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»Als ich bei meinen Schafen wacht,
Ein Engel mir gut Zeitung bracht;
Des bin ich froh, des bin ich froh,
Benedicamus Domino!«
Aus dem duftigen Nadelgrün der langgestreckten Berglehne, die die kleine Stadt halbmondförmig umzirkte, den heimeligen Schauern, die über die Niederung wallfahrteten, dem gläubigen Sinn aller Gottfrohen wurde die fromme Weihnachtslegende geboren . . . und sie ging in die Häuser hinein und hieß den Fichtenbaum rüsten . . . und sie trat in die Kirche und gebot dem Küster, die Krippe herzurichten und neue Wachsstöcke auf die messingenen Leuchter zu stellen . . . und sie kam zu den Menschen, die in Not waren, legte die Hand auf sie und sagte: »Kronenträger und Dornenträger sind eins. Alle, die sich mit dem Purpurmantel des irdischen Glückes umkleiden, sind Bettler. Sie werden es zum Beschluß ihres Lebens erfahren. Wer da liebt, hat Leid zu erwarten, denn alles ist eitel und nichts unter der Sonne und wie Spreuicht vor einem daherkommenden Winde. Nur in Gott ist das Heil, und wahrlich, ich sage euch: Wer da blind ist im Herrn, sieht mehr als die Weltfrohen mit gesunden und offenen Augen, und wer da liebt im Hinblick auf den, dessen Stern ob Bethlehem leuchtete wie ein Pharus des Meeres, des Liebe wird ausgemünzt werden, und wer da Leid trägt um Jesu Christi willen, um dessen Schläfen wird sich ein Krönlein legen, golden und unvergänglich und umkrustet mit den edeln Steinen der Freude, anzuschauen wie die seltenen Geschmeide im Stirnreifen einer jungen Königin,« und alle, die in Not waren, die da Schmerzen erduldeten um der Hingebung und Gerechtigkeit willen, hörten die Botschaft, begingen die Weihnacht in gehobener Stimmung und sangen in der Christmette, wie sie niemals gesungen:
»Das Kind zu mir sein Auge wend,
Mein Herz gab ich in seine Händ';
Des bin ich froh, des bin ich froh,
Benedicamus Domino!«
netzten sich mit gesegnetem Wasser und gingen getröstet nach Hause.
Nur für Nellecke van Dornick hatte die fromme Weihnachtslegende gar nichts zu sagen. Sie befand sich in dem mysteriösen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Ihr Leben in den letzten Tagen war ein Ringen gewesen, ein Kämpfen mit sich, das wütige Bestreben, Mittel und Wege zu finden, die Tore der Sehnsucht zu schließen und Herz und Gelöbnis in Einklang zu bringen. Ihre Gedanken trieben nach Obermörmter und dann wieder in die stille Behausung, wo der einsame Mann und gütige Denker wohnte, dessen Hand gespendet, wie nur die Auserwählten und Stillen im Lande spenden, dessen Vermächtnis anmutete wie das Ostergeschenk am Tage der süßen Brote, als der Messias eins dieser Brote nahm, es brach und unter seine Jünger verteilte. Ach! und was er doch für ein feiner und bedachtsamer Mensch war, ein Gottsucher und Gottesverehrer und in seiner Natur wie einer von den ewigen Tischen! und sie gedachte der Worte, die ihr Vater am dritten Sonntag im Advent an sie und Ewert gerichtet hatte, gedachte des Hinweises auf die Marterwoche des Herrn. Ja, auch für sie war er ein Simon von Kyrene geworden, ein wagemutiger Spender und Tröster, der um ihretwillen das Kreuz nahm, von dem heiligen Willen beseelt, ihrer Familie die Schande und die graue Sorge zu nehmen . . . und sie – sie sollte tatenlos zusehen, sollte im Nichtstun verharren, sollte ihm nicht die Schale des Trostes darbringen, nicht zugreifen, um ihm die Bürde leichter zu machen? Und Lambert?! War er diesem Simon von Kyrene vergleichbar? Hatte er die wankenden Balken gehalten? Hatte er die Hände gestreckt, die gütigen Hände, um das drohende Unglück abzuwehren? – Nein, nein, nein und abermals nein! und dennoch . . .
»Jesus, mein Jesus!« – in der Christmette brach Nellecke am ›Bildstock auf dem kalten Stein‹ lautlos zusammen und wurde gleich darauf von Drüke Anstoots, die neben ihr kniete, liebevoll und unauffällig nach Hause geleitet.
Willenlos schritt sie neben der fürsorglichen Aufwartefrau. Alle Leidenschaften schienen in ihrem jungfräulichen Körper erloschen. Ihre Hände waren starr, die Gesichtszüge von einer wächsernen Bleiche. Sie mühte sich ab, ihre Gedanken zu ordnen und zu einer geregelten Überlegung zu kommen. Sie vermochte es nicht und wunderte sich nur, daß sie noch lebte. Raum und Zeit schwanden ihr wie nichtige Schemen. Wenn er doch käme! Wenn er doch riefe! Aber er kam nicht und rief nicht. Mein Gott, was sollte er auch in ihrer Nähe beginnen? Er hätte nur tote Augen und kalte Arme gefunden, so hell sie auch brannten, und so weich sie auch waren. Sie sah keinen Ausweg, denn immer wieder trat er ihr als Simon von Kyrene entgegen . . . als Simon, wie er das Kreuz nahm . . . den steinichten Weg ging . . . sein Golgatha suchte und in diesem Martyrium noch die Kraft hatte, ein Lächeln zu finden. Und dieses Lächeln durchfuhr sie mit unbarmherzigen Peitschenhieben. Sie fühlte es deutlich, wie ihre Seele zerstriemte.
Sie konnte kaum weiter und wurde schwer an Drükes Seite. Sie war zögernd und fieberhaft in ihrer Bewegung.
An der großen Linde, durch deren Äste noch die Sterne der Christnacht blinzelten, hielt sie den Fuß an, preßte den Arm ihrer Begleiterin an sich und sagte mit erstickter Stimme: »Ich habe ihn nicht in der Mette gesehen.«
»Wen nicht gesehen?«
»Nun, Ihren Herrn.«
»Ach Gott!« meinte Drüke, »wenn einer nicht hier ist, kann er auch nicht die Kirche besuchen. Nellecke, er ist nach Millendonk hin, vor vier Tagen vielleicht, ohne dabei große Manövers zu machen. Er wollte fort, um sein besonderes Christfest zu haben, und als ich ihn fragte: Warum? da sagte er leise: Drücke, es hat seine extraordinäre Bewandtnis. Und als ich dann meinte: Kann man das hier nicht besorgen? winkte er ab und wischte sich 'ne Träne herunter. Nein, Drüke, das geht nicht. Nur in Millendonk geht es. Da befindet sich 'ne liebliche Buche. Drin sind zwei Herzen geschnitten. Das eine ist das meines Vaters, das andere das meiner seligen Mutter, und weil das so ist, sollen sie auch ihr Weihnachtsfest haben: ein Bäumchen mit zwei brennenden Lichtern. – So?! erstaunte ich mich, da ich es für äußerst kurios und seltsam erachtete, 'nen Christbaum ins Freie zu machen, sagte mir aber: Der liebe Herrgott hat solche Menschen geschaffen und solche. Dagegen kann unsereins nicht anoperieren, und ich ließ ihn gewähren. Wohingegen das mit die Kerzen . . . nur zwei . . . und ich fragte ihn heimlich: Herr Aktuarius, und was bedeuten die Lichter? ich meine: warum dürfen nur zwei auf dem Christbäumchen leuchten? Worauf soll ich das ansprechen? Ist das man bloß ein pures Belieben von Ihnen? oder aber hakt das mit 'ner besondern Bewandtnis zusammen? Nichts für ungut, Herr Aktuarius, es ist keine Neugier, daß ich so frage, sondern bloß aus christkatholischem Interesse geschehen. Wenn's noch drei wären oder fünf oder neun Lichter auf Reihe, da könnte man noch 'ne Erklärung für haben: drei Patriarchen, fünf Gebote der Kirche, neun Chöre der Engel . . . Indessen bloß zwei? Zwei Tafeln des jüdischen Moses. Aber mit die israelitischen Hebräer sind Sie nie ins Einvernehmen gewesen; drum möchte ich bitten: warum sind Sie gerade auf zwei Kerzchens verfallen? – Da wurde er traurig und sagte: Die Lichter?! Zwei arme Seelen, die sich nicht finden konnten im Leben. – Dann nahm er die Reisetasche und machte zur Post hin. Nichts weiter. So, und nun wollen wir gehen, um noch 'n bißchen Schlaf in die Augen zu nehmen.«
»Ja,« sagte die Ärmste, aber ihre Füße versagten. Das Fieber war in ihr.
»Nellecke, wo soll ich das hintun? Sie sind heute so komisch. Oder aber – fehlt Ihnen was? Wollen Sie vielleicht mit dem Herrn Aktuarius reden, weil Sie soeben doch sagten . . .?«
»Ja, ich möchte ihn sprechen.«
»Dann müssen Sie warten. Es wird wohl so 'ne Eile nicht haben. Am Silvesterabend wird er zurück sein.«
»So spät erst?«
»Leider! Eher läßt sich die Sache nicht machen, denn er hat noch in Kleve mit die Avkaten zu reden und mit die anderen Leute, die den letzten Aktus von wegen der Übernahme des Erbteils bei's Schuld- und Rentenieramt festsetzen müssen. Ich habe selbst so 'ne Bange nach ihm, denn ohne den Herrn Aktuarius ist es mir immer so, als wenn ich durch 'ne Karwoche ginge. Nichts Gediegenes mehr und kein sonniges Leben! Und wenn ich erst denke, daß er im kommenden Frühjahr ganz von uns fortzieht, um auf Millendonk als Kavalier zu florieren, dann ist es alle Menschenmöglichkeit, daß ich mich noch in 'ner leidlichen Assiette ergehe, denn ohne ihn kriege ich selbst nicht den feinsten Kaffee hinunter. Den Mann muß man kennen. Er ist ein Wohlgefallen und ein wahrer Apostel vor Gott und den Menschen, und wird ihm mal der Atem zu kurz, dann braucht er nicht erst lange an der Himmelspforte zu schellen. Die Chöre der Engel geben sich selber die Ehre, sagen: Bitte, angtree! und bringen ihn unter Harmonikabegleitung in die ewige Anbetung.«
Sie warf sich scharf in die Brust. Mit der Rechten umgriff sie ihr Goldkreuz.
»Nellecke, das mußte ich sagen, um dem Herrn Aktuarius das Seine zu geben, denn die meisten sind man schwach bestellt in der Beurteilung seines inneren Reichtums, haben keine Ahnung davon, welchen auserwählten Schatz sie in ihrem Kirchspiel besitzen. So – und jetzt kommen Sie man. Es geht schon auf Morgen, und nochmals gesagt: am Silvesterabend wird er zurück sein.«
Schweigend gingen sie weiter.
Gleich darauf saß Nellecke auf der Bettkante in ihrem einfachen Zimmerchen und erwartete mit verschränkten Händen das Tagesgrauen. Obgleich sie sich dem Umsinken nahe fühlte, fand sie doch keine Ruhe. Ihr Geschick war mit einem Dritten verkettet. Das wußte sie jetzt. Wie sollte das enden? Es war nicht so einfach, ein liebgewonnenes Heiligtum niederzureißen, um dafür ein anderes an seine Stelle zu setzen. Ihre Zweifel und Ängste waren größer geworden, drängten nach Ausgleich. Eine eisige Kälte glitt an ihrem Körper herunter. Sie tat ihr wohl und begann ihren Willen zu stählen. Sie mußte jetzt handeln. Je eher, je besser. Wäre nur erst der Silvesterabend gekommen! Daran dachte sie immer.
So verging Stunde um Stunde.
Wachen Sinnes hörte sie die Turmuhren schlagen.
Unten im Hause ward es lebendig.
Christine Jordans machte sich in der Küche zu schaffen.
Die ersten Holzschuhe klapperten draußen. Rhythmisch gingen sie über die hartgefrorene Decke.
Der schmale Fensterrahmen füllte sich mit einer kränklichen Helle.
Drüben im Bäckerladen brannte schon ein mageres Lichtchen. Zwischen den hohen Pappeln, die sich jenseits der großen Mühle wie Spukgestalten aufhoben, hing ein seltsames Scheinen, milchig und mit bläulichen Streifen durchzogen. Ein großer, langgestreckter Opal. Es war das Auge des erwachenden Tages.
Und der Morgen kam und der Abend, und aus beiden wurden neue geboren.
Keiner merkte es ihr an, was in ihrem Inneren klagte und weinte. –
Zwei Tage vor Neujahr erhielt sie Nachricht aus dem Altmännerhaus. Sie kamen vom weißen Mynheer.
Dores van Bommel überbrachte die Botschaft.
»Nellecke, es ist von wegen der Feierbegehung. Mynheer Terstegen würde sich freuen, wenn Sie kommen tun täten. Punkt neune. Es soll 'ne Art von Verbrüderung werden. Der Herr Lehrer aus Obermörmter hat sich bereits die Ehre gegeben.«
Lambert . . .?!« schreckte sie auf. »Und kommt . . .?«
»Das wäre die Ansicht von Johannes Terstegen. Er meinte: die kriegerischen Umstände hätten nichts mehr zu sagen. Es befände sich alles ins Reine, und jetzt will ich noch bei Jan van de Linde vorsprechen, um die hierzu gehörigen Berliner Pfannkuchen in Auftrag zu geben.«
Ihr Herz kam ins Stürmen.
»Ja, sagen Sie ihm . . . Nein, sagen Sie gar nichts . . . Bitte, bleiben Sie noch . . . Also punkt neun soll ich kommen?«
»Punkt neune,« konstatierte Dores van Bommel.
Ihr Puls klopfte hörbar.
»Dann sagen Sie ihm . . . wenn es eben möglich wäre . . . wenn ich Zeit haben würde . . .«
»Wollen's bestellen,« griemelte Dores, schüttelte verständnislos den nackten, eiförmigen Schädel und begab sich zu Jan van de Linde.
Also Lambert kam.
Sie erwachte aus ihrer brütenden Starrheit. Für sie gab es kein Rückwärts mehr. Das Opfer mußte gebracht werden, bevor es zu spät war. Jede Minute war kostbar – nur, sie mußte die Ausführung ihres Entschlusses auf die späten Nachmittagsstunden verschieben. Leblos, wie von einer inneren Maschine in Bewegung gesetzt, besorgte sie die ihr obliegenden Geschäfte des Tages. Sie tat es mit ihrer gewöhnlichen Flinkheit und Akkuratesse. Keinem fiel das Geringste auf. Selbst Röschen nicht, selbst nicht der hellsichtigen Christine Jordans. Abgesehen von ihrer mechanischen Sammlung, hatte sie sich gar nicht verändert. Nur wer genauer zusah . . . Um ihre Augen lagen graue Ringe, ihr Blick ging nach innen, und öfters blieb sie unvermittelt stehen und stierte ins Leere. Dabei waren ihre Hände von einer elfenbeinernen Weiße.
Trotz ihrer Gemessenheit – durch ihre Seele fuhr es wie mit einem schartigen Messer. Ihre schöne Welt stürzte ein, und der bitterkalte Wintertag sorgte emsig dafür, ihr diesen Umsturz vor die erregten Sinne zu führen.
Gegen Abend steckte er seine verhängnisvollen Revolutionszeichen auf. Blutrot war alles. Blutrot senkte es sich aus den Höhen herunter. Der Kirchturm von Sankt Nikolai brannte in blutroten Flaggen. Die sonst so friedlichen Pappeln, die den Stadtgraben begleiteten, standen in Jakobinermützen. Die häßliche Farbe drängelte sich in ihr Stübchen hinein, bedeckte die Wände, legte sich über die Dielen. In blutroten Tropfen rieselte es von den weißen Gardinen.
Sie streckte die Hände.
Sie waren blutunterlaufen . . . und in dieser entsetzlichen Lohe mußte sie opfern, sollte sie ihr heiliges Gelöbnis erfüllen. Warum auch nicht? Sie tat es mit Freuden, wenn auch mit der Selbstverleugnung einer barmherzigen Schwester, denn ihre Kleider waren weiß und ihrem Haupte hatte es niemals an Salbe gemangelt. Sie hatte eine hohe Pflicht zu erfüllen – ihrem Vater, Simon von Kyrene und sich selbst gegenüber, wenn auch ein anderer in der Unterströmung abtreiben würde. Sie konnte ihm die Hand nicht mehr geben.
Allmählich dunkelten Stadt und Land ein. Nur die Schneedächer gespensterten noch unwirsch ins Zimmer.
Eine halbe Stunde später saß sie vor der singenden Lampe.
Ihr Schreibmaterial hatte sie sorglich geordnet.
Noch einmal gedachte sie der verschwundenen Tage, und wie sie mit ihm durch die blühenden Roggenfelder gegangen, Seite an Seite, zwei verwunschene Königskinder, inmitten der schwankenden Ähren, die das Empfangen vorbereiteten und sich mit ihren zitternden Grannen berührten. Ein Wachtelkönig schlug irgendwo im Korn und lockte sein Weibchen.
Das war nun alles vorüber.
Ihr jetziges Handeln sollte über ihr ganzes Leben entscheiden und über das eines Zweiten. Sie durfte nicht warten. Die Stunde gebot und gab ihr die Feder.
In fieberhafter Eile begann sie zu schreiben.
Die zweite Seite gestaltete sich klarer und stiller. Das Hasten ließ nach. Eine geläuterte Resignation rückte die einzelnen Zeilen fest und deutlich untereinander. Es geschah mit dem sachlichen Ernst eines Totenansagers, der ins Trauerhaus trat, um seine Vorschläge zu machen: Sarg, Schmuck, die pfündigen Wachskerzen . . . überhaupt die Bestattungskosten in Summa Summarum.
Nach ständiger Arbeit war sie mit allem fertig geworden.
Ihre Handschrift war persönlich.
Die van Dornicks hatten ihre besondere Art, die Buchstaben nebeneinander zu setzen und ihre Entschlüsse zu ordnen. Nichts Fahriges. Nichts Ungesundes. Sie waren wie die Planken eines sauberen Schiffes.
Noch einmal und mit rotgeweinten Augen überflog sie das Niedergelegte.
Dann las sie Wort für Wort und Zeile für Zeile:
»Lambert!
Ein Jahr ist verflossen, und wir haben uns nicht wiedergesehen. Gelegentlich Briefe; aber das ist auch alles gewesen. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus und kann ihn nicht machen, denn wenn ich mich des Tages erinnere, des Drei Königen-Tages, an dem mein Vater dir die Türe wies und unsere Liebe zu zerbrechen gedachte, so ist mir deine Handlungsweise mehr als verständlich und bleibt es für immer. Das ist es nicht, weswegen ich schreibe. Du bist mir allzeit als der Gerechteste unter den Gerechten erschienen, der Selbstloseste unter den Selbstlosen. Das lange Getrenntsein tat meiner Neigung keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Noch heute möchte ich in deine Arme hinein wie in der Stunde unseres ersten Begegnens. Aber du weißt, was in unserer Familie passiert ist. Es ging um Leben und Sterben bei uns . . . und das Sterben wurde von uns genommen. Um dir dies zu erklären, müßte ich Worte gebrauchen, die ich nicht habe. Sei daher mit dem Hinweis zufrieden, und wenn ich jetzt rede, so bin ich dir und mir und einem Dritten gegenüber diese Aussprache schuldig geworden. Ich weiß keinen andern Ausweg, und sollte es weh tun: vergib mir, vergib mir! Ich leide am schwersten darunter. Die Tür schließt sich hinter uns zu. Ich höre es deutlich und fürchte, den Verstand zu verlieren. Noch einmal küsse ich dich und sauge dir das Blut von den Lippen. Dann nie mehr. Aber ich fühle: ich muß dir das alles bestimmter und genauer erklären. Am letzten Abend des Jahres wird sich vieles entscheiden. Ich habe einen Gang zu machen, und dieser Gang trennt uns für immer, selbst wenn er ein vergeblicher wäre. Offen und ehrlich: ich tue nichts ohne dein Wissen, und es wäre erbärmlich, käme es mir in den Sinn, eigenmächtig anders zu handeln. Aber des sei versichert: mein Vorhaben wird durch ein Opfer geweiht, und ein Opfer bringt Verzeihung und Sühne. Lambert, Geliebter! Den Ring deiner seligen Mutter laß mich behalten, und wenn du willst, behalte den meinen. So sind wir doch nicht gänzlich getrennt und auseinander gerissen. Man sagt, daß die Zeit alles zu heilen vermag. Ich will daran glauben. Für mich ist das Leben nur noch ein Loskaufen, ein Büßen geworden. Aber ich nehme es hin als eine Schickung des Himmels, und was vom Himmel kommt, wird sich auch vor dem Himmel verantworten lassen. Nur reut es mich bitter, daß ich es bin, die dir dieses Schicksal bereitet. Aber ich kann es nicht ändern. Denn seit dem Tage, wo eine gütige und selbstlose Hand uns vor der Schande bewahrte, gehören wir nicht mehr zusammen. Unsere Wege müssen sich trennen. Das sage ich klar und bei vollem Bewußtsein, obgleich mir ist, als würde mir die Totenglocke geläutet. Hörst du sie läuten? und während sie läutet – du, noch einmal im Leben: ich strecke die Arme nach dir, ich ziehe dich an mich, und das, was ich vorhin schon sagte, ich sage es nochmals: Noch einmal küsse ich dich und sauge dir das Blut von den Lippen. Damit ist unsere Scheidestunde gekommen. Frage nicht weiter. Kümmere dich nicht um das, worüber ich sinne. Keine Macht in der Welt könnte mich bewegen, meinen Vorsatz zu ändern. Es ist ein befehlendes Müssen und eine heilige Sache. Wir wollen nebeneinander schaffen und atmen, als hätten wir uns niemals gesehen, als wären keine Wiesen und Felder gewesen und keine Stunden wie die um Pfingsten. Da ging der Herr durch die blühenden Roggen- und Weizenschläge . . . da standen die Lerchen unter dem Himmelreich . . . da fanden wir uns . . . Lambert, Lambert, wenn ich an das alles so denke . . .! Es ist still um mich, und es wird immer stiller noch werden. Ich höre den Wachtelkönig nicht mehr. Bete für mich. Ich habe nichts mehr zu hoffen. Herzlichst
Nein, ich darf meinen Namen nicht nennen. Es würde dich kränken. Aber schließe die Augen. Dann siehst du mich nicht, wenn ich komme, um dich nochmals zu küssen.«
Das schrieb sie, das las sie. Gleich darauf kuvertierte und siegelte sie, verließ heimlich das Haus und begab sich zum Postamt.
* * *
Am Morgen des anderen Tages saß der Inhaber der ›Goldenen Kugel‹ neben dem warmen Ofen in seiner Wirtsstube.
Um diese Stunde ruhte das Geschäft. Nur ab und zu tinkte die Klingel im Hausflur. Es hatte nichts zu bedeuten. Nur fliegende Kunden sprachen vor, die einen Schoppen Genever oder eine Bouteille Rum für den Abend einkaufen wollten. Mit diesen Leuten hatte der Plümerante gar nichts zu schaffen. Das mochte die Schenkmamsell besorgen. Er selber war jetzt nicht zu sprechen. Der Mittag und die spätere Zeit brachten ihm noch Arbeit und Mühe genug. Jetzt mußte er ruhen, und er tat es mit der tiefgründigen Andacht eines wiederkäuenden Niederungsbauern während der Predigt – gesinnungstüchtig und mit vollstem Behagen. Den Kopf mit dem Troddelmützchen vornüber geneigt, die Hände in den Hosentaschen, die Beine stocksteif von sich gestreckt und die lange Pfeife im Munde, gab er sich dieser Beschäftigung hin, als gölte es, hierdurch aller Sünden verlustig zu werden und in Abrahams Schoß zu gelangen.
Manchmal blinzelte er zur großen Lampe hinüber, die von der Decke herabhing, als wenn es dort etwas zu beobachten gäbe. Allein jeder Anziehungspunkt fehlte in dieser Jahreszeit, denn die sonst so munteren Fliegen klebten mit geringelten Schimmelstreifen schon längst an der Wand, des Lebens bar und nur noch die Schatten ihres früheren Daseins. Kein Frühlingsreigen, kein Näseln bei den delikaten Likörflaschen, keine hastigen Liebesaffären auf den Fensterbänken und den gehäkelten Sofaschonern . . . nur ein fettleibiger, überständiger Winterbrummer torkelte um den stoischen Denker, setzte sich auf den Mützenquast, rieb seine Vorderbeine gegeneinander, um dann wieder als Hoboist um den Plümeranten zu kreisen. Da plötzlich . . .
Mit einem infernalischen, kreischenden Ton schlug die Hausklingel an, trat der weiße Mynheer in die Stube, einen Henkelkorb im Arm, die Zipfelmütze kregel nach oben, in Holzschuhen und mit einem wasserhellen Tropfen an der geröteten Nase.
»Gelobt sei Jesus Christus! Tag, Stäwe.«
»Ah!« meinte dieser, »haben wir auch mal die Ehre?«
»Ich komme von wegen des heutigen Abends.«
»So, so!« sagte der Plümerante, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Ich verstehe, Johannes, und ich hab' nur noch zu fragen: Was willst du in Beziehung nehmen: Wein- oder Schnapspunsch?«
»Geschrieben steht,« versetzte der weiße Mynheer und knipste den wasserhellen Tropfen von der Nasenspitze herunter, »er wird sein Füllen an den Weinstock binden und seiner Eselin Sohn an die edeln Reben. Er wird sein Kleid in Wein waschen und seinen Mantel in Traubenbeerblut. Ich habe mich daher für Weinpunsch entschieden, von wegen der Bußfertigkeit und von wegen der barmherzigen Gnade, ein trostreiches Fest zu begehen.«
»Dann allerdings . . . und für wie viel Personen?«
»Um Christi willen – für vier oder fünf.«
»So! vier oder fünfe,« meinte der Plümerante, kam aus seiner lethargischen Ruhe und zählte an den Fingern herunter: »Um 'nen echten Weinpunsch zu machen, sind nötig: fünf oder sechs Bouteillen prima Burgunder, sieben piekfeine Zitronen, ein oder zwei Quart fünfundsiebzigprozentigen Arrak, allens zusammengetan und aufgekocht, bis sich leichte Bläschen erheben. Selbstverständlich: die gehörige Portion Kandiszucker muß zugetan werden. Mit so was sind fünf Personen zufrieden.«
Nach dieser salomonischen Belehrung erhob er sich schwer aus dem Sessel, wies bedeutungsvoll mit der Pfeifenspitze auf die Anrichte und sagte: »Johannes, ist das, was ich meine, hiermit in Bestellung gegeben?«
»Geschrieben steht,« versetzte der Alte, »der Wein erfreut des Menschen Herz. Ja, es ist in Bestellung gegeben,«
»Dann noch 'ne Bemerkung, Johannes.«
»Ich meine: ist der blaue Mynheer als Kompagnon zu betrachten?«
»Als Gast.«
»In diesem Falle muß ich das Deputat Arrak auf zwei Bouteillen erheben, weil wir sonst in Ungelegenheit kommen und die richtige Füllung nicht haben. Also in Summa: sechs Bouteillen prima Burgunder, zwei Buddeln Arrak und sieben piekfeine Zitronen; macht zusammen fünf Taler und zwanzig.«
»Schön!« nickte Johannes Terstegen. »Soll mir heute keine Molesten nicht machen, schon wegen der Bußfertigkeit nicht und von wegen der barmherzigen Gnade nicht, ein trostreiches Fest zu verleben; denn geschrieben steht: Lasse deine Rechte nicht wissen, was die Linke verausgabt. Also, Plümerante, ich bitte,« und er begab sich zur Anrichte, um das Gewünschte und Nötige seinem Henkelkorb einzuverleiben.
Mit einem salbungsvollen »Deo gratias!« verließ er das Gastzimmer, trat auf den Markt hinaus und blickte sich häufiger um, ob alle es sähen, was er in seinem Henkelkorb trüge, und war aufgeräumt und voll gutes Mutes für ein frohes Gelingen.
Als er gleich darauf an dem Wäsche- und Spitzengeschäft von Röschen Jungklaas vorüberkam, machte sich Christine Jordans am Auslagefenster zu schaffen, trat auf ihn zu und sah stieläugig in den Henkelkorb hinein, wie in den Wein- und Freßkeller des reichen Prassers, von dem die biblische Legende Wunderdinge vermeldet.
»Aberst, Mynheer, Sie sind doch nicht unter die Schlemmers gegangen?!«
»Jungfer Christine,« versetzte Johannes und knipste den zweiten Wassertropfen von der Nasenspitze herunter, »in den Sprüchen Salomonis steht also verzeichnet: Siehe den Wein nicht an, daß er so rot ist und in dem Glase so schön stehet. Er gehet glatt ein. Aber dennoch beißt er wie eine Schlange, und dein Herz redet widersinnige Dinge. Doch wohl ist zu merken: auf der Hochzeit zu Kana hat es auch an Wein nicht gemangelt, um ein Brautpaar zu ehren. So auch in diesem Falle. Er ist eine Gabe des Himmels.«
»Jesus Christus! Lambert und Nellecke . . .?! und das heute Abend?!«
»Warum nicht?«
»Und eine reguläre Brautschaft soll aus dem Henkelkorb steigen?«
Ein wohliges Gefühl unterrieselte das Fürtuch der christlichen Jungfrau. Sie dachte dabei an Röschen Jungklaas und warf einen bedeutungsvollen Blick in die erste Etage. Dort begannen eben die ›Klosterglocken‹ zu bimmeln.
»Man kann alles nicht wissen,« sagte Terstegen. »Bei Gott ist keine Sache unmöglich. Gelobt sei Jesus Christus! Halten Sie uns den Daumen, Christine,« und der weiße Mynheer tauchte unter in den weißen Nebel des letzten Tages im Dezember.
* * *