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Zweites Kapitel

Von einer kleinen niederrheinischen Stadt und einer hochbetagten Linde, die aussah wie eine burgundische Prinzessin. Was sie alles gesehen und erlebte von Anno dazumalen, wo sie noch jung war und die schöne Herzogin Mechthild, unter Flöten- und Viola di Gamba-Begleitung, einen getragenen Schleifer mit dem vielehrsamen Bräuer- und Schöffenmeister Jodokus ter Linden zu Rathaus tanzete, bis zum heutigen Tage, wo der Verfasser dieses und der Herr Sigismund Mendel ihren wohligen Duft einatmeten.

Flieder und Goldregen waren abgeblüht, aber die Nachtigall sang noch am alten Wallgraben, und sie sang Tränen, Kantilenen, Seufzer, Stimmen der Liebe, die sie wie leuchtende Perlen über eine Seidenschnur streifte.

Ihr heißes Herz war voller Andacht und Weihe.

Ebenso erging es der hochbetagten Linde, die mitten auf dem Marktplatz der kleinen niederrheinischen Stadt ihre stattlichen Äste verzweigte. Sie sang nicht, aber sie säuselte, wobei sie heimelig dachte: »Jetzt ist deine Stunde gekommen,« und siehe: sie schmückte sich über und über mit rahmweißen Spitzen und Schleiern wie eine burgundische Prinzessin zur Zeit der schönen Maria, als diese mit dem Erzherzog Max ihre Hochzeit beging und die Glocken von Brabant und Flandern ihr den Willekomm sangen. Ach, wie sie grünte und blühte! und da stießen sich die Leute an, steckten die Köpfe zusammen und sahen mit Scheu und Wohlgefallen auf das Wunder der Wunder.

»Heelmoi!« sagte Juffer Petronell van der Grinten, die dem stattlichen Baum schräg gegenüber einem Manufakturwarenhandel vorstand und gerade dabei war, ein delikates Korinthenbrötchen in ein Schälchen mit Kaffee zu tauchen.

Dieselbe Ansicht mochte auch der Schuster Kogeleboom haben, denn er knarzte ein kräftiges »Pumpös!« durch die Zähne und sagte damit alles, was seine Seele bewegte.

Mit dem kleinen Wörtchen ›pumpös‹ verkörperte und verquickte er die höchsten Spitzen seiner Gefühle und Anschauungen. ›Pumpös‹ waren für ihn die Einrichtungen der christkatholischen Kirche, die Leber- und Blutwürste eines gemetzelten Schweines, das glatte Wegputzen der Eckbauern beim Ewaldi-Kegeln, die Zeremonien bei einem Leichenbegängnis erster Klasse und, last not least, die frischen Reitermanöver des Generals Friedrich Wilhelm von Seydlitz, der jetzt, in Stein gehauen, neben der blühenden Linde paradierte, den Mantel gerafft, den Pallasch gefaustet und das feurige Soldatenauge gen Westen gerichtet.

Ach! und da drüben ... da stand der Herr Ladendiener Nöllecke Baumann auf der Türschwelle seiner Firma, fingerte sich durch die eingeschmutzte Haartolle, ließ bei dieser Gelegenheit seinen Siegelring im warmen Sonnenlicht aufleuchten und legte den Kopf auf die Seite.

»Magnifik!« sagte er leise und dennoch so deutlich, daß alle es hören mußten, die sich in seiner Nähe befanden.

Herr Nöllecke Baumann deuchte sich höher und feiner als seine ehrenwerten Mitbürger. Das konnte man ihm auch keineswegs verdenken, war er doch auf der humanistischen Leiter bis zur Quarta gestiegen, hatte die Welt gesehen und im heitern Brüssel zwei ganze, volle, ausgewachsene Monate bei einem dortigen Delikatess'- und Vorkosthändler konditioniert, schien also wohlberechtigt, einen stolzeren Bildungsgang als seine simplen Brüder in der engern Heimat in Anspruch zu nehmen. Kein Wunder somit, daß er außer einigen kleinen, graziösen, allerliebsten belgischen Flegeleien auch das imponierende ›Magnifik‹ und den ersten Vers der Marseillaise ›Allons, enfants de la patrie‹ in seine Geburtsstadt und die des Reitergenerals Friedrich Wilhelm von Seydlitz verpflanzte, denn Nöllecke Baumann wäre kein richtiggehender, entschlossener und energischer Deutscher gewesen, hätte er nicht die Tugend seines Volkes gehabt, alles Fremdländische, auch das dümmste und dämlichste, vollgültiger auszumünzen und in Kurs zu setzen als die Sitten, Gebräuche und Einrichtungen des eigenen Landes. Ja, der Ladendiener Nöllecke Baumann wußte, was sich gehörte und was er der deutschen Nation schuldete, und so stand er denn da, fingerte sich durch die eingeschmalzte Haartolle, ließ seinen Siegelring im warmen Sonnenlicht leuchten und drehte ein langgezogenes, belgisches und imponierendes ›Magnifik‹ über die Lippen. Nur zu selbstverständlich, denn die prächtige Linde, die aus ihrem flandrischen Klöppelwerk eine verschwenderische Fülle von levantinischen Aromen über die kleine Stadt, die benachbarten Wälle und Wiesen hinwölkte, verdiente diesen begeisterten Ausruf auch im reichlichsten Maße. Welche Stadt in den Kreisen Rees, Kleve und Geldern konnte sich rühmen, ein solch stattliches Lebewesen innerhalb ihrer Mauern zu bergen? Keine. Welches pflanzliche Geschöpf hatte schon so viel des Erhabenen, des Ruhmreichen, des Heitern und Traurigen, des Stolzen und des Bedrückten gesehen wie dieser Baum aller Bäume? Keines. Alles und jedes an ihm war gut und löblich und forderte heraus, mit preislichem Lautenschlagen besungen zu werden.

Schon viele Jahrhunderte waren über ihn fortgerauscht. Denn eine alte, ehrwürdige Chronik besagte: »Im Jahre des Herrn, da man zählte nach Christe Geburt 1490 und am Tage Oculi, dem Tage also, wo gemeiniglich die Vögel mit den langen Gesichtern heimwärts streben und in unfern Quergestellen, Holzungen und Waldblößen mit gesenkten Stechern zu pfuitzen beginnen, da geschah es zum Wohlbelieben und zur Freude einer aufatmenden Menschheit, daß unser erlauchter Herr und Gebieter, der Herzog von Kleve Johann II., mit seiner hohen Gemahlin Mechthild, die ihm als Morgengabe die halbe Grafschaft Katzenellenbogen zugebracht hatte, unser Weichbild beehrte, um sich in solenner Art huldigen und feiern zu lassen. Das Wüllenamt zog ihm mit Bungen und Posaunen entgegen, desgleichen die Fraternität des heiligen Antonius, die Wappensticker und Siegelschneider, die Patronatsherren der Crispinus- und Crispinianusgesellschaft und andere mehr, und vom Hof op gen Born aus, unter dem Namen Burginatium vielbekannt und gepriesen, woselbst die VI. Legion ( legio VI. victrix, quam comitata fuit ala equitum) in altersgrauen Zeiten stationiert war, läuteten ihm und seiner schönen Gefährtin fünfundzwanzig vollgemessene Kartaunensalven einen ehrerbietig-feierlichen Gruß zu. Am Abend desselben Tages war Tafel zu Rathaus. An dreißig gespreiteten Tischen ließen sich die Geladenen nieder. Als Traktationen wurden verzehrt: 2 Ochsen, 6 Kälber, 11 Spanferkel und 16 Hammel, die man deliziös aufgeschmort hatte, des ferneren: 75 Kapaunen und Enten und eine Fülle sonstigen Geflügels aus dem fürstlichen Reichswald, nicht zu gedenken des edlen Rheinsalms, den man schwimmen ließ im Wein von Rauenthal und in köstlichem Pfälzer. Cantores würzeten das Mahl mit dem getragenen Liede vom ›Löffeln‹. Hierauf tanzete die hohe Frau unter Flöten- und Viola di Gamba-Begleitung einen langsamen und getragenen Schleifer mit dem vielehrsamen Brauer und Schöffenmeister Jodokus ter Linden, der hierüber so stolz und hoffärtig, aber auch so elend und tiefsinnig wurde, daß er bis zu seinem gottwohlgefälligen Ableben allen Ernstes wähnte, seine Tänzerin, also die fürnehme Mechthild, des Herzogs erlauchte Gemahlin, zweimal guter Hoffnung gemacht zu haben. Früh am Morgen des nun folgenden Tages begannen wieder die Bungen und Posaunen zu rufen und die Geschütze von den Wällen zu lärmen, denn die herzogliche Gnaden hatten befohlen, zum ewigen Angedenken eine junge Linde inmitten des Marktes zu pflanzen. Und also geschah es unter Glockengeläut, dem Vivatrufen des zugeströmten Volkes und dem freundlichen Wehen der Banner und Fahnen, die von allen Giebeln der umstehenden Häuser ein gar artiges Spiel trieben. Unter solchen Solennitäten marschierte man auf, salutierte man und hieß man die Aufgebotenen sich ordnen, als da waren: gefürstete Grafen und Barone, Junker und Würdenträger des Festes, Ratsherren und Neuner, und war alles von bunten Fahnen und schönen Frauen getempert. Und als sich nun das Bäumchen frei in die Lüfte erhob, das Wurzelwerk sich auch sorglich in dem Erdboden verzweigte, trat plötzlich der schon besagte wohlehrsame Bräuer und Schöffenmeister Herr Jodokus ter Linden, strahlenden Gesichtes und versonnenen Geistes, auf die etwas bleiche Herzogin zu, machte ihr einen devoten Baselemanes und sagte mit glücklichen Äugelchen: »Na, Mechthild, wollen wir mal so 'nen ›Kleinen‹ um die Linde riskieren?« worüber groß Aufsehen entstand, solches aber behoben wurde, da die freundliche Fürstin lächelnd abwinkte und meinte: »Jetzt nit, mein lieber Jodokus. So etwas ist nit alle Tage zu haben und wird nur auf dem städtischen Hause exekutieret. Ihr müßt Euch gedulden. Übers Jahr aber komme ich wieder, da mag es geschehen. Hilft mir Gott dazu, will ich's Ihm doppelt wiedergeben,« und war damit die etwas heikle und gefährliche Sache geschlichtet, denn der Herzog hatte bereits seinen Hatschieren gewinkt und zu wiederholten Malen mit den schwarzen Eisenkacheln gerasselt. So schmunzelte er denn und sagte zu seiner Guardia: »Wie das Mensch ist, so ist auch das Maß,« und ließ ihn gewähren. Herr Jodokus ter Linden jedoch ging beseligt nach Hause und freute sich des kommenden Jahres, wo er aufs neue befohlen werden sollte, mit der hohen Frau einen langsamen und getragenen Schleifer zu tanzen. »Dann sollen's Drillinge werden,« äußerte er sich des öfteren in seinem sinnigen Zustand und ist auch darüber eines glücklichen Todes und des unwandelbaren Glaubens verstorben, in seiner Person das Weiterblühen der klevischen Herzöge gefördert zu haben. Das Wort aber: »Na, Mechthild, wollen wir mal so 'nen ›Kleinen‹ um die Linde riskieren,« ist von Stund an beim Volk im Schwange geblieben.«

So die Chronik.

Der eingesenkte Baum aber wurde mit den Jahren größer und größer, immer höher und freier, und die Winde spielten mit seiner dichten Krone, harften darin wie mit Zauberhänden, und die Vögel der Lüfte kamen und sangen in seinen Zweigen von Leid und Freude, von Sehnsucht und Auferstehung, und war der Lieder, des Jubilierens und des Blühens kein Ende. Und was sah und hörte die ehrwürdige Linde während ihres langfristigen Lebens nicht alles! Sie sah die alten Meister der Schnitzerschule und die von der Sankt Lukas-Gilde in Kalkar, so unter anderen: den gefeierten Derick Boegert, der den Annen-Altar baute, Jan Joest, den Illuminierer der Tafeln, Ewert von Monster, Kersken Ringenberg und den gewaltigen Heinrich Douvermann, so die sieben Schmerzen Maria verkörperte, wie sie in den Abendlanden kein Bildner geschaffen. Sie hörte die spanischen Trommeln durch die Stadt rasseln, vernahm die kroatischen Sackpfeifen unter Graf Isolan und sah Blut und Brand, Pestilenz und Hungersnot und betrübte, armselige Zeiten ... und sie sah den Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz ... und auch den Schreiber dieses ... und den Herrn Notarius Baptist Napoleon Jean Pierre Lenz ... und die beiden Gebrüder Spier, Elias und Maier, die in niederrheinischem Vieh und Landesprodukten machten, die Bundeslade, Moses und die Propheten verehrten und einmal in der Woche einen opulenten Sauerbraten mit Rosinensauce verspeisten ... und sie sah deren Kommis und Nevö, den Herrn Sigismund Mendel, den schönen Sigismund Mendel, der die Hauptkommissionen der Firma unter sich hatte, das Kontobuch führte und bei seiner Arbeit immer Zimtborke kaute, um einen angenehmen und wohlriechenden Atem zu haben.

Sigismund stand in hohem Ansehen in der ganzen Gemeinde, bei Christenmenschen und Judenmenschen. Jeder kannte ihn, jeder liebte ihn, denn er war gefällig und gütig, aufmerksam und zuvorkommend, und weil er eine angenehme Stimme besaß, bei vorkommenden Gelegenheiten sogar in der Synagoge als Sänger fungierte, hielten die Bürger der kleinen Stadt es für angemessen und zeitgemäß, ihm einen gebührlichen Titel beizulegen, um doch ihrerseits etwas zu tun, ihm ihre Wertschätzung zu zollen, und das führten sie auch tapfer und sinnfällig aus und nannten ihn – ›Piepmösch‹.


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