Heinrich Laube
Louison
Heinrich Laube

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Fünfzehntes Kapitel.

Louison hatte sich gutwillig in ihre frühere Wohnung geleiten lassen. Rose hatte den Doktor Zech gerufen und dieser mit Vergnügen ausgesagt, der Puls habe Leben gewonnen. Sie sollte nur eine kräftige Mahlzeit zu sich nehmen und sich dann schlafen legen.

Auf der Reise hatte sie noch gegessen, in Paris nicht mehr.

Auch jetzt nach Zechs Vorschrift hatte sie nur wenig essen können, aber sie war bald eingeschlafen und hatte geschlafen, bis die Zimmeruhr elf schlug. Da war sie aufgewacht und hatte gesagt: »Jetzt wird mein Onkel kommen –«

Als er kam, stürzte sie ihm zu Füßen, umklammerte seine Kniee und schluchzte: »Verzeihung! Verzeihung!«

»Armes Kind, du hast mir zu verzeihen, hast mir den abscheulichen Brief zu verzeihen. Aber ich habe keinen Teil daran, Juron hat gelogen!«

»Ach! – ach!« – Sie sprang auf, schüttelte ihre schwarzen Locken und stieß unartikulierte Töne der Freude aus. »Und du hast – du hast mich – langsam bildeten sich die Worte – »du hast mich nicht verstoßen?«

156»Warum nicht gar! Helfen möcht' ich dir gern.«

»Du verachtest« – ihre Stimme schrie – »du verachtest mich also nicht?«

»Ich liebe dich ja.«

Sie schrie noch lauter, während ihr die Tränen stromweise über die Wangen liefen: »Und ich darf – ich darf dich wieder umarmen?«

»Komm an mein Herz!«

Sie umarmte ihn konvulsivisch und küßte ihn zum Ersticken.

Die Apathie schien überwunden, und wenn auch nicht vollständig – denn heftige Ausbrüche in allerlei Fragen unterbrachen noch öfters die Unterhaltung – sie nahm doch teil an den Vorschlägen Lauristons und Ramberts, welche ihre nächste Lebensweise und ihre Zukunft betrafen.

Diese Vorschläge waren sorgfältig vorbereitet von den beiden Männern.

»Wie kannst du, schlimmes Kind,« sagte Rambert, »von Verachtung sprechen wie von etwas Möglichem! Du bist ja jetzt ein besseres Geschöpf, als du warst, da du zu mir kamst und als du mich verließest.«

»Besser? Ich?«

»Allerdings. Damals behauptetest du mit dreister Stirn: Dankbarkeit sei nichts wert und dir fremd.«

»Leider!«

»Siehst du, jetzt sagst du ›leider‹! Als das Schicksal an dein innerstes Wesen hart gegriffen hat, da ist zum Vorschein gekommen, daß auch die Dankbarkeit darin wohnt.«

»Du glaubst?«

»Ja, warum hat es denn einen wohltätigen Eindruck auf dich gemacht, als es hieß: ich käme zu dir?«

»O!«

»Warum denn? Weil das edle Gefühl dankbarer Anhänglichkeit aufgeweckt wurde in deinem Herzen. Dein Herz 157war eben früher noch nicht aufgeschlossen; dein Herz und jedes feinere Gefühl in dir. So geht's uns Menschen. Wir wissen gar nicht, was und wie wir sind, bis die Schicksalsschläge unsere verborgenen Fähigkeiten entwickeln.«

»Ich, die ich so unbedacht hineingelebt ins Verderben, ich wäre –?«

»Besser als früher. Bist du nicht eine gläubige Katholikin?«

»Natürlich!«

»Nun, hat dein katholischer Glaube nicht das Fegefeuer? Wozu? Das Fegefeuer des Glaubens läutert die Seele von ihren Schlacken, um sie fähig zu machen für den Himmel. Du bist jetzt durch ein irdisch Fegefeuer hindurchgerissen worden, welches deine Seele auch geläutert hat.«

»Für einen Him–«

»Für einen Himmel auf Erden; das heißt für ein glückliches Leben.«

»Ach, lieber Onkel, ich bin ja verheiratet, verheiratet mit einem Manne –«

»Den du nicht liebst.«

»Den ich« – sie sprach nicht weiter, aber ihr ganzer Körper spannte sich wie zum Widerstande – ein deutliches Zeichen, daß ihre moralischen Kräfte wiederkehrten.

»Den du nicht achtest,« ergänzte Rambert. – »Recht; du hast dich ja auch frei gemacht von ihm.«

»Aber er kann kommen, kann mich peinigen; ich bin ihm ja angetraut!«

»Dafür sind wir da, um dich zu schützen, ich und dein neuer Freund hier, Herr Lauriston.«

Sie reichte Lauriston hastig die Hand, sah ihm in die Augen, während ihre eigenen naß wurden, und sagte: »Sind Sie mein Freund? Ach ja, seien Sie's!«

»Ich bin's, und es wird uns schon gelingen, Sie frei zu erhalten von dem Wüstling, in dessen Gewalt die Not Sie getrieben. Es wird uns auch gelingen, Ihr Talent wieder 158aufzurichten und es in neue Bahnen zu führen, vielleicht sogar: in höhere Bahnen.«

»Ich soll wieder spielen?« schrie sie fast. »Wär's möglich?!«

»Gewiß. Ich bring' ein neues Stück für Sie.«

»Geduldig! Geduldig!« unterbrach Rambert. »Nicht von heut' zu morgen. Das Fegefeuer soll alles läutern, auch die Kunst.«

»Ja, ja.«

»Was du früher abgewiesen, das sollst du jetzt annehmen.«

»Alles, alles.«

»Lernen sollst du, lernen. Auch Lesen lernen, wie ich dir so oft vergeblich geraten.«

»Alles, alles. Herr Lauriston wird mir helfen, ja?«

»Ich werde nur die Hilfsmittel besorgen helfen. Ihr Talent braucht nichts weiter als neue Anhaltspunkte.«

»O nein, nein! Ich brauche viel mehr. Aber ich werde fleißig sein und folgsam.«

Bei diesen Worten trat Doktor Zech ein und war höchst erstaunt, als er seine Kranke leuchtenden Auges auf sich zukommen sah. Damit war aber auch der Höhepunkt überschritten für diese Kranke; sie sank ihm ohnmächtig an die Brust.

Der Übergang war zu jäh gewesen für ihre erschütterten Nerven, und Zech erließ Rambert wie Lauriston nicht einige Worte des Tadels, während er Louison mit Beihilfe Roses zum Sofa brachte.

»Ich bitte, uns allein zu lassen und achtundvierzig Stunden lang nicht mehr hier zu erscheinen,« sagte er harten Tones zu Lauriston und Rambert.

Auf ihre bestürzten Fragen erwiderte er kurz: »Nein, Gefahr wird nicht eintreten; aber längere Ruhe ist nötig.«

Sie warteten nur, bis Rose winkte, daß sie wieder zu sich komme, und gingen dann still von dannen.

Auf der Treppe sagte Rambert: »Ich halte es für ratsam, 159Louison wieder hinaus in meine Wohnung zu nehmen; aber bei dieser Schwäche ist eine Übersiedelung wohl voreilig.«

»Und doch wäre sie wünschenswert,« sprach Lauriston, »denn ihr Hierbleiben in der bekannten früheren Wohnung bleibt kaum verschwiegen, und es drängt störende Neugier herbei.«

»Also den Concierge vor allem gewinnen!«

Rambert spendete diesem Concierge ein paar Goldstücke unter der Forderung, daß er die Anwesenheit der Demoiselle Louison jedermann verschwiege und daß er jeden Anfragenden damit abweise: die Dame sei noch nicht zurückgekehrt.

Die Hand auf der Brust versprach es der Concierge.

Auf der Straße, ehe jeder in seinen Wagen stieg, fuhr Lauriston fort: »Ihr Verborgensein ist sehr wichtig. Die Presse hat schon angefangen, von ihr zu sprechen; sie wird fortfahren, sie wird kombinieren. Ferval und der Klub werden erzählen, daß O'Brien nicht zum Ziele gekommen, daß Louison verschwunden sei. Dann wird man sie in Paris vermuten, in ihrer alten Wohnung. Man wird einen Roman erfinden schlimmer Sorte, und O'Brien – Louison hat ganz Recht – wird sie verfolgen, wird sie hier finden, wird sein gesetzliches Gattenrecht geltend machen, welches die Frau zum Manne nötigt.«

»Alles richtig. Also so bald als möglich zu mir!« – So schloß Rambert und stieg in seinen Wagen.

Lauriston ging zu dem seinen. – Da stand der flanierende Ferval neben ihm. Höchst unerwünscht! Just vor der früheren Wohnung Louisons.

Mit einem Blicke auf das Haus rief denn auch Ferval hastig: »Sie ist also hier?«

»Wer?«

»Louison.«

»Warum?«

»Warum? Sie haben mir ja doch gesagt, daß sie sich in Dublin der Eheschließung mit O'Brien entzogen hat. Da 160versteht es sich ja von selbst, daß sie entflohen sein wird, und wohin sollte sie denn entfliehen als hierher, wo ihre Wohnung und ihr Beruf auf sie warten. Also sie ist oben?«

»Das weiß ich nicht. Nach meinen Nachrichten, welche ich Ihnen mitgetheilt, scheint es vielmehr, daß sie nach Brüssel zu ihren Eltern geflüchtet ist. Sie mußte ja auch voraussetzen nach O'Briens Wortbrüchigkeit, daß er ihre hiesigen Schulden nicht bezahlt habe, und sie wird sich wohl nicht beeilen, in diese Schlacht mit Gläubigern und Gerichtsdienern zurückzukehren. Was haben denn Sie übrigens und Ihr Klub getan in dieser Frage?«

»Wir haben alles ausgeglichen. Sie ist keinen Sou mehr schuldig. Wir sind gentlemanlike verfahren.«

»O'Brien muß es Ihnen ja doch ersetzen.«

»Sie ist ihm durchgegangen. Daraus wird er folgern, daß auch er zu nichts mehr verpflichtet sei.«

»Jedenfalls muß er die Wettsumme zurücksenden.«

»Vielleicht. Wer weiß! Die Presse wird jetzt losziehen und ihm zu Hilfe kommen.«

»Die Presse?«

»Ja wohl. Ich bin Juron soeben begegnet. Der ist voll Wut gegen Louison. Sie hat sein Freundschaftsverhältnis mit Rambert zerstört, Rambert hat ihm die Freundschaft ihretwegen aufgekündigt. Dafür wird er sich rächen und Louison in den Zeitungen bloßstellen.«

»Der Brave!«

»Was wollen Sie! Jeder Verletzte wehrt sich, und – die Welt will unterhalten sein.«

»Möchten Sie wohl Herrn Juron sagen, daß man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen werde?«

»Täten Sie nicht besser, das selber zu tun? Woher stammt denn Ihr Eifer für diese Schauspielerin, und woher wissen Sie denn überhaupt –?«

»Ich bin ein Poet, Herr Ferval, und Poeten nehmen 161immer Partei für die verfolgte Unschuld sowie gegen freche Verfolger. Sagen Sie das Herrn Juron!«

Damit stieg er in seinen Wagen. Er unterließ aber nicht, rückwärts zu blicken, und so sah er denn, was er befürchtet: Ferval ging in das Haus Louisons.

»Er ist reich,« sagte sich Lauriston; »er wird dem Concierge mehr geben als Rambert; er hatte dort regelmäßigen Zutritt, da er früher die Wohnung gleichsam übernommen; er wird Louison finden – das Geheimnis ist nicht zu halten, morgen werden die Zeitungen ihre Raketen steigen lassen, das weitere wird nicht ausbleiben. Was tun? – Nichts ist zu tun; man ist ohnmächtig, und O'Brien wird voll Wut zurückkehren und sein Recht als Ehegemahl geltend machen.«

Das letzte sagte er sich, als er wieder vor seinem Schreibtische stand und das Manuskript in seinen Händen hatte.

»In den Krieg eintreten, seine Truppen vorbereiten!« gab er sich dann selbst zur Antwort. »Und sogleich ans Werk gehen!« fügte er hinzu und setzte sich zum Schreiben.

Zwei Tage lang durfte er ja, nach Zechs Befehl, nicht zu ihr; zwei Tage wollte er an die Arbeit gehen, welche ihm vorschwebte, seit er Roses Bericht über die Szene in Dublin angehört hatte. Er wollte sein Stück umarbeiten, und Louisons Schicksal sollte dessen Inhalt werden. Die Anlage seines Stückes bot dafür hinreichenden Anhalt. Es bewegte sich um die Katastrophe einer italienischen Dichterin, welche verleumdet und in den Tod getrieben worden. Sie sollte in Louison verwandelt werden, und – Louison sollte in diesem Stücke zum ersten Male wieder auftreten. Dies war sein Plan und seine Hoffnung, denn das schöne, talentvolle junge Mädchen erfüllte bereits sein Herz mit allem süßen Drangsal einer entstehenden tiefen Neigung. Solch eine Neigung schreckt nicht zurück vor den Schwierigkeiten und vor der Unwahrscheinlichkeit eines romantischen Planes.

Ob Louison zustimmen würde, ob sie seiner Neigung 162entgegenkommen werde?–diese Frage blieb im Hintergrunde, und er wagte es nicht, sie dreist in den Vordergrund zu ziehen, da er ja wußte, daß sie keines intimen Verkehrs mit einem Manne fähig zu sein schien. Dem äußeren Ziele, dem Wiederauftreten, stimmte sie gewiß zu, und ihrer Jugend durfte man wohl zutrauen, daß sie die nötige Körperkraft unter Zechs Hilfe wiedergewinnen werde. Die Ohnmacht war ja rasch vorübergegangen, und sie hatte dann Zech versprochen, sich die nächsten zwei Tage streng nach seiner Vorschrift zu verhalten.

Die erste Störung trat schon ein, als Zech fortgehen wollte. Die Glocke im Vorzimmer läutete heftig. Ferval war in der Tat da.

»Du öffnest nicht!« sagte er leise zu Rose.

»Gewiß nicht.«

Es läutete ungeduldig weiter. Umsonst. Endlich schrie er: »Öffnen!«

Umsonst. – Kurz, es blieb ihm nichts übrig, als wieder fortzugehen; allerdings mit der Überzeugung, daß der Flüchtling da wäre.

Louison wurde wieder heftig davon aufgeregt. Zech beschwichtigte sie mit der Aussage: es wäre seine Wirtschafterin gewesen, weil ein Kranker oben auf ihn wartete.

»Schlafen, so viel als möglich schlafen, und nach dem Aufwachen tapfer essen!« Mit diesem Bescheide ging er hinaus, nachdem er vorsichtig erforscht, daß der Störenfried fort wäre, und nachdem er Rose genau mitgeteilt, daß sie alle Nahrungsmittel und sonstigen Bedürfnisse oben von seiner Wirtschafterin zu holen hätte.

Die Jugend Louisons brachte es mit sich, daß der Schlaf zu finden war nach arger Aufregung. Auch jetzt kam er zu Hilfe, und erst gegen Abend erwachte sie wieder, verhältnismäßig in ruhiger Gemütsstimmung.

Rose brachte Licht und setzte sich zu ihr mit den Worten: »Eine sehr appetitliche Mahlzeit steht bereit.«

163»Ja, ja. Sind wir sicher vor Überfall?«

»Ganz sicher.«

»Mir ist still zumut geworden, Rose, seit der Onkel Rambert mir verziehen hat und gar selbst hierher gekommen ist. Und auch der andere Herr, Herr –«

»Lauriston!«

»Meint es gut mit mir. Nicht wahr?«

»Sehr gut. Das ist ein prächtiger Mann! Dafür ist er auch ein Freund unseres Herrn Doktors. Der lobt ihn über den grünen Klee! Besonders weil er so zärtlich ist gegen seine alte Mutter. Wenn die Männer mit ihrer Mutter gut sind, dann sind sie selber gut. Gefällt er Ihnen?«

»Ja ja!«

»Besser als Ihnen sonst die jungen Herren gefallen?«

»Ich glaube wohl; er ist so sanft.«

»Bei dem würden Sie sich nicht fürchten, wenn er –«

»Laß das, Rose! Hast du denn eine Ahnung, was aus mir werden soll?«

»O ja!«

»Was denn? Du vergißt, daß ich verheiratet bin. Das ist das Schreckliche – und daß ich an allem schuld bin.«

»Das ist wahr. Und wissen Sie, warum Sie schuld sind?«

»Nun?«

»Weil Sie nicht rechnen können. Sie geben Geld aus wie Heu, das auf allen Wiesen wächst. Die Wiesen gehören Ihnen aber gar nicht. So sind die Schulden entstanden, die uns ruiniert und nach Dublin gebracht haben. Wenn Sie rechnen lernen, da wird's Ihnen noch ganz gut gehen.«

»Lernen, lernen! So hat der Onkel immer gesagt. Das sollten wir doch versuchen, Rose! Lesen – sagt der Onkel – sei der Anfang dazu. Bring' mir ein Buch, Rose, wir wollen lesen.«

Dabei sprang sie aus dem Bette und griff nach ihren Kleidern.

164»Erst essen! hat der Doktor gesagt.«

»Beides, Rose; ich esse, und du liest mir vor.«

Dabei sprang sie zum Tische, auf welchem Bücher lagen, und suchte eins aus, während sie mit der einen Hand das halb angelegte Kleid hielt, bis Rose das Ankleiden übernahm, indem sie lachend sagte: »Ich und vorlesen! Da werden wir nicht weit kommen.«

»Dies da!« rief Louison; »dies hat mir der Onkel schon in Brüssel empfohlen, eine Tragödie von Racine, ›Phèdre‹ betitelt. Komm und lies; ich speise.«

Rose las abscheulich, bis Louison sagte: »Ich muß ganz dumm geworden sein, ich versteh' nicht, was du liest.«

»Ich auch nicht.«

»Gib her, ich muß es selbst versuchen.«

Und nun las sie und las in einem Niedersitzen das ganze Trauerspiel, was ihr früher unerreichbar gewesen wäre. Die Szenen der Aricia las sie sogar laut, und da ließ sie zuweilen das Buch sinken, pausierte und schien tief gerührt.

Als sie fertig war mit der Lektüre und nachdenklich still sitzen blieb, kam der Doktor, fühlte ihr den Puls, sah ihr in die Augen und sagte: »Ich bin zufrieden. Sonst bin ich bei meinen Patienten gegen das Lesen, Ihnen aber scheint es gut zu tun. Lesen Sie also morgen wieder. Was ist's denn für ein Buch? – Himmlischer Vater, ein Trauerspiel! Was man nicht erlebt! Ihr überspanntes Volk habt eben andere Nerven als vernünftige Leute.«

Morgen! Sie las am nächsten Tage Phèdre noch einmal, während in den Zeitungen – sie blieben ihr glücklicherweise unbekannt – die abenteuerlichsten Nachrichten über sie verbreitet wurden. Juron und Ferval waren die Quellen dafür.

Das Wichtigste für ihre augenblickliche Existenz war, daß bestimmt gesagt wurde: sie sei wieder in Paris, sitze in ihrer früheren Wohnung und sei, wie es den Anschein habe, ihres Verstandes beraubt.

165Dadurch wurde Rambert veranlaßt, gegen die Verabredung noch am Vormittage zu ihr zu kommen und ihr freundlich anzukündigen, daß sie am besten sogleich diese Wohnung verlasse und ihre alte in seinem Hause wieder beziehen solle, um ungestört zu bleiben.

Das war ein beglückender Eindruck für Louison, und tief verschleiert nahm sie sofort seinen dargebotenen Arm und ließ sich hinabführen, um in die Champs Elysées hinauszufahren. Dem Concierge sagte Rambert: »Die Dame verreist.«

Rose aber übernahm es, bei einbrechender Dunkelheit alle Habseligkeiten hinauszuschaffen unter aller möglichen Vorsicht, daß niemand erfahre wohin. Diese Aufgabe löste Rose dadurch, daß sie alles zur Frau Messerschmied in die »Stadt Kolmar« und von dort durch andere Dienstleute in die Champs Elysées führen ließ.

Lauriston erfuhr davon nichts. Zech, welchen Rose unterrichtet hatte, meinte, seinen Besuch abwarten zu dürfen; Lauriston aber kam nicht, weil er zwei Tage fern bleiben sollte, und weil er, wie es Poeten ergeht, tief versenkt war in die neue Welt seines Dramas. Die Umarbeitung seiner Vittoria Accorombona in eine moderne Louison begnügte sich nicht mit einer Reform, sie forderte eine Revolution, und er hörte und sah zunächst nichts als diese Forderung. Er las auch keine Zeitung und lief nur des Abends in einsamen Straßen spazieren, um Luft zu schöpfen und erfrischt an den Schreibtisch zurückkehren zu können. Der Schluß! der Schluß war die schwere Sorge. Es fehlte eben der Schluß in Louisons Lage. Alles übrige war geordnet für das bisherige Lebensschicksal Louisons bis zur Katastrophe in Dublin – eine ganz neue Theaterszene! – und bis auf die Genesung und innere Umbildung der Künstlerin; aber der Schluß, der Schluß war unerreichbar unter den jetzigen Umständen. Da mußte gewartet werden.

Am Ende – er gestand es sich selbst – mußte auch 166gewartet werden auf ihn selbst. Wer sollte denn sonst der Liebhaber des Stückes werden? Und liebte er denn bereits das Mädchen – ach, sie war ja eine Frau! Liebte er sie bereits? »Nein, nein!« rief er, »es ist vorzugsweise ein artistisches Interesse, und es ist nur eine schriftstellerisch Aufgabe, dem Helden der ›Neuen Louison‹ – er hieß bereits Anatole – eine schwärmerische Liebe einzuflößen für die unglückliche Künstlerin. Ebenso ist es eine schriftstellerisch Aufgabe, die schöne Louison zu bekehren, zur Liebe zu bekehren. Sie will ja keinem Manne angehören; die Liebe welche der Sinne bedarf, ist ihr ja noch ein unbekanntes Etwas!«

Da mußte langsam vorgegangen werden, und wenn er sich auch resolut dafür entschied, die volle Liebe in ihr Herz einziehen und es dem Liebhaber an nichts fehlen zu lassen, so blieb der Schluß, der eigentliche Schluß doch immerhin noch ein Fragezeichen.

In diesen phantastischen Gedanken saß er früh am dritten Tage bei der Abschrift des ersten Altes, da kam ein Billett Zechs, welches ihn endlich vom Wohnungswechsel Louisons Nachricht gab; da kam aber auch ein Brief seiner Mutter aus Grenoble, welcher ihn erschreckte.

Er hatte ihr von Louisons Schicksal und von seiner Teilnahme an demselben geschrieben. Sie aber mißbilligte diese Teilnahme an einer abenteuerlichen Schauspielerin. Das könne nur zu Übelständen führen. Er gehöre nicht zu den Gelegenheitsdichtern, welche ihre Stoffe hinter den Theaterkulissen suchen. Dadurch würde er ihre Achtung verlieren und dem strengen Vater im Grabe recht geben, welcher ihn zu ernstem Studium und Lebenslaufe bestimmt gehabt.

Das war eine böse Stunde für ihn. Seiner guten Mutter Kummer zu bereiten, war ihm tief peinlich.

Sogleich wollte er ihr schreiben und ihre Ansichten berichtigen, wie er's nannte, da meldete sein Diener Herrn Ferval.

167Der sonst immer behagliche Ferval erschien diesmal recht ernsthaft und beschwerte sich darüber, daß Lauriston ihn zu voreiligen Schritten gegen O'Brien veranlaßt habe.

»Da lesen Sie!« schloß er und reichte ihm ein langes Telegramm O'Briens, welches so lautete:

»Nichts da von Verlust der Wette und von Rückzahlung. Die Affaire mit dem Backfische ist ja im besten Gange. Jetzt ist sie zwar, wie scheue Backfische tun, fortgelaufen, aber was bedeutet das! Scheu, die verschwinden wird und muß. Sie ist ja meine angetraute Frau und muß mir gehorchen, muß zu mir, im Notfalle kraft eures Gesetzes, welches ich in Anspruch nehmen werde. Sie wird in Brüssel oder Paris sein. Dort werden meine Leute, hier werde ich sie finden. Ich wäre schon unterwegs, wenn nicht mein Bruder im Sterben läge. Ich muß hin. Er ist von Erbschleichern umgeben, welche mich nach Möglichkeit verkürzen wollen. Das kann mich acht, höchstens vierzehn Tage aufhalten, aber dann komm' ich und werd' sie finden, wenn sie sich auch in ein Mauseloch verkrochen hätte. O'Brien.«

»Sie haben die Zeitungen der letzten Tage gelesen?« fuhr Ferval fort.

»Nein.«

»Ist das möglich! Es gibt also unter uns Menschen, welche mehrere Tage hindurch keine Zeitung lesen!«

»Ja. Und ich bin ein solcher Mensch.«

»Allen Respekt! Nun, die Zeitungen erörtern die Frage ›Louison‹ in allen unbedenklichen und bedenklichen Richtungen. Sie erwähnen auch Ihre rätselhafte Beziehung zu dieser Frage – was haben Sie denn eigentlich für eine Beziehung zu der Gattin O'Briens?«

»Die eines Poeten, Herr Ferval; ich bin ein Poet.«

»Das heißt?«

»Ich nehme mich der verfolgten Unschuld an, und wer das bezweifelt oder nicht dulden will, der hat es mit mir 168persönlich zu tun. Das hab' ich Ihnen schon neulich angedeutet, wollen Sie also darauf zurückkommen, so –«

»Aber, lieber Lauriston, wozu diese leidenschaftliche Konsequenzmacherei! Ich habe ja gar nichts gegen die verfolgte Unschuld und wäre bereit –«

»Ihr gelegentlich beizustehen?«

»Warum denn nicht! Das kann unterhaltend sein.«

»Nun, dazu kann sich Gelegenheit finden. Sie erlauben, daß ich Sie im Notfalle daran erinnere?«

»O ja.«

»Also bis auf weiteres. Ihre Nachricht über die Zeitungsstimmen und O'Briens Telegramm macht Maßnahmen nötig.«

»Sie sprechen wie ein Held in Romanen.«

»Das ist mein Amt; ich verfasse Romane. Helfen Sie ein gutes Ende finden! Das ist wirklich unterhaltend und kann Ihnen Ehre eintragen. Wollen Sie?«

»Ja wohl! ja wohl!«

»Also auf Wiedersehen, sobald der Moment eintritt.«

»Der Moment –«

»Auf Wiedersehen!«

Ein wenig verblüfft ging Ferval.

Nun eilte Lauriston in die Champs Elysées, um sich mit Rambert zu besprechen. Die angekündigte Rückkehr O'Briens war eine Gefahr, und zwar eine dringende.

Er fand Rambert zu allem bereit, was Louison schützen könnte. Die Zeitungsnachrichten alarmierten ihn, die nahe Rückkehr O'Briens erschreckte ihn. Dieser werde bald entdecken, daß Louison in seinem Hause lebe; was dann tun? »Wohin mit ihr? Auf mein Landgut?«

Lauriston zögerte mit der Antwort. Sollte er selbst sie aus seiner Nähe entfernen?!

»Nein? Sie haben recht. Auch dort würde sie entdeckt werden, und einsam wäre sie dort allem ausgesetzt. Was also?«

169»Sie hier behalten und Ihr Haus jedem Zudrange verschließen.«

»Ja – aber mein Leibdiener könnte ein Hindernis sein – deshalb –«

Er läutete. Jean erschien.

»Jean,« sagte er streng, »Sie haben sich immer als Widersacher der Demoiselle Louison erwiesen –«

»Herr –«

»Keine Widerrede! Ich weiß es. Jede Nachfrage nach ihr wird von jetzt an mir gemeldet, jeder Besuch abgewiesen. Wird jemand zugelassen, der Schaden bringt, so sind Sie mir verantwortlich, und die Verantwortlichkeit heißt Ihre Entlassung. Danach richten Sie sich.«

Jean war bestürzt und bat um ausführliche Instruktion. Soeben habe er, weil er von solcher Willensmeinung des Herrn nichts gewußt, einen Besuch eintreten lassen bei der jungen Dame.

»Was? wen?«

»Den sogenannten Signor Rosas aus dem Zirkus, der ja früher vorgelassen wurde.«

»Zum Verzweifeln! – Kommen Sie mit, Lauriston! Der Mensch muß verpflichtet werden, kommen Sie!«

Beide gingen hinab. Jean folgte in unangenehmer Gemütsverfassung.

In der Tat hatte er aus alter Malice den Clown bei Louison eingeführt. – Rosas hatte die Schicksale Louisons und ihre Rückkehr nach Paris in den Zeitungen gelesen. Die sehr verschiedenen Notizen stimmten darin überein, daß sie einem irländischen Lord als Ehegattin angetraut worden, und ein Blatt erzählte, daß sie männerscheu in der Brautnacht einen Ringkampf mit dem Lord durchgefochten und mit Hilfe eines Revolverschusses sich befreit habe. Ein zweites Blatt teilte die Ehepakten mit, nach denen sie wirklich das Recht gehabt, den Lord zu töten, sobald er sie berühre. Das 170dritte Blatt schilderte die Flucht Louisons mit ihrer Dienerin auf einer Strickleiter. Dabei wäre Louison einen Stock hoch hinabgestürzt, weil sie mit ihren hohen Schuhabsätzen in den Stricken hängen geblieben. Ihre Dienerin habe sie dann aufs Dampfboot tragen müssen. Sie sei von herkulischer Stärke, diese Dienerin. Die Herrin aber habe von dem Falle eine solche Erschütterung erlitten, daß sie verrückt geworden. Sie singe jetzt Tag und Nacht lustige Lieder.

Rosas war hoch aufgesprungen bei diesen Nachrichten und eiligst aufgebrochen. Er hatte nicht bezweifelt, daß sie dort wohnen werde, wo er sie früher besucht, und er hatte damit das Richtige getroffen.

Mit leidenschaftlicher Gebärde war er bei ihr eingetreten und hatte vor allem gefragt, ob sie wirklich verheiratet und dadurch für ihn, der hoffnungsvoll in vergangener Woche aus Spanien zurückgekehrt, verloren sei, und endlich – das hatte er leise gesprochen – ob sie am Ende doch verrückt sei?

»Beinahe beides!« hatte Louison mit überraschender Fassung erwidert. »Ich bin leider verheiratet, lieber Herr Rosas, und mein Kopf hat sehr gelitten.«

Darauf hatte Rosas eine Flut von Flüchen ausgestoßen und gefragt: »Und das ist nicht einmal der damalige Liebste, der Graf Vilsac?«

»Nein. Der ist tot.«

Nun war eine Pause eingetreten, während welcher Rosas laut schluchzte. Sein ganzer Körper war von Rührung geschüttelt, und endlich hatte er gesagt: »Santa cruz! ich hatte Sie so lieb und hätte Sie auf den Händen getragen, und wir hätten ein so lustiges Leben geführt!«

»Ich habe das Lachen verlernt, lieber Rosas.«

»Dummes Zeug! Das Lachen verlernt sich nicht. Das brauchen wir ja wie Essen und Trinken.«

Und dazu hatte er eine schnurrige Bewegung gemacht und gerufen: »Sehen Sie, sehen Sie, Sie haben gelacht!«

171Louison hatte wirklich gelächelt. Es war klar geworden durch diese Szene, daß Sie einen großen Fortschritt gemacht in ihrer Stimmung und Fassung. Sie stand über den Narrenspossen des Clown und hatte doch die stille Haltung gewonnen, das possenhafte Wesen zu belächeln.

In diesem Augenblicke traten Rambert und Lauriston ein. Sie sahen mit Erstaunen Louisons aufgeheitertes Antlitz, und Rose, ihnen entgegeneilend, flüsterte Lauriston zu: »Sie hat zum ersten Male wieder gelächelt.«

Dadurch wurde der Zorn über Rosas' Eindrängen verscheucht, und Rambert wie Lauriston baten ihn nur nachdrücklich: er möge seinen Mund halten und um Gottes willen den Aufenthalt Louisons nicht verraten.

»Das werd' ich nicht! Aber ich möchte wiederkommen; ich liebe die Dame sehr.«

»Kommen Sie getrost, Signor Rosas,« sagte Louison.

»Und das ist wohl der wieder lebendig gewordene Graf Vilsac?« rief Rosas plötzlich, indem er mit einer grellen Armbewegung auf Lauriston zeigte.

Louison errötete; und Lauriston antwortete verlegen: »So heiß ich nicht.«

»O, o, presto, jetzt erkenn' ich Sie erst! Neben Ihnen im Bois de Boulogne läuft der schönste Windhund von Paris, der silbergraue! Der gehört Ihnen?«

»Allerdings.«

»Verkaufen Sie mir ihn für den Zirkus! Ja? Wohlfeil.«

Lauriston schüttelte lachend den Kopf; Louison aber sagte rasch: »Davon wissen wir ja gar nichts; den müssen Sie mitbringen!«

»Sehr gern.«

Nun fluchte Rosas plötzlich noch einmal sein »Santa cruz«, ging auf Louison zu und nahm sie bei der Hand.

Sie blieb ganz ruhig dabei und sagte: »Auf Wiedersehen, Freund Rosas, und –Stillschweigen! Ich bin in Gefahr.«

172»Ach, wenn's sonst nichts gäb'! Aber, aber – na, kurzweg auf Wiedersehen! Dann lachen Sie, oder –«

Er schwenkte seinen ganzen Körper wie einen Kreisel und ging.

Rose machte ihm die Tür auf. Er blieb stehen und betrachtete sie aufmerksam, murmelnd: »Strickleiter gehalten, Herrin getragen und doch kein Herkules: aber hübsch, sehr hübsch!«

Dann klopfte er sie auf die Schulter und war mit einem Sprunge hinaus.

»Es hat dich gefreut, den komischen Patron wiederzusehen?« fragte Rambert.

»Ja, es hat mir wohl getan, daß Heiterkeit bei einzelnen Menschen unversieglich sein kann.«

Kurz, der Fortschritt in der Genesung des armen Mädchens war nicht mehr zu verkennen, und dieser Fortschritt erwies sich in den nächsten Tagen als beständig. Sie brachte es wohl nicht weiter als zu einer milden Heiterkeit, aber sie brachte es doch dahin. Nur Rose mußte noch jeden Abend den unglückseligen Ausruf »Ich bin verheiratet!« und »Er wird kommen, wird sein Recht verlangen!« anhören. Übrigens gab sie sich ersichtlich gern der Leitung Ramberts hin, welcher glücklich war, sie endlich erziehen zu können, was er ja früher so vergeblich angestrebt.

Er sprach lehrsam zu ihr, über allerlei ernste Dinge, und sie hörte zu mit voller Aufmerksamkeit; er gab ihr Bücher, zuerst leicht unterhaltende und dann schwerere, und sie las, las genau und konnte klar schildern, wie die Lektüre auf sie gewirkt habe.

»Täglich besser, täglich besser!« sagte er zu Lauriston, »und eine ausgesprochene Vorliebe für Sentimentales, für sanfte Gefühle, was ihr früher die Langeweile selber war. Jetzt gehen wir ans Vorlesen von ernsten Dramen mit verteilten Rollen! Sie muß die Liebhaberin lesen, Sie den 173Liebhaber und Helden, ich die Väter. Und in Versen! Dabei gewinnt sie den Vortrag, welcher ihr früher wie Ziererei vorkam.«

So geschah es! und sie traf den Ton der Aricia zum glücklichsten Genüge Lauristons, welcher an seine »Neue Louison« dachte.

Hierbei kam es zu lebhaftem Streite zwischen Rambert und Lauriston. Rambert unterbrach öfters den Vortrag Louisons, weil er des klassischen Schwunges, der vorgeschriebenen Nachdrücklichkeit, kurz der französischen Korrektheit entbehre, wie er es kurzweg nannte. Ganz so wie er in Brüssel die junge Novize getadelt hatte. Lauriston dagegen lobte den einfachen, ehrlichen Vortrag Louisons – natürlich zum Entzücken derselben. »Sie schätzen ja doch Molière sehr hoch,« sagte er zu großer Überraschung Ramberts.

»Zum höchsten!«

»Nun dann – ist es Ihnen denn entgangen, was Molière begonnen hat, als er von Lyon nach Paris kam und eine tragische Rolle spielte?«

»Was denn?«

»Er sprach die tragische Rolle einfach und wurde vom Publikum abgewiesen, ja ausgelacht.«

»Nun also!«

»Ist es Ihnen entgangen, daß er in seinen Komödien, zum Beispiel in ›Impromptu de Versailles‹, zu wiederholten Malen seine Ansicht positiv aussprechen und lehren läßt; man solle den gespreizten, pathetisch übertreibenden Ton mit den sogenannten korrekten Kadenzen fallen lassen? Er sei erkünstelt und geschmacklos, weil unwahr. Man solle einfach und natürlich reden, einfach wie das Gefühl, welches man auszudrücken habe, also auch innig und rührend, wie unsere junge Künstlerin Louison soeben getan.«

Louison, von rührender Glückseligkeit fortgerissen, küßte ihm die Hand – sie, welche sonst jede Berührung mit Männern vermied.

174Es störte sie nicht, daß Rambert entgegnete: »Da hat auch Molière sich geirrt, und unsere Nation ist in ihrem klassischen Rechte verblieben.«

Zu ihrer Freude hatte er ihr auch seinen schönen Hund mitgebracht, und sie, welche sich früher um kein Tier gekümmert, fand den schönen Hektor lieb und herzig und liebkoste ihn über die Maßen; ja, eines Tages sagte sie plötzlich: »Lieber Lauriston, schenken Sie mir den Hektor!«

Hier also war alles auf gutem Wege. Aber außen stand es nicht so. Lauriston war arg gepeinigt. Ein Journal hatte seinen Namen genannt – Ferval hatte natürlich geschwatzt – als den Namen des neuen Liebhabers der abenteuerlichen Schauspielerin, und seine Mutter hatte das gelesen. Sie war außer sich. Ihr Alfred, ihr Ideal in einer Liaison mit einer so gezeichneten Person, die obendrein verheiratet war! Sie schrieb täglich an den unglücklichen Sohn, welcher ihr verloren ginge.

Lauriston fand kein anderes Mittel mehr, als sein fertig gewordenes Stück abschreiben zu lassen und ihr zuzuschicken. Darin war ja Louison geschildert als das liebenswürdigste Geschöpf – das mußte ja doch die Mutter erweichen.

Die Mutter aber antwortete sofort: »Und der Liebhaber in deinem Stücke, der bist du! So wird alle Welt sagen, und der Skandal wird nur um so größer werden.«

Dennoch war Lauriston zum Direktor des Theaters gegangen, hatte das damalige Verschwinden Louisons mit der Gewalt der Umstände, der Gewaltsamkeit O'Briens entschuldigt und sein Stück zur Annahme und Aufführung vorgelegt. Der Direktor, meinte er, wird schon dem Titel: »Die neue Louison« nicht widerstehen können, und für ihn ist ja der öffentliche Lärm über Louisons Schicksal eine unwiderstehliche Reklame.

Darin hatte er auch recht; aber auf die Frage, ob Demoiselle Louison die Hauptrolle spielen wolle und könne, vermochte er nur zu sagen: »Hoffentlich.«

175Das ist zu vag für einen Theaterdirektor, und es kam noch schlimmer. Nachdem er das Stück gelesen, sagte der Direktor: »Gut, gut und wirksam, sehr wirksam, aber in Versen! Wird Demoiselle Louison Verse sprechen können? Und was noch wichtiger: wird der Schluß genügen? Kaum. Das drohende Schwert O'Briens bleibt aufgehoben!«

Das war nur zu richtig. Lauriston wußte das wohl, und er war mehr als einmal zu Ferval gegangen, um zu fragen: ob Nachricht von O'Brien eingegangen. Die vierzehn Tage waren um, O'Brien konnte jede Stunde in Paris eintreffen.

Ferval hatte keine Nachricht. Sorgenvoll suchte Lauriston Abends seinen Freund Zech auf, welcher nur selten noch zu Louison hinauskam, weil sie wieder hergestellt sei und aufblühe wie eine in frischen Boden gepflanzte Blume.

Er fand ihn und teilte ihm die Sorgen mit, und wie es jetzt unerläßlich sei, sichere Nachricht über O'Brien zu erhalten. Denn wenn er komme, werde Louison am Ende doch außer Landes gebracht werden müssen.

»Holla!« rief Zech, »ich sehe Hilfe. Ein Kollege von mir, ein junger Engländer, Mr. Forrest, ist vor einiger Zeit an die medizinische Fakultät in Dublin berufen worden. Er macht dort großes Glück als moderner Arzt, er ist findig und kreuzbrav, an den können wir uns wenden.«

»Auf der Stelle!« sagte Lauriston und setzte ein Telegramm auf, welches den Mr. Forrest vom Stande der Dinge in Kenntnis setzte und um genaue Auskunft bat, ob O'Brien noch in Irland oder schon unterwegs sei. Im »Kleeblatt« beim Walliser Wirte möge er nachfragen.

Dies Telegramm, Zech unterzeichnet, trugen sie noch am späten Abend selbst aufs Telegraphenamt.

Am anderen Mittage brachte Zech die Antwort zu Lauriston. Sie lautete:

»Walliser sagt: O'Brien Lord geworden, Zimmer bestellt, 176jeden Tag in Dublin erwartet. Lord hat hier zu tun bei den Gerichten, also ein paar Tage Aufenthalt.«

Diese letzten Worte versprachen eine Galgenfrist. Ach, nur eine Galgenfrist! Ein paar Tage!

Louison mußte sorgfältig verschwiegen werden, daß Gefahrvolles heranzog. Sie war so glücklich errettet aus ihrer Apathie und lähmenden Furcht, und doch wußte weder Lauriston noch Rambert, was im Notfalle geschehen sollte zu ihrer Rettung. »Flucht ins Ausland!« meinte Lauriston. »In Ihrer Begleitung?« fragte Rambert, und Lauriston, seiner Mutter gedenkend, verstummte.

Er konnte das seiner Mutter nicht antun. Und wie stand es denn überhaupt mit seinem Verhältnisse zu dem Mädchen? Wie stand es mit seinem Herzen? Er wagte es nicht, sich selbst eine offene Antwort zu geben. Er ging täglich hinaus zu ihr, er verkehrte auch zuweilen allein mit ihr, und sie war lieb und gut; und wenn sie seinen Hektor streichelte und der Hund den Kopf nach seinem Herrn wendete, um auch von ihm gestreichelt zu werden, da begegneten sich wohl ihre Hände einen Augenblick lang. Louison fuhr nicht zurück oder doch nur langsam, und ihr Antlitz errötete. Aber zu irgend einem Geständnisse von seiner Seite kam es nicht.

»Deine Mutter! deine Mutter!« sagte er sich beim Fortgehen.

Die Zurückhaltung wurde ihm täglich schwerer. Louison war ja allmählich ganz so geworden, wie er sie früher gewünscht hatte: sanft, innig, ernsthaft, auch auf tieferes Gespräch eingehend. Und wie war das liebe Gesicht verklärt durch alle die schweren Wandlungen, welche sie durchgemacht, wie still beredsam war ihr Auge geworden, wie fesselnd der wehmütige Zug um den Mund, der früher gar nicht vorhanden gewesen.

Endlich eines Morgens kam die Zuversicht des Dichters über ihn, die Zuversicht, daß sein nach Grenoble gesendetes 177Stück doch endlich die Mutter rühren und gewinnen würde, nachdem sie es mehr denn einmal gelesen. Die Dichter glauben ja an Wunder, und besonders an diejenigen Wunder, welche ihre eigenen Dichterwerke absolut hervorzaubern müßten.

So faßte er den Entschluß, Louison am Abend sein Stück vorzulesen. Da wird auch ein Wunder einkehren! Das lag in seiner Gedanken Hintergrunde.

Er hatte ihr bisher kein Wort davon gesagt; weder ihr noch Rambert. Auch seine Unterredung mit ihrem früheren Theaterdirektor hatte er ihr verschwiegen.

Es gab also große Aufregung, als er nach Tisch hinauskam und sie leise fragte: ob sie sein Stück anhören wolle.

»Ein Stück? Ihr Stück?« rief sie, »ein fertiges Stück? O, das ist ja prächtig!«

Sie rief dies leider sehr laut, so daß es Rambert hörte, und nun war der Plan vereitelt, es ihr allein vorzulesen.

Sie hörten also beide zu. Leichter gemacht werden konnte der Erfolg wohl kaum einem Dichter. Es waren die letzten Vorgänge aus Louisons Leben, und Louison war die leidende Heldin; und das alles klang in schönen Versen. Louison saß da wie unter einer elektrischen Strömung.

Er las einfach, aber warm. Als er zu Ende war, applaudierte Rambert. Louison aber regte sich nicht; ihr Antlitz war in Tränen gebadet.

»Nur der Schluß,« sagte Rambert, »nur der eigentliche Schluß ist noch nicht stark genug, und« – da wurde er durch Jean unterbrochen, welcher einen Besuch ankündigte. Rambert ging eilig hinaus, damit ja kein Störenfried eindringe.

Louison und Lauriston waren allein. Er saß vor seinem Manuskripte, auf welches er seine Hand gelegt, und blickte auf sie.

»Ich habe Sie traurig gemacht?« sagte er.

Sie stand auf und ging zu ihm. Nur der kleine Tisch, 178auf welchem das Manuskript lag, trennte sie. Mit dem Taschentuche trocknete sie ihre Tränen, die andere Hand reichte sie ihm. Sie drückte seine Hand – das hatte sie nie getan – und sagte halblaut:

»Bin ich so viel wert, mein lieber Freund?«

Lauriston konnte nicht antworten, denn Rambert trat ein. Er war erregt und sagte: »Man will Sie sprechen, kommen Sie!«

Louison blieb allein. Sie hatte nichts bemerkt von Ramberts Aufregung und setzte sich, um in dem Manuskripte zu lesen.

Draußen aber fand Lauriston seinen Freund Zech, welcher ihm ein Telegramm überreichte. Es war wieder von Forrest aus Dublin. Rambert kannte es schon. Lauriston las:

»Eile ist jetzt nötig. O'Brien ist da und will nach Paris. Legate des verstorbenen Bruders halten ihn bei Gericht noch einige Tage auf, nur einige Tage. Reich geworden, wird er alle Hebel ansetzen, seiner Frau habhaft zu werden.«

»Was tun?« fragten Rambert und Zech gleichzeitig.

Lauriston, in erhöhter Stimmung wie jeder Dichter, welcher eben seine Dichtung vorgetragen, schwieg nur einen Moment, dann führte er Rambert und Zech weiter ab von der Tür, hinter welcher Louison war, und sprach halblaut:

»Wir müssen handeln wie Soldaten in der Schlacht: ich gehe nach Dublin.«

»Ah!«

»Verbergen Sie's Louison. Sagen Sie, ich wäre nach Grenoble zu meiner Mutter gerufen worden. Jede Minute ist kostbar. Adieu!«

Rambert blieb betroffen stehen. Zech folgte ihm. Auf der Treppe begegnete ihnen Rose, und Zech redete sie an. Da rief Lauriston vom Flur unten: »Adieu, Zech; ich sehe, du bleibst noch.«

»Herr Gott, nein! – Adieu, Rose!«

179Rose aber fragte hastig: »Was ist geschehen?«

»Nichts, nichts, Vogesenkind, was dich zu beunruhigen braucht!« – und dabei gab er ihr einen leisen Backenstreich, nun eiligst Lauriston folgend.

»Du sagt er, du, der Herr Doktor?« wiederholte die ihm nachblickende Elsasserin, und es schien ihr gar nicht unangenehm zu sein.

Sie fuhren nach dem Klub, welchem O'Brien und Ferval angehörten; Lauriston wollte Ferval sprechen.

»Du willst eine Dummheit begehen!« sagte Zech im Wagen.

»Ja, was ihr Dummheit nennt, ihr Materialisten, die ihr alle nichts fühlt als den Eigennutz. Gib mir eine Karte von dir und schreib' die Adresse des Forrest darauf; ich werde den Mann brauchen. Näheres kann ich dir nicht voraussagen, ich weiß es selbst noch nicht. Das hängt davon ab, wie ich die Dinge, welche mir vorschweben, in Dublin finde. Es schweben mir Dinge vor. Wir Schriftsteller, die wir erfinden und erzählen, wir sehen sorgfältiger zu als andere Leute, wenn Handlungen oder Begebenheiten sich ereignen, so wie ihr bei Krankheiten besser in die Falten des Körpers schaut als andere Leute. Und ich habe meine eigenen Gedanken über einzelne Falten der Dinge, welche in Dublin sich ereignet haben.«

Vor dem Klublokale stiegen sie aus. Zech schrieb die Adresse auf seine Karte, drückte kopfschüttelnd Lauriston die Hand zum Abschiede und ging.

Lauriston trat ein und fragte den Diener, ob Herr Ferval da wäre.

»Ja.«

»So bitten Sie ihn, einen Augenblick herauszukommen, und führen Sie mich und ihn in ein leeres Zimmer.«

Das geschah. Nach einigen Minuten stand Ferval vor ihm.

»Sammeln Sie sich, Ferval, zu einem interessanten Entschlusse, den ich Ihnen vorschlage.«

»Interessant? Dafür bin ich immer gesammelt.«

180»Sie sind ein leichtsinniger und leichtfertiger Mann.«

»Herr Lauriston!«

»Geduld! Es kommt besser. Sie haben schon manches getan, was sich vor dem Standpunkte eines guten Menschen kaum verantworten läßt.«

»Und das nennen Sie ›besser‹?«

»Es kommt. Dergleichen haben Sie getan bloß zu Ihrer Unterhaltung. Ich will Ihnen nun vorschlagen, etwas zu tun, was moralisch gut ist und was doch auch zu Ihrer Unterhaltung dient, und zwar zu ganz interessanter Unterhaltung.«

»Ah! Das wäre –?«

»Ich schlag' es Ihnen vor, weil ich zu wissen glaube, daß Sie doch im Grunde ein ganz guter Kerl sind, wie man gemeinhin zu sagen pflegt.«

»Was Sie sagen!«

»Ein Mann, den eine gute Mutter zu erziehen versucht hat. Also: O'Brien hat euch nichtswürdig betrogen; er hat, was schlimmer in euren Augen ist, er hat euch Schande gemacht; er hat euch sogar, was am gemeinsten, um Geld betrogen, und euer guter Ruf leidet darunter – Sie verstehen, daß ich euren ganzen Klub meine, den Klub der Lebemänner, welche man Jeunesse dorée nennt?«

»Freilich verstehe ich. Nun?«

»Ich reise noch mit dem Nachtzuge nach Calais und von da eiligst nach Dublin, um O'Brien zur Rede zu stellen, und ich wünsche Ihre Begleitung.«

»Ho! Wozu?«

»Wozu? Haben Sie mich nicht verstanden? Sie sollen mir helfen, euren Ruf reinzuwaschen, Sie sollen mir helfen, Gutes zu tun und dadurch das Andenken Ihrer Mutter zu ehren. Sie werden dabei die interessanteste Begebenheit Ihrer ganzen bunten Laufbahn erleben, und die Welt wird beifällig rufen: Diable! wer hätte das dem Ferval zugetraut! Den haben wir doch nicht gekannt! Wollen Sie mich begleiten?«

181»Vielleicht. Was wollen Sie O'Brien antun?«

»Ich will mich mit ihm schlagen, und Sie sollen es dahin bringen, daß er mich beleidigt, damit ich ihn fordern kann. Dann hab' ich die Wahl der Waffen. Auf Pistolen ist man zu weit auseinander, man hat den Feind nicht unter den Händen, das ist abstrakt. Ich will ihn unter den Händen, unter meiner Klinge haben. Wollen Sie?«

»Das wohl. Aber –«

»Das ist nur ein Höhepunkt unserer Expedition. Das interessante Drum und Dran werd' ich Ihnen unterwegs vorhersagen, es ist so pikant, daß ich Ihres Jubels darüber im voraus sicher bin. Also seien Sie einmal ein echter Lebemann, der das Leben entschlossen anpackt. Wollen Sie?«

»Mort de ma vie! ich will.«

Zwei Stunden später saßen sie im Eilzug nach Calais.

Lauriston hatte vorher noch zwei Briefe expediert. Einen an den Theaterdirektor:

»Lassen Sie die Rollen der ›Neuen Louison‹ ausschreiben und verteilen Sie dieselben sofort, damit sie rasch gelernt werden. Die Titelrolle besorg' ich selbst. Binnen acht Tagen liefere ich den wirksamen Schluß für die erste Probe. Das Manuskript erhalten Sie morgen.«

Der zweite Brief ging an Rambert:

»Das Manuskript der ›Neuen Louison‹ ist auf Ihrem Zimmer geblieben. Louison soll sich noch heute nacht die Titelrolle ausschreiben und sie auswendig lernen. Das Manuskript bitte ich morgen vormittag dem Theaterdirektor zu senden. Adieu.«


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