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Anderen Tages saß Säkchen Reiß auf seinem hohen Drehstuhl, baumelte mit den Beinen herum und vertiefte sich in die Geheimnisse der glitzernden Eisblumen, die der Winter mit der Kunst eines Kleinmalers auf den Fensterscheiben entworfen hatte, als an die Kontortür geklopft wurde und auf das gelispelte »Herein!« des Herrn Kontoristen sich die beleibte Persönlichkeit Henne Terlindens in die Stube bemühte. Nachdem die Formalitäten des Begrüßens ihre Erledigung gefunden, begab sich Säkchen Reiß zu seinem Prinzipal ins Nebenzimmer und erstattete Meldung.
»Herr Süßkind, der Herr Bäckermeister Terlinden bittet um die Ehre, Sie sprechen zu dürfen.«
»Schön,« sagte Sally ohne Arg und jeden Nebengedanken, kaute wie in Gedanken an seinem Nelkenstengel herum und stand in Überlegung, ob er diesen notorischen Gegner des Verschönerungsvereins freundlich begrüßen oder ihm gegenüber eine mehr oder weniger imponierende Reservestellung einnehmen sollte – als sich auch schon der Säbelbeinige einstellte und ihm so recht dicknäsig und von oben herab einige Zettel langgestreckten Formats unter die Augen versetzte. »Herr Süßkind, haben Sie das unterschrieben?« fragte er so recht tief aus seinem Brustkasten heraus, zog sein Taschentuch aus der Hose und begann einen kräftigen Tusch in die blaubedruckte Fahne zu blasen.
Sally wollte vor Schreck in den Boden versinken.
»Herr Terlinden ...!«
Dieser brachte sein Taschentuch wieder an Ort und meinte mit dem gleichgültigsten Gesicht von der Welt: »Na, Herr Süßkind, wie steht es?«
»Wie soll's schtehn, Herr Terlinden?«
Sally hatte seine Fassung verloren.
»Ich bitte, Herr Süßkind ...«
»Was is zu bitten?! – 's stimmt! – Es sind meine Wechsels, un ich hab' sie geschrieben mit meine eigene Handschrift. 's stimmt, Herr Terlinden.«
»Und am ersten kommenden Monats werden sie fällig,« kam es wieder dicknäsig aus dem Munde des gläubigen Mannes.
»Un Sie, Herr Terlinden?«
»Na, was denn?«
»Wie kommen Sie zu meine Wechsels, zu meine eigenen Wechsels?«
»I, den Zackerzucker noch mal! – wie schon der Name besagt: von einer Hand in die andere. Das ist so Mode bei solchen Papieren – und nur als gutmütiger und prompter Geschäftsmann wollte ich ein übriges tun und nicht verfehlen, Sie von der veränderten Sachlage in Kenntnis zu setzen. Aber am ersten: Geld auf den Tisch – und nur gegen Kassa. Herr Süßkind, wenn Sie mich wieder gebrauchen ... ich heiße Henne Terlinden, Großer Markt Nummer fünf, neben dem Rathaus.«
Und damit ging er, stellte dabei aber sein lustiges Beinwerk so kraus durcheinander, daß der Nelken-Sally des Glaubens sein konnte, die Gehpotentaten seien gewillt, sich wechselseitig vom Oberkörper zu säbeln.
Das war doch infam von dem Manne! – Großer Markt Nummer fünf, neben dem Rathaus ... Als wenn er das nicht wüßte, nicht schon lange gewußt hätte.
»Das is Tusch!« sagte Sally. »Er hat mir gehohnepiepelt for die Gewalt mit die Wechsels!« griff in die Hosentaschen hinein, als müßten sich dort harte Röllchen mit abgezählten Friederichsdors und sonstige Schätze verbergen, fand aber keine und warf sich daher, in Erkenntnis der gänzlichen Öde und Leere, mit einem schweren Seufzer in eine Ecke des Sofas.
Und der Mittag ging unter Harren und Bangen dahin, und die Nacht kam mit achtzehn Grad Kälte und einem ganzen Heer von blitzenden Sternen, und als am anderen Morgen die Turmuhr elfmal in dumpfen Lauten über die verschneiten Giebeldächer hinausbrummte, da stand Säkchen Reiß am Kontorfenster und ritzte mit einer scharfen Packnadel den Namen ›Rosalie Leifmann‹ in die gefrorenen Blumen. Es war ein pläsierliches Tun, und Säkchen freute sich über die gelungene Arbeit. Er hatte gerade einen schwungvollen Schnörkel darunter gezogen, als Aloys Pierentrecker ihn mit einem Diener beehrte und sich in höflichster Weise nach seinem Prinzipal erkundigte. »Is hierneben,« meinte der Herr Kommis, »ich werde mal nachsehn.«
Und mit denselben Worten wie gestern meldete er die Ankunft des neuen Besuches.
»Herr Süßkind,« also begann er, »der Herr Schnittwarenhändler Aloys Pierentrecker is draußen un bittet um die Ehre, Sie besuchen ßu dürfen.«
»Schön,« sagte Sally, aber dieses ›Schön‹ hatte einen verteufelten Beigeschmack, klang anders als gestern, sollte was anderes bedeuten und vorstellen, und brachte den armen Produktenhändler rein aus dem Häuschen.
Vor den Blicken Sallys begannen die Tapetenmuster zu tanzen. Polka, Schottisch, Mazurka – alles wirbelte bunt durcheinander, bis schließlich beim Eintritt des Schellfischs das Ganze in einer feierlichen Polonaife vorbeidefilierte.
Aloys sah sehr wehmütig aus. Er teilte sich in die Eigenschaften eines bösen Kanins und eines dämlichen Hammels, obgleich das Hammelartige zur Zeit noch den Hauptbestandteil seines Verhaltens ausmachte. Aber jedes hat seine Zeit, auch bei Aloys, und die Nücken eines giftigen Kanins sollten noch früh genug in den Vordergrund treten. Zuvörderst aber begnügte er sich mit der Einfalt des Hammels und sagte: »Herr Süßkind, ich habe hier so'n kleines Geschäft mit Ihnen zu machen und möchte mir daher die Frage erlauben, ob Sie beispielsweise diese Unterschriften als die Ihren erkennen?«
Es war ungefähr dieselbe Frage, die ihm am Tage zuvor durch Henne Terlinden gestellt worden, nur fehlte ihr das Selbstgefällige und Protzenhafte in der Art und Weise des Vorbringens, sie war bescheiden gehalten und wurde in einem fast mitleidigen Tone gesprochen.
Für Sally jedoch hatte sie dieselbe Bedeutung, und als ihm der Schellfisch mit süßsaurem Lächeln noch die ominösen Zettel näher präsentierte und ihm zu verstehen gab, daß dieses nur aus purer Nächstenliebe und der Ordnung wegen geschähe, da konnte sich der Ärmste nur noch mit knapper Not an seinem Zylinder-Bureau halten, denn die Beine versuchten unter seinem Leibe alle zu werden.
»Un diese Wechsels, Herr Pierentrecker ...?!«
»Ist die Unterschrift richtig, haben Sie das hier geschrieben: tausend Taler, vierhundert und nochmals vierhundert?«
»'s stimmt, es is alles so richtig un wahrhaftig geschrieben wie Gottes Sonnenschein da draußen. Aber ich bitte Ihnen, wie sind Sie ßu meine Wechsels gekommen?«
»Beispielsmäßig durch Zufall, durch puren Zufall, Herr Süßkind.«
Das waren nun ausgestunkene Lügen, konnten dem Vorbringer derselben nicht weiter gefährlich werden, hatten aber anderseits die verflixte Kraft in sich, Sally in tausend Ängste und Nöte zu jagen. Er kam sich vor wie ein eingekesselter Hase. Von allen Ecken und Enden wurde geknallt und gepfeffert. Die besten Haken und Seitensprünge wollten nicht mehr verfangen. Vergebens raste er von einem Ende des Kessels zum anderen. Überall Treibergeschrei und spritzende Schroten. Aber hier – hier glaubte er durchbrechen zu können. In verzweifelten Sätzen jagte er vorwärts, galoppierte aber gegen den säbelbeinigen Bäcker, der ihm in aller Gemütsruhe einen panischen Schrecken auf seinem blaubedruckten Sacktuch in die Ohren trompetete. Also kehrt marsch und auf die andere Seite! – Ja woll – und daneben gesprungen! Hier stand Aloys auf Posten und hielt ihm seine doppelläufige Flinte in Gestalt eines schweren Wechsels entgegen. Keine Rettung, kein Ausweg!
»Maimemmelochem!« rief Sally. »Aber, Herr Pierentrecker, was sollen die Wechsels?«
»Nichts von Bedeutung, Herr Süßkind; ich wollte mir nur die Frage erlauben, ob Sie sich vielleicht schon jetzt in der angenehmen Lage befinden, die Scheine gegen Kassa zu nehmen. Sie müssen nämlich wissen, daß ich beabsichtige, Terrain zu kaufen und junge Birken auf demselben zu ziehen, um sie später um Gottes willen in den Dienst der Prozession und der heiligen Kirche zu stellen. Nur so ist dem liberalen Treiben ein Schnippchen zu schlagen, und Sie können daher verstehen ...«
»Herr Pierentrecker, nich möglich,« stammelte Sally.
»Nicht?«
»Es geht nich, beim besten Willen – es geht nich.«
Aloys kesselte enger, und das Gesicht bereitete sich vor, den dämlichen und frommen Hammelausdruck mit dem eines bissigen Kanins zu vertauschen.
»Nicht? – Aber ich dächte einem famosen Geschäft, einem soliden Kaufmann gegenüberzustehen?«
»Bin ich, bin ich!« bestätigte Sally.
»Dann sollte ich doch annehmen müssen, daß beispielsmäßig hier diese Wechsel ...« »Herr Pierentrecker, die sitalen Konjunktionen mit's Korn, mit die Mäuse und sonstwie ...«
»Hm, hm, hm,« meinte der Schellfisch.
Das Hammelartige war beiseite geworfen.
»Aber am ersten ...?«
»Herr Pierentrecker, ich bitte um Ausstand.«
»Sie?–Um Ausstand?–Von wegen der Wechsel? – Von mir?«
Aloys lachte, daß die Scheiben zu klirren begannen. Es war ein infames Lachen, ein scheußliches Lachen, ein Lachen, das Sally aller Besinnung beraubte.
»Herr Pierentrecker, was soll das?!«
»Was das soll und bedeutet?« grinste der Schellfisch. »Beispielsmäßig bezahlen oder Reugeld geben – aber feste, Herr Süßkind.«
Aloys hatte den Kopf aus seinem niedrigen Kragen gezogen.
»Aber feste, Herr Süßkind!« schrie er noch einmal. »Früher wurde mir die Krawatte enger gezogen und der Polizeidiener Brill in den Pelz gesetzt. Jetzt sind Sie an die Reihe gekommen. Bezahlen sollen Sie, daß Ihnen die Hose zu eng wird – am ersten, am ersten – Sie und Ihr netter Freund, der Balbierer ...!«
»Herr Pierentrecker, ich bitte Ihnen, lassen Sie Herrn Pittje ßufrieden.«
»Den?!« lachte der Schellfisch. »So'n Waschechter, so ein in der Wolle Gefärbter, der nichts weiter kann, wie unterm Spriegel poussieren und beispielsmäßig nachher das arme Wurm sitzen läßt, daß sie auf und davon geht! – Dem wird heimgezahlt bis auf den letzten Heller und Pfennig – dem wird das Fell über die Ohren gezogen – dem wird der Brotkorb höher gehangen ...!«
Bei den letzten Worten wurde Sally wütig wie selten. Ihn faßte der Heldenmut seines Volkes. Sally Süßkind war zum Makkabäer geworden.
Er riß die Tür auf.
»Herr Reiß,« rief er mit übergeschlagener Stimme, »wimmeln Sie bitte hier diesen auf die sogenannte Straße nach draußen – for die Gewalt un von wegen, weil er den Herrn Stadtrat Pittje beleidigt!«
»Ich geh' schon,« meinte der Schellfisch, »aber am ersten ... Herr Süßkind, ich habe die Ehre, wie Sie allezeit sagen.«
Sally befand sich allein in der Stube, warf sich aber nicht verzweifelt ins Sofa, sondern brach eine weiße Blüte vom Nelkenstock, der neben anderen auf seinem Zylinder-Bureau überwinterte.
Es war eine schneeweiße Nelke – das Zeichen der Trauer.
Er sah sie bewegt an.
Jetzt war alles fix und fertig geworden; kein Titelchen fehlte.
Pleite! –
Die Begegnung Sallys mit Henne Terlinden und Aloys Pierentrecker war natürlich kein Geheimnis geblieben. Es war wie ein Spatzengerufe. Von der Futterkiste vertrieben, schilpten es diese schwatzhaften Straßenbummler bald vor allen Türen und Fenstern – und wer Ohren zum Hören hatte, der hörte. Säkchen, der sich durch die Herzhaftigkeit seines Volkes im allgemeinen und durch den betätigten Makkabäermut seines Prinzipals im speziellen angesteckt fühlte, übermittelte es semmelwarm an Rosalie Leifmann, stellte sich dabei in die passende Heldenbeleuchtung, konnte aber bei diesem Bericht zu seinem größten Leidwesen nicht umhin, das ominöse Wort ›Pleite‹ fallen zu lassen. Also Sally war pleite. Bei Rosalie war diese Nachricht in den richtigen Händen oder vielmehr in dem richtigen Mundwerk. Von ihr gelangte sie anderentags, und zwar über Frau Schuster Kogeleboom, Jüllecke Henseler und Juffer van der Grinten hinweg an die rechte Adresse – und da wußte Pittje Pittjewitt, was er zu tun hatte. –
Das Unglück ist ein eigenes Ding. Vor dem tiefen Weh, mit dem es umhergeht, machen auch die übelsten Nachreden und die bittersten Zungen Halt, und die Leidenschaften gemeiner Bosheit verkriechen sich vor ihm wie vor einem bissigen Hunde. Sally Süßkind wurde plötzlich bedauert, und Pittje – obgleich die Annahme, er habe Kathje jämmerlich sitzen lassen, sich immer tiefer in die Denkungsweise der Menschen hineinfraß – wo er auch anpochen mochte, er fand wieder freundliche Gesichter und offene Herzen, aber, leider Gottes, und zwar in Anbetracht der betrübten Zeiten, nur geschlossene Hände. Selbst der sonst so splendide Leygrafenhöfer entschuldigte sich, ließ aber durchblicken, daß er später nicht abgeneigt sei, helfend unter die Arme zu greifen, momentan aber seien die Speziestaler so rar wie frische Radieser, aber in halbjähriger Frist, um Johanni vielleicht, ließe sich möglicherweise die Sache bereden – und damit ging Pittje bekümmerten Herzens von dannen. Einen Trost nahm er mit, allein dieser Trost war wurmstichig wie Fallobst, konnte nichts nützen, vertröstete auf spätere Zeiten, wenn sich das Wasser verlaufen, brachte somit kein Fettmännchen weiter – und Sally steckte bis über die Ohren in Schwulitäten und Nöten, konnte jeden Moment umkippen und einen Purzelbaum schlagen. Und er, Pittje, war schuld an dieser ganzen Misere, und wenn auch der mit Sally betätigte Akt den Zahlungstermin erst auf den vierundzwanzigsten Juni festgesetzt hatte, hier standen Ehre und Nächstenliebe auf dem Spiel – und somit, wenn auch alles aus Fugen und Leim ging, bezahlt mußte werden, und dementsprechend beschloß Pittje zu handeln.
Er ging zu Wilm und teilte diesem in längerer Auseinandersetzung seinen wohlüberlegten Entschluß mit. Als er geendet hatte, da drehte sich der Schreinermeister auf die andere Seite und sah nachdenklich, obgleich da gar nichts Bemerkenswertes zu beaugenscheinigen war, in das alte Glasspind hinein. Die große Porzellankanne, die bemalten Kaffeetassen aus Großvaterszeiten konnten ihn doch nicht viel interessieren. Das taten sie auch keineswegs; seine Seele war anderswo.
»Pittje...!«
Er schluckte die Tränen herunter, wandte sich halbwegs und meinte: »Ich melle gehorsamst, das is nobel von Dir, das is mehr als nobel gehandelt. Pittje, versteh' mir« – und er mußte mit aller Forsche sein Schluchzen verbergen – »wenn ich mir in 'ner andern Assiette befände, denn könnte ich sagen: was kostet Frankreich, ich will es bezahlen. Aber bei meiner pekuniären Verfassung – ich kann doch nich aus Sägemehl un Hobelspäne Reichstaler machen? – Das is es ja eben, das is ja das Malör hier unten: die's nötig gebrauchen können, die haben's nich, un die's nich nötig gebrauchen, die haben's – un darum, wenn's auch miserablicht schwer wird, geh' nach Sally un tu es.«
»Das will ich,« sagte Pittje mit fester Betonung.
»Für diese Nobilität wird Gott Dir belohnen,« fuhr Wilm Henseler fort, »denn alle Nobilität geht musmaßlich nich unbedankt beim lieben Herrgott vorüber. Un die Halunken, die jetzt Oberwasser bekommen, kriegen auch mal vom Düwel den richtigen Modder ins Maulwerk gestochen. Un nu geh' nach Sally un melle gehorsamst, wie nobel Du sein willst, trinke aberst vorher noch zu Deiner Stärkung 'nen Nußlikör, denn für so was is Jülleckes Schnapsdestille von fachmännischer Wirkung. Pittje, ich will ja Dein Bestes.«
Als Pittje Pittjewitt kurz darauf an dem zweifenstrigen Häuschen mit den grünen Jalousien vorsprach, wurde er von Säkchen empfangen.
»Wahrhaftigen Gott, der Herr Stadtrat!« dienerte Säkchen. »Nein, die Ehre, Herr Pittje! – Wollen meinen Herrn Prinzipal wohl so'n bißchen aufmunterieren? Das is liebreich von Ihnen!« und damit komplimentierte er den angenehmen Besuch in das Privatgemach seines Herrn. Leise, leise schloß sich die Tür – und leise wurde da drinnen gesprochen.
Und was da drinnen verhandelt wurde, das hat nur das alte Sofa gehört, Sallys Zylinder-Bureau und der leere Papierkorb – die konnten nicht weinen, aber wäre da noch ein dritter zugegen gewesen, dem wäre das Herz abgestoßen worden vor lauter Jammer und Trübnis. Und dann wurden die Stimmen da drinnen lauter und lauter, bis Sally schließlich in die weinerlichen Worte ausbrach: »Herr Pittje, so wahr mir Gott helfe, ich tu's nich un will's nich! – Sie rungenieren sich for die Gewalt mit sehenden Augen. Was is Ihnen an mir, an so 'nem kleinen un armseligen Juden gelegen?! – Un denn: was wird sagen Ihre liebreiche Mutter ßu die ganze Geschichte?!«
»Die?!« fiel ihm Pittje ins Wort. »Was die sagen wird, Sally?! – Kennen Sie meine Mutter genauer?«
»Gott, ob ich sie kenne, Herr Pittje!«
»Na, Sally, dann denken Sie ganz ruhig das Ihrige und machen sich Ihren eigenen Vers auf die Sache. Ich habe mich abgefunden mit mir und dem, was da ist. Das alte Licht ist ausgepustet, ein neues muß angesteckt werden. Das dauert ja was – aber, Sally, ich warte. Und nun machen Sie keine weiteren Worte – denn, Sally, es bleibt so.«
»Herr Stadtrat...!«
Aber Pittje war bereits aus dem Hause gegangen, und als er dann abends bei seiner Mutter saß, ganz sacht und behutsam ihre zitterige Hand nahm, als er ihr dann alles erzählt hatte, da war es mit einmal, als sei der Tod durch die Stube gegangen. Mutter Pittjewitt saß regungslos zwischen den Binsen; dann riß sie die Augen auf und sah nach der Tür.
»Angtree!« Sie hatte deutlich gerufen.
»Weißt Du,« fuhr sie mit schwacher Stimme fort, »wenn der jetzt käme, an den ich gedacht habe, dann wäre ich schon über so manches hinweg. Wie Du das aber zu machen gedenkst, so ist das richtig, mein Junge. Es wird mir ja schwer werden, aus dem Hause zu müssen, wo ich schon mit Vater selig gelebt hab' – allein, was hilft das und nützt das! – Du darfst Sally nicht in der Ungelegenheit lassen. Sorge Dich man nicht um mich. Soviel wird Dir ja immer noch bleiben, mich ehrlich begraben zu können, und langt's nicht, dann kann's auch nicht allzu schlimm werden, denn Dein Freund Wilm wird die paar lumpigen Bretter noch erübrigen, die ich gebrauche. Und Du? – Um Deinetwegen ist mir nicht bange im Leben und Sterben. Du wirst Deinen braunen Gehrock und den feinen Zylinder schon in Ehren verschleißen. So, Pittje, jetzt rück' man ein bißchen heran; es wird mir so grau vor den Augen und so schwer in den Füßen. Hörst Du das, Pittje? – Wie das plaudert im Ofen! – Da erzählen sie sich alte Geschichten... alte Geschichten... alte Geschichten...«
Und dann am andern Tage ging der Herr Polizeidiener Brill mit seinem karmesinroten Kragen, seinen blankgeputzten Augen und eine große Messingschelle in der Hand führend von Straße zu Straße. An allen Ecken und dort, wo sich Menschen befanden, blieb er stehen, rührte die Schelle und rief mit hallender Stimme: »Privatim und nicht von Amts wegen tue ich kund und füge hiermit zu wissen. – Am fünfundzwanzigsten im jetzigen Monat läßt Herr Pittje Pittjewitt, Barbier, Schweinestecher und Leichenbitter dahier, zugunsten Sally Süßkinds, Produktenhändler, gleichfalls in hiesiger Stadtgemeinde domiziliert, sein in der Kesselstraße gelegenes und mit der Nummer acht bezeichnetes Wohnhaus nebst Ziegenstall und Hofraum öffentlich und an den Meistbietenden auch unter der Taxe verkaufen. Eventuell werden auch Hausgeräte und Möbels, wie Tische und Stühle, ein Glasspind, Kaffeetassen und Bettzeug und dergleichen andere Sachen öffentlich zum Verkauf angeboten. So geschehen und ausgerufen durch mich und privatim.«
Also bis dahin war schon das Unheil gediehen?! Man hätte annehmen sollen, die alte Linde, die auf dem Großen Markt stand, wäre beim Anhören dieser Botschaft abgestorben vom Wipfel bis zu den Wurzeln herunter, und die Not- und Feuerglocke auf dem Rathaus da droben müßte von selber zu läuten beginnen, um aller Welt zu verkünden, wie es um Pittje und sein sauer Erworbenes stände. Aber nichts von alledem geschah. Die Leute kamen und gingen wie an gewöhnlichen Tagen, die alte Linde reckte sich in ihrem Schnee- und Kristallschmuck so stur und stramm in die Höhe, als wollte sie noch für die Ewigkeit leben, und die Feuerglocke da droben blieb stumm, als sei ihr die Zunge aus dem ehernen Munde herausgeschält worden. Alte Geschichten ... alte Geschichten...!
»Bim, bim, bim!«
Der Herr Polizeidiener Vrill war weiter gegangen. –
Alles nahm seinen regelrechten Verlauf. Am fünfundzwanzigsten fand der Verkauf statt. Pünktlich kamen die Liebhaber, pünktlich stellte sich der Herr Auktionator mit seinem fadenscheinigen Protokollführer ein, und die Angebote erfolgten. Aber der Leygrafenhöfer sollte recht behalten: die Speziestaler waren rar wie frische Radieser geworden. Weit unter der Taxe erfolgte der Zuschlag. Nur lumpige achtzehnhundert Taler preußisch Kurant – und Henne Terlinden blieb der glückliche Käufer.
Pittje hielt sich an einem Stuhl fest; er mußte sich stützen.
Mitleidig sah ihn der Auktionator an; seine stumme Frage wurde von Pittje verstanden.
Er nickte.
Also – die Möbel waren an die Reihe gekommen.
»Ein Glasspind – wer bietet?!«
Man merkte dem Auktionator die tiefe Bewegung an, als er das erste Hausgerät unter den Hammer brachte.
»Zwei Taler!«
»Drei Taler!«
»Vier Taler!«
»Und fünf...!«
»Vier Taler fünf Groschen!«
»Und fünf...!«
»Vier Taler zehn Groschen!«
»Vier Taler zehn Groschen – zum ersten...!«
In diesem Augenblick steckte Wilm Henseler sein Gesicht durch die Tür.
»Pittje, ich bitte Dir für einen Momang mal herüberzukommen. Deine Mutter hat Dir noch etwas zu sagen.«
Und als Pittje hineinkam, da saß seine Mutter im Lehnstuhl, still, zufrieden, und ein feines Lächeln spielte um ihre friedlichen Züge. Der Kopf mit dem weißen Haar war ihr auf die Seite gesunken.
»Pittje, ich bitte Dir, verhalte Dir ruhig. Sie hat nichts gemerkt; es is ihr leicht geworden. – Pittje, mein Pittje...!«
Und nun stand das arme Pittje da bei seiner Mutter, die nicht mehr sehen konnte, die nicht mehr hören konnte – die stumm war. Und er mußte gewahren, wie ihm alles fortgetragen wurde, was er einstens besessen – und nicht mal die schmale Diele, worauf er stand, war sein eigen geblieben.
Mit der Hand fuhr er sich über das bleiche Gesicht, er verwischte die Tränen – und er sah lange, lange in den schönen Winterabend hinaus, der von draußen hereinkam. Lange, lange...
Und also geschah es ...
Es sind die eigenen Worte Pittje Pittjewitts, die ich in seinen krausen Notizen und Aufzeichnungen vorfand. Bis hierhin, wenn auch genau nach dem mir übergebenen Manuskript, hat meine Feder erzählt und geschildert. Ich habe, wie schon anfangs bemerkt, mit großer Wehmut geschrieben; von Zeit zu Zeit war allerdings der Schalksnarr nicht ganz zu vermeiden. Er rümpfte das putzige Näschen, klingelte mit den lustigen Schellen und lachte: »Hier bin ich! – Jantje Klaas, Jantje Klaas!« – Nun aber mag Pittje selber berichten. Wörtlich gebe ich den Inhalt der zuletzt beschriebenen Blätter. Und also spricht Pittje:
»Und nach drei Tagen zog ich meinen Sonntagsrock an, hatte aber den Flor um den Zylinder vergessen. Das wurde mir besonders verübelt, und vornehmlich von solchen, die bei ähnlichen, traurigen Begebenheiten nicht nur einen Flor um den Hut, sondern außerdem noch einen recht breiten um den Oberarm legen, wo es ihnen doch besser angestanden hätte, einen solchen um Herz und Nieren zu binden – aber die gingen leer aus. Und so habe ich denn meine liebe Mutter ohne Trauerflor zur letzten Ruhe begleitet. Die Erde möge ihr leicht werden, bis zur Auferstehung dereinstmals. –
Ich habe oft bei Großwasserzeiten auf dem Leedeich gestanden, wenn die gefräßige Stauflut die steilen Böschungen fast bis zu zwei Drittel Höhe benagte. Und so stand ich wieder darauf, als das erste Frühjahr nach meiner Mutter gottseligem Sterben die große Überschwemmung ins Land brachte. Und wie ich so kucke, da arbeitet es sich aus der lehmigen Krone. Große Erdklumpen wurden gehoben, dann kam ein schnuppernder Rüssel zum Vorschein, zwei mächtige Grabschaufeln folgten, dann zeigte sich ein sammetartiges Fell und gleich darauf ein veritabler Maulwurf – wagte sich aber der steilen Böschung zu nahe, und der arme Kerl, der nur gewohnt war, sein Tagewerk unter Licht und Grund zu betreiben, plumpste ins Wasser. Na, dachte ich, nun ist's alle mit dem Biedermann im schwarzen Sammetjackett, denn das Wasser hatte eine steife und handliche Strömung und trieb ihn deichabwärts. Aber wie ich so stehe und das dumme Geschick des prächtigen Burschen besinne, da kommt das mit einmal und in aller Forsche gerudert; mein Maulwurf war zum Seemann geworden, verstand seine Grabschaufeln trefflich als Riemen zu nützen, brachte sich glücklich an Land, und bevor ich's so richtig bedachte, war er mit seinem properen Pelz schon wieder in Sicherheit und in seine frischgegrabene Röhre verschwunden. Nun konnte er weiterleben und sein Tagewerk von vorne beginnen. Na – und was so'n armseliger Maulwurf vermochte ... Ich war auch ein so ins Wasser Gefallener – und wenn ich auch nicht gewohnt war, unter Licht und Boden zu schaffen, ich nahm mir den fidelen Kerl doch zum Vorbild, schwamm ans Land, begann die Hände zu regen und wunderte mich eines Tages, daß Gottes liebe Sonne noch immer so schön war wie damals, als mir das Unglück noch nicht so schwer auf dem Nacken gelegen.
In all dieser Zeit hörte ich nur einmal von Kathje. Ein Nagelschmied, Fritz Derkum mit Namen, ließ sich hier eines Tages nieder und lebt noch bis dato schlecht und recht als ein Mann, der sein Handwerk gelernt hat, in hiesiger Kirchengemeinde. Er war von der holländischen Grenze gekommen und zeigte einen notariellen Akt vor, kraft dessen er sich als Besitzer des Puppenspielerhäuschens auszuweisen vermochte. Der zog nun ein; die Läden wurden geöffnet, die Wände bekamen 'nen frischen Anstrich, die Esse begann Feuer zu spucken, und vom frühen, hellichten Tag an bis in den dunklen Abend hinein amüsierte sein munteres ›Pinkpink‹ die ganze Umgebung. Dieser erzählte nun, daß Kathje mit einer holländischen Familie über das große Wasser gegangen. Er brachte noch Grüße von ihr; auch für mich war einer darunter. Mehr wußte der Mann nicht – und so ist's stille von Kathje geworden.
Ihr Gesicht rückte mir immer weiter und weiter. Gras wuchs über die ganze Geschichte, und was hier unter meinem Schemischen genagt und gefressen, das verlor sich allmählich, bis ich wieder aufatmen konnte und der Alte geworden: Pittje, das lustige Pittje, Barbier, Schweinestecher und Stadtrat – und so ist das auch bis vor kurzem geblieben.
Mein Geschäft kam wieder in Schwung, und wenn ich auch meine liberalen Ideen vertrat, denn ich war immer der Meinung gewesen, man sollte die trüben Kerzen der überkirchlichen Quiselei auspusten und dafür die hellen Lichter der Vernunft auf die Leuchter placieren, so bin ich doch gut beiwege mit allen meinen Mitbürgern und Kunden geblieben. Und Gottes Sonne strahlte immer schöner vom Himmel. Der Leygrafenhöfer hielt Wort, Sally Süßkind rappelte sich wieder aus seiner Bedrängnis empor, seine Produkte wurden nicht mehr von Mäusen geschroten und vom Hagel zertöppert, er machte Geschäfte – und als dann um die Mitte der sechziger Jahre Henne Terlinden ›Rips‹ ging, konnte ich mit meinen Freunden sagen: Gott segne den Eintritt! – denn ich hatte wieder mein altes Häuschen erstanden. Und Wilm Henseler kam, nahm die Hacken zusammen und sagte: »Pittje, ich melle gehorsamst, daß ich mir erlaubt habe, Dir mit einem neuen Glasspind unter die Augen zu treten.« Und als ich einzog, da riefen Christen und Juden: »Hurra!« und »Fifat!« – Der Herr Polizeidiener Brill hatte seine neue Montur angezogen und empfing mich in Gala, und der Schuster Kogeleboom, der mittlerweile aus einem Saulus ein Paulus geworden, ließ zur Ehre des Tages dreimal drei Böllerschüsse verknallen. Und so lebte ich denn hin, scheinbar gesegnet von Gott und geliebt von den Menschen.
Die geschändeten Birken hatten Nachwuchs bekommen. Mit jedem Jahre trieben sie leuchtenderes und schöneres Grün, und ihre silberweißen Stämmchen stehn jetzt wie Preußische Soldaten im Gliede. Und die große Zeit 70 und 71 ging gewaltig vorüber. Und die achtziger Jahre kamen und die neunziger Jahre; sie kamen und gingen ...
Da, am fünfundzwanzigsten November 1902: Kathje ist wiedergekommen – verlassen von allen. Sie wollte sterben, wo sie ihre Jugend verlebte.
Kathje ist wiedergekommen! – Herr Gott im Himmel! – Nun wurde aufs frische in die vernarbte Kerbe gehauen – und so was kuriert sich nicht wieder. Mein Kopf und mein Elend! – Und nun sagen sie wieder, nun sagen sie wieder ... und ich wollte doch schweigen, mußte doch schweigen Kathjes und ihrer Ehre zuliebe, solange sie lebte. Und die Leute müssen es doch schließlich wissen, daß ich es nicht war, der sie ins Elend gestoßen. – Wiedergekommen, um zu sterben, wo sie ihre Jugend verlebte ...! Lieber Gott, steh mir bei in diesen Tagen der Prüfung! –
Und dann am achtzehnten Dezember desselbigen Jahres: am heutigen Tage ist Kathje Peerenboom bei den barmherzigen Schwestern gestorben. –
Gott gebe ihr die ewige Ruhe. Amen.«
Pittje, was Du gewollt hast – hier steht es. Dir und Deinem späteren Angedenken zuliebe habe ich diese Geschichte aus Deinem Leben geschrieben. Du sollst sie hören, und daher: ich komme.
Und bis dahin – Gott befohlen, mein Pittje!