Leben wurde dadurch um so Vieles einfacher.
Und wieder sah sie – denn sie gehörte zu den Menschen, die in deutlich vorgestellten Bildern denken – das dunkelgrüne Wollwams des Zigeuners und seine schwarze Hose, sah seine schmalen, gelenkigen Hüften, die so behende waren wie Augen. Das, dachte Yvette, ist es, was ich elegant nenne. Die »eleganten« Tänzer kamen ihr vor wie ausgestopfte Anzüge; ihre Hüften sahen aus wie mit Fett gepolstert. Mit Leo war es genau so. Und er glaubte wunder was für ein guter Tänzer und Herzensbrecher zu sein!
Dann sah sie das Gesicht des Zigeuners: seine gerade Nase, die schlankgeschnittenen beweglichen Lippen, den geraden, unverwandten, deutungsvollen Blick, der wie ein tödlich sicherer Schuß eine verborgene Stelle im innersten Kern ihres Lebens traf.
Erbittert reckte sie sich auf. Wie durfte er es wagen, sie so anzusehen? Ihr wütender Blick ließ ihren Zorn an der Blödheit der hübschen Jünglinge auf der Tanzfläche aus. Wie ich sie verachte! Lachte sie. Mit der Verachtung, die Yvette in diesem Augenblick empfand, mögen wohl die zerlumpten Zigeunerweiber den Männern nachblicken, die keine Zigeuner sind, und die wie die wohlerzogenen Hunde durch die Straßen trotten. Woher, dachte Yvette, sollte aus der Gesellschaft da der recht gestimmte, der einsame und unwiderstehlich lockende Ruf kommen, der zu mir dringen könnte?
Sie hatte kein Verlangen danach, sich einem Haushunde zu gesellen.
Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken, ihre zarten Nasenflügel zitterten nervös, ihr weiches braunes Haar umrahmte, eine weiche Umhüllung, ihr zartes blumenhaftes Gesicht; so saß sie und sann. Sie sah so mädchenhaft, so unberührt aus. Und doch gemahnte ein unbenennbarer Zug an die schlanke junge Hexe aus dem Bauernmärchen, von der sich die wohlerzogenen Haushunde von Männern mit scheuer Witterung fernhalten. Es konnte sich mit ihr irgendeine ungemütliche Verwandlung begeben, bevor man wußte, woran man war.
Dies war es, was sie einsam machte, so sehr man sie auch umwarb. Vielleicht machte gerade dieses Umworbenwerden sie nur noch einsamer.
Leo freilich war so etwas wie ein Bullenbeißer unter den Haushunden. Er kehrte nach dem Tanz mit frischem Mut zurück und ging mit Hurra zum Angriff vor.
»Na, jetzt hast du's dir wohl inzwischen ein bißchen überlegt, was?« fragte er und setzte sich neben sie: Leo Wetherell, ein behaglicher, gutgenährter, entschlossener junger Mann. Sie wußte nicht, weshalb es sie so unvernünftig aufbrachte, zu sehen, wie er voll heiteren Selbstvertrauens Platz nahm und seine verläßlichen, wenn auch nicht besonders edelgeformten Beine von sich streckte: wobei er das Beinkleid an den Knieen ein wenig anhob.
»Überlegt –?« sagte sie geistesabwesend. »Was denn?«
»Na, du weißt doch, was ich meine,« sagte er. »Was ist nun: Ja oder nein?«
»Was – ja oder nein?« fragte sie unbefangen.
Im Oberbewußtsein hatte sie das Gespräch tatsächlich vergessen.
»Oh,« sagte Leo und beschäftigte sich abermals mit seiner Bügelfalte, »ich meine unsere Verlobung, das weißt du doch.« Er machte ebensowenig Umschweife wie sie.
»Ach so. Also das ist vollkommen unmöglich«, sagte sie mit einer sanften Freundlichkeit, als handelte es sich um eine flüchtig aufgetauchte Frage unter vielen. »Daran hab ich nicht mal mehr gedacht. Tu mir den Gefallen und verschone mich mit solchem Unsinn! Es ist ja vollkommen unmöglich«, wiederholte sie, wie Kinder eine Redewendung wiederholen.
»Unmöglich? So? Ach –?« sagte er und lächelte sonderbar, als belustigte ihn ihre gelassene, wie aus einer Ferne kommende Feststellung. »Was ist denn dann möglich, wie? Du willst doch wohl nicht als alte Jungfer sterben, was?«
»Ach, das ist mir gleich«, sagte sie geistesabwesend.
»Mir aber nicht«, sagte er.
Sie wandte sich und sah ihn erstaunt an.
»Wieso?« fragte sie. »Was sollte es dir ausmachen, ob ich eine alte Jungfer werde?«
»Aus jedem nur erdenklichen Grunde«, gab er zurück und betrachtete sie mit einem kühnen, vielsagenden Lächeln, das die Absicht hatte, deutlich, sogar sehr deutlich zu sein. Dieses kühne und durchaus eindeutige Lächeln aber traf nicht wie ein Schuß eine tiefverborgene Stelle im innersten Kern ihres Lebens; vielmehr traf es nur ihre Haut, wie ein aufprallender Tennisball, und löste, wie er, nur einen jähen Ärger aus.
»Ich finde dieses ganze Gespräch scheußlich blöd«, sagte sie mit der Heftigkeit eines zornigen Kindes. »Wenn man's genau nimmt, bist du doch mit – mit –« sie schluckte noch rechtzeitig den Namen hinunter – »mit mindestens einem halben Dutzend anderer Mädels verlobt. Was du sagtest, war keine Schmeichelei für mich! Es wäre mir scheußlich, wenn Jemand was davon erführe. – Jawohl, scheußlich! – Ich sage Niemandem was davon, und hoffentlich hast du so viel Verstand, daß du es auch nicht tust. – Da kommt Ella!«
Und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, glitt sie davon, eine hohe, sanfte Blüte, um sich zu der armen Ella Framley zu gesellen.
Leo schlug sich mit den weißen Handschuhen in die Handfläche.
»Bösartige kleine Katze!« sagte er. Aber er war, wie man weiß, vom Stamme der Bullenbeißer; er hatte es ganz gern, wenn ihm so ein Kätzchen zu Kopf ging. Und er entschloß sich endgültig, sie vor allen anderen Möglichkeiten aufs Korn zu nehmen.
In der nächsten Woche regnete es wieder in Strömen. Yvette war gereizt und seltsam verärgert. Nach ihrem Willen hatte es schönes Wetter geben sollen. Besonders gegen Wochenende wünschte sie durchaus schönes Wetter. Die Frage nach dem Warum legte sie sich nicht vor.
Der Donnerstag mit seinem freien Nachmittag brachte scharfen Frost und Sonne. Leo kam mit seinem Wagen; es sollte die übliche Massenfahrt werden. Aber Yvette, in unausstehlicher Laune, weigerte sich, ohne einen Grund anzugeben.
»Nein, danke, ich habe keine Lust«, sagte sie.
Es machte ihr ein wenig Spaß, die Widerborstige zu spielen. Dann verschwand sie zu einem einsamen Spaziergang, über die vereisten Höhen, hinauf zu den Black Rocks. Auch der nächste Tag war sonnig und kalt. Es war Februar, aber droben im Nordland vermochte die Sonne den Boden nicht aufzutauen. Yvette gab bekannt, sie würde eine Radfahrt machen und ihr Frühstück mitnehmen, da sie vielleicht erst am Nachmittag zurückkäme.
Sie fuhr davon, ohne Eile. Trotz der Kälte brachte die Sonne etwas wie eine Vorahnung vom Frühling. Im Park sah sie fernab vom Wege das Wild stehen: es suchte die Sonne auf, um sich zu wärmen. Eine weißgefleckte Hirschkuh schritt langsam durch die reglose Landschaft.
Yvette fand es schwierig, im Radeln ihre Hände warmzuhalten, obwohl es sie im übrigen durchaus nicht fror. Es wurde erst besser, als sie abstieg, um die letzte lange Steigung bis zur Höhe zu Fuß zu erklimmen: droben war es windstill.
Das Hochland lag vor ihr, ganz kahl und ohne Hülle: das war wie eine andere Welt. Yvette war zu einer anderen Ebene emporgestiegen. Langsam radelte sie weiter, ein wenig besorgt, daß sie im riesigen Irrgarten der Steinmauern den rechten Weg verfehlen möchte. Indessen sie auf dem Wege dahinfuhr, den sie für den richtigen hielt, hörte sie ein leise klopfendes Geräusch, dem [ein] schwacher metallischer Widerklang folgte.
Der Zigeuner saß am Boden, den Rücken an die Wagendeichsel gelehnt, und hämmerte an einer kupfernen Schale. Er trug sein grünes Wams; die Kappe hatte er abgesetzt, um sich den Kopf von der Sonne bescheinen zu lassen. Drei kleine Kinder spielten in der Asthütte, die dem Rotschimmel gehörte, aber sie machten keinerlei Lärm dabei. Vom Pferde und vom Karrenwagen war nichts zu sehen. Eine gebückte alte Frau kochte Essen über einem Reisigfeuer. Kein Laut war zu hören als nur das rasche klingende Tap! tap! tap! des Hammers auf dem matten Kupfer.
Der Mann sah sogleich auf, als Yvette vom Rade stieg; er hörte auf zu hämmern, blieb aber ruhig sitzen. Ein kleines, kaum wahrnehmbares Lächeln des Triumphes glitt über sein Gesicht. Die alte Frau wandte sich und musterte unter ihrem schmutzig grauen Haar hervor Yvette mit scharfem Blick. Der Mann warf ein halblautes Wort hin, und sie wandte sich wieder dem Feuer zu. Er sah zu Yvette auf.
»Wie geht es Ihnen allen?« fragte sie höflich.
»Gut geht es, gut! Wollen Sie sich setzen eine Minute?«
Er wandte sich im Sitzen und holte unter dem Wagen einen Schemel für Yvette hervor. Indessen sie dann ihr Rad zur Wand des Steinbruchs schob, begann er wieder zu hämmern, mit seinem raschen Schlag, der so leicht war wie das Flattern einer Vogelschwinge.
Yvette ging zum Feuer, um ihre Hände zu wärmen.
»Sie kochen wohl das Essen?« sagte sie mit kindlicher Einfalt zu der alten Zigeunerin, während sie ihre langen, schlanken, von der Kälte geröteten Hände nahe an die glühende Asche hielt.
»Essen, ja!« sagte die alte Frau. »Für ihn! Und für die Kinder.«
Sie deutete mit der langen Gabel auf die drei schwarzäugigen Kinder, die unter ihren schwarzen Stirnhaaren hervor Yvette anstarrten. Sie waren sauber. Nur die Alte war unsauber. Den Steinbruch selbst hatten die Zigeuner vollkommen sauber gehalten.
Yvette kauerte stumm nieder und wärmte sich die Hände. Der Mann fuhr mit seinem raschen Gehämmer fort und machte nur zuweilen eine kurze Pause. Die häßliche Alte kletterte langsam die drei Stufen zum dritten, ältesten der Wohnwagen hinan. Die Kinder spielten weiter, leise und emsig, wie Jungtiere der Wildnis.
»Sind das Ihre Kinder?« fragte Yvette, indessen sie sich vom Feuer erhob und sich dem Zigeuner zuwandte.
Er sah ihr in die Augen und nickte.
»Aber wo ist denn Ihre Frau?«
»Sie ist weggegangen mit dem Korb. Alle sind weg, Wagen und Pferd auch, um zu verkaufen Sachen. Ich gehe nicht weg, um zu verkaufen Sachen. Ich mache sie, aber ich gehe nicht weg, sie zu verkaufen. Nicht oft. Das tu ich nicht oft.«
»Sie machen alle die Sachen aus Kupfer und Messing?« fragte sie.
Er nickte und bot ihr abermals den Schemel an. Sie setzte sich.
»Sie sagten, Freitags wären Sie hier«, sagte sie. »Da bin ich also mal hergefahren, weil so schönes Wetter ist.«
»Sehr schöner Tag!« sagte der Zigeuner. Sein Blick ruhte auf ihrer Wange, die ein wenig blaß war von der Kälte, auf dem braunen Haar über ihrem geröteten Ohr, auf den langen, noch immer geröteten Händen, die auf ihren Knieen lagen.
»Es ist Ihnen kalt, vom Fahren auf dem Rad?« fragte er. »An den Händen, ja«, sagte sie und krümmte nervös die Finger.
»Sie haben keine Handschuhe angehabt?«
»Doch, aber sie haben mir nicht viel genützt.«
»Kälte dringt durch«, sagte er.
»Ja«, gab sie zurück.
Die Alte kam langsam, hexenhaft gekrümmt, die Stufen des Wohnwagens herab und brachte ein paar Emailleteller mit.
»Essen fertig, he?« fragte er halblaut.
Die Alte murmelte etwas Unverständliches und stellte die Teller ans Feuer. An einer langen eisernen Querstange über der Glut hingen zwei Töpfe. Auf einem kleinen eisernen Dreifuß zischte eine siedende Pfanne. Hitze und Qualm mischten sich in der Sonne zu zitternden Wellen.
Der Zigeuner legte seine Werkzeuge und die Kupferschale aus der Hand und stand auf.
»Wollen Sie etwas essen mit uns?« fragte er, ohne Yvette dabei anzusehen.
»Oh, ich hab mir mein Frühstück mitgebracht«, sagte Yvette.
»Essen Sie nicht etwas Schmorfleisch?« beharrte er. Und abermals sagte er in seinem ruhigen, leisen Ton zu der Alten etwas, das Yvette nicht verstand. Die Alte murmelte eine ebenso unverständliche Antwort und schob den eisernen Topf zum Ende der Stange.
»Bohnen, und ein bißchen Hammelfleisch darin«, sagte er.
»Oh, herzlichsten Dank, wirklich!« sagte Yvette. Dann aber faßte sie sich plötzlich ein Herz: »Also ja, ein ganz kleines Bißchen, wenn ich darf.«
Sie ging über den Platz zum Fahrrad, um ihre Frühstückstasche loszuschnallen; der Zigeuner stieg die Treppe zu seinem Wohnwagen hinan. Nach einer Minute kam er wieder heraus und trocknete sich die Hände.
»Wollen Sie heraufkommen und sich die Hände waschen?« fragte er.
»Nein, danke«, sagte sie. »Es ist nicht nötig.«
Er goß sein Waschwasser aus, nahm einen hohen Messingkrug und eine Schale zum Schöpfen und ging, um aus der Quelle, die in einen kleinen Teich rieselte, frisches Wasser zu holen.
Als er wiederkam, setzte er den Krug und das Schöpfgefäß ans Feuer, holte sich einen niedrigen Holzklotz herbei und ließ sich nieder. Die Kinder saßen, dichtgedrängt wie eine Traube, beim Feuer am Boden und aßen die Bohnen und kleine Fleischhappen mit dem Löffel oder mit den Fingern. Der Zigeuner auf dem Holzklotz aß stumm und vertieft. Die Alte kochte Kaffee in einem schwarzen Topf auf dem Dreifuß und humpelte in den Wagen, um Tassen zu holen. Schweigen lag über dem Steinbruch. Yvette nahm den Hut ab und schüttelte ihr Haar in der Sonne.
»Wie viele Kinder haben Sie eigentlich?« fragte sie plötzlich.
Er sah auf, und sein Blick drang in ihre Augen. »Fünf, glaub ich«, sagte er langsam.
Und wieder war es, als sänke ihr Herz im Fliegen nieder wie ein sterbender Vogel. Halbbewußt, wie von einem Traum befangen, nahm sie die Kaffeetasse, die er ihr reichte. Deutlich sah sie nur seine stumme Gestalt, wie er da auf dem Baumstumpf saß, seine Emailletasse in der Hand hielt und schweigend seinen Kaffee trank. Der Wille war aus ihren Gliedern gewichen, der Mann hatte Gewalt über sie: sein Schatten lag auf ihr.
Und er, der in seine Kaffeetasse blies, um sie zu kühlen, nahm nur eines wahr: die geheimnisvolle Frucht ihrer Unberührtheit, die erlesene, die vollkommene Zartheit ihres Leibes.
Schließlich stellte er die Kaffeetasse ans Feuer, wandte sich und sah sie an. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, indessen sie von dem heißen Kaffee zu nippen versuchte. Ihr Gesicht sah aus, als schlummere sie – den zarten Schlummer, in den uns die nickende Blume versunken scheint, wenn sie voll erblüht ist. Sie war voll erblüht, wie eine geheimnisvolle Blume im frühen Jahr, wie ein Schneeglöckchen, das seine drei weißen Schwingen zum Flug in den wachen Schlaf seiner kurzen Blütezeit spannt. Der wache Schlaf ihrer vollerblühten Unberührtheit umfing sie, und sie war in entzücktem Traum wie ein Schneeglöckchen in der Sonne. Der Zigeuner, der ihrer in gespannter Aufmerksamkeit inne war, wartete auf sie, wie ein gestaltgewordener Schatten: wie der Schatten wartet und da ist.
Schließlich sagte seine Stimme, ohne den Bann zu brechen:
»Wollen Sie jetzt gehen in meinen Wagen und sich waschen die Hände?«
Kindlich und wie bei einer Schlafwandelnden blickten ihre Augen in diesem höchsten Augenblick ihres Mädchentums; sie sah ihn an, ohne ihn zu sehen. Sie spürte nur seinen Willen wie einen seltsamen dunklen Strom, der ihre Glieder umströmte und ihren Willen völlig hinwegspülte. Sie spürte den Mann wie eine dunkle, unentrinnbare Macht.
»Ja, ich glaube, das möchte ich wohl«, sagte sie.
Er stand auf, stumm: dann wandte er sich der Alten zu und sagte leise etwas zu ihr; es klang wie ein Befehl. Nun sah er wieder Yvette an und warf seine Macht über sie: Das war, als nähme er ihr Selbst und all ihr Tun von ihr wie eine Last.
»Kommen Sie!« sagte er.
Sie folgte ihm, als müßte es so sein, folgte der stummen, geheimnisvollen, übermächtigen Bewegung seines Körpers, der vor ihr herschritt. Es kostete sie keinen Entschluß. Sie war aufgegangen in seinem Willen.
Er war schon droben an der Wagentür, sie wollte gerade die Stufen ersteigen, als ihr zum Bewußtsein kam, daß ein Laut in das Schweigen eindrang. Sie blieb am Fuße der Treppe stehen: Ein Kraftwagen kam heran. Der Zigeuner stand droben und sah sich mit sonderbarem Ausdruck um. Die krächzende Stimme der Alten rief etwas Unverständliches, indessen der Wagen mit rasch anwachsendem Lärm heranbrauste. Er fuhr vorbei.
Dann hörte sie den Ruf einer Frauenstimme und das Kreischen der Bremsen. Der Wagen hielt, unmittelbar hinter dem Steinbruch.
Der Zigeuner schloß die Tür des Wohnwagens und kam die Treppe herab.
»Sie wollen gewiß aufsetzen Ihren Hut«, sagte er zu Yvette.
Gehorsam ging sie zu dem Schemel am Feuer und nahm ihren Hut. Er setzte sich wieder ans Wagenrad, in finsterem Schweigen, und nahm seine Werkzeuge auf. Das schnelle Tap! tap! tap! seines Hammers, das nun rasch und zornig wie ein winziges Maschinengewehr klang, setzte genau in dem Augenblick ein, als sie die Frauenstimme von vorhin rufen hörte:
»Dürfen wir uns die Hände am Lagerfeuer wärmen?«
Die Frau kam heran und trug einen glatten, dicken Zobelpelzmantel. Ihr folgte ein Mann im blauen Überzieher; er zog seine Pelzhandschuhe aus und holte eine Pfeife aus der Tasche hervor.
»Es sah so verlockend aus«, sagte die Frau, die den Mantel aus vielen kleinen toten Tieren trug; dabei lächelte sie, ein einfältiges, halb herablassendes, halb zögerndes Lächeln, das allen Anwesenden galt.
Niemand erwiderte ein Wort.
Sie ging zum Feuer und schüttelte sich ein wenig in ihrem Pelzmantel vor Kälte. Die Beiden waren in einem offenen Wagen gekommen.
Die Frau war sehr klein und hatte eine ziemlich große Nase, man konnte sie für eine Jüdin halten. Sie war schmächtig wie ein Kind; in ihrem Zobelmantel sah sie viel stärker aus, als sie wirklich war. Ihre großen braunen Augen – ja, sie mußte eine Jüdin sein – blickten vorwurfsvoll und mit dem Ausdruck eines verzogenen Kindes. Wunderlich genug sah das aus, bei ihrer kostbaren Aufmachung.
Sie kauerte nieder und streckte ihre kleinen Hände, an denen Diamanten und Smaragde glitzerten, über das niedrige Feuer.
»Hu!« sagte sie schaudernd. »Natürlich hätten wir nicht den offenen Wagen nehmen dürfen. Aber mein Mann wollte es ja so. Ich durfte nicht mal sagen, daß mich friert.« Sie wandte sich und sah ihn an, mit ihren großen, vorwurfsvollen Kinderaugen, in denen dennoch die wache Schlauheit war, wie sie die Jüdinnen der bürgerlichen Schicht haben.
Wahrscheinlich war sie reich, und augenscheinlich liebte sie den großen blonden Mann – auf die wunderliche Art, wie Jüdinnen solche Männer lieben. Er erwiderte ihren Blick mit seinen geistesabwesenden blauen Augen, die wimperlos schienen; ein schwaches Lächeln kräuselte seine glatten, sonderbar nackt aussehenden Wangen. Es war ein Lächeln, aus dem nichts, gar nichts zu ersehen war.
Er war einer von den Männern, bei deren Anblick man sofort an Wintersport, Ski- und Schlittschuhlaufen denken muß. Riesenhaft, ganz unberührt vom Leben um ihn her, stand er da, füllte seine Pfeife und stopfte den Tabak mit seinen langen, starken, geröteten Fingern fest.
Die Jüdin sah ihn an; sie wollte eine Antwort, irgendeine Antwort von ihm haben. Aber es kam keine; nur dieses sonderbare, gänzlich ausdruckslose Lächeln. Da wandte sie sich wieder dem Feuer zu, runzelte die Brauen und blickte auf ihre kleinen weißen gespreizten Hände.
Er schlüpfte aus seinem grobgemusterten Überzieher, und es zeigte sich, daß er einen hübschen, scharfmustrig in Gelb und Grau und Schwarz gewebten Jersey trug, über tadellos geschnittenen, ziemlich weiten Beinkleidern. Oh ja, sie hatten sich beide ihre Kleidung etwas kosten lassen! Und er war prachtvoll gewachsen, mit breiter, hünenhaft gewölbter Brust. Gelassen machte er sich daran, das Holzfeuer richtig aufzubauen, wie ein erfahrener Lagerbewohner, wie ein Soldat im Felde.
»Glauben Sie, daß es ihnen recht ist, wenn wir'n paar Tannenzapfen drauflegen, damit es mal richtig in Glut kommt?« fragte er Yvette und warf einen stummen Blick auf den hämmernden Zigeuner.
»Freuen werden sie sich, sollt ich meinen«, sagte Yvette. Langsam wich von ihr der Bann, in dem der Zigeuner sie gehalten hatte; sie war wie betäubt, sie kam sich vor wie auf den Strand geworfen, eine nackte Schiffbrüchige.
Der Fremde ging zu seinem Wagen, kam mit einem Säckchen voll Tannenzapfen zurück und nahm eine Handvoll heraus.
»Einverstanden, daß ich mal richtig Glut mache?« rief er dem Zigeuner zu.
»He –?«
»Einverstanden, daß ich mal richtig Glut mache – mit ein paar Tannenzapfen?«
»Ist mir recht!« sagte der Zigeuner.
Der Fremde legte die Tannenzapfen locker und sorgsam auf die rotglühende Asche. Alsbald fingen sie Feuer, einer nach dem anderen, und brannten wie Feuerrosen, mit würzigem Duft.
»Oh, köstlich! Köstlich!« rief die Jüdin und sah wieder zu ihm auf. Er blickte auf sie nieder, durchaus freundlich, wie die Sonne aufs Eis. »Lieben Sie das Feuer auch so? Oh, ich liebe es so!« rief die Jüdin Yvette zu. Sie mußte sich anstrengen, um das Gehämmer zu übertönen, und sie ärgerte sich darüber. Mit leicht gerunzelten Brauen sah sie sich nach dem Zigeuner um, als wollte sie ihn bitten, aufzuhören. Auch Yvette blickte zu ihm hinüber. Er saß über seine Kupferschale gebeugt, mit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf, den Arm mit geschmeidiger Bewegung gehoben. Schon schien er ihr ganz ferngerückt.
Der Begleiter der kleinen Jüdin schlenderte zum Zigeuner hinüber, stand stumm neben ihm und sah ihm zu, die Pfeife im Munde. Nun waren sie nichts weiter als zwei Männer und mußten einander beschnüffeln.
»Wir sind nämlich in den Flitterwochen«, sagte die kleine Jüdin und sah Yvette mit einem Blick an, der zugleich pfiffig und mißtrauisch war. Sie sprach mit ziemlich hoher, herausfordernder Stimme; man mußte an einen Vogelruf denken: einen Häher etwa oder eine Krähe.
»Sieh mal an –!« sagte Yvette.
»Ja! Und das noch vor unserer Trauung! Sie kennen doch wohl den Namen Simon Fawcett?« Ja, den kannte Yvette – es war ein reicher und im ganzen Nordland bekannter Ingenieur. »Na, also ich bin Mrs. Fawcett, und er läßt sich jetzt von mir scheiden.« Sie sah Yvette mit einer wunderlichen Mischung von Trotz und Sehnsucht an.
»Ach –?« sagte Yvette.
Nun verstand sie den Ausdruck von Gekränktheit und Trotz in den großen braunen Kinderaugen der Jüdin. Sie war ein anständiges kleines Geschöpf, aber vielleicht war ihre Anständigkeit allzu vernunftbedingt. Vielleicht erklärte sich so zum Teil die sehr bekannte Bedenkenlosigkeit des sehr bekannten Simon Fawcett.
»Ja! Sobald wir geschieden sind, heirate ich Major Eastwood.«
So – nun lagen alle ihre Karten auf dem Tische. Man sollte von ihr nicht sagen, daß sie irgendeinen Menschen täuschte.
Zwischen den beiden Männern ging eine Unterhaltung in kurzen Worten hin und her. Sie wandte sich und erfaßte den Zigeuner mit dem festen Blick ihrer großen braunen Augen.
Der Zigeuner sah mit einem Ausdruck, der etwas Scheues hatte, zu dem hochgewachsenen Manne im leuchtend bunten Jersey auf, der, die Pfeife im Munde, dicht bei ihm stand und auf ihn herabblickte.
»Bei den Pferden, hinter Arras«, sagte der Zigeuner leise.
Sie redeten vom Kriege. Der Zigeuner hatte im Regiment des Majors gedient, bei den Artilleriegespannen.
»Ein schöner Mensch!« meinte die Jüdin. Sie hatte es auf Deutsch gesagt und wiederholte es auf Englisch. »Nicht?« Auch für sie war der Zigeuner nichts weiter als einer von den Gemeinen, den Tommies.
»Ganz hübsch, ja«, sagte Yvette.
»Sie fahren mit dem Rad?« fragte die Jüdin überrascht.
»Ja. Nach Papplewick hinunter. Mein Vater ist Pfarrer in Papplewick. Saywell heißen wir.«
»Oh!« sagte die Jüdin. »Ich kenne den Namen. Ein gescheiter Schriftsteller. Sehr gescheit. Ich habe seine Bücher gelesen.«
Die Tannenzapfen waren nun schon ganz verbrannt; das Feuer war nur noch ein hoher Haufen zersprühender und zerstäubender Feuerrosen. Der Himmel umzog sich: Am Nachmittag würde es wolkig sein, und gegen Abend würde es schneien.
Der Major kam zurück und zog seinen Überzieher wieder an.
»Mir kam das Gesicht gleich bekannt vor«, sagte er. »Einer von unseren Pferdeburschen. War vorzüglich, der Mann.«
»Hören Sie mal,« sagte die Jüdin lebhaft zu Yvette, »fahren Sie doch in unserem Wagen mit nach Normanton hinunter. Wir wohnen in Scoresby. Das Rad können wir hinten auf den Wagen schnallen.«
»Ja, das möchte ich wohl«, sagte Yvette. Und der blonde Major brachte das Fahrrad zum Wagen.
»Kommt!« rief die Jüdin den neugierig spähenden Kindern zu. »Kommt! Kommt doch mal her!« Sie holte ihre kleine Geldbörse hervor und hielt ihnen einen Schilling hin.
»Kommt!« rief sie. »Nehmt doch!«
Der Zigeuner hatte sein Werkzeug aus der Hand gelegt und war in seinen Wagen gegangen. Die Alte, unsichtbar, rief heiser nach den Kindern. Die beiden Ältesten kamen vorsichtig heran. Die Jüdin gab ihnen die beiden Silberstücke, die sie in ihrer Börse fand: einen Schilling und ein Zweischillingsstück. Zum zweiten Male rief die Stimme der unsichtbaren Alten nach den Kindern.
Der Zigeuner kam aus seinem Wagen und schlenderte zum Feuer. Die Jüdin sah ihm ins Gesicht, mit der forschenden Kühnheit, wie sie den Bürgerfrauen ihrer Rasse eigen ist.
»Sie waren im Kriege und haben in Major Eastwoods Regiment gedient?« fragte sie.
»Ja, meine Dame.«
»Und nun treffen Sie beide hier zusammen. Sonderbar – – Es gibt Schnee.« Sie blickte zum Himmel.
»Später«, sagte der Zigeuner und blickte zum Himmel. Auch er hatte sich nun ganz in sich verschlossen. Er stammte aus einer Rasse, die seit Urzeiten ihren besonderen Kampf gegen die bürgerlich geordnete Gesellschaft ausfocht, ohne daß es ihr je in den Sinn kam, sie könnte diesen Kampf gewinnen. Sie konnte dem Feinde nur dann und wann einmal die Haut ritzen.
Seit dem Kriege freilich war auch die Aussicht, dem Feinde dann und wann auf sportgerechte Art die Haut zu ritzen, gründlich vermindert. Und trotzdem kam kein Gedanke an Unterwerfung auf. Der Blick des Zigeuners hatte noch immer die frühere Kühnheit; aber er war hart geworden und in unmeßbare Ferne gerichtet. Der Zigeuner hatte den Krieg mitgemacht, ganz und gar.
Er sah Yvette an.
»Sie wollen heimfahren in dem Auto?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie, und es klang sonderbar gezwungen und geziert. »Das Wetter ist so unsicher.«
»Unsicheres Wetter«, wiederholte er und sah zum Himmel. Es war ihr völlig unmöglich, zu erkennen, was er dabei empfand. Um die Wahrheit zu sagen: Es war ihr auch ziemlich gleichgültig. Sie war schon ganz gefangen genommen von der kleinen Jüdin. Eine Frau, dachte sie, die zwei Kinder hat, und die nun ihr vieles Geld dem berühmten Ingenieur wegnimmt und es diesem Habenichts und Sportsmann, diesem jungen Major Eastwood gibt. Er muß doch fünf oder sechs Jahre jünger sein als sie. Ein sonderbarer Handel!
Der blonde Major kam zurück.
»Eine Zigarette, Charles!« rief die kleine Jüdin in klagendem Ton.
Er holte seine Dose hervor, mit seinen langsamen Bewegungen, die so viel Kraft verrieten. Es mußte irgendeine verborgene Empfindlichkeit sein, die ihm diese Langsamkeit und Vorsicht verlieh; so, als hätte er sich bei der Berührung mit den Menschen einmal wehgetan. Er gab erst seiner Frau, dann Yvette eine Zigarette; schließlich hielt er mit selbstverständlicher Geste dem Zigeuner die Dose hin. Der Zigeuner bediente sich.
»Vielen Dank, Sir«, sagte er.
Und er ging gelassen zum Feuer, bückte sich und zündete die Zigarette an der glühenden Asche an. Die beiden Frauen sahen ihm zu.
»Na, also dann auf Wiedersehen!« sagte die Jüdin in ihrem früheren kameradschaftlichen Ton, bei dem man an bürgerlich-freimaurerische Brüderlichkeit denken mußte. »Schönen Dank auch für das Feuer!«
»Feuer gehört jedermann«, sagte der Zigeuner.
Das jüngste Kind kam auf ihn zugewatschelt.
»Auf Wiedersehen!« sagte Yvette. »Hoffentlich gibt es keinen Schnee – Ihretwegen, meine ich.«
»Wir machen uns nichts aus einem bißchen Schnee«, sagte der Zigeuner.
»Nein –?« sagte Yvette. »Ich dachte –«
»Nein«, sagte der Zigeuner.
Sie warf ihr Halstuch über die Schulter, erhaben wie eine Königin, und folgte dem Pelzmantel der Jüdin, der vor ihr hertrippelte, als liefe er auf eigenen Beinchen davon.
Auf Yvette hatten ›die Eastwoods‹ (wie sie das Paar nannte) beträchtlichen Eindruck gemacht. Die kleine Jüdin brauchte nun nur noch ein Vierteljahr auf das Endurteil in ihrem Scheidungsprozeß zu warten. Kühn, wie sie war, hatte sie ein Sommerhäuschen droben in Scoresby gemietet, bei den Hochmooren, am Fuße der Höhen. Nun war starrer Winter, und die Beiden lebten ziemlich einsam; es war nicht einmal ein Dienstmädchen im Hause. Der Major war bereits aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und nannte sich kurzweg Mr. Eastwood. Vor der Welt waren sie tatsächlich schon ein Paar. Mr. und Mrs. Eastwood.
Die kleine Jüdin war sechsunddreißig Jahre alt; sie hatte zwei Kinder, die beide schon über das zwölfte Jahr hinaus waren. Ihr bisheriger Gatte war damit einverstanden, daß sie ihrer Obhut anvertraut werden sollten, sobald sie mit Eastwood verheiratet war.
Da lebte nun also das wunderliche Paar: die zarte, feingliedrige kleine Jüdin mit den großen, immer ein wenig gekränkt und vorwurfsvoll blickenden Augen und dem Busch sorgsam gepflegten lockigen schwarzen Haares – auf ihre Art ein elegantes Persönchen; und der hochgewachsene, hünenhafte junge Mann mit den blassen Augen, sicherlich der späte winterliche Nachfahr irgendeines täppischen alten Dänengeschlechts. Da lebten sie beisammen in einem modernen Häuschen und taten alle Hausarbeit selbst.
Es war ein wunderlicher Haushalt. Die Jüdin hatte die Einrichtung mitgemietet, aber trotzdem allen eigenen Hausrat herbeigeschleppt, der ihrem Herzen teuer war. Und da sie eine schrullige Vorliebe fürs Rokoko hatte, so sah man seltsam geschweifte Schränke, die mit Perlmutter, Schildpatt, Ebenholz und Gott weiß was ausgelegt waren; merkwürdige hochbeinige geflammte, mit seegrünem Brokat bezogene Stühle, die aus Italien stammten; erstaunliche geschnitzte Heiligenbilder mit windverwitterten, grellbunten Gewändern und hellroten Gesichtern; Borte mit sonderbaren Porzellanfigürchen aus Meißen und Capo di Monte; schließlich eine seltsame Sammlung nicht minder erstaunlicher Glasmalereien, die wahrscheinlich aus dem Anfang des neunzehnten oder dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts stammten.
In dieser außergewöhnlichen, mit tausend Dingen vollgestopften Umgebung wurde Yvette empfangen, als sie nach einiger Zeit einen heimlichen Besuch machte. Eine ganze Schlachtordnung von Öfen war in das kleine Haus eingebaut, so daß es bis in alle Winkel warm, ja heiß darin war. Und da war nun die Jüdin selbst, ein zierliches Rokokofigürchen in einem köstlichen Kleidchen, mit einer Schürze darüber: sie legte Schinkenschnitten auf eine Schüssel, während der Major, einer großen Schneeammer vergleichbar, mit weißem Wams und grauen Hosen, Brot schnitt, Senf mischte, Kaffee bereitete und alles Sonstige besorgte. Er hatte sogar die Schüssel Hasenpfeffer zubereitet, die nach dem kalten Fleisch und dem Kaviar gereicht wurde.
Das Silber und das Porzellan gehörten zur Aussteuer der Braut und waren wirklich wertvoll. Der Major trank Bier aus einem silbernen Krug, die kleine Jüdin und Yvette bekamen Schaumwein in entzückenden Gläsern; dann brachte der Major den Kaffee herein. Sie plauderten. Die kleine Jüdin redete mit flammender Entrüstung von ihrem früheren Gatten. Sie hatte sehr strenge Sittlichkeitsbegriffe – dermaßen streng, daß sie sich hatte scheiden lassen. Und auch der Major, der kraftvolle, für seine Art schöne Mensch, der aussah wie ein fremder winterlicher Vogel und auch darin einem Vogel glich, daß seine Augen wie von einem blassen Ring umgeben waren und wimperlos wirkten – auch der Major hatte eine wunderliche Erbitterung gegen das Leben und seine verlogenen Sittenbegriffe. Seine mächtige, hünenhafte Brust barg einen seltsamen, einen sozusagen winterlich kalten Zorn. Sein zärtliches Gefühl für die kleine Jüdin beruhte auf seinem verletzten Gerechtigkeitsgefühl; die begrifflich kalte Sittenauffassung des Nordens scheuchte ihn wie ein fremder Wind in die Vereinsamung.
Am späteren Nachmittag gingen die Drei in die Küche; der Major krempelte sich die Ärmel auf, so daß man die mächtige Kraft seiner weißen Arme sah, und wusch sorgsam und geschickt das Geschirr, während die beiden Frauen das Abtrocknen besorgten. Nun zeigte sich, daß er seine Muskeln nicht umsonst so trefflich geübt hatte. Dann wanderte er durch das kleine Haus und versorgte die Öfen, die täglich nur ein paar Minuten der Wartung beanspruchten. Und schließlich holte er seine kleine Limousine, fuhr Yvette durch den Regen heim und setzte sie hinter dem Hause bei den Lärchen vor einer kleinen Heckenpforte ab, von wo ein Sandweg mit eingegrabenen Stufen zum Hause hinabführte. Sie fand das Paar wahrhaft erstaunlich.
»Denk mal, Lucille – ich habe da ein paar höchst merkwürdige Leute kennen gelernt«, sagte sie. Und sie entwarf eine eingehende Schilderung.
»Wenn mans so hört, klingt das alles ja furchtbar nett«, sagte Lucille. »Reizend muß das sein, wenn der Major die Hausarbeit tut und dabei aussieht, als käme er frisch aus der Bond-Street. Wenn sie erst mal verheiratet sind, stelle ich es mir recht lustig vor, mit ihnen zu verkehren.«
»Ja«, sagte Yvette und war mit ihren Gedanken anderswo. »Ja. Das denke ich auch.«
Sie hatte das Vorhandensein ihres Zigeuners ganz aus dem Bewußtsein verloren; nun bemächtigte er sich mit jäher und schmerzlicher Gewalt wieder ihrer Gedanken. Und gerade die Seltsamkeit der Beziehung zwischen der kleinen Jüdin und dem hünenhaften jungen Offizier brachte sie wieder darauf.
»Was ist es eigentlich, das die Menschen zusammenbringt, Lucille?« fragte sie. »Menschen wie die Eastwoods zum Beispiel – und Papa und Mama, die doch so furchtbar wenig zueinander paßten? – und die Zigeunerin, die mir wahrsagte und wie ein großes Pferd aussah, und ihren schlanken, feingliedrigen Mann? Was bringt sie zusammen?«
»Der Geschlechtstrieb vermutlich,« sagte Lucille, »– wenn du dir darunter etwas vorstellen kannst.«
»Ja, siehst du, das ist es eben. Es ist nämlich nichts Gemeines, wie das, was man gewöhnlich unter Sinnlichkeit versteht. Nein, wirklich, Lucille, das ist es nicht.«
»Nein, das glaub ich auch nicht«, sagte Lucille. »Wenigstens braucht es das nicht zu sein.«
»– denn sieh mal, aus den gewöhnlichen Männern – du weißt schon, welche ich meine: durch die sich eine Frau erniedrigt vorkommt – aus denen macht sich doch niemand viel. Eine richtige innere Verbindung mit ihnen gibt es doch gar nicht. Und doch gelten sie überall als die Männer, die geschlechtlich wirken.«
»Ich denke mir,« sagte Lucille, »es gibt zwei Arten von Geschlechtlichkeit: eine niedrige – und eine, die eben nicht niedrig ist. Ach, du, das ist eine furchtbar verwickelte Geschichte! Ich hasse gewöhnliche Männer. Und ich fühle niemals etwas ›Geschlechtliches‹« – sie sprach das Wort mit einem ziemlich angewiderten Ton aus – »für Männer, die nicht gewöhnlich sind. Vielleicht habe ich gar keinen Geschlechtstrieb.«
»Siehst du, das ist es!« sagte Yvette. »Vielleicht haben wir beide keinen. Vielleicht haben wir gar keinen Geschlechtstrieb mitgekriegt, der uns in Beziehungen zu Männern bringt.«
»Wie abscheulich das klingt: ›in Beziehungen zu Männern bringt‹!« rief Lucille voll Abscheu. »Würdest du es nicht widerlich finden, auf solche Weise in Beziehungen zu einem Manne zu stehen? Ich finde es gräßlich, daß es ohne diesen Geschlechtstrieb auf der Welt nicht geht. Wieviel schöner wäre es doch, wenn es einfach nur Männer und Frauen gäbe, ohne – ohne das alles.«
Yvette antwortete nicht gleich. Da war, irgendwo im Hintergrund, das Bild des Zigeuners; sie sah ihn in dem Augenblick, da er sich nach ihr umwandte, als sie sagte: »Das Wetter ist so unsicher.« Sie kam sich ein wenig vor wie Petrus, als der Hahn krähte; denn – verleugnete sie nicht jetzt den Zigeuner? Das heißt: sie verleugnete wohl nicht eigentlich den Zigeuner; seine Rolle bei der Sache war ihr vollkommen gleichgültig. Irgendein verborgener Bezirk ihres Ichs war es, den sie verleugnete: der Bezirk, aus dem der Zigeuner eine geheimnisvolle und uneingestandene Antwort auf seinen Ruf empfing. Und es war ein unheimlich fremder, glänzend schwarzer Hahn, der sie mit seinem Krähen höhnte.
»Ja!« sagte sie in ziellos abschweifenden Gedanken. »Ja! Der Geschlechtstrieb ist eine gräßliche Plage, Lucille. Wenn man ihn nicht hat, dann kommt es Einem vor, als müßte man ihn eigentlich haben. Und hat man ihn dann – oder – ich meine: bekommt man ihn –« sie hob den Kopf und krauste angewidert die Nase – »dann verabscheut man ihn.«
»Ach, das weiß ich nun doch nicht – !« rief Lucille. »Ich glaube, ich wäre richtig froh, wenn ich mich mal ganz furchtbar in einen Mann verliebte.«
»Das meinst du jetzt!« sagte Yvette und krauste abermals die Nase. »Aber wenn du es wirklich tätest, wärst du bestimmt nicht froh.«
»Woher weißt du denn das?« fragte Lucille.
» Wissen kann ich es natürlich nicht«, sagte Yvette. »Aber ich stelle es mir so vor. Ja, ich stelle es mir so vor.«
»Und sehr wahrscheinlich ist es auch so!« sagte Lucille angewidert. »Jedenfalls – man könnte sicher sein, daß es eines Tages mit der Liebe wieder aus wäre, und dann wäre das Ganze nur noch widerlich.«
»Ja«, sagte Yvette. »Es ist eine schwere Frage.« Und sie summte ein Liedchen.
»Ach was, hols der Kuckuck, für uns Beiden ist es ja keine schwere Frage. Wir sind alle beide nicht richtig verliebt, und wahrscheinlich werden wir's nie sein, und damit ist ja die Frage gelöst.«
»Da bin ich nun wieder nicht so sicher«, sagte Yvette weise. »Nein, da bin ich gar nicht so sicher. Ich glaube, ich werde mich eines Tages mal ganz schrecklich verlieben.«
»Das wirst du wahrscheinlich niemals tun«, sagte Lucille roh. »Das ist es übrigens, woran die meisten alten Jungfern immerzu denken.«
Yvette sah ihre Schwester nachdenklich, aber offenbar ohne sonderliche Sorge an.
»Ja –?« sagte sie. »Meinst du wirklich, Lucille? Die armen Geschöpfe – wie gräßlich muß das für sie sein! Warum liegt ihnen denn so viel daran?«
»Ja – warum wohl?« sagte Lucille. »Vielleicht liegt ihnen in Wirklichkeit gar nichts daran – – Wahrscheinlich kommt das alles nur daher, daß die Leute immer sagen: ›Die arme alte Jungfer – sie hat keinen Mann erwischen können!‹«
»Natürlich – das wird es sein!« sagte Yvette. »Bedenk doch nur mal, was für abscheuliche Dinge immer über die alten Jungfern geredet werden; das nehmen sie sich schließlich zu Herzen. Es ist eine Schande!«
»Na, wir haben doch jedenfalls nicht zu klagen. Wir haben doch ein ganzes Regiment Jungens, die sich um uns die Beine ausreißen!« sagte Lucille.
»Ja!« sagte Yvette. »Ja! Aber heiraten könnte ich nicht einen von ihnen.«
»Ich auch nicht«, sagte Lucille. »Aber warum sollten wir auch? Warum sollen wir uns den Kopf übers Heiraten zerbrechen, wo wirs doch so entzückend haben mit den Jungens? Sie sind doch furchtbar nett, und das mußt du zugeben – sie benehmen sich furchtbar kameradschaftlich und anständig gegen uns.«
»Oh ja, das tun sie«, sagte Yvette geistesabwesend.
»Und ans Heiraten muß man, glaub ich, denken,« sagte Lucille, »wenn man merkt, daß mans nicht mehr so nett hat. Dann ists Zeit. Dann muß man heiraten und sich zur Ruhe setzen.«
»Richtig«, sagte Yvette.
Schon aber begann sie sich über Lucille zu ärgern, wenn sie es auch nicht merken ließ und ihren heiteren, sanften, liebenswürdigen Ton beibehielt. Die Wandlung kam so plötzlich, daß sie Lucille am liebsten den Rücken gekehrt hätte.
Arme Lucille! dachte sie. Was für Schatten hat sie unter den Augen! Und was für einen sehnsüchtigen Ausdruck haben diese schönen Augen! Ach, wenn doch nur irgendein netter, gütiger, fürsorglicher Mann käme und sie heiraten wollte! Und wenn sie ihn dann doch nähme, die scheinbar so selbständige Lucille!
Yvette erzählte weder dem Pfarrer noch Großmuttchen etwas von den Eastwoods. Es hätte doch nur eine endlose Rederei gegeben, und sie haßte das. Rein persönlich hätte der Pfarrer gewiß nichts gegen die Bekanntschaft einzuwenden gehabt. Aber auch er kannte die Notwendigkeit, sich so sehr wie nur möglich vor dem Gerede der Leute, dieser giftigen tausendköpfigen Schlange, zu hüten.
»Aber ich will nicht, daß Sie ohne Wissen Ihres Vaters zu uns kommen«, rief die kleine Jüdin.
»Ja, ich werde es ihm wohl sagen müssen«, meinte Yvette. »Ich bin überzeugt, daß er nichts dagegen hat; wirklich. Aber wenn ers wüßte, dann müßte er was dagegen haben, denke ich mir.«
Der junge Offizier sah sie an; seine kühnen Vogelaugen, erregungslos, hatten einen seltsamen Ausdruck von Belustigtsein. Auch er war im besten Zuge, sich in Yvette zu verlieben. Ihre zarte Unberührtheit, ihr achtloses, ungreifbar schweifendes Entferntsein von den Dingen zogen ihn an.
Yvette merkte wohl, was in ihm vorging, und sie tat nichts, um es zu verhindern; im Gegenteil. Eastwood wirkte auf ihre Phantasie. Es hatte etwas Erregendes, diesem weltmännischen jungen Offizier (›ganz große Klasse‹, dachte Yvette), der seinen Kraftwagen mit so erstaunlicher Gelassenheit steuerte und beinahe schon ein Meisterschwimmer war, zuzusehen, wie er mit ruhiger Selbstverständlichkeit, die Pfeife im Munde, Geschirr wusch und diese sonderbare Arbeit flink und geschickt erledigte. Oder wie er mit derselben sorgsamen Aufmerksamkeit, die er dem geheimnisvollen Inhalt einer Motorhaube widmete, in der Küche des Häuschens Hasenpfeffer bereitete. Oder wie er dann in das eisige Wetter hinausging und seinen Wagen putzte, bis dieser aussah wie ein lebendiges Geschöpf – wie eine Katze, die sich geleckt hat. Wie er dann hereinkam und kurz, aber ohne jede Anmaßung auf alle Fragen der kleinen Jüdin einging. Und wie er alles dessen anscheinend niemals überdrüssig wurde. Bei schlechtem Wetter saß er am Fenster, die Pfeife zwischen den Zähnen, stundenlang stumm, in tiefen Gedanken; aber sein hünenhafter Körper war auch in der Reglosigkeit wie zum Sprunge gespannt.
Yvette suchte keine Liebelei mit ihm. Aber er gefiel ihr wirklich.
»Wie denken Sie sich denn nun aber Ihre Zukunft?« fragte sie ihn.
»Wieso Zukunft?« sagte er und nahm die Pfeife aus dem Munde; in seinen Vogelaugen glomm der erregungslose Funke eines Lächelns auf.
»Ihre Laufbahn meine ich. Muß nicht jeder ordentliche Mann seine Laufbahn haben – wie jede ordentliche Gans ihr Fett zum Braten?« Ein wunderlicher Ausdruck kindlicher Einfalt saß in ihren Augen.
Er erwiderte ihren Blick; in diesem Augenblick sah er kalt und entschlossen aus. »Heute geht es mir ausgezeichnet, und morgen wird es mir auch ausgezeichnet gehen«, sagte er. »Warum sollte meine Zukunft nicht aus lauter solchen Tagen wie Heute und Morgen bestehen?«
»Richtig«, sagte sie. »Ich hasse Lebensstellungen und solches Zeug.« Dabei aber mußte sie an das Geld der Jüdin denken.
Diesmal bekam sie keine Antwort. Er ärgerte sich, aber sein Ärger war von der weichen, kühlen Art, die Einem die Seele gemütlich einhüllt wie eine Schneedecke.
Sie standen jetzt so miteinander, daß sie in ihren Gesprächen weltweise Betrachtungen anstellten. Die kleine Jüdin sah ein bißchen blaß aus. Ihr Verhalten gegenüber Eastwood war von einer wunderlichen Arglosigkeit; sie pochte nicht auf ihre Rechte, sie zeigte auch keineswegs böse Laune gegen Yvette. Sie war einfach nur stumm und ein bißchen blaß.
Yvette beschloß plötzlich, ebenfalls ihre Karten auf den Tisch zu legen. Es war doch wohl besser.
»Ich finde, das Leben ist gräßlich schwierig«, sagte sie.
»Das ist es auch!« rief die Jüdin.
»Und was ich so scheußlich finde: Es versteht sich ganz von selbst, daß wir uns verlieben – und daß wir unter die Haube kommen«, sagte Yvette und krauste die Nase.
»Ja – wollen Sie sich denn nicht verlieben und verheiraten?« rief die Jüdin und starrte sie mit großen runden Augen voll verblüfften Vorwurfs an.
»Ich bin nicht gerade versessen darauf«, sagte Yvette. »Besonders deshalb nicht, weil man das Gefühl hat, daß Einem schließlich nichts Anderes übrig bleibt. Gräßlich ist das – als ob man in den Hühnerstall getrieben würde.«
»Wissen Sie denn überhaupt, was Liebe ist?« rief die Jüdin.
»Nein«, sagte Yvette. »Wissen Sie es?«
»Ich?!« rief die kleine Jüdin – sie schrie es fast. » Ich?! Gütiger Himmel – ob ich es weiß?!« Sie sah Eastwood an, nachdenklich und kummervoll; er rauchte seine Pfeife, und auf seinem weichen, gewissenhaften Gesicht erschienen ein paar Grübchen, die von einem sozusagen unbeteiligten Vergnügen an dem Gespräch zeugten. Er hatte eine sehr zarte, weiche Haut, die dennoch gegen das Wetter nicht empfindlich schien: so daß sein Gesicht glatt war wie das eines kleinen Kindes. Aber es war kein rundes Gesicht; es war ausdrucksvoll geprägt, und wenn die wunderlichen spöttischen Grübchen darauf erschienen, sah es aus wie eine komische, aber zur Fühllosigkeit gefrorene Maske.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht wissen, was Liebe ist?« fragte die Jüdin beharrlich.
»Jawohl!« sagte Yvette mit sorgloser Aufrichtigkeit. »Ich weiß es, glaube ich, wirklich nicht. Ist das nicht eigentlich schrecklich – in meinem Alter?«
»Haben Sie denn nie einen Mann kennen gelernt, der Ihr ganzes Gefühl – nun, eben ganz und gar verwandelt hat?« sagte die Jüdin und sah wieder mit großen Augen den Major an. Er rauchte und war so unbeteiligt wie nur möglich.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Yvette. »Höchstens – ja! – also höchstens der Zigeuner – –« Sie wandte den Kopf nachdenklich ab.
»Was für ein Zigeuner?« rief die kleine Jüdin aufgeregt.
»Ach, der Tommy, wissen Sie, der damals im Kriege in Major Eastwoods Regiment die Pferde versorgt hat«, sagte Yvette gelassen.
Die kleine Jüdin sah Yvette mit weit offenen Augen in starrem Staunen an.
»Aber Sie haben sich doch wohl nicht in den Zigeuner verliebt –!« sagte sie.
»Tja – –« sagte Yvette. »Ich weiß nicht. Jedenfalls ist er der Einzige, der – wie sagten Sie doch? – mein Gefühl verwandelt. Tatsächlich.«
»Aber wie denn? Wie? Hat er denn jemals etwas zu Ihnen gesagt?«
»Nein! Kein Wort!«
»Wie denn dann aber? Was hat er getan?«
»Nichts. Mich nur angesehen.«
Ja, sehen Sie – ich weiß nicht. Anders eben. Ja, anders! Ganz, ganz anders, als mich jemals irgendein Mann angesehen hat.«
»Aber wie hat er Sie angesehen?« Die Jüdin ließ nicht locker.
»Ja – so, als ob er mich wirklich, ja, wirklich begehren würde«, sagte Yvette, und ihr nachdenkliches Gesicht sah aus wie eine Blütenknospe.
»So ein niederträchtiger Bursche! Was für ein Recht hatte er denn, Sie so anzusehen?!« rief die Jüdin entrüstet.
»Die Katze darf ja auch den König ansehen«, warf der Major gelassen ein, und nun hatte sein Lächeln etwas Katerhaftes.
»Meinen Sie, er hätte es nicht tun dürfen?« fragte Yvette und wandte sich ihm zu.
»Ganz gewiß nicht! So ein Zigeunerbursche, der ein halbes Dutzend dreckiger Weiber mit sich herumschleppt! Ganz gewiß nicht!« rief die kleine Jüdin.
»Ich war mir nicht recht klar darüber«, sagte Yvette. »Denn es war doch eigentlich wundervoll. Ja, wirklich. Und es war einmal etwas ganz Anderes in meinem Leben.«
»Nach meiner Ansicht«, sagte der Major und nahm die Pfeife aus dem Munde, »ist das Begehren das schönste Wunder in unserem Leben. Jeder, der es wahrhaft zu fühlen vermag, ist ein König, und ich beneide ihn und Niemanden sonst auf der Welt.« Er schob die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
Die Jüdin sah ihn fassungslos an.
»Aber Charles!« rief sie. »Das ›Gefühl‹ hat doch jeder Fabrikarbeiter in Halifax auch!«
Er nahm abermals die Pfeife aus dem Munde.
»Das ist kein Begehren, das ist bloß Freßlust«, sagte er. Und er schob die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
»Sie glauben also, daß der Zigeuner für mich die Offenbarung wahren Lebens bedeutet?« fragte Yvette.
Er hob die Schultern.
»Das kann ich Ihnen doch nicht sagen«, antwortete er. »Ich an Ihrer Stelle würde es wissen und nicht andere Leute fragen.«
»Ja – aber – –« sagte Yvette zögernd.
»Charles! Ich verstehe dich nicht! Wie kann der Zigeuner das Rechte für sie sein! Als ob sie ihn jemals heiraten und in einem Wohnwagen mit ihm umherziehen könnte!«
»Vom Heiraten hab ich ja auch nicht geredet«, gab Charles zurück.
»– oder eine Liebesgeschichte mit ihm anfangen! Ach, das ist ja – das ist ja ungeheuerlich! Wo bliebe denn da ihre Selbstachtung – ! Das ist nicht Liebe! Das ist – also das nenne ich Unzucht.«
Charles rauchte ein paar Augenblicke stumm.
»Bei den Pferden war der Zigeuner unser bester Mann. Wäre beinahe an Lungenentzündung gestorben. Ich hielt ihn überhaupt schon für tot. Für mich ist er so was wie ein Wiederauferstandener, wenn man so will.« Er sah Yvette an. »Ich bin mal zwanzig Stunden unter Schnee verschüttet gewesen«, erklärte er. »Und trotzdem war ich noch ganz nett beisammen, als sie mich ausbuddelten.«
Das Gespräch stockte einen Augenblick wie eingefroren.
»Das Leben ist gräßlich!« sagte Yvette.
»Es war der reine Zufall, daß sie mich ausbuddelten«, fügte er hinzu.
»Oh – –« sagte Yvette langsam. »Vielleicht ist es ja auch Fügung. Nicht –?«
Der Pfarrer erfuhr von Yvettes vertrautem Umgang mit den Eastwoods, und das Ergebnis war für sie einigermaßen verblüffend. Sie hatte gemeint, es würde ihm gleichgültig sein. Wenn man nach seinen Worten ging und ihn nach seinem absichtsvoll betonten Humor beurteilte, so mußte man ihn für einen aller Förmlichkeit abholden Mann und einen wer weiß wie guten Kumpan halten. Er nannte sich selbst einen konservativen Anarchisten; worunter man sich nichts Anderes vorzustellen hat, als daß er, wie zahllose andere Leute, ganz einfach ein Glaubensloser war. Die ›Anarchie‹ bezog sich auf seine humorgewürzte Rede und sein geheimes Denken. Der Konservativismus, beruhend auf der Furcht vor der Anarchie, bestimmte jede seiner Handlungen. Seine geheimen Gedanken sahen so aus, daß sie ihm selbst unheimlich waren. Infolgedessen hatte er im Leben eine eifernde Angst vor allem, was vom Üblichen abwich.
Wenn dieser Konservativismus und diese jämmerliche Furcht auf dem Höhepunkt waren, so zog er jedesmal die Oberlippe hoch und entblößte die Zähne ein wenig; so entstand ein Grinsen, das seinem Gesicht etwas Hundeähnliches gab.
»Deine neuesten Freunde sind, wie ich höre, die halbgeschiedene Mrs. Fawcett und der maquereau Eastwood«, sagte er zu Yvette.
Sie wußte nicht, was ein » maquereau« ist, aber sie spürte die Giftzähne.
»Freunde –? Bekannte, nichts weiter«, sagte sie. »Sie sind furchtbar nett. Ja, wirklich: Und sie wollen etwa in vier Wochen heiraten.«
Der Pfarrer sah ihr voll Haß in das sorglose Gesicht. Innerlich, ganz im geheimen, duckte er sich feige. Die Feigheit war ihm angeboren. Wie Alle, denen die Feigheit angeboren ist, war er eine Sklavennatur, und wie sie alle warnte ihn eine tiefe, triebhafte, gefährliche Angst vor Jedem, der ihm das Halseisen des Sklaven um den Nacken legen konnte. Deshalb hatte er sich ja auch vor ›ihr, die einst Cynthia war‹ auf so widerwärtige Art geduckt, deshalb duckte er sich noch jetzt vor ihr: aus Sklavenangst vor ihrer Verachtung, vor der Verachtung des Freigeborenen gegen den Niedriggeborenen.
Auch Yvette hatte die Kraft des Freigeborenen. Auch sie würde ihn eines Tages erkennen und ihm das Halseisen des Sklaven um den Nacken legen.
Aber mußte es so kommen? Diesmal würde er sich auf Tod und Leben wehren. Diesmal war der Sklave, der in ihm verborgen saß, in die Ecke getrieben wie eine Ratte, und er hatte auch den verzweifelten Mut der in die Ecke getriebenen Ratte.
»Vermutlich passen die Beiden zu dir«, höhnte er.
»Das tun sie auch, tatsächlich«, sagte sie heiter und achtlos. »Sie sind so vertrauenswürdig, weißt du – so anständig.«
»Einen merkwürdigen Begriff von Anständigkeit hast du!« höhnte er. »Ein junger Schmarotzer brennt mit einer Frau durch, die älter ist als er – und warum? Nur damit er von ihrem Gelbe leben kann! Und die Frau läßt ihr Heim und ihre Kinder im Stich! Ich möchte wissen, woher du deinen Begriff von Anständigkeit hast. Von mir hoffentlich nicht.– »Bekannt« bist du mit ihnen, sagst du. Mir scheint, du bist aber schon sehr gut mit ihnen bekannt. Wo hast du sie denn kennen gelernt?«
»Auf einem Radausflug. Sie kamen zufällig mit ihrem Wagen des Weges, und da gerieten wir ins Gespräch. Sie hat mir sofort erzählt, wer sie ist, damit ich wußte, woran ich war. Sie ist anständig.«
Die arme Yvette versuchte ihre Stellung zu halten.
»Und wie oft hast du sie seither gesehen?«
»Ach, ich bin bloß zweimal drüben gewesen.«
»Was heißt das: ›drüben‹?«
»In ihrem Landhaus in Scoresby.«
Er sah sie an, mit einem Haß, als würde er sie am liebsten umbringen. Und er wich vor ihr zurück, auf die Fenstervorhänge seines Studierzimmers zu, wie eine in die Enge getriebene Ratte. In seinen geheimen Gedanken warf er seiner Tochter unaussprechbare Laster vor – wie er sie ›,ihr, die einst Cynthia war‹,vorgeworfen hatte. Er war den niedrigsten Verdächtigungen, die seine Phantasie ersann, wehrlos preisgegeben. Vor diesen abscheulichen Gedanken, mit denen er das noch immer trotzig aufrechte, aber schon erschreckte Mädchen besudelte, wich er zurück, sie waren es, die erkennen ließen, daß hinter der hübschen Maske seines Gesichts die Giftzähne lauerten.
»Aha – das nennst du also ›Bekannte‹, was?« sagte er. »Ich sehe, das Lügen liegt dir im Blut. Aber ich glaube nicht, daß du es von mir geerbt hast.«
Yvette, stumm, wandte den Kopf halb zur Seite. Sie dachte an Großmuttchens unverschämte Verdrehungen. Aber sie erwiderte nichts.
»Warum mußt du überhaupt um solche Pärchen herumscharwenzeln?« höhnte er. »Gibt es nicht genug anständige Leute, unter denen du dir deine ›Bekannten‹ suchen kannst? Wenn du um solche üblen Pärchen herumstreunst, dann muß doch Jeder glauben, daß die anständigen Leute dich nicht haben wollen. Vielleicht liegt dir noch was Schlimmeres als nur das Lügen im Blut –?«
»Ja – vielleicht liegt mir noch was Schlimmeres als nur das Lügen im Blut –?« wiederholte Yvette. Eisige Erstarrung lähmte sie. Vielleicht bin ich anormal? dachte sie. Vielleicht bin ich eine von den Mißbildungen, die halb Verrückte und halb Verbrecher sind? Sie war eiskalt und wie gelähmt.
Der Pfarrer sah in ihrer Haltung nur die trotzige Behauptung der Lasterhaftigkeit, die sich hinter der Maske ihres zarten mädchenhaften Gesichtes verbarg. So war auch ›sie, die einst Cynthia war‹ gewesen: eine Schneeblume. Und ihn schüttelte ein Krampf sadistischen Entsetzens, wenn er daran dachte, wie groß die Verderbtheit Cynthias in der Tat gewesen sein mochte. War doch sogar seine eigene Liebe zu ihr (er hatte sie mit der Lüsternheitsliebe des Niedriggeborenen geliebt) in seinen geheimen Gedanken Laster und Verderbtheit gewesen. Wie mochte da erst die Liebe aussehen, die nicht unter dem Schutze des Gesetzes stand?
»Na, du mußt dich ja selbst am besten kennen«, meinte er spöttisch. »Aber ich würde dir doch empfehlen, solche Veranlagungen in den Zügel zu nehmen, und zwar rasch, wenn du nicht in einer Heilanstalt für geisteskranke Verbrecher enden willst.«
»Warum?« fragte sie bleich, mühsam, von eisiger Angst gelähmt. »Warum denn Anstalt für geisteskranke Verbrecher? Was habe ich begangen?«
»Das soll ein Geheimnis zwischen dir und deinem Schöpfer bleiben«, sagte er höhnisch. »Ich werde dich niemals danach fragen. Aber gewisse Triebe führen eben in den verbrecherischen Irrsinn, wenn sie nicht rechtzeitig gebändigt werden.«
»Bezieht sich das auch auf so etwas wie die Bekanntschaft mit den Eastwoods?« fragte Yvette, nachdem die lähmende Angst sie eine Weile stumm gemacht hatte.
»Ob es sich darauf bezieht, daß du um solche Leute wie diese Jüdin, diese Mrs. Fawcett herumscharwenzelst – und um diesen Major außer Diensten Eastwood, der mit einer Frau durchgeht, die älter ist als er selbst – bloß weil sie Geld hat? Jawohl, es bezieht sich darauf.«
»Aber so darfst du wirklich nicht sprechen!« rief Yvette. »Der Major ist ein furchtbar ehrlicher, aufrichtiger Mensch.«
»Da paßt er offenbar zu dir.«
»Ja – also in gewisser Weise habe ich das wirklich gemeint. Und ich dachte, dir würde er auch gefallen«, sagte Yvette – sie wußte kaum noch, was sie redete.
Der Pfarrer zog sich nun gänzlich in die Vorhänge zurück, als hätte sie ihn mit etwas Fürchterlichem bedroht. »Kein Wort weiter! Kein Wort!« zischte er im Tone tiefsten Ekels. »Du hast schon viel zuviel gesagt, um dich zu belasten. Ich will nicht noch mehr Abscheulichkeiten erfahren.«
»Aber was für Abscheulichkeiten denn?« fragte sie hartnäckig.
Sie sagte es so unbefangen, mit so viel echter und freier Unschuld, daß sein Angriff zusammenbrach und er sich wie geschlagen duckte.
»Schweig jetzt!« sagte er. Es klang leise und zischend. »Aber ich bringe dich um, bevor ich dulde, daß du denselben Weg gehst wie deine Mutter.«
Sie sah ihn an: Da stand er, an die Samtvorhänge seines Studierzimmers gelehnt, gelb im Gesicht, mit Augen voll Angst und Wut und Haß. Und sie war überwältigt von einem lähmenden eisigen Gefühl des Einsamseins. Auch für sie hatten alle Dinge der Welt den Sinn verloren.
Es war nicht leicht, das kalte und tote Schweigen zu brechen, das nun folgte. Schließlich aber sah sie ihn dennoch an. Und ohne daß sie es wußte und wollte, war ihre Verachtung für ihn in ihren klaren jungen erstaunten Augen zu lesen. Und diese Verachtung legte sich wie das Halseisen des Sklaven um seinen Nacken, für alle Zukunft.
»Du willst also sagen, daß ich mit den Eastwoods nicht verkehren darf?« fragte sie.
»Meinetwegen kannst du mit ihnen verkehren, wenns dir Spaß macht«, sagte er höhnisch. »Wenn du es aber tust, dann darfst du nicht erwarten, daß du noch die Gesellschaft deiner Großmutter und deiner Tante Cissie und deiner Schwester Lucille suchen kannst. Ich will nicht, daß die Drei auch noch besudelt werden. Deine Großmutter war eine so treue Frau und eine so treue Mutter, wie es nur je eine gegeben hat. Sie hat schon einmal Schande ertragen und die schlimmste Enttäuschung verwinden müssen. Ich werde nicht dulden, daß ihr etwas so Abscheuliches zum zweitenmal widerfährt.«
Yvette hörte das alles nur halb, wie undeutliches Gemurmel.
»Ich kann ja einen Brief schreiben und ihnen sagen, daß du meinen Verkehr mit ihnen nicht haben willst«, sagte sie matt.
»Tu, was du für richtig hältst. Aber entscheide dich. Du hast zu wählen zwischen sauberen Menschen und der Ehrfurcht vor dem makellosen Alter deiner Großmutter – und Leuten, die unrein sind an Seele und Leib.«
Abermals schwiegen beide. Dann sah sie ihn an, und auf ihrem Gesicht war eigentlich nur Staunen zu lesen. Hinter diesem fassungslosen Verwundern aber stand, unsichtbar und doch deutlich, die gelassene jungfräuliche Verachtung der Freigeborenen für den Niedriggeborenen. Er war zum Sklaven geboren, er und alle Saywells.
»Es ist gut«, sagte sie. »Ich werde ihnen schreiben, daß du mir den Verkehr verbietest.«
Er antwortete nicht. Ihre Unterwerfung schmeichelte seiner Eitelkeit, und er triumphierte heimlich. Aber es war ein niedriger Triumph.
»Ich habe versucht, die Geschichte von deiner Großmutter fernzuhalten«, sagte er. »Da du selbst es vorziehst, deine Freundschaft im geheimen zu betreiben, braucht mans ja auch nicht an die große Glocke zu hängen.«
Es gab ein bedrücktes Schweigen.
»Es ist gut«, sagte sie. »Ich schreibe.«
Und sie schlich aus dem Zimmer.
Ihr kurzer Brief war an ›Mrs. Eastwood‹ gerichtet: »Liebe Mrs. Eastwood, Papa will nicht haben, daß ich Sie besuche. Sie werden daher verstehen, daß wir unseren Verkehr abbrechen müssen. Es tut mir schrecklich leid – –« Das war alles.
Als sie den Brief zur Post gegeben hatte, war ihr traurig und einsam zumute. Sie fürchtete sich vor ihren eigenen Gedanken. Ihre Sehnsucht wanderte zu dem schlanken, feingliedrigen Zigeuner: gern hätte sie sich an seiner Brust geborgen. Gern hätte sie sich von seinen Armen halten und von ihm trösten und in ihrem Gefühl wieder sicher machen lassen – wenn auch nur einmal, wenn auch nur ein einziges Mal. Ihr Gefühl sehnte sich nach seinem Beistand gegen ihren Vater, der ihr mit Abscheu und Angst begegnete.
Zugleich aber peinigte die Angst sie so, daß sie sich in zuckender Qual krümmte, daß sie kaum gehen konnte –: war sie wirklich unrein, war sie voll krankhaft verbrecherischer Triebe? Ihr war, als stäche ihr die Angst beim Gehen in die Hacken, daß sie wund wurden. Die Angst, die große eisige Angst vor dem Niedriggeborenen, vor ihrem Vater, vor allem, was Menschenantlitz trug und sich zur Masse rottete. Die Masse der Menschen war wie ein riesiger Sumpf, der sie niederzog, in dem sie einsank, mit schwachen Knieen. Ekel und Furcht empfand sie vor jedem Menschen, dem sie begegnete.
Immerhin fand sie sich mit diesem neuen Verhältnis zur Menschheit rasch genug ab. Sie mußte ja leben. Brot und Butter sind notwendige Tatsachen; es ist nutzlos, mit ihnen zu hadern. Und es ist kindisch, vom Leben allzuviel zu erwarten. So glich sie sich, mit der raschen Anpaffungsfähigkeit des Nachkriegsgeschlechtes, den neuen Tatsachen an. Ihr Vater war nun einmal, wie er war. Ihm würde es immer darauf ankommen, den Schein zu wahren. Also wollte sie es ebenso machen. Sie wollte ebenfalls den Schein wahren.
So war ihre fröhliche Sorglosigkeit, die sich Einem vor die Augen legte wie wehende Sommerfäden, nur noch Schein: darunter wurde ihr Wesen hart, und in ihrem Herzen wuchs die Härte wie Felsgestein. Alle freundliche Selbsttäuschung schwand, als ihre Neigungen erloschen. Äußerlich blieb sie die gleiche. Innerlich war sie hart und von den Menschen getrennt. Und rachsüchtig; aber das wußte sie nicht.
Diese Rachsucht äußerte sich in der Art, wie sie nun die Menschen sah. Unter des Pfarrers hübscher Weltmannsmaske sah sie die Schwäche, die Leere, die Bedeutungslosigkeit. Und sie verachtete ihn. Zugleich aber empfand sie eine Art von Neigung für ihn. So steht es um die Wirrnis des Gefühls.
Auf Großmuttchen aber fiel die ganze Wucht ihres Abscheus. Sie sah die alte Frau an, wie sie dasaß, blind, fettleibig, wie ein riesiger rotgefleckter Giftschwamm; ihr Hals verschwand zwischen ihren fetten hochgezogenen Schultern und dem in Falten niederwallenden greisenhaften Kinn: so daß sie halslos war wie eine doppelte Kartoffel. Gegen sie fühlte Yvette echten Haß, den ungemischten, klaren Haß, der fast Freude macht. So klar war dieser Haß, daß er ihr Freude machte, weil sie sich stark in ihm fühlte.
Da saß die alte Frau, das dicke, gerötete Gesicht ein wenig nach hinten gepreßt; in ihrem dünnen weißen Haar nistete das Spitzenhäubchen, ihre Stupsnase war noch immer selbstbewußt genug, und ihr Greisinnenmund sah aus wie eine zugeklappte Falle. Ihr Mund verriet sie, die mütterliche alte Seele. Er hatte von jeher zur Art der zusammengepreßten Münder gehört. An ihrem hohen Alter aber war er wie ein Krötenmaul geworden; das Kinn preßte sich nach oben wie der untere Teil eines Falleneingangs. Diesem Anblick galt Yvettes ganz besonderer Haß: diesem Kinnbacken, der mit grausamer Unnachgiebigkeit aufwärts gepreßt war und in greisenhaft vorspringende Backenknochen verlief, so daß auch die Stupsnase gezwungen war, sich aufwärts zu richten und das ganze Gesicht unter der mächtigen, mauerähnlichen Stirn ein wenig zurückgedrückt aussah. Der Wille, der uralte krötenhafte widerwärtige Wille in dieser alten Frau war fürchterlich für Jeden, der ihn einmal gewahrt hatte: ein krötenhafter Selbstbehauptungswille, der allem Göttlichen fern war und tief unter allem Menschlichen stand. Er gehörte zum uralten zähen Geschlecht der Kröten oder der Schildkröten. Wer ihn spürte, hatte das Gefühl, daß Großmuttchen niemals sterben würde. Sie würde weiterleben, hindämmernd zwischen Schlafen und Wachen wie eines dieser höher entwickelten Reptilien, in alle Ewigkeit.
Ihrem Vater gegenüber wagte Yvette nicht einmal anzudeuten, daß Großmuttchen nicht vollkommen war. Er hätte ihr mit der Heilanstalt für geisteskranke Verbrecher gedroht. Das war offenbar die Drohung, die er immer auf der Pfanne hatte: die Heilanstalt für geisteskranke Verbrecher. So, als wäre ein Abscheu gegen Großmuttchen und dieses von fürchterlichen Verwandten bevölkerte Haus an sich schon ein Beweis für gemeingefährliche Verrücktheit.
Immerhin ließ sie sich in einem ihrer Anfälle von Mißlaune und Reizbarkeit einmal zu einem Ausbruch hinreißen:
»Ach, es ist ja unsagbar widerlich hier im Hause! Tante Lucy kommt und Tante Nell kommt und Tante Alice kommt, und dann machen sie ein Gekrächz wie ein Schwarm Krähen, und Großmuttchen und Tante Cissie quarren mit, und dann heben sie die Röcke und wärmen sich die Beine am Feuer, und Lucille und mich setzen sie vor die Tür. Wie lästige Ausländer werden wir in diesem verwünschten Hause behandelt!«
Ihr Vater sah sie neugierig an. Sie brachte es aber fertig, in Ton und Blick nur schlechte Laune und heftige Verärgerung auszudrücken; so daß er über ihren Ausbruch lachen konnte, als wäre es nur eine kindische Grille. Und doch wußte er insgeheim, daß sie mit kalter und böser Härte meinte, was sie sagte; und er war auf der Hut vor ihr.
Ihr ganzes Leben war von nun ab nur noch Auflehnung, Verärgerung, Reizbarkeit gegen den ihr widerlichen Haushalt der Saywells, in dem sie leben mußte. Sie verabscheute das Pfarrhaus, mit einem Ekel, der so stark war, daß er ihre Lebenskraft verzehrte – und daß sie, wenn es zum Äußersten kam, nicht fähig gewesen wäre, es zu verlassen. Solange das Haus stand, war sie darin festgebannt wie durch Zauberei und giftigen Reiztrank.
Die Eastwoods vergaß sie. Was war auch schließlich die Auflehnung der kleinen Jüdin gegen das Urteil der Welt, verglichen mit Großmuttchen und der Horde der Saywells! Ein Ehemann – das war schließlich doch immer nur eine mehr oder weniger zufällige Erscheinung. Aber eine ganze Familie – eine ekelhafte übelriechende Familie, die zusammenhing wie ein Haufen Kletten, die aus lauter halb schon Gestorbenen bestand, die sich um Großmuttchen versammelten wie lauter kleine Pilze um einen Riesenpilz! Wie sollte man mit einer ganzen Familie fertig werden?
Der Zigeuner verschwand nicht etwa völlig aus ihren Gedanken. Aber sie hatte keine Zeit für ihn. Sie langweilte sich halb zu Tode, sie hatte nichts, aber auch gar nichts zu tun – und doch hatte sie keine Zeit, über irgend etwas auch nur ein einziges Mal ernsthaft nachzudenken. Denn Zeit ist ja, wenn man es recht bedenkt, nur die Strömung der Seele in ihrem Dahinfließen.
Zweimal sah Yvette den Zigeuner. Beim ersten Male kam er zum Pfarrhaus, um seine Waren zu verkaufen. Sie sah ihn vom Treppenfenster aus, aber sie ging nicht hinunter. Auch er sah sie, als er seine Sachen wieder in den Wagen packte. Aber auch er gab weder Gruß noch Zeichen. Er entstammte einer Rasse, die nur dazu geschaffen scheint, die Randbezirke menschlicher Gesellschaft zu brandschatzen, die in ewiger Feindseligkeit nur vom Raube lebt; so war er viel zu sehr Herr über sich selbst und viel zu vorsichtig, um sich im offenen Kampf dem übermächtigen und grausamen Zugriff des Gesetzes preiszugeben. Er hatte im Kriege mitgefochten. Damals hatte man ihn gegen seinen Willen zum Sklaven gemacht.
So hatte er auch jetzt, als er zur Tür des Pfarrhauses kam, und später, als er draußen vor dem weißen Gartenzaun langsam und schweigend an seinem Wagen beschäftigt war, die Haltung, die ihm seine einsame und aus Urtiefen stammende Anmut verlieh: das stumme und in alle Zukunft unbeugsame Ausgeschlossensein. Er wußte, daß sie ihn sah. Und sie sollte ihn sehen, wie er gelassen seine Kupfergefäße feilbot, unbeugsam trotzig, von Urzeiten her auf dem Kriegspfade gegen Menschen wie sie.
Menschen wie sie –? Da irrte er vielleicht. Hämmerte doch ihr Herz jetzt mit harten Schlägen gegen die Starrheit des Bestehenden – wie sein Hammer auf das Kupfer. Nur stand es so, daß er heimlich auf die Außenseite der gegebenen Ordnung schlug – und sie noch heimlicher auf die Innenseite. Sie liebte ihn. Sie liebte seine gelassene, geräuschlose, von klaren und sauberen Linien begrenzte Erscheinung. Sie liebte seine geheimnisvolle Beharrlichkeit, die zäh im Widerstand blieb, ohne jemals auf den Sieg hoffen zu dürfen. Und sie liebte an ihm jene besondere Art von harter Unzugänglichkeit, die in Ernüchterung und Feindseligkeit ein Erbteil des Krieges ist. Ja, wenn sie überhaupt zu einer Kampfpartei, überhaupt zu einem Stamm gehörte, so war es seine Partei und sein Stamm. Es fehlte nicht viel, so hätte sie in ihrem Herzen die Kraft gefunden, mit ihm zu gehen und eine geächtete Zigeunerin zu werden.
Aber sie war diesseits der großen Mauer geboren. Sie liebte das Behagen des Lebens und ein gewisses Standesbewußtsein. War sie auch nur eine Pfarrerstochter, so hatte sie eben doch eine gewisse Stellung in der Gesellschaft. Und das gefiel ihr. Auch machte es ihr Spaß, an den Säulen des Tempels zu schnitzeln – von drinnen, versteht sich. Sie hatte den Wunsch, sich unter dem Dach des Tempels sicher fühlen zu können. Und doch machte es ihr Spaß, Späne von den tragenden Säulen loszuschnitzeln. Gewiß waren auch von den Tempelsäulen der Philister viele Späne weggeschnitzelt worden, ehe Simson den ganzen Tempel umreißen konnte.
»Ich finde, es ist nichts dagegen zu sagen, daß man sich austobt, bis man sechsundzwanzig ist. Dann soll man klein beigeben und heiraten.«
Das war Lucilles Weisheit, die sie sich von dem Erfahrungsschatz der Älteren angeeignet hatte. Yvette war einundzwanzig. Mit anderen Worten: ihr blieben noch fünf Jahre von der kostbaren Zeit des Austobens. Und unter dem Austoben war im Augenblick der Zigeuner zu verstehen. Das Heiraten mit sechsundzwanzig dagegen bedeutete Leo. Oder Gerry.
Umschrieben ausgedrückt: Es ist den Frauen die Möglichkeit gegeben, Kuchen zu essen und dennoch um Brot und Butter nicht verlegen zu sein.
Yvette war sehr alt und sehr weise in ihrem aufs höchste gesteigerten, furchtbaren, ausweglosen Haß gegen den Haushalt der Saywells: aber es war das Alt- und Weisesein der Jungen, das immer über das Alt- und Weisesein der Alten und der ›Älteren‹ hinwegspringt.
Ihre zweite Begegnung mit dem Zigeuner kam ganz zufällig. Es war im März, und nach unendlichen Regengüssen schien endlich die Sonne. Schellkraut leuchtete gelb aus den Hecken, Primeln blühten zwischen dem Felsgestein. Immer noch aber kam von den fernen Stahlwerken ein Schwefelgeruch herüber, der aus dem stahlblauen Himmel niederwehte.
Und dennoch war es Frühling.
Yvette radelte langsam auf der Landstraße bei Codnor Gate dahin, an den Kalksteinbrüchen vorbei, als sie den Zigeuner von der Tür eines kleinen Hauses her zur Landstraße kommen sah, wo sein Wagen stand. Er trug seine Besen und Kupfergefäße.
Sie stieg vom Rade. In diesem Augenblick liebte sie ihn mit wunderlich aufwallender Zärtlichkeit; liebte die schlanken Linien seines Körpers unter dem grünen Wollwams, die stumme Verschlossenheit seines Gesichts. Ich kenne ihn besser als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt, dachte sie – besser sogar als Lucille; und irgendeine Verknüpfung, die ich nicht zu benennen weiß, verbindet mich mit ihm für immer.
»Haben Sie irgendwas Neues und Nettes gemacht?« fragte sie harmlos und besah sich die Kupfergeräte.
»Ich glaube nicht«, sagte er.
In dem Blick, mit dem er sie ansah, war noch immer das Begehren, suchend und unverhüllt. Aber es war ferner gerückt und minder kühn. Und dann glomm in seinen Augen ein Funke auf, der fast wie Feindseligkeit aussah. Aber das feindselige Glitzern schwand, als er sah, daß sie seine Kupfer- und Messingarbeiten betrachtete. Sie wählte sorgsam und eifrig.
Schließlich fand sie eine länglichrunde Messingschüssel, in die ein wunderliches Schmuckwerk, ungefähr wie ein Palmbaum, gehämmert war.
»Die ist hübsch«, sagte sie. »Was kostet sie?«
»Was wollen Sie geben?« fragte er langsam.
Sein Ton ärgerte sie; er schien ihr allzu ungezwungen, fast spöttisch.
»Mir wäre es lieber, sie nennten mir den Preis«, sagte sie und sah zu ihm auf.
»Sie geben mir, was Sie wollen«, wiederholte er.
»Nein!« sagte sie plötzlich. »Wenn Sie mir keinen Preis nennen, will ich sie nicht haben.«
»Ist recht«, sagte er. »Zwei Schilling.«
Sie hatte nur eine halbe Krone, und er holte eine Handvoll Silber aus der Tasche hervor, um das Sixpencestück herauszugeben.
»Die alte Zigeunerin hat etwas geträumt von Ihnen«, sagte er und sah sie mit seinen fordernden, suchenden Augen an.
»Wahrhaftig?« rief Yvette, sogleich lebhaft bei der Sache. »Und was war das?«
»Sie sagte: Sei mutiger in deinem Herzen, oder du wirst verlieren das Spiel. Sie sagte es so: »Sei mutiger in deinem Körper, oder dein Glück wird dich verlassen.« Und dann sagte sie auch: »Höre auf die Stimme des Wassers.« Auf Yvette machten die Sätze tiefen Eindruck.
»Und was bedeutet das?« fragte sie.
»Ich habe sie gefragt«, gab er zurück. »Sie weiß es nicht, sagt sie.«
»Sagen Sie es mir noch einmal«, bat Yvette.
»›Sei mutiger in deinem Körper, oder dein Glück wird dich verlassen.‹ Und: ›Höre auf die Stimme des Wassers.‹« Schweigend betrachtete er ihr weiches, nachdenkliches Gesicht. Etwas Unbenennbares, ein Duft fast, strömte von ihr, von ihrer jungen Brust zu ihm und schuf eine unmittelbare, eine beglückende Verbindung.
»Also ich soll mutiger sein in meinem Körper, und ich soll auf die Stimme des Wassers lauschen! Na schön!« sagte sie. »Ich verstehe nicht, was das bedeutet, aber eines Tages werde ich's vielleicht verstehen.«
Sie sah ihn mit klaren Augen an. Jeder von uns, ob Mann oder Frau, trägt nicht ein Ich, sondern viele in sich. Eines davon in Yvette liebte den Zigeuner. Viele davon wußten nichts von ihm, wollten nichts von ihm wissen, ja verabscheuten ihn.
»Sie kommen gar nicht mehr hinauf zum Head?« fragte er. Sie sah ihn an, ohne ihn doch zu sehen.
»Vielleicht doch«, sagte sie. »Vielleicht doch einmal – irgendwann.«
»Frühlingswetter«, sagte er. Dabei lächelte er ein wenig und deutete mit einer Kopfbewegung zur Sonne hinauf. »Wir brechen bald das Lager ab und ziehen weg.«
»Wann?« fragte sie.
»Vielleicht nächste Woche.«
»Und wohin?«
Wieder machte er die deutende Kopfbewegung.
»Vielleicht nach Norden«, sagte er.
Sie sah ihn an.
»Also gut!« sagte sie. »Vielleicht komme ich vorher wirklich noch einmal hinauf und sage Ihrer Frau Lebewohl – und auch der alten Frau, die mir die Botschaft geschickt hat.«
Yvette hielt ihr Versprechen nicht. Die paar Märztage waren lind und schön, und sie ließ sie so dahingleiten. Immer hatte sie eine sonderbare Abneigung dagegen, sich zum Handeln zu entschließen oder einmal wirklich aus eigenem Antrieb einen Schritt zu tun. Immer sah sie es lieber, daß ein Anderer für sie handelte; man hätte meinen können, daß sie die Züge in ihrem Lebensspiel Anderen überlassen wollte.
Sie lebte dahin wie immer, besuchte ihre Freunde, ging in Gesellschaften und tanzte mit dem unbeeinträchtigten Leo. Gern wäre sie zum Head hinaufgefahren, um den Zigeunern Lebewohl zu sagen. Gern hätte sie es getan. Und nichts hinderte sie daran.
Besonders am Freitagnachmittag spürte sie das Verlangen. Die Sonne schien, die letzten gelben Krokusblüten am Rande des Fahrwegs flammten in vollem Glanze, und die ersten Bienen wühlten in ihren Kelchen. Die Papple rauschte unter der steinernen Brücke dahin und führte so unheimlich viel Wasser, daß sie fast die Brückenbögen füllte. Ein Seidelbast verströmte seinen Duft.
Und Yvette fühlte sich so träge, so träge. Sie streifte durch den Garten am Flusse und wartete auf – ja, auf was? Solange der Glanz der Frühlingssonne währte, wollte sie draußen bleiben. Drinnen saß Großmuttchen, zurückgelehnt im Stuhl, ein gebauchter Ballen schwarzer Seide, das weiße Spitzenhäubchen im Haar, wärmte sich die Füße am Feuer und sah aus wie ein scheußlicher alter Prälat. Sie hörte sich alles an, was Tante Nell zu erzählen hatte. Der Freitag war nämlich Tante Nells Tag. Sie kam gewöhnlich zum Frühstück und ging nach dem zeitig getrunkenen Tee wieder weg. Da saßen dann die beiden Frauen, die Mutter und die etwas gewöhnliche Tochter, die mit ihren vierzig Jahren schon Witwe war, am Feuer und schwatzten. Tante Cissie rannte derweil ein und aus. Der Pfarrer pflegte Freitags zur Stadt zu fahren; auch hatte das Hausmädchen seinen freien Nachmittag.
Yvette saß auf einer Uferbank im Garten, nur ein paar Fuß über dem hochgehenden Fluß, der seltsam und unheimlich viel Wasser führte. Die Krokusblüten in den Zierbeeten welkten schon, der vor kurzem erst gemähte Rasen war dunkelgrün, die Lorbeerbäume sahen ein wenig lichter aus. Tante Cissie erschien oben auf der Verandatreppe und rief Yvette zu, ob sie jetzt auch schon eine Tasse Tee haben wollte. Das Rauschen des Wassers übertönte ihre Stimme, so daß Yvette sie nicht verstehen konnte; aber sie vermutete, um was es sich handelte, und schüttelte den Kopf. Tee trinken, drinnen im Hause, jetzt, wo wirklich einmal die Sonne schien? Nein, danke!
Der Zigeuner war in ihrem Bewußtsein, als sie sinnend in der Sonne saß. Ihre Seele trennte sich zuweilen unversehens von ihr und ging auf Wanderschaft, zu einer Stätte oder einem Menschen, der Yvettes Phantasie gefesselt hatte; das war ein halb schmerzlicher, halb wohliger Zustand. An manchen Tagen war sie bei den Framleys, ohne daß sie einen Schritt tat, um zu ihnen zu gehen. Dann wieder war sie im Geiste einen ganzen Tag bei den Eastwoods. Und heute waren die Zigeuner dran. Yvette war droben in ihrem Lager im Steinbruch. Sie sah den Zigeuner, wie er auf sein Kupfergeschirr hämmerte und den Kopf hob, um zur Straße hinüberzublicken; sie sah die Kinder um die Pferdekrippe spielen; sie sah die Frau des Zigeuners und die starke grauhaarige Alte mit ihren Traglasten heimkommen: und da kam auch der ältere Zigeuner. An jenem Nachmittag hatte Yvette ganz stark das Gefühl, das dies ihre wahre Heimat sei: das Zigeunerlager, das Feuer, der Schemel, der Mann mit dem Hammer, das alte Weib.
Es lag in ihrem Wesen, daß diese plötzlichen Anwandlungen von Sehnsucht in ihr mächtig wurden: dann wünschte sie sich an irgendeine Stätte, die sie kannte, und in die Gesellschaft irgendeines Menschen, der ihr ›Heimat‹ bedeutete. An jenem Nachmittag war es das Zigeunerlager. Und der Mann im grünen Wollwams machte es ihr zur Heimat. Zu sein, wo er war, irgendwo – das hieß für sie, ›daheim‹ sein. Die Wohnwagen, das Kindervolk, die anderen Frauen: alles war ihr ganz natürlich, war ihre Heimat, als wäre sie inmitten aller dieser Dinge geboren. Sie sann der Frage nach, ob wohl auch der Zigeuner sie in diesem Augenblick gewahrte, ob er sie auf dem Schemel am Feuer sitzen sah; ob er den Kopf hob und zu ihr hinüberblickte, als sie sich erhob, ihn bedeutungsvoll ansah und sich langsam den Stufen des Wohnwagens zuwandte. Ob er es weiß? dachte sie. Ob er es wohl weiß?
Gedankenvoll sah sie zu dem mit Lärchen bestandenen Steilhang hinüber, der sich im Norden des Hauses erhob, und auf dem die Straße, unsichtbar von ihrem Platz aus, zum Head emporklomm. Dort erfaßte ihr Blick nichts; und er wanderte wieder herab. Am Fuße des Abhangs, dort, wo ihn die niedrigen Felsen drüben mit hartem unheilverkündendem Prall zurückwarfen, wandte sich der Fluß und strömte am Garten vorüber der Brücke zu. Er führte unnatürlich viel Wasser, das mit weißlichem Schlamm untermischt war, und die Strömung war heftig. »Höre auf die Stimme des Wassers«, sagte Yvette vor sich hin. »Was tu ich damit, wenn die Stimme nur Gebrause ist?«
Und wieder sah sie auf den hochgeschwollenen Fluß hinab, der an der Krümmung mit zornigem Rauschen an die Felsen rannte und seinen Lauf änderte. Über dem Ufer hing schwärzlich der Küchengarten, standen die winterharten Obstbäume. Alles, was nach Süden und Südwesten sah, drängte sich erschließungsbereit der Sonne entgegen. Dahinter wiederum, über dem Hause und über dem Küchengarten, klebte am Steilhang des Berges das wie verdorrt aussehende Lärchenwäldchen. Hoch droben, am Rande des Lärchengehölzes, arbeitete der Gärtner im Küchengarten.
Yvette hörte einen Ruf und wandte den Kopf: Tante Cissie und Tante Nell standen auf dem Fahrweg und winkten Lebewohl. Yvette winkte zurück. Dann rief Tante Cissie, schrill das Brausen des Wassers übertönend:
»Ich bin bald wieder da. Vergiß nicht, daß die Mater allein ist!«
»Ist recht«, schrie Yvette, aber sie kam gegen das Gebrause nicht recht auf.
Und dann saß sie auf ihrer Bank und sah den Beiden nach, wie sie langsam über die Brücke gingen und drüben die in Windungen ansteigende Straße hinankletterten. Sie sahen ziemlich gewöhnlich aus mit ihren langen Röcken. Tante Nell trug eine Art Handkoffer, in dem sie ein paar für Großmuttchen besorgte Sachen mitgebracht hatte, um nun Gemüse darin mitzunehmen – oder was sie sonst an Brauchbarem in Garten oder Speisekammer des Pfarrhauses gefunden hatte. Langsam arbeiteten die beiden Gestalten sich auf der weißlichen krümmungsreichen Straße bergan – und verschwanden. Tante Cissie wollte bis zum Dorfe Papplewick mitgehen, um Besorgungen zu machen.
Die Sonne gilbte und neigte sich zum Untergang. Wie schade! dachte Yvette. Nun ist der Sonnentag zu Ende, und ich muß ins Haus, in diese verhaßten Räume, zu Großmuttchen. Bald wird Tante Cissie wieder da sein: Es ist schon nach fünf. Und dann, gleich nach sechs, kommen die Anderen aus der Stadt, reizbar und müde.
Indessen sie unlustig in die Runde sah, hörte sie ein lautes Gerassel, das sogar das Rauschen des Wassers übertönte: Auf der Straße, die durch das Lärchenwäldchen verborgen wurde, kam ein Wagen in scharfer Fahrt bergab. Auch der Gärtner hob den Kopf. Yvette wandte sich wieder ab, einen Augenblick unschlüssig; ein paar Schritte schlenderte sie am Ufer dahin. Sie hatte so gar keine Lust, ins Haus zu gehen. Und sie blickte zur Bergstraße hinüber, um zu sehen, ob Tante Cissie schon zurückkam. Sobald sie sie kommen sah, wollte sie im Hause verschwinden.
Sie hörte lautes Rufen und wandte sich. Den Pfad herab, der durch das Lärchenwäldchen führte, kam in langen Sätzen der Zigeuner. Auch der Gärtner droben rannte wie auf der Flucht. Zugleich vernahm Yvette ein laut rauschendes Gebrause, das, bevor sie noch eine Bewegung machen konnte, zu einem ungeheuren ohrenbetäubenden zornigen Gebrüll schwoll. Der Zigeuner ruderte mit den Armen: sie sollte sich umdrehen. Sie tat es.
Mit Staunen und Entsetzen sah sie um die Krümmung des Flusses eine lohfarbene zottige Wasserwand herankommen wie eine bewegliche Mauer aus Löwenköpfen. Das rörende Dröhnen löschte alles Andere aus. Yvette hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen; Bestürzung und Staunen lähmten sie. Ich muß sehen, was daraus wird, dachte sie.
Ehe sie noch einen zweiten Gedanken fassen konnte, war die Erscheinung heran: eine brüllende Steilwand aus Wasser. Sie wurde fast ohnmächtig vor Entsetzen. Da hörte sie das Schreien des Zigeuners und sah ihn in langen Sprüngen heranstürmen; die schwarzen Augen quollen ihm aus dem Kopfe.
»Lauf!« kreischte er und packte sie am Arm.
Im gleichen Augenblick fegte die erste Welle ihr die Füße unter dem Leibe weg und wirbelte wie eine alles verschlingende Flut über den Garten hin. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde kam das irrsinnige Gedröhn ihr jetzt wie Stille vor. Dieser fürchterliche mähende Wasserschwall!
Der Zigeuner schleppte sie zum Hause, mühsam, taumelnd, zuweilen versinkend; noch aber hielt er sie und sich auf den Füßen. Yvette war kaum noch bei Bewußtsein: als wäre die Flut in ihre Seele eingebrochen.
Nahe dem Wege, der rund um das Haus führte, war eine höher gelegene Rasenfläche. Sie benutzte der Zigeuner, um, Yvette am Arm, zu dem noch trockenen Weg hinaufzuklimmen. Dann rannte er mit ihr an den Fenstern vorüber zu den Verandastufen. Aber noch bevor sie sie erreicht hatten, kam eine neue mähende Sturzwelle heran; sie mähte selbst Bäume nieder, sie mähte auch Yvette und den Zigeuner nieder.
Yvette fühlte sich in einem betäubenden kreiselnd niederprasselnden Schwall eisigen Wassers versinken und fortgewirbelt werden; die Hand des Zigeuners, die mit furchtbarer Kraft ihr Handgelenk umklammerte, war ihr letzter Halt. Sie versanken beide und waren überwältigt. Yvette spürte einen Stoß und einen dumpfen, betäubenden Schmerz – irgendwo.
Dann riß der Zigeuner sie wieder hoch. Er war schon droben, triefend; er klammerte sich an den Stamm der großen Glyzine, die sich an der Hauswand aufrankte; das Wasser drückte ihn mit malmender Kraft an die Wand. Nun hatte auch sie den Kopf über Wasser, und er hielt ihren Arm, daß er ihr wie verrenkt vorkam: aber ihre Füße fanden keinen Halt. Sie kämpfte und kämpfte, in einer gräßlichen Übelkeit, die so furchtbar war wie ein Alptraum; aber ihre Füße fanden keinen Halt. Nur der klammernde Griff des Zigeuners hielt sie noch.
Er zog sie näher zu sich heran, bis sie mit einer Hand sein Bein fassen konnte. Dabei hätte sie ihn fast wieder herabgerissen. Aber die Glyzine hielt ihn, und er zog Yvette zu sich herauf. Sie klammerte sich an ihn mit furchtbarer Kraft, und nun hatte sie auch Grund unter den Füßen. Er hing am Stamm der Glyzine wie ein gedoppelter Körper.
Das Wasser reichte ihr bis über die Kniee. Die Beiden sahen einander in die von Nässe furchtbar überronnenen Gesichter.
»Geh zur Treppe!« schrie er.
Vier Schritte nur war die Treppe entfernt: gleich um die Ecke. Yvette sah ihn an: sie konnte die Schritte nicht tun. Er stierte sie an, seine Augen glommen wie Tigeraugen, und er stieß sie von sich weg. Sie klammerte sich an die Mauer, und nun war es, als fiele das Wasser ein wenig. Um die Ecke des Hauses stolperte sie und taumelte im Stolpern; da aber fühlte sie sich zum Gesims des Verandageländers emporgeschleudert, und wieder war der Zigeuner hinter ihr.
Sie hatten die Stufen erreicht, als in das Gebrause des Wassers sich ein erneutes Dröhnen mischte: die Wand des Hauses erbebte. Aufwallte abermals das Wasser um ihre Beine; da aber hatte der Zigeuner schon die Tür zur Halle geöffnet. Der Wasserschwall spülte sie hinein, und sie taumelten zur Treppe. Dabei sahen sie, wie hinten von der Eßzimmertür her die Mater kam: eine kurze, bauchige, wunderlich fremde Gestalt. Ihre erhobenen Hände griffen wie gekrümmte Klauen in die Luft, als das erste Wasser ihre Füße umspülte, und ihr Mund, der aussah wie ein Sarg, war weit aufgerissen in heiserem Gekreisch.
Yvette freilich sah es nicht; sie sah nur die Treppe. Sie sah, blind, bewußtlos, nur noch die Stufen, die sich aus dem Wasser erhoben, und sie klomm hinauf wie eine nasse schaudernde Katze. Erst als sie auf dem Treppenabsatz stand, tropfend und in einem Schauder, der sie so schüttelte, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte und sich an das Geländer klammern mußte, indessen das Haus erbebte und unter ihr die Flut raste – erst da sah sie auch wieder den durchnäßten Zigeuner, der droben auf der Treppe stand, von einem Hustenkrampf geschüttelt; seine Mütze war fort, das schwarze Haar hing ihm über die Augen, und zwischen den klebenden Strähnen hindurch spähte er hinab auf den fürchterlich wachsenden Schwall drunten in der Halle. Auch Yvette, halb ohnmächtig, sah hinunter: da tanzte die Mater auf der Flut empor wie ein wunderlicher Wasserball; ihr Gesicht war purpurn, die blinden blauen Augen quollen ihr aus dem Kopfe, Schaum zischte ihr aus dem Munde. Eine ihrer purpurnen alten Hände krallte sich um das Treppengeländer und hielt es einen Augenblick fest: sie sahen das Aufglänzen eines Traurings.
Der Zigeuner, der sich freigehustet hatte und sich das Haar aus der Stirn strich, sagte zu dem fürchterlichen wasserballähnlichen Gesicht drunten in der Flut:
»Nicht gut genug! Nicht gut genug!«
Wieder traf der Schwall das Haus mit einem leisen dumpfen Stoß, der wie ferner Donner dröhnte; und nun erhob sich ein seltsames neues Geräusch, das wie Krachen, Raffeln und Spucken klang. Auf wallte die Flut wie das Meer. Die Hand war fort, alles war fort, nichts mehr war zu sehen – nur noch aufwallendes Wasser.
Yvette wandte sich in blindem sinnlosem wahnsinnigem Entsetzen, taumelte wie eine nasse Katze der oberen Treppenhälfte zu und klomm rasch hinan. Erst an der Tür ihres Zimmers blieb sie stehen, gelähmt von einem fürchterlichen, reißenden Krachen: das Haus schwankte.
»Das Haus stürzt ein!« gellte die Stimme des Zigeuners. Sein Gesicht, unmittelbar vor ihr, war grünlich weiß. Er sah ihr mit wilden Augen in das verzerrte Gesicht.
»Wo ist der Schornstein? der hintere Schornstein? – welches Zimmer? Der Schornstein bleibt stehen.«
Sein Blick hatte eine seltsam wilde Kraft, die sie zwang, den Sinn seiner Worte zu erfassen. Und sie nickte mit einer wunderlichen irren Gelassenheit, nickte ganz heiter und sagte:
»Hier herein! Hier herein! Hier ist es richtig!«
So kamen sie in Yvettes Zimmer, das einen schmalen Kamin hatte. Es war ein Hinterzimmer mit zwei Fenstern, die sich zu beiden Seiten des großen Kaminrauchfanges befanden. Der Zigeuner, qualvoll hustend, am ganzen Leibe zitternd, ging zum Fenster und sah hinaus.
Drunten, zwischen dem Hause und dem steilen Hügelhang, war ein rasender Mahlstrom, der auf seiner heftigen Strömung losgerissene Trümmer mit sich führte, darunter auch Rovers grüne Hundehütte. Der Zigeuner hustete und hustete und starrte hoffnungslos hinab. Baum auf Baum, niedergemäht vom Wasser, trieb vorüber. Die Flut war, wie sich später herausstellte, zehn Fuß tief.
Schaudernd, die triefenden Arme an die triefende Brust gepreßt, mit tiefer Mutlosigkeit auf dem bleichen Gesicht, wandte er sich Yvette zu. Ein furchtbares reißendes Krachen ging durch das Haus: es folgte ein dumpfer, vom Aufrauschen des Wassers begleiteter Knall. Irgend etwas war zusammengestürzt – irgendein Teil des Hauses. Der Fußboden unter ihnen hob sich und schwankte. Einen Augenblick hielten beide den Atem an, gelähmt. Dann stand der Zigeuner auf.
»Nicht gut genug! Nicht gut genug! Dies wird halten. Dies hier wird halten. Sieh! Der Schornstein! wie ein Turm. Ja! Ist gut! Ist ja gut! Du ziehst deine Kleider aus und gehst zu Bett. Du wirst sonst sterben von Kälte.«
»Es ist ja gut! Es ist ja alles gut!« sagte Yvette. Sie saß auf einem Stuhl und hob ihr weißes irres kleines Gesicht zu seinem Gesicht empor. Das nasse Haar klebte ihr am Kopf.
»Nein!« rief er. »Zieh deine Kleider aus, dann reibe ich dich mit diesem Handtuch. Ich reibe mich selbst auch. Wenn das Haus einstürzt, du stirbst warm. Wenn es nicht einstürzt, du lebst und stirbst nicht an Lungenentzündung.«
Hustend, bebend vor Frost, mit kältestarren Fingern, zog er sein nasses, enges Wams hoch und mühte sich, schlotternd, mit aller Kraft, es über den Kopf zu ziehen.
»Hilf mir!« rief er unter dem Wams, das seinen Kopf verbarg.
Gehorsam faßte sie den Saum des Wamses und zog daran mit aller Kraft. So bekam er es über den Kopf und stand in Hemdsärmeln da.
»Zieh deine Kleider aus! Reib dich mit diesem Handtuch!« befahl er hart und mit wilder Heftigkeit. So mochte er im Kriege geschrieen haben, wenn es ums Leben ging. Mit einer wahren Besessenheit befreite er sich von seiner Hose und riß sich das nasse klebende Hemd vom Leibe; schlank und blaß stand er da, bis in die letzte Faser des Leibes geschüttelt von Frost und Nervenkrise.
Er nahm ein Handtuch und begann sich rasch damit zu reiben; seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, daß es klang wie Tellergeklirr. Yvette erkannte dumpf, daß er klug handelte. Sie versuchte ihr Kleid auszuziehen. Er riß ihr das schrecklich nasse tödlich umstrickende Zeug über den Kopf; dann begann er sich wieder zu reiben und ging zur Tür, auf Zehenspitzen den nassen Boden überquerend.
Da stand er, nackt, das Hemd in der Hand, wie zu Stein erstarrt. Er sah nach Westen, dorthin, wo das Fenster am oberen Treppenabsatz gewesen war; und er blickte in den Sonnenuntergang, hinweg über eine wahnwitzige Flut, die mit Trümmern und entwurzelten Bäumen besät war. Die ganze Ecke des Hauses mitsamt der Veranda und der Treppe war fort. Die Wand war eingestürzt, die Fußböden führten ins Leere. Die Stufen waren fort.
Reglos sah er aufs Wasser hinaus. Ein kalter Wind fuhr herein. Er biß mit einer gewaltigen Willensanstrengung die klappernden Zähne zusammen, wandte sich ins Zimmer zurück und schloß die Tür.
Yvette, nackt, von einem Erbeben geschüttelt, das ihr fast die Sinne raubte, versuchte sich mit einem Handtuch trocken zu reiben.
»Alles gut!« rief er. »Alles gut! Das Wasser steigt nicht mehr! Alles gut!«
Mit einem Handtuch begann er, der selbst am ganzen Leibe bebte, aber sie mit festem Griff an der Schulter gepackt hielt, sie zu reiben; langsam, mit starren Fingern rieb er ihren zarten Körper, versuchte sogar das kläglich nasse Haar ihres schmalen Kopfes zu trocknen.
Plötzlich hielt er inne.
»Besser, du legst dich ins Bett!« sagte er. »Ich will mich selbst abreiben.«
Klap – klap – klap – klap machten seine Zähne, mit einem lauten Geklapper, das seine Worte zerhackte. Yvette kroch bebend und halb bewußtlos ins Bett. Der Zigeuner, angestrengt bemüht, das fliegende Beben zu unterdrücken und sich warm zu reiben, ging wieder zum nördlichen Fenster und sah hinaus.
Das Wasser war wieder etwas gestiegen. Die Sonne war untergegangen, der Himmel glomm rötlich. Der Zigeuner rieb sein Haar zu einem schwarzen nassen Gewirr, machte, in einem plötzlichen Anfall von Schüttelfrost, eine Atempause, sah wieder hinaus, rieb seine Brust und begann von neuem zu husten, da er viel Wasser geschluckt hatte. Das Handtuch war rot: er hatte sich irgendwo verletzt. Aber er spürte nichts.
Immer noch vernahmen sie das seltsame gewaltige Geräusch des Wassers und das schreckliche dumpfe Bumsen der Gegenstände, die von der Flut an die Mauern getrieben wurden. Nach Sonnenuntergang nahm der Wind zu und wurde kalt und scharf. Das Haus erbebte unaufhörlich in berstendem Dröhnen, und unheimliche, unheimliche Geräusche tönten beklemmend zu ihnen herauf.
Entsetzen kroch ihm ins Herz, und er ging abermals zur Tür. Der Wind, dessen Heulen sich in das Brausen des Wassers mischte, fegte herein, als er sie öffnete. Durch die furchtbar gähnende Lücke im Hause sah der Zigeuner die Welt, sah die Flut, die fürchterliche Wasserwüste, sah die Dämmerung und, hoch am Himmel, über dem Sonnenuntergang, die blasse, dünne Sichel des neuen Mondes; sah schwarze Wolken, die der kalte, heftige Wind in den Himmelsraum jagte.
Wieder biß der Zigeuner die Zähne zusammen, in seiner Seele vermischte sich die Angst mit Ergebung in ein scheinbar unabänderliches Verhängnis. Er kehrte ins Zimmer zurück, schloß die Tür, nahm Yvettes Handtuch, um zu sehen, ob es weniger naß und blutbefleckt war als seines, rieb sich damit den Kopf und ging wieder zum Fenster.
Er wandte sich ab, nicht mehr fähig, der krampfhaften Anfälle von Schüttelfrost Herr zu werden. Yvette war ganz unter der Bettdecke verschwunden: er sah nichts von ihr, aber diese Bettdecke war nun ein weißes bebendes Bündel. Er legte die Hand auf dieses Bündel, wie in beruhigender Kameradschaft. Aber es hörte nicht auf zu beben.
»Ist ja gut!« sagte er. »Ist alles gut! Das Wasser fällt!«
Mit einem Ruck kam ihr Kopf unter der Decke hervor, und die Augen in ihrem weißen Gesicht, mit nur halb bewußtem Ausdruck, spähten zu ihm empor. So blickte sie in sein grünlich bleiches, sonderbar ruhiges Gesicht. Seine Zähne schlugen nun unbeherrscht aufeinander, als er auf sie niederstarrte, aber in seinen schwarzen Augen glühte noch das Feuer des Lebens – und es war so etwas wie die Gelassenheit des fahrenden Gesellen darin, der die Fügung mit fatalistischer Ergebenheit trägt.
»Wärme mich!« wimmerte sie zähneklappernd. »Wärme mich! Ich sterbe vor Kälte.«
Und wirklich zog sich ihr im Liegen verkrümmter weißer Leib in einem Krampf zusammen, der furchtbar genug war, um sie zu töten.
Der Zigeuner nickte. Er nahm sie in die Arme und umklammerte sie mit einem Griff, der sie wie ein Schraubstock preßte: so wollte er auch die eigenen Glieder wieder in die Gewalt bekommen. Auch ihn schüttelte ein furchtbares Zittern, auch er war halb bewußtlos. Es war die Krise.
Die schraubstockartige Umklammerung seiner Arme war der einzige Halt, an den ihr Bewußtsein sich klammerte. Und er war für ihr Herz, das zum Zerspringen schlug, eine ungeheure Erlösung. Und wenn auch sein Körper, der sie auf eine nie geahnte Art geschmeidig und stark wie mit Fangarmen umklammerte, von dem Zittern wie von elektrischen Wellen bebte, so verlieh doch die harte und straffe Anspannung der Muskeln, die Yvettes Leib umklammerten, ihnen beiden allmählich wieder Halt; langsam ließ die würgende Heftigkeit des Erbebens, dessen Ursache die Nervenkrise war, nach – erst in seinem Körper, dann in ihrem; und belebende Wärme war ihnen wiedergeschenkt. Indessen sie zunahm, glitten ihre gemarterten, halb schon bewußtlosen Sinne in die Bewußtlosigkeit, und sie gingen hinüber in den Schlaf.
Erst als die Sonne hoch am Himmel stand, gelang es etlichen Männern, die Papple mit Leitern zu überqueren. Die Brücke war verschwunden. Aber die Flut hatte sich verlaufen, und das Pfarrhaus, das sich vornüberlehnte, als wollte es dem Flusse eine steife Verbeugung machen, stand nun inmitten von Schlamm und Trümmern; an der südwestlichen Ecke lag ein großer Haufen herabgestürzten und zerbröckelten Mauerwerks. Fürchterlich, wie gähnende Mäuler, starrten die Zimmer.
Drinnen war kein Lebenszeichen zu erkennen. Doch war drüben der Gärtner erschienen, um zu kundschaften, und auch die Köchin kam, voll schaudernder Neugier. Sie war durch die Hintertür entronnen und durch das Lärchenwäldchen auf die Bergstraße geflüchtet, als sie den Zigeuner am Hause vorüberrasen sah: denn sie hatte den Eindruck, daß der Mann Jemanden umzubringen gedachte. Droben am Gittertor fand sie seinen Karrenwagen. Als es dunkel geworden war, hatte der Gärtner das Pferd zum ›Roten Löwen‹ droben in Darley gebracht.
Dies erfuhren die Männer aus Papplewick, als sie schließlich auf Leitern über die Papple kamen und an die Rückseite des Hauses gelangten. Ihnen war nicht wohl bei der Sache; sie fürchteten, das Haus würde einstürzen, denn die Vorderseite war völlig unterwühlt und die Rückseite durch Trümmer versperrt. Sie starrten voll Entsetzen auf die stummen Borte mit den Bücherreihen im aufgerissenen Studierzimmer des Pfarrers; auf die große Messingbettstelle in Großmuttchens Zimmer: das war ein tiefes behaglich hergerichtetes Bett, aber es streckte eines seiner Messingbeine versuchsweise über den aufgerissenen Abgrund; auf das zerstörte Mädchenzimmer im obersten Stock. Das Hausmädchen und die Köchin weinten. Dann kletterte einer der Männer vorsichtig durch ein zertrümmertes Küchenfenster in das Sumpfdickicht und den Morast, die einstmals der Flur des Erdgeschosses gewesen waren. Dort fand er die Leiche der alten Frau; oder wenigstens: er sah ihren mit einem flachen schwarzen Pantoffel bekleideten Fuß, der schlammbedeckt aus einem Schlamm- und Trümmerhaufen ragte. Worauf der Mann flüchtete.
Der Gärtner sagte, er wüßte bestimmt, daß Miß Yvette nicht im Hause sein könnte. Er hätte gesehen, wie sie und der Zigeuner von der Flut weggerissen wurden. Aber der Polizist erklärte, man müßte auf jeden Fall nachsehen, und da nun auch die beiden Framleyschen Söhne herbeigerannt kamen, wurden schließlich ein paar Leitern mit Stricken zusammengebunden. Auch begann die ganze Versammlung im Chor laut zu rufen. Aber vergeblich. Von drinnen kam keine Antwort.
Endlich war eine Leiter fertig, und Bob Framley kletterte hinauf; er schlug ein Fenster ein und gelangte so in Tante Cissies Zimmer. Alles sah so ganz und gar heimelig und vertraut aus – das war so grauenhaft, als sähe er lauter Gespenster. Jeden Augenblick konnte das Haus einstürzen. Gerade hatten sie es fertiggebracht, die Leiter bis zum obersten Stockwerk zu verlängern, als ein paar Leute aus Darley gerannt kamen und berichteten, der alte Zigeuner hätte im ›Roten Löwen‹ Pferd und Wagen abgeholt und dabei erzählt, sein Sohn hätte Yvette droben im Hause gesehen. Aber da war auch schon der Polizist hinaufgeklettert und schlug Yvettes Kammerfenster ein.
Yvette, die fest geschlafen hatte, fuhr mit einem Schrei im Bett empor, als das Glas ins Zimmer klirrte. Sie raffte hastig die Bettdecke um ihre Nacktheit zusammen. Der Polizist gab zunächst einen Aufschrei des Erstaunens von sich, den er indessen in den Ausruf: »Miß Yvette! Miß Yvette!« überzuleiten vermochte.
Er wandte sich und rief den angstvollen Gesichtern drunten zu:
»Miß Yvette liegt im Bett! im Bett!«
So hockte er, ein unbeweibter Mann, in gefährlicher Stellung auf der Leiter, hielt sich krampfhaft am Fenster fest und wußte durchaus nicht, was da zu tun sei.
Yvette saß im Bett, mit wirrem Haar und verstörten Augen, und preßte die Decke an ihre nackte Brust. Sie hatte so fest geschlafen, daß sie noch immer nichts begriff.
Der Polizist, dem auf der schwankenden Leiter angst wurde, kletterte ins Zimmer und sagte:
»Keine Angst, Miß. Jetzt können Sie ganz ohne Sorge sein. Sie sind jetzt gerettet.«
Yvette, noch immer wirr und halb betäubt, dachte, er meinte den Zigeuner. Wo war der Zigeuner? Das war ihr erster klarer Gedanke. Wo war ihr Zigeuner aus dieser Weltuntergangsnacht?
Er war fort! Er war fort! Und ein Polizist war im Zimmer! Ein Polizist!
Verwirrt rieb sie sich die Stirn.
»Wenn Sie sich anziehen wollen. Miß, können wir Sie runterbringen auf sicheren Boden. Das Haus wird wahrscheinlich einstürzen. An den anderen Zimmern ist wohl niemand!«
Er trat vorsichtig auf den Flur hinaus und starrte entsetzt in das gähnende Loch, das die stürzende Hauswand aufgerissen hatte. Dabei sah er, wie drunten auf der Landstraße am sonnenbeschienenen Hügelhang ein Kraftwagen mit dem Pfarrer darin herankam.
Yvettes Gesicht war ganz starr vor Enttäuschung. Sie stand rasch auf, hüllte sich fest in die Bettdecke, sah einen Augenblick an sich herunter; zog die Schubladen auf, suchte sich Kleidungsstücke zusammen und zog sich an. Dann blickte sie in den Spiegel und sah ihr wirres Haar. Das sah abscheulich aus. Aber es war ihr gleichgültig. Der Zigeuner war ja fort.
Ihre Kleider von gestern lagen am Boden, ein durchweichter Klumpen. Auf dem Teppich war ein großer nasser Fleck, wo seine Kleider gelegen hatten, und – ja, und dann lagen da zwei blutbefleckte schmutzige Handtücher. Sonst keine Spur von ihm.
Sie mühte sich mit ihrem Haar, als der Polizist klopfte. Sie rief ihn herein. Er stellte erleichtert fest, daß sie angezogen und offenbar bei klarem Verstände war.
»Es ist besser, wir machen, daß wir so schnell wie möglich aus dem Hause kommen, Miß«, mahnte er abermals. »Es kann jede Minute einstürzen.«
»Meinen Sie?« sagte Yvette gelassen. »Ist es so schlimm?« Von drunten kamen laute Rufe. Sie mußte sich am Fenster zeigen. Da stand der Pfarrer; er hatte die Arme weit ausgebreitet, und Tränen strömten ihm übers Gesicht.
»Ich bin ganz heil, Papa«, sagte Yvette mit der Gelassenheit, die nur die Maske ihrer widerspruchsvollen Empfindungen war. Ich werde ihm kein Wort von meinem Zigeuner sagen, dachte sie. Dabei aber strömten auch ihr die Tränen übers Gesicht.
»Weinen Sie doch nicht. Miß, weinen Sie doch nicht! Der Pfarrer hat seine Mutter verloren, aber er dankt seinem Schöpfer, daß er seine Tochter noch hat. Wir dachten, Sie wären auch umgekommen. Wahrhaftig, das dachten wir!«
»Ist meine Großmutter ertrunken?« fragte Yvette.
»Ja, ich fürchte, das ist sie, die arme Dame«, sagte der Polizist mit ernstem Gesicht.
Yvette weinte in ihr Taschentuch, das sie sich zu diesem Zwecke aus einer Schublade holen mußte.
»Trauen Sie sich wohl, die Leiter runterzusteigen. Miß?« fragte der Polizist.
Yvette sah die Tiefe und die schwankende Leiter und wollte sogleich erwidern: »Nein! um keinen Preis!« – da aber fielen ihr die Worte des Zigeuners ein: »Sei mutiger in deinem Körper!«
»Sind Sie auch in allen anderen Zimmern gewesen?« fragte sie schluchzend.
»Jawohl, Miß! Aber außer Ihnen war niemand im Hause, außer Ihnen und der alten Dame, wissen Sie. Die Köchin war rechtzeitig weggelaufen, und Lizzie war ja bei ihrer Schwester. Nur um Sie und um die arme alte Dame haben wir uns Sorgen gemacht. Wie ist es, trauen Sie sich wohl, die Leiter runterzusteigen?«
»Oh gewiß«, sagte Yvette gleichgültig. Der Zigeuner ist ja fort, dachte sie.
Und nun mußte der Pfarrer es in marternder Aufregung mitansehen, wie seine hochgewachsene, schlanke Tochter rückwärts von der schwankenden Leiter herabstieg, während der Polizist sich heldenhaft aus dem zerbrochenen Fenster neigte und die Leiter am oberen Ende festhielt.
Drunten wurde Yvette, wie es sich gehörte, in den Armen ihres Vaters ohnmächtig, und Bob brachte sie und den Pfarrer in seinem Wagen zum Framleyschen Hause. Dort weinte die arme Lucille, die nur noch der Schatten eines Gespenstes war, vor lauter Erleichterung, bis sie nervöse Zustände bekam, und sogar Tante Cissie rief, von Schluchzen unterbrochen: »Oh, es ist gut, daß die Alten hingenommen und die Jungen verschont werden! Ich kann nicht um die Mater weinen, nun Yvette gerettet ist.« Und sie weinte Bäche von Tränen.
Die Überschwemmung war dadurch entstanden, daß das große Staubecken, droben in Papple Highdale, fünf Meilen vom Pfarrhause entfernt, plötzlich geborsten war. Später stellte es sich heraus, daß unter dem Damm des Staubeckens ein alter, vielleicht schon aus der Römerzeit stammender Stollen, von dem niemand etwas gewußt oder auch nur geahnt hatte, eingebrochen war; dadurch war der ganze Damm unterhöhlt worden. Deshalb hatte die Papple schon während des ganzen Tages so unheimlich viel Wasser geführt. Und dann war der Damm gebrochen.
Der Pfarrer wollte mit seinen beiden Töchtern bei den Framleys bleiben, bis ein neues Heim gefunden war. Yvette fehlte bei der Beerdigung der Mater. Sie blieb im Bett.
Beim Bericht ihrer Erlebnisse erzählte sie nur, daß der Zigeuner sie auf die Veranda gerettet hätte; dann wäre sie aus dem Wasser zur Treppe gekrochen. Es war bekannt, daß auch der Zigeuner sich gerettet hatte; der alte Zigeuner hatte es berichtet, als er Pferd und Wagen vom ›Roten Löwen‹ abholte.
Yvette konnte nicht viel erzählen. Sie war wirr, sie hatte ihre ungreifbar schweifende Art, sie konnte sich anscheinend kaum an überhaupt irgend etwas erinnern. Aber das war ja nun einmal so bei ihr.
Bob Framley war es, der an den Zigeuner dachte:
»Wißt ihr, der Zigeuner verdient eigentlich eine Medaille.« Die ganze Familie war jäh begeistert.
»Oh ja, wir müssen ihm wirklich danken!« rief Lucille.
Der Pfarrer selbst fuhr mit Bob im Wagen hinauf. Aber der Steinbruch war leer. Die Zigeuner hatten das Lager abgebrochen und waren fortgezogen, wohin, wußte niemand zu sagen.
Und Yvette, in den Kissen, stöhnte (niemand vernahm es): Oh, ich liebe ihn! ich liebe ihn! Das Leid um ihn war schuld daran, daß sie nicht aufstehen konnte. Und doch nahm sie sein Verschwinden hin wie eine notwendige Fügung. Ihre junge Seele wußte um den wahren, den tiefsten Grund.
Nach der Beerdigung der Mater aber bekam sie einen kurzen Brief, aus einer Ortschaft, deren Namen sie nie vernommen hatte.
»Liebe Miß, ich lese in der Zeitung, daß Sie ganz gesund sind nach dem Naßwerden, wie dasselbe auch bei mir der Fall ist. Ich hoffe, ich sehe Sie wieder eines Tages, vielleicht auf dem Viehmarkt in Tideswell, vielleicht auch wir kommen wieder des Weges. Ich bin damals gekommen, um zu sagen Lebewohl! und ich habe es nicht gesagt, na, das Wasser hat ja keine Zeit gelassen, aber ich lebe in Hoffnung.
Ihr gehorsamer Diener Joe Boswell.«
Und erst da kam ihr zum Bewußtsein, daß der Zigeuner auch einen Namen hatte.