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VI. Lyrikas Kampf

»Lyrika, wie soll ich Ihnen danken! Sie haben mir die Freiheit der Rede wiedergegeben. Sie kennen mein trauriges Geschick, Sie sehen den Abgrund, vor dem wir stehen, wenn wir unserer Neigung nachgeben. Wie konnte ich es da wagen, vor Sie zu treten? Musste ich mir nicht sagen, dass ich Sie selbst mit mir ins Verderben reiße? Und nun wollen Sie dem Verhängnis entgegenhandeln! Lyrika, Sie wollen die Meine werden?«

So hatte Kotyledo gesprochen, noch vor einer Stunde zu ihr gesprochen. Und hatte sie nicht auch jetzt noch einmal ihn gewarnt? Noch einmal ihm vor Augen geführt, was er wage? Aber wo war die Ruhe der Überlegung im Augenblicke der Leidenschaft geblieben? Durch ihre Bemerkung, die sie im Trotz gegen die Tyrannei des Weltlaufs Atom zugeworfen, hatte sie die Schranke niedergerissen, die Kotyledos leidenschaftliche Natur zurückhielt. Jetzt flutete diese über. Ohne Lyrika sei das Leben für ihn schon heut zu Ende, mit ihr könnte er noch fast zwei Jahre glücklich sein. Und fühlte sie nicht ebenso? Nein, es war nicht zu widerstehen. Das kurze, aber reine Glück, das die Liebenden zu wählen im Stande waren, strahlte so hell über all die Dunkelheiten des zukünftigen Geschicks, dass sie seinem verlockenden Glanze allein sich überließen. Und im Gefühl ihrer Seligkeit, nun sie sich einander angehörten und umschlungen hielten, da glimmte wieder das Fünkchen der Hoffnung auf, das alle kalte Berechnung über den Haufen zu stürzen drohte. Es konnte ja doch möglich sein, dass Funktionata sich geirrt habe, es konnte vielleicht noch ein Mittel geben, den Gang der Ereignisse noch in eine andere Bahn zu lenken. Nein, es durfte nicht sein, dass diese Wonne so rasch vergehe. – »Ende hieße Verzweiflung, nein, kein Ende!«

Vor einer Stunde hatte sie so gedacht. Weit im Norden, wo die Luftanlagen längst geendet, am Abhange des Himmeltind auf einer der Lofoten hatten sie gesessen; hier, jenseits des Polarkreises, war ihnen die Sonne wieder erschienen, die in Deutschland ihnen entschwunden war.

»Morgen feiern wir unsere Vermählung«, hatte Kotyledo gesprochen. Ach, in seinen Armen war die Welt so sicher, so fest, so schön; wie er sagte, so musste es sein, es konnte nicht anders sein. Noch einmal sollte Funktionata die ganze Rechnung durchprobieren, jeden Versuch wiederholen; die Erlösung musste sich ergeben. Und – ergab sie sich nicht?

»Ein Augenblick, gelebt im Paradiese,
Wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.«

In seinen Armen, droben am einsamen Felsengestade, konnte sie es sagen; nur füreinander waren sie da, und vergessen war die rauschende Welt. Da mochte das Wort des alten Dichters gelten, eines der wenigen, dessen Verse sich unsterblich durch die Jahrtausende erhalten hatten.

Aber jetzt war sie allein in ihrem Zimmer an der großen 114. Hauptpassage. Vor ihren Fenstern sausten durch die Nacht hindurch mit schrillem Tone die Luftschrauben, summte das Gewühl des Weltverkehrs. Auf ihrem Tische lagen die Depeschen, die Stundenblätter, welche im Laufe des Tages angelangt; alles erinnerte sie an das große Getriebe, in welches sie unauflöslich verflochten war mit ihrem Geschick. Wie mochte das alte, weltverachtende Wort hierher passen, in diese Welt, welche nur besiegt werden konnte, indem man sie anerkannte?

Mechanisch blätterte sie in den angekommenen Zeitungen und Broschüren. Sie las vom großen deutsch-kalifornischen Tunnel und von dem Versuche, direkt auf den Mittelpunkt der Erde zuzubohren, und von den flüssigen Sauerstoffstrahlen, die das glühende Erdinnere bändigten, aber sie dachte sich nichts dabei. Da fiel ihr Kotyledos Name auf. Es war ein Angriff auf seine letzte Schrift über die notwendige Erhaltung der Arzneipflanzen. Sie blätterte in der Kritik und freute sich über die vergebliche Mühe des Gegners; sie hörte schon die Worte, mit denen Kotyledo ihn schlagen konnte. – Konnte er denn noch? Zerfiel nicht der Molekularkomplex C in der Rindenschicht seines Gehirns in 623 Tagen? Dieser reiche Geist sollte zerstört werden, entzogen werden den großen Aufgaben, die noch die Mitwelt an ihn stellte? Und das alles durch sie! Woher nahm sie das Recht, um weniger glücklichen Minuten willen den für sich allein besitzen zu wollen, der noch der Gesamtheit gehörte, und das, um ihn zu verderben! Sie begehen ein Verbrechen – die Worte Atoms fielen ihr ein. Ja, ein Verbrechen! Nicht am Naturgesetz, das mochte sie jetzt wenig kümmern, aber an dem geliebten Manne, den sie töten sollte, um ihn zu besitzen.

Vergebens suchte sie ihre aufgeregte Stimmung durch den Psychokineten zu besänftigen; sie konnte wohl ihre Gefühle bemeistern, aber die Erinnerung blieb, es blieb vor allem die Überlegung, die berechnende Überlegung, jetzt nicht mehr beeinflusst von der Leidenschaft des Augenblicks. Darfst du? Das war die Frage, die sie nicht ruhen ließ, die sie zur Verzweiflung, zum Wahnsinn zu treiben drohte. Und wieder kamen ihr die Worte des Alten in den Sinn:

»Nimm, o nimm die traurige Klarheit,
Mir vom Aug' den blutigen Schein!
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
Sterbliches Gefäß zu sein.
Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunklen Sinn...«

Sie durchmaß ihr Zimmer von einem Ende zum andern, vom Boden bis zur Decke, ohne Ruhe zu finden. Schon stieg im Nordosten heller und heller das Frührot auf, und die Straßenbeleuchtung verlosch. Der erste Strahl des Tagesgestirns, der die höchste Zinne des Stadtteils traf, löste durch eine fotochemische Reaktion die Mechanik des großen Orchestrions aus, und durch alle Häuser drang der gewaltige Pauken- und Posaunenton, welcher den anbrechenden Tag verkündete. Wie oft hatte sie dieser Ton zu neuer Tätigkeit geweckt, wie oft hatte sie seit ihrer ersten Kinderzeit diesen machtvollen Klang mit heiligem Ernst vernommen, der jedweden zur Pflicht rief, der, nach der würdigen Sitte der Zeit schon dem Kindergemüt unvergesslich eingeprägt, eine Mahnung war an den unabwendlich arbeitenden Mechanismus, dem alle gehorchen müssen. Und wie der Klang der Osterglocken durch die Macht der Gewohnheit dem weltüberdrüssigen Faust die Schale von der Lippe zieht, so wirkte das Donnernahen der Leben spendenden Sonne auf Lyrika, das treue Kind ihrer Zeit. Mit einem Male stand es klar vor ihr, dass sie im Begriff sei, eigenem egoistischen Sinn zuliebe den Geliebten zu verderben, an der Menschheit zu freveln, sich dem Weltlauf entgegenzustemmen, und zweifellos schien ihr das Gebot: Du darfst nicht! Und der Entschluss der Entsagung war gefasst.

Aber wie ihn retten? Wie sich ihm entziehen? Denn er durfte sie nicht mehr sehen – sie fühlte, nur in ihrer Flucht lag Rettung für sie beide. Wo er sie gefunden hätte, da wäre sie an ihr Wort gebunden gewesen, das er sicher nicht lösen wollte. Lyrika durfte nicht mehr existieren für Kotyledo, und das konnte sie nur, wenn sie aus seiner Machtsphäre verschwand.

Aber wohin, wohin auf dieser allumwanderten, umflogenen, durchwühlten Erde? Wohin?

Ruhelos sann sie nach. Dann blitzte ihr ein Gedanke auf, sie sprang empor und verließ im Fluge ihre Wohnung.


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