Joseph Lauff
Pittje Pittjewitt
Joseph Lauff

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III.
Was nun?

Regungslos saß Jan an der Drehbank. Seine Augen feuchteten sich, seine Blicke stierten verschleiert ins Leere, als müßten sie in die Vergangenheit schauen.

Jan war bewegt.

Nur noch ein spärliches Dämmerlicht drang von draußen in die Stube hinein. Vereinzelte Schnitter gingen vorüber. Ein warmer Heuduft ging von ihnen aus, gepaart mit dem starken Geruch, der den in der heißen Sonne arbeitenden Männern entströmt. Noch immer tönte das verschlafene Rauschen der Pappeln herüber, dem sich das scharfe Rieseln und Wetzen des Schilfrohres gesellte, an dessen Spitzen sich um diese Zeit bereits die braunsilberigen Wedel entfalteten. Zeitweilig ließ sich auch der scharfe, markante Ruf der Schilfdrossel vernehmen. Nicht weit von seinem Garten, der sich bis zu den dichten Rohrbeständen erstreckte, hatte sie ihr verfilztes Nest kunstvoll mit etlichen starken Halmen verflochten. Beutelartig hing es inmitten der harten und glasigen Stengel, und Jan Peerenboom sorgte ängstlich dafür, daß keine unberufene Hand störend in diesen Nestbezirk eingriff. Er liebte diesen scheuen Vogel und stand auf vertraulichem Fuße mit ihm. Immer intensiver verwoben sich die Abendschatten dem blau austapezierten Zimmer, auf dem eine tiefhängende, weißgekalkte Balkendecke erdrückend lastete; aber trotz des starken Dunkelns ließ der Sommerabend noch hinreichend Licht eindringen, das seltsame Gerümpel des Puppenspielers leidlich erkennen und unterscheiden zu lassen. Da hingen, standen oder baumelten sie nun, alle die geheimnisvollen Dinge und toten Gerätschaften, die den ganzen Stolz und den Hauptbesitztitel Jan Peerenbooms ausmachten. An gespannten Schnüren, unmittelbar am Deckengesimse, reihten und drängten sich die Holzpuppen in den vertracktesten Stellungen, und zwar von dem berühmten Jantje Klaas bis zur ehrenwerten Genoveva und dem fatalen Ritter Golo herunter, alles Gestalten, die in der Puppenkomödie eine Hauptrolle spielten. Jetzt schliefen sie alle, streckten die steifen Arme und Beine von sich und träumten von der niederrheinischen Kirmeszeit, während welcher ihr Herr und Meister durch seine erstaunenswerte Fingerfertigkeit ihre Glieder belebte und unter richtiger Ausnutzung seiner Eigentümlichkeit als Ventriloquist sie in die Lage versetzte, mit Fistelstimmen, in sonoren Tönen, in Gutturallauten oder mit der Grundgewalt des Basses zu sprechen. Ahnungsvoll dämmerte schon jetzt diese lustige Zeit für sie herauf, denn es war so, als wenn sie sich plötzlich leise bewegten, als wenn sie im Vorgeschmack der kommenden Tage die Stielaugen streckten, auf Jan Peerenboom stierten und ihn fragend ansahen, ob's noch immer nicht losginge. Aber es ging noch nicht los. Nur ein neidischer Windhauch strich über sie fort, brachte ihre starren Gelenke in eine ungeschickte Bewegung, so daß sich die unförmlichen Holzköpfe merklich berührten.

»Klipperklapper!« machten die Puppen.

Ein kantiges Ungetüm, mit gestreiftem Drell überzogen, stand der Komödienkasten in einer Ecke des Zimmers. Kathje hatte ihn mit buntem Flitter, mit leuchtenden Sonnen und Sternen aufgeputzt, eine Ausschmückung, die noch durch grellfarbige Papierfähnchen erhöht wurde, wenn ihr Vater in das geheimnisvolle Machwerk hineinkroch, mit ihm über Land zog und hinter den simpelen Kulissen, Versatzstücken und Soffiten seine Rühr- und Spektakelstücke der gaffenden Menge vorsetzte. In Grieth, Marienbaum, Emmerich und Moyland, kurz in der ganzen Umgegend, war Jantje Klaas mit seinem Komödienkasten, mit seinen Puppen und Schnurrpfeifereien ein gern gesehener Gast, dessen launige Einfälle auch dem tollsten Griesgram die krampfhaftesten Lachsalven abzwangen. Das jetzt so friedlich, einsam und weltvergessen in der Ecke stehende Holz- und Drelltheater hatte schon die lustigsten Tage gesehen und konnte von den pudelnärrischsten Dingen erzählen. –

Kathje blieb lange.

Noch immer saß Jan in tiefer Betrachtung, wobei ihm allerdings die drohende Subhastation die wenigsten Kopfschmerzen machte. Er dachte vielmehr an seine Kinder, an Kathje und Nikodem – und hierbei gefiel er sich, in die Vergangenheit unterzutauchen, eine Gedankenexkursion, die durch das träumerische Pappelgeflüster und Rohrgesäusel auf das trefflichste unterstützt wurde. Ja – Jantje Klaas war im Geist mit verklungenen Tagen beschäftigt.

Er sah sich mit seinen Puppen über Land ziehen. Heiß brannte die Sonne vom Himmel; ihre Glut zitterte über die wogenden Kornfelder, aus denen das brennende Rot des wilden Mohns mit scharfem Kontrast hervorknallte. Jenseits derselben tauchte der Gnadenort Marienbaum auf. Da war Kirmes, und schon von weitem klang das Lärmen der Tanzmusik herüber. Eine Ammer schrillerte am Wege. Sonst achtete er darauf – heute nicht. Er war zu sehr mit sich und Nellecke Otten beschäftigt, die, in Marienbaum beim Ortsvorsteher bedienstet, ihn nach dem Abendläuten im Tanzzelt erwartete. Ein schöner und frischer Kerl wie er war, hatte er entschieden Glück bei den Weibern. Alle hatten sich in den Puppenspieler vernarrt, sie fraßen ihm aus der Hand, wie er sagte, er ulkte mit ihnen, er schwor ihnen ewige Treue, um sie dann wieder laufen zu lassen. Aber Nellecke hielt ihn beim Kittel und ließ ihn nicht wieder. Sie brauchte sich hierzu auch keine besondere Mühe zu geben, denn sie hatte ihm's angetan mit ihrem schmucken Gestell, mit dem Kaffeebraun ihrer Augen und dem Prächtigen Haar, das wie reife Weichselkirschen flimmerte, wenn die Sonne darauf spielte. Zudem war sie eine Puppenspielernatur wie er – zu Scherzen und Faxen aufgelegt, aber auch mit dem leichten Mut behaftet, das ihn auszeichnete. – Der Schweiß perlte von seiner Stirne, als er sich mitten im Kirmestreiben befand und unter einer breiten Linde seinen Kram installierte. Ums Abendläuten war er im Tanzzelt – und da kam sie daher, schnellatmend, mit wogender Brust und geöffneten Lippen, und als er mit ihr dahinflog, preßte sie ihn, daß ihm der Atem verging. Nellecke kicherte. Er verstand sie und zwinkerte pfiffig. Der Tanz war zu Ende. Die Musikanten drehten ihre Instrumente um und ließen die überschüssige Kraft ihres hineingeblasenen Hauches aus den Schallöchern träufen. Um die primitive Kerzenkrone flirrte und wirbelte der Staub und beengte die Brust – und da draußen war es so frisch und taukühl, und die Sterne waren aufgegangen am Himmel. – Schwer hing Nellecke am Arm ihres Geliebten. Sie zog ihn hinaus – und da lag die Nacht in unendlicher Klarheit. Die Weizenfelder wogten und rauschten bis dicht an das Tanzzelt heran. Ein Sehnen und Locken und ein geheimnisvoller Liebestaumel ging verschwiegen durch die ganze Natur. Die beiden gingen weiter und weiter und verloren sich schließlich im hohen Getreide. Als sie umschauten, lag die Stelle, wo sie den letzten Schottisch getanzt hatten, wie eine transparente, sich nach oben verjüngende Scheibe inmitten der endlosen Landschaft. Jetzt gingen sie weiter. Wie zwei Schatten schlichen die beiden durch die engen Weizengassen dahin. Das Korn war in sanfter Bewegung. Der rote Mohn stammte wie heiße Liebesfackeln, und die blauen Kornblumen standen inmitten der Halme wie große Saphire. Das Mondlicht rieselte darüber hin und ließ alles deutlich erkennen. Die beiden Menschen erschauerten leise zusammen. Ihre Körper berührten sich. Er hatte den Arm um ihre Hüften geschlungen. Nellecke sah ihn mit heißen Blicken an und schmiegte sich fester an ihn. Ihr warmer Atem kitzelte seine Wange. Sie hören nicht auf die ferne Musik, die jetzt wieder verschlafen herüberhallt. Die berückende Sommernacht fordert ihr Recht. Sie küssen sich lange, und glückliche Stunden verträumen sie im wogenden Kornfeld. Groß und feierlich steht der Liebesstern über der Tiefe. – Zwei Wochen vergingen, da zog sie auf immer mit ihm. Sie hatte ihr Geschick mit dem seinen verknüpft und hielt getreulich zu ihm. Das unstete Zigeunerleben, das Liegen auf der Landstraße, die lustigen Puppenkomödien taten ihr wohl. Sie kümmerte sich nicht um das höhnische Achselzucken und das Gerede der Menschen. Erst wie der Winter kam, und ihre sonst so kräftige und schöne Gestalt sich merklich entstellte, da fühlte sie, daß sie Ärgernis gab. Als dann die Schwalben zurückkehrten, wurde ihnen ein kleines Wesen geboren. Sie nannten es Kathje. Jetzt fühlten sie so recht, daß sie in der Schande lebten; sie gingen hin und ließen sich trauen, um sich und das Kind ehrlich zu machen. Inzwischen hatte sich Jan in dem kleinen Ziegelhäuschen am Hanselaertor seßhaft gemacht. Die unsteten Kirmesfahrten und die schaffende Hand seines Weibes brachten klingende Münze und vergönnten ihm einen eigenen Rauch. Im Laufe der Jahre trug er die restierende Kaufsumme ab, legte sich den pompösen Sammetrock und die Großkarierten mit Strippen zu und fühlte sich glücklich in seinem Künstlerberufe. Schon fünfzehn Monate nach der Geburt Kathjes tauften sie abermals, und sie nannten den Sohn Nikodemus. Kathie war in der Sünde geboren – aber sie wuchs zu einem schönen Menschenkind heran, das Herz und Nieren erfreute, während Modem, als ehelich Erzeugter, sich zu einem ungelenken, sommersprossigen Jüngling herausbildete, schon in frühester Zeit frömmelnde Neigungen aufwies, nicht untalentiert war und mit Bienenfleiß darauf ausging, in die schwarze Soutane zu springen. Nellecke in ihrer Eigenschaft als glückliche Mutter, die für ihr Leben gern einen zukünftigen Papst unter dem Herzen getragen hätte, Jan lediglich aus berechtigtem Künstlerstolz willigten ohne langes Bedenken ein, belasteten ihr sauer erworbenes Häuschen und freuten sich auf die kommenden Tage. Da wurde Nellecke abberufen. Sie erlebte es nicht mehr, wie ihr Nikodem das Alumnat glänzend absolvierte, das Seminar bezog, die Priesterweihe empfing und dann als blutjunger Kaplan der kleinen Pfarre in Marienbaum zugeteilt wurde. Aber mit ihrem Tode war der Schnapsteufel unter die schwerbelasteten Dachziegel gefahren. Alles ging drunter und drüber; selbst Kathjes fleißige Hand, die bei den Honoratiorenfamilien herumbügelte, für die Kirche Chorhemden plättete und emsig bemüht war, manchen Notpfennig heimlich auf Seite zu bringen, war auch nicht imstande, die rastlos abbröckelnde Scholle haltbar zu machen. Mit Nikodem, der ungefähr zwei Jahre die kümmerlich dotierte Kaplansstelle innehatte, standen Vater und Schwester nicht auf erfreulichstem Fuße. Die geistlich-taktischen Vorstöße, die der junge Herr in Kraft seiner priesterlichen Würde zeitweilig gegen den Schnapsteufel inaugurierte, waren wenig dazu angetan, einen freudigen Widerhall unter der verschlissenen Sammetjacke seines Erzeugers zu wecken, wie denn auch der stets wiederkehrende, nörgelnde Hinweis des eifrigen Klerikers auf die unehrliche Geburt seiner Schwester nicht geeignet erschien, angenehme und behagliche Wechselbeziehungen in der kleinen Familie aufkommen zu lassen. Er konnte nicht anders – er hielt Kathje nun einmal für ein so gut wie verlorenes Menschenkind. Aber diese seine Voreingenommenheit, die fast einem Verdammungsurteil gleichkam, entsprang nicht der Unduldsamkeit seines Herzens und der beschränkten, im Seminar gezeitigten Ideensphäre, sie war vielmehr von lauteren Motiven durchsetzt und von dem innigen Wunsche beseelt, an ihr, der in der Sünde Erzeugten, in der Sünde Geborenen, also nach seiner Ansicht auch für die Sünde Prädestinierten, dasjenige noch für Zeit und Ewigkeit zu retten, was überhaupt noch an ihr zu retten war. Er meditierte hierüber schon seit Jahren – und der sommersprossige Heißsporn hatte diese Meditation bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten ausschließlich zur Richtschnur seines Handelns gemacht, ohne dabei auch nur die geringste Gegenliebe in seinem elterlichen Hause zu finden. – Dieses hatte seinem Vater schon öfters zu denken gegeben. Selbst der belebende und alles ausgleichende Geist der Schnapsflasche brachte diesen über den fatalen Zwiespalt nicht fort. Auch heute mußte er daran denken. Von den seligen Schauern der laulichen Sommernacht, in welcher er mit Nellecke durch die verschwiegenen Gassen des Kornes streifte, war der Puppenspieler in seinen Betrachtungen bis auf dieses merkwürdige Verhalten, auf diese asketische Theorie seines Sohnes gekommen. Nein, dieser eingeborene Sohn, auf den er alle Hoffnung gesetzt, für den er doch sein Herzblut gegeben, für dessen Studium er sein sauerverdientes Hab und Eigen verpfändet, und für den er in wenigen Tagen seine – trächtige Yorkshire-Sau opfern sollte, verstand ihn nicht, verstand Kathje nicht, verstand die Welt nicht – und es war daher so gut wie ausgeschlossen, auf diesem Gebiet ein für beide Parteien erfreuliches und versöhnendes Resultat zu erzielen.

»Ausgeschlossen,« sagte Jan Peerenboom und schlug mit der Faust auf die Drehbank. »So'n Sakermenter von Sturkopp!«

Kathje trat in diesem Augenblick mit Licht in die Stube. Der helle Schein fiel über ihr ovales Gesicht und ließ die elastischen, wohlgeformten Gliedmaßen des jungen Mädchens noch mehr in die Erscheinung treten. Kathje war eine eigenartige Schönheit. Etwas Jungfräuliches, Herbes und doch sinnlich Berauschendes ging von ihr aus. Ihre Haare schienen zwei dunkle Massen von Kastanienfarbe zu sein, die sich, über Schläfen und Ohren wellend, im Nacken zu einer dichten Muschel vereinten. Und dabei waren ihre Augen blau und dunkel zugleich, müde und doch von einem wechselnden Farbenspiel durchirrt, das verschleiert unter den fast schwarzen Wimpern hervorsah. Ihr Gesicht, ohne gerade regelmäßig zu sein, wies berückende Linien auf und war von jener eigentümlichen Blüte bestäubt, die jungen Früchten anhaftet, die noch am Baume reifen und der Ernte entgegenharren. Die Flügel der feingeschnittenen Nase zuckten öfters in nervöser Unruhe über den geschweiften Lippen, in deren Ecken der launige Schalk saß. Nichts von der Schwerfälligkeit und dem Ungraziösen der niederrheinischen Rasse haftete ihrem schlanken Körper an, der sich bei jedem Schritt sanft in den vollen Hüften wiegte und fast ohne Schwingungen die freien, harten Brüste unter dem dünnen Leibchen zu tragen pflegte. Etwas Weiches, Sanftgebogenes zeichnete ihren Nacken aus, auf dem der Kopf mit der Fülle des kastanienbraunen Haares in frischer Ungezwungenheit ruhte. Sie war sich ihrer eigenartigen Schönheit bewußt und kannte den Eindruck, den sie bei ihrem Erscheinen jedesmal auf die Männerwelt machte. Der Hauch des Madonnenhaften umspielte sie, aber dieses Madonnenhafte war durchsetzt von einer zurückstoßenden Herbe und dem Wesen des Zigeunerartigen, Unsteten, Flatterhaften, dessen sie selbst in den schwerwiegendsten Augenblicken nicht Herr werden konnte, und zeitweilig dahin führte, ihr anziehendes Bildnis zu trüben. Sie hatte sich in die körperlichen und geistigen Eigenschaften von Vater und Mutter geteilt. Die Schwingungen der liebestrunkenen Sommernacht mit dem sanften Rauschen des Kornes, den geheimnisvollen Stimmen, der verschwommenen Tanzmusik und dem Funkeln der Sterne, die bei jener Begegnung der Liebenden zahllos zu ihren Häupten und über den sanft bewegten Weizenfeldern gestanden, zitterten in ihrer Seele nach und verliehen ihr jene Sehnsucht nach Liebesgenuß, jenes unbestimmte Drängen und Fühlen, dem sie im Ideenkreis ihres geistlichen Bruders das ›Prädestiniert für die Sünde‹ verdankte. Allein dieser Rausch wurde in Schranken gehalten und verflüchtigte sich vor ihrer zweiten Natur, dem Herben, welches im gegebenen Augenblick ihre durstige Seele zurückhielt und ihr dasjenige verliehen hatte, was sie heute noch war: ein vielbegehrtes und schuldloses Mädchen. Kathje Peerenboom war jedenfalls eine merkwürdige Erscheinung im niederrheinischen Flachland, wo sich die Menschen schwerfälliger geben denn sonstwo und den Pappeln ähneln, die frostig und kühl und mit einer gewissen Monotonie über die endlosen Wiesen und Kornfelder hinausrauschen. Nur das Müde ihrer Augen erinnerte daran, jene Müdigkeit, die im Sommer über den niederrheinischen Kolken lagert, wenn die Libellen matten Fluges vorübergaukeln, und die langen Schilfblätter kaum merklich unter dem lähmenden Kuß des Abends erschauern – und dieses geheimnisvolle Erschauern war auch Kathje zu eigen. –

Sie kam langsam, den Kopf etwas nach vorn geneigt, mit der brennenden Lampe ins Zimmer. Ein kleiner, beweglicher Schatten folgte ihren Schritten. Sie stellte das Licht auf den Tisch und zog die schadhafte Gardine vor das geöffnete Fenster.

Draußen war es mittlerweile völlig dunkel geworden. Nur wenige Leute gingen vorüber. Die kleine Stadt schickte sich allmählich an, sanft und selig in die verschwiegene Sommernacht hinüberzuduseln.

Jan Peerenboom reckte sich auf. »So 'n Sakermenter von Sturkopp!« rief er noch einmal, wobei er wieder mit der Faust auf die Platte der Drehbank klopfte, daß Raspeln, Messer und Feilen emporhüpften.

»Na, Vater, was gibt's denn? – Laß den dösigen Schellfisch doch laufen.«

»Ach, der ...!« brummelte Jan, »der ist mir schnuppe, der Schellfisch.«

»Na – wer denn? – Nikodem etwa? – Mein Herzensbruder Nikodem im heiligen Pfarrhaus dahinten?« spöttelte Kathje und stemmte die nackten Arme in die Hüften, als sei sie bereit, siegesmutig über den geistlichen Herrn zu fallen.

»Murrgen ...!« sagte der Alte mit verbissenem und verächtlichem Tone. »Der mit seinem Lämmerdasein dahinten?! – Ja, der war es soeben! – Aber jetzt – er kann mir den Hobel ausblasen. – Hab' ihn nicht nötig. – Selbst ist der Mann – und wir in unserem Künstlertum brauchen uns die Angriffe des Herrn Sohnes und Bruders nicht gefallen zu lassen, trotzdem er Dir ein neues ›Kaschmir‹ spendiert hat.«

Der Puppenspieler erhob sich und nahm eine heroische Haltung an.

»Nanu,« lächelte Kathje, »lege man los.«

Sie kannte ihren Vater und schlug erwartungsvoll die Arme übereinander.

Jan verschleierte die schnapsseligen Augen noch mehr, stellte den rechten Fuß vor und ließ die linke Hand zwischen Hemd und Sammetjacke verschwinden.

»Nein, Kathje,« versetzte er mit umflorter Stimme, »weder Nikodem noch der Schellfisch haben mir den heutigen Abend vergiftet. Ein anderes Unheil hat mir soeben bedrohlich nach dem Künstlerherzen gegriffen.«

»Um Gotteswillen!« lachte Kathje aus vollem Halse, »nun hab' Dich man nicht.«

»Hab' Dich man nicht? – Warum? – Weshalb?« trumpfte Jan auf, und der ganze Mensch legte das Heroische und Sentimentale wie einen abgelegten Rock in die Ecke. Das rein Natürliche und Alltägliche war in ihm rege geworden. »Himmel Sapperment noch mal!« legte er los. »Da soll einer nicht in ein Mauseloch kriechen, wenn ihm so 'n verfluchter Adler ins Genick schlagen will. Dem verflixten Schellfisch nehm' ich's nicht übel. Er hätte uns schon eher piesacken können. Er hat ein Recht darauf, denn ich habe mich ihm mit Leib und Seele verschrieben. Aber, daß mir zum Hohngepiepel der ganzen Stadt der preußische Vogel mit blutroten Oblaten auf die Haustür geklebt wird – das schlägt alle meine Hoffnungen und meinen feinsten Trommelkasten zusammen!«

»Um Gotteswillen, was ist denn?«

»Der Düwel ist los!« donnerte Jan. »Murrgen in acht Tagen ist's aus hier; dann heißt das: zum ersten, zum zweiten, zum dritten! – Himmel Sapperment noch mal! – Der Stuhl unterm Hintern kriegt Beine, die laufen von selbst – in unserem Bettzeug krabbeln andere herum – Puppen und Möbels kriechen unter andere Pfannen – die trächtige Sau wird gepfändet – Ferkel und Würste werden von fremden Mäulern gefressen – und unsere Schinken, Kathje, unsere eingeborenen Schinken schnabulieren die anderen. – Ich kann nicht mehr! – Das dreht mir den Hals um – und da...«

Mit einer verzweifelten Geste deutete der Puppenspieler in eine Ecke des Zimmers: »Und da liegt der preußische Adler, das Untier. Ich hab's von der Haustür gerissen.«

Mit einem dumpfen Schmerzenslaut war Jan wieder in seinen Binsensessel gefallen. Der Künstler war alle. Jan Peerenboom hatte seine äußere Würde verloren. »Die Schinken, die saftigen Schinken!« kam es in weinerlichem Ton von den Lippen des Zusammengeknickten, während Kathje das zerknüllte Papier aufnahm, es auseinander breitete und sich in die krausen Schriftzüge vertiefte.

Plötzlich schlug sie die Hände zusammen. Sie hatte entsetzt das amtliche Ding fallen lassen, als wäre es glühend zwischen ihren Fingern geworden.

»Die Schande – die Schande!« keuchte sie in dumpfer Verzweiflung und hielt sich den Rock vor die Augen. »Da zeigen ja die Leute mit Fingern auf einen, da kann man ja nicht mehr als ehrliches Mensch in die Kirche gehen, da können wir nu wie die Krähen mit nackten Füßen im Schnee herumhüpfen, da können wir ja...« »Himmel Sapperment noch mal!« stöhnte Jan auf. »Die Schande – die Schande!«

Kathje ließ den Unterrock fallen.

»Aber das ist alles nur wegen des verfluchten Kümmels gekommen,« sagte sie mit funkelnden Augen.

»Was?!« fuhr der Puppenspieler dazwischen. Ergrimmt sprang er auf und machte Miene, wieder in die tragischen Gesten seines Heldentums zu verfallen. »Kathje kommst Du mir auch mit dem Kümmel – mir. Deinem angestammten Vater, der Dich auf Händen getragen und gewissermaßen an seinen leiblichen Brüsten erzogen! – Kathje, das mir! – Habe ich etwa dem Schnaps nur aus sinnlicher Leidenschaft gefrönt? – Nein und abermals nein! – Nur Begeisterung, höhere Weihe und Kunst habe ich mir im Kümmel ertrunken – und dann: wer hat Aloys vor die Tür gewimmelt?! – Ich und abermals ich! Dir zuliebe habe ich ihn vor die Tür gewimmelt, weil ich nicht will, daß meine herrlich erblühte Tochter den Lüsten des Schellfischs verfalle. Und nun kommt dieses, mein Kind, und hält mir die Kümmelflasche unter die Augen. Oh, oh, oh ...!«

Jan Peerenboom hatte eine fulminante Pose angenommen. Große Tränen standen dabei in seinen verwässerten Augen. Mit dem rechten Ärmel seiner Sammetjacke fuhr er darüber hin. Er war weich gestimmt; aus seinen Blicken schienen die Töne einer Äolsharfe zu dringen.

»Oh, oh, oh!« begann er mit sanfter Betonung, »das habe ich nicht um Dich verdient, meine Tochter. Aber Du brauchst's nur zu sagen. Erkläre Dich einverstanden, nimm den Schellfisch, werde glücklich mit ihm – und alle Not hat ein Ende. Die Klever Schuld wird bezahlt, der preußische Kuckuck verduftet, die Pfändung ist alle, die Sau bleibt im Stalle, und wir essen die Ferkel und Würste allein. Ich aber wasche meine Hände in Unschuld. Nun wähle: hie Schellfisch – hie Pfändung.«

»Pfändung!« rief Kathje unter Lachen und Weinen.

Da breitete Jan Peerenboom die Arme, schritt auf seine Tochter zu und zerrte sie an sich.

»Ich hab's ja gewußt,« meinte er mit lallender Zunge. »In Dir ist Künstlerblut, Rasse, Mumm und das Erbteil Deiner seligen Mutter. Her zu mir, Kathje! Du bist ja immer meine Herzenstochter gewesen.«

Und da stand nun der starkknochige Mann mit den schnäpsernen Blicken, mit dem guten Gemüt, ganz Mensch und ganz sein eigenes Selbst, ohne jedes Beigemengsel von Pose und weinte wie ein Kind.

»Aber die Schande – die Schande!« flüsterte Kathje.

»Die Schande!« trumpfte Jan Peerenboom auf. »Jetzt wo ich Dich wieder habe ... auch egal! – Jetzt laß sie man kommen.«

»Vielleicht könnte Nikodem...« meinte Kathje.

»Der?!« lächelte der Puppenspieler und machte eine große Bewegung. Dann zählte er an den Fingern herunter: »Drei Hemden, zwei Unterhosen, drei Paar Schuhe mit Schnallen, 'nen Stiefelknecht, zwei schwarze Soutanen, eine für Sonntags, eine für Werktags, 'nen Hut und 'ne Heidenwut gegen den Kümmel und Dich ... Ne, ne, ne! – der ist ja selbst wie 'ne hungrige Ratze. Kriegt nichts und hat nichts. Mit Brevierbeten und Messelesen kann man keine Hypotheken bezahlen und 'ne Pfändung verhindern.

Ne, ne, ne! – auf den ist nicht ein falsches Kastemännchen zu rechnen. – Aber weißt Du was, Kathje – einer der kann es.«

Kathje sah ihn mit großen Augen an.

»Einer der tut es und kann es,« wiederholte der Puppenspieler mit sichtlicher Freude. »Herrgott noch mal! – daß ich nicht früher auf diesen verfallen.«

»Auf wen denn?«

»Auf Pittje.«

Kathje verfärbte sich.

»Der ist ein Kerl noch,« drang der Alte auf sie ein, und seine Sprechweise gefiel sich wieder im Pathetischen. »Der hat noch Mitleid für die leidende Menschheit, der ist ja selber so'n halber Künstler mit 's Balbiermesser und 's Brenneisen, der hat Geld und ein Kindergemüt so rein und gewaschen wie 'ne sammtne Decke. Himmel Sapperment noch mal!« – und Jan Peerenboom schlug wie in Ekstase die Hände zusammen. – »Kathje, das wäre 'ne große Idee, wenn Du morgen Dein Bestes anzögest, zu Pittje gingst und ihm so'n bißchen unter die Nasenlöcher hofiertest.«

»Aber Vater...!«

»Alles in Ehren, Kathje – alles in Ehren! – Nur aus christlicher Barmherzigkeit willen, denn Pittje ist ein grandioses Gemüt und macht sich eine Ehre daraus, unser Schwein und die Möbels und unser Häuschen zu retten. Und dann überhaupt – Pittje als solcher.«

Mit neckischem Ellenbogen stieß er sie in die Seite.

»Na – Kathje, geniere Dich nicht – um Himmelswillen! – geniere Dich nicht. Man ist doch auch nicht von gestern und hat auf den Ohren gesessen! – Man kennt seine Leute! – Und Du – so'n properes Mädchen wie Du bist...! – Na, ich sage man nur: wenn ich Herr Pittje Pittjewitt wäre...«

»Schon gut, Vater, schon gut,« kicherte Kathje. »Dir zuliebe und unserem einzigen Ferkel zuliebe – ich gehe morgen zu Pittje. Und jetzt will ich's Abendbrot machen.«

Mit Hellem Gelächter war sie in der Nebenstube verschwunden, aber dieses Gelächter klang anders wie das, mit dem sie noch kurz vorher den Schellfisch verfolgt hatte.

Mit leuchtenden Blicken hatte ihr Jan Peerenboom nachgesehen. Jetzt sah er die Welt mit anderen Augen an, und in seiner Herzensfreude nahm er die kurze Pfeife vom Schrank, stopfte den gemaserten Holzkopf mit Rippchentabak, schob die Hornspitze in die linke Mundecke und bückte sich schwerfällig zu Boden.

Dort lag noch immer der zerknitterte Stempelbogen. Mit einem grunzelnden Wonnegefühl hob er ihn auf, falzte ihn kunstgerecht auf den Knieen, bis er schließlich die handliche Form eines Fidibus' annahm. Mit diesem steuerte er dem Küchenfeuer zu und ließ Stempelbogen und Kuckuck in Flammen aufgehen. Mit dem glimmenden Rest brachte er seine Pfeife in Brand. Himmel Sapperment! – wie das schmeckte.

Nach dem Abendessen begab sich Kathje zur Ruhe. Der Puppenspieler aber konnte noch immer das Gleichgewicht in seiner Seelenverfassung nicht finden. Um seine glückliche Unruhe zu dämpfen, setzte er sich in seinen Binsenstuhl ans Fenster und schob die Gardine zurück. Wohlig strömte jetzt die lauliche Nachtluft ins Zimmer. Über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser blitzten die Sterne und winkten friedlich herunter – und wie er in das sanfte Flimmern hineinsah, da war es ihm plötzlich, als wenn ein Engel vom Himmel niederschwebe. Und dieser Engel kam aus lichten Gefilden; und seine Schultern waren entblößt, und an denselben hafteten zwei prächtige Flügel, die in allen Farben des Regenbogens erstrahlten. Der Engel aber trug etwas Papierartiges in seinen schuldlosen Händen, und als Jan näher zusah, da waren's preußische Banknoten, die ihm der himmlische Bote präsentierte und lächelnd in die geöffnete Hand drückte. – Und der Engel selber, die Züge...

»Kreuz Kuckuck noch mal...!«

Jan Peerenboom hielt ihm die Schnapsflasche hin. »Pröstchen! – Tag, Pittje.«

Da schwand die Erscheinung.

Vom nahegelegenen Rathaus hallte die Turmuhr. In feierlichen, langatmigen Schlägen rief sie die elfte Stunde über die kleine niederrheinische Stadt hin.

Nun war auch die Schlafenszeit für den Puppenspieler gekommen, aber Jan dachte nicht an die Wonnen des Bettes. In seinem Überschwange des Glückes, in seinem zauberischen Dusel, der ihm die Zukunft in den rosigsten Farben ausmalte, hielt's ihn nicht länger in der dumpfigen Stube. Ein unbestimmtes Sehnen und Drängen trieb ihn hinaus. Er glaubte an Pittje, und von diesem Gedanken völlig beeinflußt, zündete er die Stallaterne an und ging in den Hofraum, dort der vielgeliebten Yorkshire-Sau, die ja nach seiner felsenfesten Überzeugung wieder sein veritables Eigen geworden, einen Besuch abzustatten.

Ein freundliches Quieksen empfing ihn. Und da lag sie auf der properen Streu, rosig, mit den kleinen blinzelnden Augen und dem putzigen Schwänzchen, überstrahlt von dem ruhigen Licht der kleinen Laterne.

Ach! – wie das Wohl tat. Blut-, Leber- und Mettwürste schwebten vor seinen trunkenen Blicken, und im Vorgefühl der kommenden Tage schnitt er sich schon einen gehörigen Riemen von der geräucherten Speckseite.

Und die Schinken erst – die saftigen Schinken!

Nur mit Wacholder sollte diesesmal geräuchert werden – nur mit Wacholder. Es tat ihm leid – aber er konnte in diesem Falle keine Sägespäne von seinem jungen Freunde dem Schreinermeister Henseler beziehen. Dieses Kapitalschwein verlangte für seine Schinken eine nobelere Räucherungsart. Wacholder war die Parole.

Und das Tier quiekste und grunzte, und Jan strich ihm mit liebevoller Hand über die borstige Schwarte. –

Anderen Tages fand ihn die liebe Sonne noch immer im Stall. Und als sie hineinsah – da hatte der Gemütsmensch den rechten Arm um den kurzen Nacken des trächtigen Schweins gelegt, und beide schliefen in seliger Harmonie bis weit in den Sommermorgen hinein.


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