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V. Ein Mittagbrot. Der Heiratsantrag. Was man im 39. Jahrhundert von der Zukunft dachte

Man trat in das Speisezimmer. Die Billigkeit der künstlichen Nahrungsmittel gestattete wieder der Familie, ihren eigenen Tisch zu haben, während noch vor dreihundert Jahren selbst der Reichste nur in den allgemeinen Garküchen speisen konnte. Natürlich wurde auch der Zusammenhang der Familie und ihre Abgeschlossenheit wieder angebahnt, und es zeigte sich auch hier, wie materieller Fortschritt den sittlichen und idealen zur Folge hat.

Man setzte sich um den großen Tisch in der Mitte des Zimmers; er trug in seiner Mitte mehrere eigentümliche Gefäße, von Drähten geschmackvoll umwunden, die auf einen Druck des Fingers durch Schließung eines galvanischen Stromes in Glut versetzt wurden. Rings umher befanden sich die einfachen Rohmaterialien der Speisen, wie sie aus der Fabrik kamen, in zierlichen Schalen. Da war kein blutiger Knochen, kein rohes Fleisch zu sehen, nichts erinnerte an die kannibalischen Sitten der Vorzeit und die pflanzen- und fleischfressenden Tiere, welche Leben töten mussten, um Leben zu erzeugen. Da wirtschafteten nicht Köchinnen und Köche stundenlang mit ihren Fingern an den zu bereitenden Speisen – im Moment, wo man sich zu Tische setzte, mischte die Hausfrau mit dem Platinlöffel vor den Augen der Gäste die Gerichte, welche im Augenblicke gar zum Genusse waren, und unendlich mannigfaltiger wurden die Kombinationen der geschmackvollen Ingredienzien.

»Heute habe ich dir etwas Besonderes mitgebracht, liebe Funktionata«, sagte Propion; »es ist ein neuer Versuch zu einem Gewürz, das, wie ich glaube, großes Aufsehen machen wird. Ihr sollt es zuerst kosten.«

Alle fanden den Geschmack unbeschreiblich erfrischend und anmutig, selbst Lyrika fühlte sich zu einem Lobe veranlasst, und der kleine Selen konnte nicht genug bekommen. Atom schlug vor, das neue Gewürz Lyrizin zu nennen, aber Lyrika dankte für die Ehre.

Da flog ein Papierstreifen durch das Fenster. Ein vorüberfliegender Kolporteur hatte die neue Stundenzeitung hereingeworfen.

»Schon vier Uhr?«, fragte Funktionata. »Gib her«, sagte sie zu Selen, der das Blatt aufhob, »ich will euch mitteilen, was seit drei Uhr Neues passiert ist.«

Sie legte ihr Saugrohr fort und las:

»Die Versuche, mit den Bewohnern des Mars in Verbindung zu treten, sind wieder kräftig in Angriff genommen worden. Man hofft, durch Anwendung der Zirkular-Ätherströme zum Resultat zu kommen. Der Bau der Marsbewohner ist bekanntlich siebenstrahlig, über die Organisation ihrer Sinne ist man jedoch noch nicht im Klaren, und es wird sehr wahrscheinlich, dass, wenn sie überhaupt eine Raumanschauung haben, dieselbe eine solche von sieben Dimensionen ist. Dies dürfte allerdings die Verständigung bedeutend erschweren. Ein anderes Projekt von größter Bedeutung musste leider wieder aufgegeben werden. Es handelte sich um Begründung einer Aktien-Gesellschaft zur Ausbeutung der auf dem Monde entdeckten Goldlager. Doch stellte es sich als vorläufig unmöglich heraus, den Transport zur Erde ohne Gefährdung der Bewohner derselben zu ermöglichen, da die Bahn der zu befördernden Goldstufen sich nicht genau genug regulieren lässt. Das Unternehmen muss also ruhen, bis es gelungen ist, das Geheimnis wieder zu finden, das der sagenhafte Tausendkünstler Warm-Blasius im 24. Jahrhundert besessen haben soll, nämlich frei von der Gravitation durch den Weltraum zu fliegen.«

»Die Redaktion der ›Himmlischen Wespen‹ macht hierzu die Bemerkung, dass trotz der auf dem Monde so geringen Schwerkraft die Fallgeschwindigkeit der Aktien alle Erwartung übertroffen habe.«

» St. Gotthard. Die Ausgrabungen im alten Tunnel werden fortgesetzt und brachten eine reiche Anzahl interessanter Gegenstände zum Vorschein, darunter eine Reihe jener kolossalen Trinkgefäße, welche die alten Deutschen Seidel nannten. Das Merkwürdige aber sind wohl die alten Zeitungen, wahre Ungeheuer von mehreren Quadratmetern Papierfläche, eng bedruckt, deutsch, englisch, französisch, italienisch. Wenn man aber die alten Sprachen zu entziffern sucht, so zeigt sich, dass eigentlich nichts darin steht, nichts von Wichtigkeit. Und das las man damals. Man fand ferner zwei eigentümliche Urnen, innen mit noch gut erhaltener Seide gefüttert; der Zweck ist dunkel. Der berühmte Antiquar Schimmel behauptet, es seien Kopfbedeckungen! Möglich ist es – was war damals nicht möglich! Zu einer Zeit, wo man schlau genug war, die Verstorbenen in die Erde zu scharren, um das Trinkwasser zu verbessern!«

Funktionata brach hier ab. Die Mahlzeit war beendet.

Da Propion und Funktionata das Zimmer verließen, glaubte Atom Gelegenheit zu finden, eine Unterredung mit Lyrika, vielleicht eine Verständigung mit ihr zu erlangen. Schon oft hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt, welchem Lyrika bis jetzt noch immer sich zu entziehen wusste.

Seine Schwester Funktionata war Lyrikas vertraute Freundin; aber es war ihm nicht gelungen, etwas anderes durch sie zu erreichen als die Gewissheit, dass Lyrika ihm nicht geneigt sei. Atom war zu sehr von seinem eigenen Werte überzeugt, als dass er an seinem schließlichen Siege hätte zweifeln mögen; Lyrikas Neigung für Kotyledo schien ihm das einzige Hindernis, und nachdem nun die auf seine Anregung von Funktionata unternommene Rechnung ergeben hatte, dass eine Verbindung mit Kotyledo dessen Untergang herbeiführe, glaubte sich Atom seinem Ziele näher als je. Er ging jetzt auch direkt darauf los. Man hatte im 39. Jahrhundert nicht Zeit noch Lust, längere Umschweife zu machen, man war sehr aufrichtig und genierte sich wenig. Ein Heiratsantrag namentlich musste nach der gebräuchlichen Sitte gleich in der ersten Frage der Unterredung gestellt werden. Man mag über diese Form verschiedener Meinung sein, aber es war so. Ein uns gegenwärtig wunderlich erscheinender Gebrauch war auch der, dass man jedesmal mit dem Finger auf die angeredete Person zeigte, sie hätte sonst die Worte nicht auf sich bezogen.

Atom zeigte also mit dem Finger auf Lyrika und sagte: »Wollen Sie mich heiraten?«

»Nein«, entgegnete Lyrika und zeigte auf Atom, das war in Ordnung.

»Warum nicht?«, fragte nun Atom. Das hatte er nicht nötig, aber wenn ihm Lyrika antwortete, so war es gut.

»Weil mein Herz einem anderen gehört.«

»Ihr Herz? Ist dieser Muskel bei Ihnen das Organ der Gefühle? Doch ich weiß, Sie lieben bildliche und altertümliche Ausdrucksweisen.«

»Ihre Bitterkeit ist mir ein Beweis Ihres Ärgers«, sagte Lyrika, »und das tut mir Leid, denn ich habe keine Veranlassung, Sie betrüben zu wollen.«

»Ich ärgere mich nie«, unterbrach sie Atom. »Ich beherrsche meine Reflexbewegungen und suche mein Ziel durch Überlegung zu erreichen.«

»Es mag praktisch sein, ist aber nicht nach meinem Geschmack«, bemerkte Lyrika.

»Ich bedauere meine Mangelhaftigkeit. Aber wem gehört denn Ihr Herz?« fragte Atom.

»Darüber brauchte ich Ihnen, wie Sie wissen, keine Rechenschaft zu geben; jedoch, ich will ganz offen sein und Ihre Vermutung bestätigen.«

»Kotyledo?«

»Ja!«

»Ich danke Ihnen. Aber er wird nie der Ihre werden.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen auch, warum?«

»Ja.«

»Und trotzdem...«

»Trotzdem.«

»Und werden Sie Ihre Meinung nie ändern?«

»Niemals!«

»Sie sind offen, Lyrika. Ich weiß nun, was ich zu tun habe.«

»Und wollen Sie nun auch mir eine Frage ebenso offen beantworten, Atom?«

»Fragen Sie.«

»Ist es unmöglich, dass sich Funktionata irrt?«

»Unmöglich.«

»Ich meine nicht, dass ihre Rechnung falsch sei; aber könnte nicht in den Voraussetzungen, im Ansatz ein Irrtum vorgekommen sein? Wie ist es möglich, alle die Bedingungen, welche den Lebensprozess eines Menschen erhalten, in ihrer Mannigfaltigkeit zu erkennen, all die Wechselbeziehungen richtig in Rechnung zu ziehen?«

»Ich will es Ihnen sagen. Im Allgemeinen ist diese Aufgabe so schwierig, dass sie heute noch nicht gelöst zu werden vermag. Es gibt aber spezielle Fälle, in denen sich die Aufstellung der Gleichungen so vereinfacht, dass sie ohne Schwierigkeit geschehen kann. Zu diesen Fällen gehört der Ihrige.«

»Und warum?«

»Es ist notwendig, um alle Beziehungen zwischen zwei Personen der Rechnung unterwerfen zu können, bis zu jenem Punkte zurückzugehen, welcher den gemeinschaftlichen Ursprung für beide enthält. Wenn es möglich ist, das Schicksal desjenigen Paares zu bestimmen, von welchem beide abstammen, ist die Aufgabe lösbar. Bei Ihnen ist dies der Fall, da die gemeinschaftliche Wurzel Ihres Stammbaumes in eine Zeit fällt, von welcher an genaue Aufzeichnungen durch die Standesregister und öffentlichen Listen bekannt sind. Diese Zeit reicht bis ins neunzehnte Jahrhundert hinab, und in jener Zeit lebten Ihre gemeinschaftlichen Eltern. Ihr Stammvater hieß Schulze und wohnte als Privatmann in der Hauptstadt des damaligen Deutschlands, Berlin. Dies hat Funktionata leicht erfahren können. Zufällig kennt man aber auch sein näheres Schicksal. Es fand im Jahre achtzehnhundertsechsundsiebzig eine so genannte Weltausstellung in einer amerikanischen Stadt namens Philadelphia statt. Schulze hatte sich dahin begeben; auf der Rückfahrt verschwand das Schiff, auf dem er sich befand, und man muss annehmen, dass er mit demselben im Ozean begraben liegt. Dieser Umstand ermöglichte die Aufstellung der Differenzial-Gleichungen, bei denen nun ganze Reihen von Gliedern null werden; und somit kennen wir ihr Schicksal. Doch sollten Sie überlegen...«

»Ich danke Ihnen«, unterbrach ihn Lyrika. »Auch ich weiß, was ich zu tun habe.«

»Und ich werde...«

Atom sprach nicht zu Ende.

Funktionata, Propion und mit ihnen Kotyledo schwebten zum Fenster herein. Sie hatten, am Ufer des Meeres luftfliegend, Kotyledo bemerkt, der von seinem Ausfluge mit Strudel zurückkam. Trotz seines Sträubens nötigten sie ihn, bei ihnen vorzusprechen – vielleicht war auch sein Sträuben nur ein scheinbares, da ihn seine Sehnsucht doch wieder in Lyrikas Nähe trieb.

Die fünf Personen begrüßten sich nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, die jedoch bald vorüberging, nachdem Propion seine Psychokineten angeboten hatte. Und während dies wohltätige Instrument mit seinen milden Stimmungen die Gemüter ergötzte, entspann sich eine Unterhaltung.

Propion erzählte von seinem Besuche bei Strudel.

»Wenn diese Behandlung der einzelnen Gehirnpartien«, sagte er, »welche ja jetzt erst seit einigen zwanzig Jahren üblich und noch in ihren Anfängen begriffen ist, durch mehrere Generationen fortgesetzt wird, so muss ganz unzweifelhaft eine erneute Umgestaltung der sozialen Verhältnisse eintreten, und ich wäre neugierig, die Folgen zu erfahren. Es wird offenbar eine so eigentümliche Entwicklung des Gehirns stattfinden, dass man noch gar nicht abzusehen vermag, welche wunderliche und abenteuerliche Auffassung der Welt daraus entstehen könne.«

»Wenn du von wunderlichen und abenteuerlichen Auffassungen sprichst«, unterbrach ihn Funktionata, »so muss doch hinzugesetzt werden, dass solche Bezeichnungen nur von unserem jetzigen Standpunkte aus berechtigt sein können. Wenn aber die Ausbildung des menschlichen Gehirns durchgängig eine andere geworden ist und dadurch eine andere Auffassung der heutigen Körperwelt bedingt wird, nun, so ist diese eben dann die normale; und ich sehe nicht ein, warum man sich nicht in einer Welt mit vier Raum- oder zwei Zeitdimensionen ebenso behaglich fühlen soll als in der unseren – die übrigens durch Aufstellung der Weltformel die Zeitanschauung schon so gut wie eliminiert. Vorausgesetzt ist freilich, dass die Form der Auffassung und des Denkens für alle wieder ein und dieselbe ist.«

»Eine Veränderung der formalen Seite des Denkens in Ihrem Sinne von der modernen Pädagogik zu erwarten schiene mir doch höchst bedenklich«, sagte Kotyledo. »Berücksichtigen Sie die ganz unabsehbaren Verwicklungen, welche hieraus entstehen können. Man müsste befürchten, dass sich die Menschen untereinander nicht mehr verstehen würden. Die Sage erzählt von einer babylonischen Sprachverwirrung; welche Wirrsale erst müssten sich ergeben, wenn auch die Auffassung des Verstandes und der Sinnlichkeit nicht mehr dieselben wären! Denken Sie sich einen Teil der Menschen so gebildet, dass er das hört, was der andere sieht – und umgekehrt; oder dass er die Kategorie der Kausalität nicht mehr besitzt, das heißt, dass er nichts mehr als Grund und Folge, als Ursache und Wirkung verknüpft, sondern vielleicht in irgendeiner höheren Anschauung – sagen wir als immanenten Zweck oder dergleichen – zusammenfasst, eine Anschauung, die ihrerseits wieder allen übrigen Menschen unverständlich bleibt. Wer ist nun noch der Vernünftige? Alle wissenschaftliche Forschung hörte auf. Und welche Verwirrung der sittlichen Begriffe könnte entstehen – nein, man möge sich vor einer Übertreibung der Hemisphärionischen Methode hüten.«

»Ihre Befürchtungen vermag ich nicht zu teilen«, bemerkte Atom dagegen. »Bei einer verständigen Benutzung der Hirnschule wird man sich wohl hüten, Vorstellungen auszubilden, welche den normalen Charakter überschritten. Aber allerdings wird in vielen Individuen eine gewisse einseitige Ausbildung überhand nehmen können. Wenn auch die logische Arbeit die Hauptaufgabe des Menschen ist, so gibt es doch auch andere Seiten der menschlichen Natur, welche in der gemeinschaftlichen Gestaltung des Lebens ihre Rolle spielen. Ich will nicht von der Ausbildung des Stimmungssinnes oder der ethischen Seite des Menschen reden – es lassen sich diese Gebiete nicht streng trennen, und man mag sie unter dem allgemeinen Begriff geistiger Tätigkeit zusammenfassen. Aber wir bedürfen trotz aller Maschinen dennoch auch einer gewissen Summe von Muskelkraft in der Menschheit, und wir bedürfen vor allem des Menschen selbst, das heißt der Erhaltung der Gattung. Körperliche Arbeit und Fortpflanzung sind die beiden Faktoren, welche ebenfalls noch Berücksichtigung finden müssen! Und hier, glaube ich nun, wirkt unsere moderne Erziehung ganz in gleichem Sinne mit dem großen Naturgesetze, welches der Entwicklung der organischen Wesen überhaupt zu Grunde liegt, mit dem Gesetze der Differenzierung. Weißt du, Funktionata, was man unter Differenzierung der Organe versteht?«

»Ich kenne wohl eine Differenzierung der Funktionen in der Mathematik«, erwiderte Funktionata lächelnd, »aber die Bedeutung des Wortes im naturwissenschaftlichen Sinne ist mir nicht ganz klar.«

»Man versteht darunter«, sagte Kotyledo, die Erklärung als Fachmann übernehmend, »das Prinzip der Arbeitsteilung, das heißt der allgemeinen Neigung aller organischen Individuen, sich immer ungleichartiger auszubilden; je ungleichartiger ihre Bedürfnisse und ihre äußeren Tätigkeiten sind, umso leichter können sie nebeneinander existieren, ohne sich das Feld streitig zu machen. Der Kampf ums Dasein begünstigt diese Divergenz. Dieser Sonderung der individuellen Ausbildung entspricht auch eine Differenzierung der Organe; und im Allgemeinen findet man, dass, je höher ein Organismus in der Reihe der Wesen steht, umso mannigfaltiger ausgebildet seine Organe sind. Während alle Lebenstätigkeit bei den niedrigsten Tieren auf eine Zelle konzentriert ist, scheiden sich die Tätigkeiten der Zellen auf den höheren Stufen mehr und mehr; gewisse Zellgruppen widmen sich dann allein der Nahrungsaufnahme, andere der Licht- und Schallaufnahme und bilden sich zu Werkzeugen des Sehens und Hörens aus. So sehen wir die Organe der Sinnesauffassung, der Ernährung, der Bewegung und Fortpflanzung entstehen, und je mehr sich diese wieder in sich sondern und in die Arbeit teilen, umso mehr vermag das Individuum zu leisten. Bei den höchstentwickelten Organismen reicht nun sogar ein Individuum nicht mehr aus, alle Aufgaben der Gattung zu erfüllen. Die verschiedenen Fähigkeiten und Arbeiten zur Erhaltung des eigenen Lebens und des der Nachkommenschaft verteilen sich in verschiedenem Maße auf die beiden Geschlechter. Auf diesem Standpunkte steht neben vielen höheren Tieren gegenwärtig auch noch der Mensch. Doch hat die Natur den Weg, welchen sie einzuschlagen gedenkt, uns schon in einem Zweige der Tiere angedeutet, welche, wenigstens in gewisser Beziehung, selbst den höchstentwickelten Säugetieren vorangeschritten scheinen. Wenn wir unsern Stammbaum bis zu den Würmern hinab verfolgen, so zeigt es sich, dass sich aus diesen heraus zwei Zweige entwickelten, welche auf einen Gipfelpunkt der Ausbildung gekommen sind und eine größere Verbreitung zeigen, während die Übrigen im Niedergange begriffen sind. Es sind dies einerseits die Wirbeltiere, andererseits die Insekten. Wie in der Reihe der ersteren der Mensch an der Spitze steht, so haben auch in der Reihe der Insekten einige Klassen eine gewisse Kulturstufe erreicht, ich meine insbesondere die Bienen und Ameisen. Sie bauen Häuser, bilden Staaten und haben soziale Einrichtungen und Kunsttriebe, welche sie auf eine bedeutendere Stufe des Daseins stellen. Bei ihnen ist nun die Differenzierung weiter vorgeschritten, denn wir unterscheiden außer den Männchen und Weibchen auch noch geschlechtslose Arbeiter. Dies führe ich als Beispiel an. Und wenn ich nun Atom recht verstanden habe, so meint er, dass die nächste Entwicklungsstufe, welche der Menschheit bevorsteht, eine solche wäre, in welcher die verschiedenen Tätigkeiten, Aufgaben und Organe, welche jetzt noch in einem Individuum vereinigt sind, auf verschiedene Individuen verteilt wären.«

»Sehr gut.« Propion lachte. »Sie meinen also, es wird dann besondere Denkmaschinen, besondere Gefühls-, Arbeitsmenschen und so weiter geben?«

»Ja, gewiss«, sagte Atom, »und ich sehe gar nicht ein, warum immer nur zwei Geschlechter, ein ›schönes‹ und ein ›starkes‹, da sein sollen, warum nicht auch einmal drei oder vier.«

»Ach«, rief Funktionata, »das fehlte noch! Was soll dann so ein armes Liebespaar oder vielmehr eine Liebesdreiheit anfangen, ehe sie sich zusammenfindet! Haben doch zwei Herzen schon genug zu tun, bis sie zusammenkommen, und dann sollen es gar drei sein, ehe die Hochzeit gefeiert wird.«

»Das ist freilich schlimm«, bemerkte Atom.

»Und drei Schwiegermütter – nein, vielmehr drei mal drei mal drei gleich siebenundzwanzig Schwiegerelterlinge!«, seufzte Propion scherzend.

»Nun, beruhigen wir uns«, rief Kotyledo. »Wir erleben es nicht mehr. Darüber müssen noch viele Tausende von Jahren hingehen; aber man kann sich dem Gedanken nicht verschließen, dass, wenn unsere alte Erde noch so lange hält, das Gesetz der Entwicklung diesem Zustande zutreibt.«

»Der vielleicht gar nicht so unangenehm ist«, warf Atom ein.

»Ich will darüber nicht entscheiden«, begann jetzt Lyrika; »aber mir ist ein Bedenken gekommen, das mir viel näher zu liegen scheint als diese in eine weite Zukunft greifenden Spekulationen. Ich fürchte auch die Einseitigkeit der Ausbildung der einzelnen Gehirnpartien, und zwar deshalb, weil gerade diejenige Seite des Menschen darunter leiden wird, welche ihm das reinste Glück zu gewähren im Stand ist, die Seite des Gemüts. Wohl können wir uns mit Hilfe des Psychokineten immer noch beliebigen Stimmungen hingeben, aber ist es nicht ein trauriger Ersatz, diese künstliche Hervorrufung von Furcht und Hoffnung, Zagen und Jubeln, wenn diese Affekte aus der Wirklichkeit mehr und mehr entschwinden? Wenn wir unsere Zukunft vorausberechnen, wenn die Komplikation unserer Lebensbedingungen klar vor Augen liegt, wohin schwindet da die Poesie des Daseins?

Nur ein Irrtum ist das Leben.
Und das Wissen ist der Tod.«

Kotyledo nickte ihr zu, Atom aber entgegnete: »Sie zitieren da einen uralten Ausspruch, der für uns gar keine Geltung mehr hat. Ich kann für meinen Teil nur ein Glück in dieser Klärung der Verhältnisse sehen. Nur müssen wir uns von Jugend auf – und das geschieht neuerdings glücklicherweise – mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir eben nur unter Bedingungen leben, dass sich unser Lebensprozess und unser Schicksal nach großen und ehernen Gesetzen vollzieht; wenn wir nun diese Gesetze mit allen Einzelumständen kennen, so mögen wir umso leichter uns ihnen beugen. Nur wenn wir unsere Zukunft nicht kennen, kann Enttäuschung und Leid entstehen; liegt sie aber klar und offen da, so kann überhaupt keine Hoffnung erweckt, also auch keine vereitelt werden; es kann keine Furcht und Angst uns quälen, denn kein ungewisses Grauen liegt vor uns, sondern nur sichere Gewissheit; und in dieser zu leben, muss uns einfach zur Gewohnheit werden. Es handelt sich nur um einen Übergang. Vorläufig liegt ja die Sache noch gar nicht so, dass wir bis ins Einzelne wüssten, was uns bevorsteht; wir können nur in gewissen Fällen fragen: Wenn du dies und das tust, was geschieht dann? Wenn du diese Voraussetzung machst, was muss daraus folgen? Und die Antwort darauf gibt uns die Rechnung. Es steht uns also noch eine Wahl offen, und wir können uns noch in gewisser Beziehung der Täuschung hingeben, als sei unser Wille in Wirklichkeit frei. Wer hierin eine Genugtuung findet, der mag davon Gebrauch machen! Daran aber sollte er unverbrüchlich festhalten: Füge dich dem Schicksal, dessen Gesetz dir bekannt ist; weißt du, dass eine Handlung dein Verderben zur Folge hat, so unterlass sie und gib dich nicht der trotzigen Hoffnung hin, das Schicksal müsse seinen Lauf zu deinen Gunsten ändern; halte fest an der Überzeugung, dass die Gesetze des Daseins unveränderlich sind und dass der am besten lebt, der sich ihnen fügt, wo er sie erkennt, und nur dort kämpft, wo noch Wechsel möglich ist, das heißt, wo noch Schatten der subjektiven Erkenntnis liegen.«

»Und ich«, rief Lyrika, die mit größter Ungeduld den letzten, eigentlich ihr allein geltenden Worten zugehört hatte, »ich«, rief sie mit glänzenden Augen, »werde auch kämpfen gegen das Gesetz der Notwendigkeit; wenn ich eine Hoffnung gefasst habe zur Zeit meiner Blindheit, wenn ich dann sehend werde und erkenne, dass ich Verderbliches gehofft – so bleibt doch noch die Frage: Ist nicht das Verderben selbst besser als der liebsten Hoffnung entsagen? Ist es nicht schöner, mit seiner Hoffnung unterzugehen, als ohne sie zu leben? Hat das Dasein ohne sie noch einen Wert? Und diese Frage habe ich zu entscheiden.«

»Und wenn Sie«, rief Atom erregter als gewöhnlich, »diese Frage so entscheiden, wie Sie zu wollen scheinen, so begehen Sie ein Verbrechen, so versündigen Sie sich an der Gewalt des Naturgesetzes, und Sie büßen gerechterweise.«

»Wenn es das echte Gesetz der Natur ist, da den Menschen unvermeidlich und nicht nur fälschlich von ihnen geglaubt – gut, dann werde ich gern büßen.«

Mit diesen Worten ergriff sie ihre Schraube, verließ das Zimmer und schwebte zum Fenster hinaus. Ohne sich zu besinnen, stürzte Kotyledo ihr nach. Zwischen den wogenden Wolken der leuchtenden Gase holte er sie ein, und sie verloren sich in den gewundenen Bahnen des Luft- und Wolkengartens.

Der Abend war schon heraufgezogen, aber die Anlagen, in welchen Kotyledo und Lyrika sich bewegten, bildeten ein Meer von Licht im eigentlichen Sinne. In immer neuen Gestalten wogten und wallten die luftigen Straßen und verdunkelten mit ihrem Glanze die alten Sterne, die in nur wenig veränderten Stellungen herniedersahen wie vor Jahrtausenden.


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