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Fröhlichen Herzens, ein Lied vor sich hinsingend, zog Ewert van Dornick durch die niederrheinische Gegend. Wiesen, Gehölze, stille Wasser und putzige Windwühlen! Donnerwetter noch mal! wie heute die Welt so schön war, so voller Licht und Glanz, so voller Duft nach dem kommenden Frühling, so recht dazu angetan, einen frischbestallten Kommis des Hauses Harkopp & Söhne freien und offenen Gemütes durch das Reich seiner Väter marschieren zu lassen.
Sein Weg führte ihn von Emmerich über Huisberden und Till auf dem mächtigen Dreifaltigkeitsdeich, der bei Überschwemmungsgefahr das Binnenland gegen die Stauflut des Stromes zu schützen hatte, seiner Heimat entgegen.
Alles Vergrämelte, Verstockte, Dunstige des gestrigen Tages war einem frischen und sonnigen Morgen gewichen. Die Felder grünten, vereinzelte Veilchen duckten sich bereits in ihren violblauen Röckchen unter den Bocksdornhecken, an den Ufern der Altwasser begann neues Leben zu sprießen, Schwertel und Pfeilkraut stießen ihre scharfen Spitzen durch die silbernen Spiegel, und gegen Osten hin, wo der Rhein sich seinen Weg gemächlich nach Holland suchte, glitten blütenweiße Segel, majestätischen Schwänen ähnlich, still und in solenner Andacht vorüber. Alles so groß, so hehr und tröstlich wie in einem Hochamt. Der Herr waltete selber als Priester, verstreute seinen Weihrauch im Puder der stäubenden Weidenkätzchen, predigte das Evangelium der Liebe und Auferstehung und warf seine Musikanten mit schöpferischer Hand in den Himmel, auf daß sie die Allmacht des Ewigen priesen mit Jubilieren und Singen . . . und Ewert van Dornick mitten dazwischen.
Mit ausgreifenden Schritten rollte er den Pfad unter sich auf, winkte den Lerchen zu und pfiff mit den Buchfinken, deren kecke Frühlingsweisen ihm aus allen Hecken und Hägen entgegen schmetterten – den ›Reiterherzu‹, die ›Würzgebühr‹ und die ›Zizigaltour‹, und wie die Lieder der munteren Gesellen nur immerhin heißen mochten.
Nichts entging ihm, was um ihn lebte und webte. Mit hellen Augen und offenen Ohren verfolgte er die Offenbarungen, die sich vor ihm auftaten wie die wundersamen Legenden im Buche der Heiligen. Ein Tag des Herrn mit roten Lippen und stahlblauen Augen – so sah er die Welt an. Das kleine Hütchen flott in den Nacken geschoben, ein sprossendes Bärtchen unter der Nase, straff und strack gewachsen, wie eine junge Kiefer im Reiherbusch bei Neu-Luisendorf, immer fidel und kein Spielverderber, war er, abgesehen von einer gehörigen Portion Leichtsinn und Sprunghaftigkeit in seinen Anschauungen, das beste Kerlchen, das an diesem frühen Morgen sich auf die Strümpfe gemacht hatte, um seinem Vater ein gehöriges Quantum Glück in die Arme zu legen.
Kommis im Hause Harkopp & Söhne! Diese unumstößliche Tatsache war für den gewöhnlichen Sterblichen auf den ersten Anhieb nicht so recht zu begreifen. Er aber begriff sie. Der gestrige Tag oder besser der gestrige Abend hatte ihn wissend gemacht und ihm ein gestrichenes Maß voll Selbstgefühl auf den Teller geschoben, weniger veranlaßt durch die Ausführungen seines Chefs und des ersten Prokuristen, als vielmehr durch die des Herrn Fleutgen, der noch in vorgerückter Stunde den ›Gebackenen Maifisch‹ und die anwesende Tafelrunde in ein phosphoreszierendes Meer von Dogmen und glänzenden Prophezeiungen getaucht, obgleich der Herr im großgemusterten Buckskin sich eifrigst bemüht hatte, beruhigendes Öl auf die emporgewühlten Tiefen zu gießen und alle utopischen Erwägungen ein bißchen umzufrisieren. Es war vergeblich gewesen. Fleutgen hatte seine aufgestellte These mit einer Bravour verfochten, die einen tosenden Beifall hervorrief und den ›Gebackenen Maifisch‹ in ein Dorado der Freude verwandelte. »Meine Herren!« hatte er ausgeführt, »es gibt solche und solche. Es gibt Kommis und Kommis. Es gibt Kaufleute und Kaufherren. Zu letzeren rechne ich in jeder Beziehung meinen Freund Ewert van Dornick.«
»Bravo!«
»Meine Herren! Mit dem Alten muß aufgeräumt werden, die Jugend ist an seine Stelle zu setzen. Natürlich, alles, was sich an dieser Tafel befindet, zählt zur Jugend; auch unser hochverehrter Herr Chef in optima forma, aber das hindert nicht, meinem Freunde schon jetzt ein bedeutsames Prognostikon auszustellen und ihm den Kranz einer glorreichen Zukunft zu reichen.«
»Bravo!«
»Meine Herren! Selbstverständlich mit einem gewissen Vorbehalt und nach Klärung der Dinge. Es fällt kein Meister vom Himmel; überkommene Talente müssen ausgemünzt und umgesetzt werden. Heraus aus der Enge! Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! will aber mit ›Pferd‹ keinen gewöhnlichen Schwadronsgaul bezeichnen, sondern den Wagemut und den ernsthaften Willen, Schürze und Tüte beiseite zu schieben, nicht an der Theke zu kleben und das Herz zu besitzen, sich in den Betrieb der Börse zu stürzen. Herr Pirrwitt, Sie schütteln den Kopf. Gut! vom Pokern will ich gar nicht mehr sprechen. Ich hab's dem Prinzipal in die Hände geschworen, und was ich gelobt . . . Auch das mit den Differenzgeschäften! Vorderhand – noli me tangere! Später, erst später! Der Geist muß ausreifen, denn erst die Erfahrung . . . Aber im allgemeinen: der Kaufmann als solcher hat nicht an der Scholle zu haften, muß wetten und wagen und seinen Beruf in großem Stile betreiben, stets das Ziel vor Augen, sein eigener Häuptling und sein eigener Meister zu werden. Wer das Zeug dazu hat, soll nicht in der Enge verkümmern. Die ganze Welt ist sein Markt, und wer es versteht, fünf Sprachen von sich zu geben . . . Ewert, in diesem Sinne, und nochmals gesagt: Du bist der Kerl, Gelder zu münzen und es dereinstens zum Königlichen Kaufmann zu bringen. Des zum Zeichen steigt aufs Neue das Lied ›Santa Lucia . . .‹« und der Kantus hatte den ›Gebackenen Maifisch‹ mit wohligen Klängen erfüllt, worauf sämtliche Angestellte des Hauses Harkopp & Söhne den jüngsten Kommis wiederum hatten leben lassen, obgleich Herr Pirrwitt sich ablehnend verhalten und den wagemutigen Redner für einen angesprochen hatte, der willens schien, sein leichtfertiges Schifflein durch die Stromschnellen der Niagarafälle zu gondeln. Trotzdem war er auf Ewert zugeschritten, hatte ihm die Hände geschüttelt und ihn ermahnt, den soliden Grundsätzen der Firma getreu zu bleiben; auch bei vorkommenden Krisen seinen kameradschaftlichen Rat in Anspruch zu nehmen. Er wäre noch aus der alten und gediegenen Schule, stände ihm zu jeder Zeit zur Verfügung . . . eine kleine und wohlgemeinte Dusche, die aber zum großen Teil langsam verebbt und untergegangen war in den Vivatrufen und dem Gläserklingen des festlichen Abends.
Der ausgelegte Köder war aufgeschnappt worden. Die Ovation haftete wie eine Wald-, Busch- und Wiesenzecke, und mit dieser Zecke im Herzen ging Ewert durch den leuchtenden Morgen. Sie ersparte ihm nichts, deutete hierhin und dorthin und stellte ihm Bilder vor Augen, die seine Seele mit einem ganzen Wald voll himmelanstrebender Pläne bevölkerte. Was hatte doch Herr Fleutgen geredet? Ja so: »Heraus aus der Enge! Der Kaufmann als solcher hat nicht an der Scholle zu haften, muß seinen hohen Beruf in großem Stile betreiben. Die ganze Welt ist sein Markt . . .« und diese Worte seines Freundes als Universalmittel hinnehmend, erging er sich in den gewagtesten Kalkulationen. Alles recht schön mit dem Hause Harkopp & Söhne! Treffliche Firma, biedere Grundsätze, beneidenswerter Kundenkreis, Aufträge wie aus der Pistole geschossen! Absolut nichts dagegen zu sagen. Nur: etwas kleinbürgerlich denkend, keine universellen Projekte, keine eigenen Kaffee- und Tabaksplantagen . . . Er hingegen – sein Ziel mußte sich pompöser erstrecken, mehr ins Allumfassende gehen, in die Tiefe hinein . . . ein Betrieb von tausend und abertausend ineinander greifenden Fäden . . . großartige Aufmachung . . . Kontore in Hamburg und Bremen . . . Faktoreien und so . . . Kulis und andere Leute . . . Handelsherren . . . Senatoren . . . und immer so weiter . . .! Unter diesen seligen Gedanken und Betrachtungen war er nach dreistündigem Marsch bis an die Stelle gekommen, wo der Dreifaltigkeitsdeich eine scharfe Schwenkung ins Binnenland machte und einen überraschenden Blick auf seine Vaterstadt in der Niederung gewährte.
Ein mächtiger Zyklop, schob der Kirchturm von Sankt Nikolai seine Ziegelmassen in den stahlblanken Himmel. Mit einer gewissen Herablassung zwinkerte er auf die ineinander geschachtelten Giebel und Dächer, die sich zum größten Teil hinter breitausgelegten Pappelreihen versteckten. Noch waren diese sparrig und kahl, unansehnlich und schmucklos; aber die noch etwas klammen Finger des sonnigen Tages hatten auch sie umschmeichelt und Bast und Borke betastet. Da erwachte das Leben. Ein braungoldiges Flimmern hing zwischen den Ästen und Zweigen, wo schon die Elstervögel sich sputeten, dürre Stecken zuzutragen und ihre Kugelnester zu bauen.
Verloren klang ihr fernes Geckern herüber.
Zur Seite des Deiches, unmittelbar neben der rechten Flanke, dehnte sich ein mit Erlen und Röhricht bestandenes Wehl aus, dessen seichte Ränder bereits zu grünen begannen. Wie ein gigantischer Kristall glitzerte die ruhige Fläche. Darüber wiegte sich ein Weih in zierlichen Schraubenlinien. Ewert sah über das Tief hin. Da gewahrte er . . .
Ein unscheinbares Männchen in Zylinder und braunem Überrock, eine Botanisiertrommel umgelegt, die Beinkleider aufwärts geschlagen, machte sich an einer freien Uferstelle zu schaffen. Etliche Angelruten hatte er ausgelegt. Die Korke mit den bunten Federposen schwammen gleichmäßig auf dem silbernen Spiegel, nur dann und wann ein kaum merkliches Hüpfen vollführend. Er selber mühte sich ab, einen Kescher durch die zarten Rohrspitzen zu ziehen, den Inhalt zu prüfen und ihn wieder zu leeren.
Ewert glaubte den einsamen Fischer zu kennen.
Er verließ die Deichkrone und begab sich hinunter zu ihm.
»Herr Aktuarius!« sagte er leise.
»Mein Gott!« rief dieser, indem er sich wandte. »Sehe ich richtig: Herr Ewert van Dornick?«
»Bin ich, Herr Aktuarius, bin ich noch immer.«
»Dann herzlich willkommen! Potztausend! – und wie Sie sich herausgemustert haben, Herr Ewert! Ordentlich in die Breite gegangen. Und das fröhliche Auge! Gereift an Leib und Wissen! Wird der Vater sich freuen.«
»Glaub's schon,« sagte Ewert mit herzlichem Lachen. »Hier steht's verbrieft und gesiegelt. Seit gestern angestellter Kommis im Hause Harkopp & Söhne.«
»Bravo! Ganz außerordentlich! Das ist ja mit dem Teufel gegangen! Kaum zweiundeinhalb Jahr in Kondition und schon in dieser gehobenen Stellung! Da muß man allerdings sagen: Ut sementem feceris, ita metes. Gratuliere, mein Lieber.«
»Ich danke verbindlichst. Und wie geht's Ihnen, wenn diese Frage erlaubt ist? Noch immer bei Wege?«
»Wie Sie sehen, Herr Ewert: mein Leben ist ein Otium cum dignitate und die Gewohnheit mein angeborenes Wesen. Consuetudo est altera natura, wie der Lateiner behauptet. Ein Tag gleicht dem andern. Bald Freude, bald Mißhelligkeiten. Auf alle Fälle: ich bin meinem Schöpfer dankbar, wenn er mir etwas bietet wie die heutigen Stunden.«
»Ich sehe, Sie angeln,« versetzte der junge Mann mit einem raschen Blick auf die zitternden Korke und Federposen.
»Das allerdings, aber nur im Nebenamt, lediglich, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. In dieser Hinsicht hat mir heute der Zufall etwas Rares beschieden.«
»Und das wäre?«
»Schauen Sie dorthin!« Behutsam deutete er auf das ruhige Wasser, wo sich zwischen keimendem Schwertel und Froschlöffel eine gedrungene, dunkle, ölgrüne Masse mit kolbigen Ruderfüßen bewegte, die sonderbarsten Drehungen machte, um sacht und sanft in die Tiefe zu gleiten.
»Was Sie dort sehen,« fuhr der Aktuarius fort, »ist ein gewandter Schwimmer aus der Kerfenwelt, zur ersten Ordnung der Coleopteren gehörend und in der fünften Familie eben dieser Ordnung unter dem Namen Hydrophilus piceus eine bekannte Erscheinung. Ich betone die ›bekannte Erscheinung‹, sein allgemeines Vorkommen. Sind die Bedingungen günstig, fehlt der drollige Patron in keinem stehenden und gemächlich fließendem Tümpel. Nur das Seltsame ist . . . Schon seit Jahren war ich eifrigst bemüht, seinem Liebesleben und dem, was sich mit diesem verbindet, auf die Spur zu kommen und näher zu treten. Ich suchte vergebens. Erst heute . . . Ich war Zeuge eines interessanten Vorganges, der mich eigenartig bewegte. Werde auch Gelegenheit nehmen, diese meine Beobachtung in einer Fachschrift niederzulegen. Ich sah: die behäbige und ölglänzende Gattin besagten Teichbewohners, der soeben dem Grunde zustrebte, drehte sich vor etlichen Stunden an der Oberfläche des Spiegels vergnügt auf den Rücken und begann ein weißliches Netzwerk zu spinnen, wandte sich hierauf, spedierte den Koken auf die Flügeldecken und begann den zweiten zu weben. Nachdem auch dieser fertig geworden, verband sie beide Teile zu einem niedlichen Säckchen, schob ihre Legeröhre hinein, füllte es bis an den Rand mit zierlichen Eierchen, verschnürte den Ausgang mit etlichen Fäden und krönte das Ganze mit einem allerliebsten seidig glänzenden Hörnchen. Dann ließ sie es schwimmen, das Weitere dem lieben Gott überlassend und auf seine Allmacht vertrauend. Die Wochenstube war fertig.«
»Wie lehrreich,« sagte Ewert.
»Ich war so glücklich,« ergänzte der Aktuarius mit strahlenden Blicken, »die wunderliche Barke mit dem Kescher zu greifen und meiner Kapsel einzuverleiben. Hier ist sie,« und sorgfältig öffnete er den grünen Behälter, aus dem das anmutige und erbsengroße Gebilde aus feuchtem Gras und Algen hervorsah.
»Und nun?« fragte Ewert.
»Seit dem heutigen Tage,« schmunzelte der Forscher, »ist die mütterliche Pflege ausgeschaltet und hinfällig geworden. Das gezeitigte Produkt einer Kerfengemeinschaft, die Frucht eines liebenden Paares aus der Ordnung der Coleopteren hat sich in meinem Aquarium weiter zu bilden, um das zu werden, was die Vorsehung und die Eltern anstrebten. Zu diesem Zwecke werde ich auf dem Boden meines Glaszubers ein Stück Rasenerde versenken, doch so, daß es um etliche Zoll aus der Oberfläche hervorragt – eine niedliche Insel in meinem Zimmerozean, ein trauliches Eiland . . .«
»Und dann?« meinte Ewert zum andern, begeistert von den Auseinandersetzungen des kundigen Herrn.
»Und das Mirakel geschieht,« sprach der Aktuarius weiter, lüftete seinen Zylinder und rückte ihn wieder in seine frühere Stellung, gewissermaßen, um dem Schöpfer dieses Wunders zu danken, »denn siehe: nach vierzehn Tagen wird die seidenfadige Pinasse lebendig. Lärvchen entschlüpfen den Eiern, durchbrechen die Hülle, werden im Laufe der Wochen zu Larven, die sich wie die grimmigsten Piraten benehmen. Nichts ist ihnen heilig. Als gefräßige Haie kreuzen sie durch die Tiefen des gefesselten Meeres, alles verzehrend, alles verschlingend, was ihre gierigen Zangen erwischen, als da sind: Pflanzenreste, Schneckchen und Wasserwanzen – jede Larve ein Behemoth, ein riesenhaftes Untier, ein Schrecken meines Aquariums, bis sie großjährig werden, ihr feuchtes Element verlassen und sich in dem rasigen Eiland verpuppen.«
»Und schließlich . . .?«
»Und schließlich,« fiel der dozierende Herr mit begeisterten Worten ein, »wenn die Tage sich längen, die Kornfelder der Sense entgegenreifen und das Tagesgestirn wie eine Schusterkugel vom Himmel züngelt, wird auch diese Chrysalide lebendig. Von der Wärme gerufen, wie der große Swammerdam sagt, entsteigt auch sie ihrem Grabe, wie die Toten auf den Ruf der großen Sonne der Gerechtigkeit ihre Grüfte verlassen, um als Hydrophilus piceus ein neues Dasein zu beginnen, zu leben, zu lieben und nach getätigter Zeugung in den Himmel der Coleopteren zu kommen. Amen! – Und nun, mein junger Freund, dort werden die Federposen lebendig. Jetzt muß ich allein sein. Zuvor jedoch . . .« und er reichte Ewert die Hand hin. »Wollen Sie mir nicht die Ehre erweisen, Sie und Ihr Vater? Heute Abend gegen neun in der ›Goldenen Kugel‹ . . . Ich möchte doch den jüngsten Kommis im Hause Harkopp & Söhne in gebührender Weise begießen.«
»Aber Herr Aktuarius . . .!«
»Schon gut, schon gut! Also gegen neun am alten Stammtisch. Abgemacht! Keine Einwendungen gelten. Schönste Grüße mit auf den Weg und später herzlichst willkommen,« und damit verabschiedete sich Ewert, noch ganz benommen von der wohlwollenden Aufnahme des jovialen und gütigen Mannes.
Nach viertelstündigem Marsch betrat er das freundliche Städtchen, nicht mehr als Lehrling, sondern als Kommis eines angesehenen Hauses, was ihn veranlaßte, seinen Kopf höher zu tragen und die ihm begegnenden Leute mit einer gewissen Reserve zu grüßen.
»Auch hier sind Filialen zu errichten,« sprach er im Weitermarschieren, »besonders für Kaffee und Zucker, auch ein Verkaufskontor für Inlandprodukte wäre am Platze,« und er bestimmte schon im Geiste die Häuser und Stadtteile, die ihm hierzu für besonders geeignet erschienen. Selbstverständlich alles en gros, mit einem ganzen Generalstab von Korrespondenten, Kalkulatoren, Lade- und Wiegemeistern und allem, was zu einer weitverzweigten Firma gehörte. Mit kleinlichen und unzulänglichen Mitteln durfte man sich überhaupt nicht befassen. Immer nur das Ganze vor Augen . . . das Gesamtbild . . . das Weltumfassende . . . Nur ja kein Verzetteln . . . keine Ellenkrämerei . . . keine Tütchengeschäfte . . . sondern Faktoreien und so . . . Kulis und andere Leute . . . Handelsherren . . . großartige Aufmachung . . . Und diese merkantilen Erwägungen wie fette Ortolane in Butterteig wälzend, kam er an der ehrwürdigen Linde und dem Spitzen- und Wäschesalon von Röschen Jungklaas vorüber.
Hier sah er Nellecke in einem rechts vom Laden befindlichen Zimmer mit Bügeln und Klöppeln beschäftigt. Er bemerkte sofort: sie war allein in der Stube, eifrigst bemüht, die ihr übertragenen Obliegenheiten in sauberster Art und mit der ihr eigenen Geschicklichkeit zu erledigen. Alles ging ihr flott von den Händen. Das Plätteisen klapperte. Ein weißlicher Wasserdampf umstrudelte das emsige Mädchen. Das Köpfchen glühte.
Da packte ihn der Schalk beim Wickel. Wie immer, so saß er ihm auch heute im Nacken. Er trat in den Hausflur, gab Christine, die etliche Kunden bediente, einen vielsagenden Wink, schlich sich auf Zehenspitzen über die betreffende Schwelle, pirschte sich näher heran, und bevor sich Nellecke noch umwenden konnte, lagen ihr bereits die Hände des Bruders vor den Augen – und eine Stimme in den höchsten Fisteltönen klang ihr zu Ohren: »Nun rate: wer bin ich?«
»Mein Gott, wie soll ich?!« stammelte das ängstliche Mädchen.
»Rate!« gebot er.
»Christine!«
»Nein, nein!«
»Die Mamsell!«
»Daneben gehauen.«
»Dann bist du . . .«
»Schön! also wer bin ich?«
»Der Lehrling im Hause Harkopp & Söhne.«
»Viel höher hinauf!«
»Der Ladengehilfe.«
»Viel höher! Meilenweit höher!«
»Vielleicht der Kommis?«
»Ja, der Kommis. Angestellter und salarierter Kommis. Hurra, die Enten!« und Bruder und Schwester fanden sich im Kusse des Wiedersehens und in der Freude der Geschwisterliebe.
»Jetzt aber« – und er schob seinen Arm in den ihren – »Jäckchen an und Häubchen übergezogen! Wir wollen zu Vatern.«
»Ewert, ich kann nicht.«
Er prallte zurück.
»Was heißt das? Weshalb solltest du nicht können?«
»Ewert, seit dem heiligen Drei Königen-Tag bin ich nicht mehr bei ihm gewesen.«
»Warum nicht?«
Große Tränen standen in ihren Augen.
»Ewert, ich darf nicht mehr kommen,« schluchzte sie auf und bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen . . . und sie erzählte ihm alles, was in der entsetzlichen Stunde passiert war. Nichts beschönigte sie, nichts verheimlichte sie. Ihre Enthüllung war wie eine lautere Quelle, ihr Wort ohne jede Erregung. Sie zeigte ihm ihre verkümmerten Tage, ihre schlaflosen Nächte. Mit selbstquälerischer Hingebung wies sie auf die Schmerzen hin, die ihre Seele zermürbten. Sie sprach von Lambert, von Aloys Furtwanger und hatte für letztern nur Worte der Anerkennung und Wertschätzung. Ja – sie bedauerte ihn aus tiefstem Grund ihres Herzens. Mit einem wehen Lächeln beschloß sie die Beichte. »Dies mein Bekenntnis. Was soll ich da machen? So leid er mir tut, so gerne ich ihm alles Gute und Liebe erweisen möchte – es wäre verächtlich, mir selber untreu zu werden. So ist denn das Unglück geschehen. Von Lambert höre ich nichts mehr. Und Vater . . .! Er verbot mir sein Zimmer. Ich darf nicht mehr kommen.«
Die letzten Worte gingen unter in einem verhaltenen Weinen.
Da legte er die Arme um sie her und küßte sie sacht auf die Stirne.
»Nellecke, es wird alles schon werden.«
Als sie aufblickte, hatte er die Stube verlassen.
Nachdenklich schlenderte er über die Grabenstraße. Schon von ferne sah er den weißen Mynheer mit brennender Kalkpfeife vor der Tür des Altmännerhauses stehen. Er hatte vor, ihm einen ›Guten Morgen‹ zu bieten.
Johannes aber wandte sich ab, würdigte den jungen Mann keines Grußes, folgte ihm jedoch, bis er in das Zimmer seines Vaters getreten war.
Vor der Bordschwelle des Kapitäns machte der Alte halt, spitzte die Ohren und horchte.
Zwei Minuten, drei Minuten, vier Minuten vergingen . . . Da lärmte es gegen ihn an: »Ewert, mein Junge . . .! Königlicher Kaufmann und so . . .! Alle Mann an Bord . . .! Topps hoch . . .! Evviva und 'nen Salut für Ewert van Dornick, für das Welthaus Harkopp & Söhne . . .! Hurra! und nochmals Hurra! und zum drittenmal Hurra . . .!«
Terstegen erbleichte. Seine Augen nahmen einen bleiernen Glanz an. Langsam und feierlich kam es von seinen vertrockneten Lippen herunter: »Ihr Hoffärtigen! Hoffart mißt sich nach langer Elle und steckt den Schwanz über das Nest. Ihr Tölpel! geht in euch; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher der Herr kommen wird.«
Ein häßliches Wiehern folgte, scharf und schneidend durchgellte es die langen Flure. Dann ballten sich seine gelben Finger zur Faust, und diese Faust streckte sich der Tür des blauen Mynheers zu.
»Aber sie wollen ja nicht,« knirschte er tonlos. »Und Glück haben die Kerle, Glück haben die Kerle . . .! und dennoch: Lumpenbagage . . .! Lumpenbagage . . .!«
Mit einem kurzen Seufzer verschwand er in seinem Zimmer.
* * *
Kurz vor neun Uhr saß der Inhaber der ›Goldenen Kugel‹, Herr Stäwe Pastores, seines weinerlichen und zugeknöpften Wesens halber auch der ›Plümerante‹ geheißen, in seiner Wirtsstube neben dem blankgewichsten gußeisernen Ofen, in dem noch, des kühlen Abends wegen, ein mageres Feuerchen knisterte.
Um diese Zeit waren die Stammtische verwaist, die Betriebsmöglichkeiten auf den Nullpunkt geraten, so daß Herr Stäwe hinreichend Zeit hatte, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen.
Der Plümerante war ein hagerer, langaufgeschossener Mann, mit einem verkniffenen Küstergesicht, verwehten Augen und Beinen, mit denen er seine Schwierigkeit hatte. Bald drehte er sie schlangenmenschartig um die Stuhlfüße, bald schlenkerte er sie übereinander, bald wieder gefiel er sich darin, sie wie steife Waschhölzer von sich zu strecken.
Das tat er auch jetzt.
Die Hände in den Hosentaschen vergraben, eine lange Pfeife im Munde, beobachtete er das Spiel etlicher Fliegen, die mit seinem Summen um die brennende Hängelampe des mittleren Stammtisches kreisten.
Das Interesse für diese Zweiflügler pflegte er eifrigst, aber nicht aus idealen Gesichtspunkten heraus, sondern lediglich in der Absicht, sein an und für sich etwas langweiliges Schankgewerbe weniger monoton und stieselig zu machen. Die musca domestica, wie sie der Aktuarius nannte, hatte es ihm angetan, und die Schnaps- und Bierkringel, die übriggebliebenen Reste auf Gedecken und Anrichten, die süßen Liköre boten ihm reichlich Gelegenheit, seinem Forschungsdrang die angemessenen Bahnen zu weisen. Die unausstehlichen Begleiter des Menschen machten ihm Freude. Er beobachtete sie, wenn sie unter beständigem Räsonieren an den Scheiben herumturnten, sich langsam und tastend auf einer Käsekruste bewegten, an einem delikaten Milchtröpfchen sogen, sich an heißen Sommertagen auf Sofakissen, Fensterbrett und allen nur möglichen Dingen dem Minnedienst hingaben, um schließlich im Herbst, mit ausgespreizten Beinen, geschwollenem Hinterleib und geringelten Schimmelstreifen an Gardinen und Tapeten zu kleben. Und die bräunlichen Punkte, die sie mit besonderer Vorliebe gegen Rahmen, Spiegel und unbenutzte Teller druckten, gaben ihm Veranlassung, allerlei Namenszüge, Bilder und Wahrzeichen aus ihnen zusammen zu stellen. Doch heute . . . heute erfreute er sich lediglich ihrer munteren Tänze, als die Haustüre aufklingelte, Schritte sich vernehmen ließen und der Herr Aktuarius Furtwanger die Wirtschaft beehrte.
Bei seinem Eintritt schlug es neun von Sankt Nikolai.
»Nanu!« sagte der Plümerante, »so spät noch?« rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Habemus papam!« Erklärte das zierliche Männchen, »und zwar in der Gestalt des jungen van Dornick. Er und der Kapitän werden gleich hier sein. Zur Feier des Tages – drei Bouteillen Gelblack von der nobelsten Sorte!«
»Merci!« versetzte Stäwe Pastores und quittierte die Bestellung mit einem zufriedenen Grunzen, blieb jedoch wie eine abgestorbene musca domestica an der nämlichen Stelle haften, bewegte nur die Kauwerkzeuge und rief über die Schulter: »Heda, Bedienung! Für den Herrn Aktuarius drei Flaschen Langkork, aber vom besten!« um dann wieder mit verkniffenem Gesicht dem Frühlingsreigen der emsigen Fliegen zu folgen, während Herr Furtwanger den mittleren Stammtisch übersah, die Stühle zurechtrückte und mit einem herzlichen »Gratuliere, gratuliere!« auf seine Gäste lossegelte, die noch kaum die Tür hinter sich zugeklinkt hatten.
»Mein lieber Aktuarius . . .!«
»Wird gerne gegeben,« freute sich Aloys, indem er auf die verschiedenen Stühle deutete. »Moritz, nimm Platz, und Sie, Herr Ewert, bitte, an meine linke Seite zu kommen. Aber, Moritz, ich sage dir nochmals: Bei diesem Ereignis . . . bei dieser glücklichen Konstellation der Dinge im Hause van Dornick . . . bei diesem Flug eines Jünglings, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt . . . da kannst du mir schon die Ehre erweisen. Moritz, es ist gerne gegeben.«
»Na, denn! obgleich ich eigentlich den Grundsatz vertrete: der Verzehr ist strenggenommen auf mein Konto zu buchen. Aber dir zu Liebe . . . du als Stammgast in diesem noblen Hause . . . Mag's denn so bleiben. Auf Deck ist der Kaptän Herr über Leben und Sterben, in der ›Goldenen Kugel‹ jedoch bist du der Spendierer.«
Ein beifälliges Hüsteln kam aus der Richtung des gußeisernen Ofens.
Da wandte sich Moritz.
»Blexem und Donnder! Plümerante, auch noch zu sprechen? Was machen die Fliegen? Selbstverständlich, ich sehe: alles mobil und in bester Verfassung,« und während er noch dabei war, dem trefflichen Wirt etliche anerkennende Worte über sein Aussehn, seine gediegene Küche und vorzüglichen Weine zu sagen, hatte der Aktuarius bereits die erste zugebrachte Flasche entstöpselt, die Siegellackrestchen entfernt, die Gläser gefüllt und seine Gäste nochmals gebeten, es sich bequem und gemütlich zu machen.
Das geschah denn auch, und nun saß Moritz an dem behaglichen Stammtisch, im Kreise lieber Menschen, verschönt von dem milden Schein der Rübsenöllampe, die sichtlich alles aufbot, ihrem Licht einen besonderen Glanz zu verleihen. Mit Recht, denn der Träger des Namens van Dornick hatte es sich nicht nehmen lassen, im Galaschmuck eines richtig gehenden Kapitäns zu erscheinen – im blauen Jackett, mit vergoldeten Ankerknöpfen, die Abzeichen seiner Würde auf der linken Ärmelstauche, in weißen Beinkleidern, die Rettungsmedaille im Knopfloch, kurz, so ausstaffiert wie bei früheren Festlichkeiten, woselbst er als Kommodore des Schiffes ›Maria, sei mit uns‹ zu repräsentieren hatte.
Der Wein leuchtete wie böhmische Granaten in den Gläsern, umflügelt von einer weihevollen Stille, die sich zum Aktuarius beugte und ihm zuflüsterte: »Bereite dich vor. Du hast eine Rede zu halten,« was Moritz veranlaßte, seine Rechte sanft und sacht auf die ausgestreckte Hand seines Gönners zu senken, sie dort wohlwollend liegen zu lassen und sich mit der Bemerkung an Ewert zu wenden: »Rührend, nicht zu überbieten, die Sache! Menschenfreundliche Anwandlungen, wie nicht mehr zu finden. Ewert, was ich dir sagte . . . Habe ich dir etwa zu viel in den Ohren gelegen? Habe ich Recht oder Unrecht? Ist Nellecke nicht rein des Teufels geworden? War es nicht korrekt von mir, dir in dieser Beziehung die Augen zu öffnen, dir den Star zu stechen, dich wieder sehend zu machen? Ist der Herr Aktuarius nicht 'ne Seele von honetter Gesinnung, gut und weise und, im Gegensatz zu den beiden Terstegens, edel und hilfreich, würdig und wert . . .?«
»Meine Herren!«
Unter atemlosem Schweigen, nur sanft unterbrochen durch den näselnden Ton der summenden Fliegen, die noch in alter Weise ihren Ringelreihen-Rosenkranz tanzten, erhob sich der Aktuarius räusperte sich und klingelte so hell an das Kelchglas, daß selbst der Plümerante aufmerksam wurde und sich bewogen fühlte, die Löffel zu spitzen.
»Moritz und mein lieber Herr Ewert! Dem Hause van Dornick ist Heil widerfahren, Heil im wahrsten und schönsten Sinne des Wortes, denn wisset: als ich heute in aller Herrgottsfrühe auszog, dem Hydrophilus piceus näher zu kommen, und das seltene Glück hatte, Zeuge seiner intimen Liebesaffären, seiner ehelichen Pflichten und kunstfertigen Bestrebungen zu werden, kam mir zuerst die exquisite Botschaft zu Ohren, die Veranlassung gab, uns zu dieser Stunde in der ›goldenen Kugel‹ vereinigt zu wissen . . . und ich muß offen erklären, diese Botschaft ist mir lieber gewesen als die Freude, Licht in die bisher umdunkelte Kinderstube des Hydrophilus piceus zu tragen. Meine Herren! um mich eines Vergleiches zu bedienen . . . das menschliche Leben und besonders das eines Kaufmannes ist der Metamorphose der Coleopteren vergleichbar. Das Ei ähnelt dem Stift, die Larve dem Lehrling, und ist sie größer geworden, dem Herrn Kommis. Gelangt sie in den Zustand der Puppe, so haben wir es mit dem latenten Stadium zu tun, in welchem der Handelsbeflissene so recht noch nicht weiß, ob er berufen ist, als selbständiger Chef auf die offene Meerflut zu steuern, oder sich verurteilt sieht, im engen Thekenbetrieb sein Dasein weiter zu fristen. Bersten hingegen die Hüllen . . . doch ich komme hierauf noch später zu sprechen. Meine Herren!« – und der Redner zupfte seine Vatermörder etwas mehr in die Höhe – »leider, leider! meinem Lebensschifflein blieb es versagt, die offene See zu gewinnen. Das Geschick wollte es so und gebot ihm, in stagnierendem Wasser zu kreuzen. Sie kennen meinen Werdegang. Nachdem ich das Universitätsstudium hinter mir hatte und mich anschickte, magna cum laude in das juristische Amt eines Auskultators zu schlüpfen, wurden mir die Flügel beschnitten. Widrige Umstände veranläßten mich, mein Ziel tiefer zu schrauben, und ich war doch berufen . . .«
»Natürlich warst du berufen!« rief Moritz so triumphierend über den Tisch fort, daß der Plümerante am gußeisernen Ofen erschreckt die Waschhölzer einzog. »Natürlich warst du berufen! Das Amt eines Appellationsgerichtspräsidenten wäre dir sicher gewesen. Das Zeug dazu hattest du dreifach und zehnfach.«
Springinsröckel winkte mit einem verlegenen Lächeln ab.
»Das nicht, mein Lieber. Mein Flug war niedriger gedacht. Mit der Stellung eines bescheidenen Friedensrichters wäre ich schon zufrieden gewesen. Aber auch diese Hoffnung und diesen Wunsch mußte ich wehen Sinnes begraben, mußte in die Subalternkarriere hinein, um Leiden zu stillen und Tränen hinweg zu nehmen. Und dennoch klagte ich nicht und verzweifelte nicht, war vielmehr dem Schicksal noch dankbar, durch das, was ich hatte und was ich mir zu erwerben vermochte, der ehrenwerten Jungfer Beiderwand das lange Siechtum erträglicher und leichter zu machen.«
»Bravo, bravissimo!« schrie Moritz, und er war nahe daran, dem Aktuarius um den Hals zu fallen und ihm einen Kuß auf die Wange zu pulvern. »Das ist Nächstenliebe und edles Menschentum! Gott verdammich noch mal! so was müßte der Dechant von der Kanzel predigen, auf daß es alle vernähmen, aber auch alle; auch der weiße Mynheer und der Lehrer in Obermörmter da hinten.«
»Keine Ovationen für mich,« versetzte der Aktuarius mit gütiger Handbewegung. »Das ist nicht der Zweck meiner Rede. Ich wollte nur sagen: mein Lebensschifflein hatte keine fröhliche Ausfahrt, mußte sich damit begnügen, im seichten Binnenwasser die Segel zu stellen. Sie aber, mein lieber Herr Ewert . . . der Sproß einer gediegenen Familie, in der auch ein weibliches Wesen . . .«
»Ja, man frisch von der Leber herunter,« unterbrach ihn der begeisterte Kapitän. »Da ist noch Nellecke da . . . und Nellecke ist auch nicht so ohne . . . und Nellecke, obgleich wir uns beide zurzeit auf regulärem Kriegsfuß befinden, kann Ansprüche machen . . . hat das Ihre gelernt . . . ist wie'n appetitliches Gürkchen . . . und überhaupt so . . . Aber man weiter. Das findet sich später.«
»Sie aber, mein lieber Herr Ewert,« fuhr der Aktuarius fort, »haben als angestellter Kommis des Hauses Harkopp & Söhne alle Anwartschaft darauf, die offene See zu gewinnen – das Meer – das gewaltige Weltmeer. Noch befinden Sie sich im Zustand der Larve, harren der stillen Verpuppung . . . dann aber« – und die etwas schüchterne Stimme des Sprechenden machte nun auch ihrerseits eine Metamorphose durch, nahm zu an Schönheit und Wohlklang, wurde zu einem Piston, das das mit trefflicher Akustik begnadete Wirtslokal mit hellem Geschmetter erfüllte – »dann aber, und des bin ich sicher: in nicht allzu ferner Zeit werden Sie das latente Stadium hinter sich haben; die Puppenhülle durchbrechen, um als Hydrophilus piceus, das heißt, als wagemutiger, unternehmender und imponierender Chef die eigene merkantile Laufbahn zu betreten – sich selber zu Nutz, dem hochverehrten Vater zur Freude, den Kollegen zur Nacheiferung. Ut Deus bene vertat« – und der Aktuarius erhob sein bis zum Rande gefülltes Kelchglas, das wie ein liebewundes Herz blutete, und hielt es Ewert entgegen – »der Kommis im Hause Harkopp & Söhne, der angehende Reeder, der Kaufherr in spe, der zukünftige Besitzer von Kaffee- und Zuckerplantagen – er lebe!«
»Mensch, diese Rede!« schrie Moritz, »Mensch, dieses Wissen! Das war ja, um alle Anker zu lichten und in eigener Person in die Familie van Dornick zu steuern!« und die Gläser klangen zusammen . . . und sie stießen an auf Ewert . . . auf Moritz . . . auf den, Aktuarius . . . Selbst der Plümerante verließ seinen gußeisernen Ofen, brachte ein Glas und eine ›Spendierpulle‹ zu, wie er sagte, beteiligte sich an der allgemeinen Verbrüderung, um gleich darauf wieder seinen früheren Platz einzunehmen und mit frischem Interesse dem Ringelreihen der pläsierlichen Fliegen zu folgen.
Das Eis war gebrochen. An Stelle der gehobenen trat eine animierte und mehr familiäre Stimmung. Wie mit Rosengirlanden rieselte es von der verräucherten Decke auf den mittleren Stammtisch nieder. Das Schanklokal der ›Goldenen Kugel‹ wandelte sich in einen Raum der Freude und des bacchantischen Genießens. Après nous le déluge! Selbst das Licht brannte heller, strahlte mit bengalischem Zauber. Die verrinnenden Stunden schienen wie glückliche Kinder auf einer blumigen Frühlingswiese zu tanzen. Die erste, die zweite, die dritte Bouteille wurde geleert, und als die vierte entkorkt und eingeschenkt wurde, drückte Moritz den Wunsch aus, einen Kantus steigen zu lassen. Er feuerte seinen Vorschlag denn auch durch einen nachhaltigen Schluck an und sang begeistert das Lied ›von der schönen Agathé‹, die sich in ihrem eigenen Blut wälzte, schließlich aber alle Hindernisse besiegte, 'nen flotten Juristen freite, Kinder gebar, acht Kinder kurz hinter einander, und glücklich wurde für die Zeit ihres Lebens.
Schon während des Absingens der letzten Strophe war Ewert merkwürdig insichgekehrt und verschlossen geworden. Sein Kopf glühte. In nervöser Hast zwirbelte er an seinem schmächtigen Bärtchen herum, als sei er gesonnen, jedes einzelne Härchen aufzumuntern, länger zu werden. Sein Blick irrte ab. Bald war er beim gußeisernen Ofen, wo der Plümerante die Beobachtung aufgegeben hatte und sich als nasaler Symphoniker betätigte, bald bei der Theke, bald bei den Schildereien, die, mit Fliegenpunkten behaftet, die Wände der ›Goldenen Kugel‹ verzierten. Endlich bohrte er mit seinen Blicken nadelfeine Gänge in die Platte des Stammtischs.
Moritz zwinkerte denn auch dem Aktuarius zu, was andeuten sollte: »Jetzt kommt der Glanzpunkt des Abends. Ich kenne doch den Sohn von Moritz van Dornick. Der hat Grütze im Kopp und Mumm in den Knochen. Gleich schießt er los, gibt alles Segeltuch her und läßt sich nicht lumpen.«
Und Ewert ließ sich nicht lumpen.
Beherzt fuhr er hoch, strudelte sich mit der Hand durch die Haartolle, heftete die Augen fest und gediegen auf den Herrn im braunen Leibrock und sagte: »Herr Aktuarius, im Wein ist Wahrheit. Das habe ich gestern Abend im ›Gebackenen Maifisch‹ erkundet, obgleich es nur Bier gab. Schon vorher hatte mich der Chef des Hauses Harkopp & Söhne in geziemender Weise gefeiert; im ›Gebackenen Maifisch‹ hingegen . . . Herr Pirrwitt brachte erst Schwung in die Sache, und als der Korrespondent der bedeutenden Firma, Herr Fleutgen, sich los ließ, da war es unmöglich, mit trockenen Augen sitzen zu bleiben. Die Festivität war groß, erhaben, über alles Erwarten. Ihre Rede jedoch und die heutige Feier . . . Herr Aktuarius, wie heißt doch der Käfer?«
»Hydrophilus piceus.«
»Ja, Hydrophilus piceus! Der sei mein Leitstern. Ich werde mir Mühe geben, diesem Käfer nachzueifern, werde bestrebt sein, gleich diesem wasser- und flügeltüchtig zu werden, Faktoreien zu gründen, mich als Grossist zu bewähren und dem Namen Ewert van Dornick als großzügiger Kaufmann Respekt zu erzwingen, wo es auch sei, daheim und im Ausland.«
»Donnerschlag und kein Ende!« fuhr Moritz dazwischen. »Ewert, mein Junge . . .!« und er machte Miene, mit gebreiteten Armen seinen Liebling an seine blaue Jacke und die vergoldeten Ankerknöpfe zu ziehen.
»Vater, ich bin noch nicht fertig . . . Und Sie erst, Herr Aktuarius! Ich weiß, was in Ihrem Inneren vorgeht, und weiß auch, daß sich Nellecke in 'ner schweren Prüfung und 'nem traurigen Zustand befindet. Aber offen gestanden: noch vor wenigen Stunden bin ich ganz eins mit meiner Schwester und Lambert Terstegen gewesen. Der heutige Abend indessen . . .«
Er kam nicht mehr weiter.
»Bravo!« rief Moritz und wuchtete sich schwer in die Höhe. »Ganz meine Ansicht. Das heiß ich doch, direkt ins Schwarze getroffen. Und Nellecke, Ewert! – und so was will freien . . . will in die Schulmagisterkarriere hinein . . . wo ich, der Kaptän von ›Maria, sei mit uns‹, und du, der Kommis vom Welthaus Harkopp & Söhne . . . Gibt's nicht, mein Junge! Man sollte ja den unbewußten Menschen aus Obermörmter auf 'nen Hasen schmieden und als 'ne Art von Mazeppa dem Gespött der Welt überlassen. Hier steht der Mann!« – und er deutete mit majestätischer Pose auf Aloys Furtwanger, der sprachlos und mit aufgerissenen Augen in seinem Binsenstuhl lehnte und des Glaubens war, die Decke käme herunter. »Hier steht der Mann! Aktuarius a. D. . . . studierter Beamter . . . Jurist . . . pensioniert und alljährlich tausend Taler noch extra . . . Ewert, jetzt deine Meinung, aber offen und ehrlich.«
»Vater, erst noch ein Gläschen, und dann will ich reden.«
Natürlich! Selbstverständlich! Prosit! und jetzt deine Meinung.«
»Vater!« – und Ewert goß sein volles Glas hinter die Binde – »Vater, ich kann mir nicht helfen, aber das muß ich sagen: Aloys Furtwanger for ever!«
»For ever!« bestätigte Moritz. »Er und Nellecke – hoch sollen sie leben!«
»Mein Gott, mein Gott!« stammelte der Aktuarius, und dennoch war es ihm so, als würde er von rosigen Engeln ins Nirwana gehoben.
Der Kapitän trat an seine Seite. Väterlich legte er ihm den Arm um den Nacken.
»Zeit bringt Rosen,« sagte er leise. »Hoffen wir, warten wir. Keine Übereilung, mein Lieber, aber wenn sich die Stunde erfüllt, dann alle Flaggen hoch und die Anker gelichtet. Bis dahin müssen wir uns auf Vorposten legen. Der Himmel wird lächeln,« und dann rief er in Richtung des gußeisernen Ofens, aber mächtig und wie durch ein Sprachrohr hindurch: »Plümerante, die fünfte Gelblack, aber diesmal für mein eigenes Konto.«
Da erhob sich der Inhaber der ›Goldenen Kugel‹ aus schweren Träumen, schlurfte der Theke zu und brachte die fünfte Bouteille.
* * *