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(1886)
Es hatte eben dreizehn geschlagen, und im mittleren Deutschland fing es an zu dunkeln, wenn auch die staatliche Zentralbeleuchtung und die neu eingeführte Weltzeit, die sich nach dem Meridian von Washington richtete, über die Tatsächlichkeit eingetretener Dämmerung hinwegzutäuschen suchte. An dem Untergange der Sonne ließ sich nichts ändern, weder durch neue Gesetze noch durch internationale Verträge, und das war freilich sehr bedauerlich, wenn man bedenkt, wieviel Zeit durch die schlechte Angewohnheit der Sonne, die Hälfte des Jahres unter dem Horizont zu sein, für die produktive Arbeit verlorengeht. Da die Menschen wieder einmal unzufrieden waren, so suchten sie nach einem Prügelknaben für ihre eigene Jämmerlichkeit, und es entstand die Partei der Antisomnisten oder Schlaffeinde, welche den allnächtlichen Schlummer als die kulturuntergrabende Gewalt anklagten und befehdeten. Aber das war nur ein schnell bereuter Narrenstreich des höheren Pöbels, dessen hohläugige Gesichter bald anzeigten, was sie ohne den »Schmarotzer« Schlaf waren. Indes blieb es nicht zu leugnen, daß die Gewohnheit des Schlafes zugenommen hatte: Man schlief mehr als früher. Sobald dies statistisch festgestellt worden, erschien der Kopernikus des Schlafproblems, welcher die große Frage durch die Umkehr löste und dem alternden Europa einen neuen Völkerfrühling verhieß, wenn es sich dem intensiven Massenschlafe zu huldigen entschlösse.
Die Biomystik, eine neue Stufe der veralteten Biologie, hatte die Entdeckung gemacht, daß die Tendenz der menschlichen Entwicklung nach der Seite des Schlaf- und Traumlebens gerichtet sei. Daß der Mensch mit der rauhen Wirklichkeit zurechtkommen könne, hatte sich als eine Täuschung der Realisten erwiesen; je mehr die Kultur fortschritt, um so ohnmächtiger stand sie den Forderungen des Tages gegenüber, um so weniger vermochte sie den neuen sozialen Problemen gerecht zu werden. Aber die Natur reguliert sich bekanntlich selbst. Was die Kultur nicht leisten konnte, schien der Organismus übernehmen zu wollen. Der moderne Mensch schlief, er schlief viel mehr als der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, welcher doch zweifellos schon verschlafener war als der antike Mensch. Mehr schlafen, mehr träumen! Das war die einfache biologische Lösung des großen Kulturrätsels, auf welche die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts nicht gekommen waren. Und die Sache lag doch so einfach.
Der moderne Kulturfortschritt charakterisiert sich durch die immer mehr hervortretende Übertragung der Arbeit von dem Körper auf den Geist. Muskelanstrengung wird durch Gehirnleistung ersetzt. Die natürliche Folge ist die überwiegende organische Ausbildung des nervösen Apparats. Hatte sich die Überreizung des Denkorgans schon früher in der gesteigerten Nervosität einzelner hervorragender Individuen geltend gemacht, so ergriff dieselbe jetzt die ganze Gattung. Die organische Fortbildung erforderte daher die längere Schlafruhe. Solange man aber schlummert, spart man Essen und Trinken. Folglich reduzierte sich der Nahrungsbedarf der Kulturmenschheit in demselben Verhältnis, in welchem ihre Schlafsucht durch Gehirnüberreizung zunahm. Das war der geniale Kunstgriff der Natur, durch welchen sie die Ernährungsfrage, den schwierigsten Teil des sozialen Problems, glücklich löste. Die Menschheit entwickelte sich in dem Sinne, daß die Nahrungsaufnahme durch den Schlaf ersetzt wurde. Dies geschah ungeachtet des Widerspruchs der Physiologen, welche behaupteten, daß eine verminderte Ausgabe noch keine Einnahme bedeute. Sie verkannten jedoch die Natur der Gehirnarbeit. Ein Metaphysiker bewies dagegen mit Leichtigkeit, das Endziel der Erdentwicklung bestehe darin, daß die Menschheit. nach und nach der Periode ewigen Schlafes sich nähere; ist diese erreicht, so hören Geburt und Tod auf, die Gattung wird konstant, und die individuelle Unsterblichkeit ist gesichert; zugleich aber herrscht allgemeine Glückseligkeit, indem das sorgenfreie und verantwortungslose Traumleben an Stelle der harten und strengen Wirklichkeit tritt. In diesem Sinne seien die theologischen Vorstellungen vom Jenseits zu verstehen. Der Philosoph begründete seine Ansicht hauptsächlich damit, daß die beglückende Wirkung seines hervorragendsten Werkes schon jetzt in der schlafbringenden Eigenschaft desselben sich zeige.
Schlaf war das nationale Ideal geworden. Alle staatserhaltenden Parteien waren einig, daß das Wohl des Vaterlandes geknüpft sei an die möglichst große Schlafmenge der Individuen. Man verglich die Länder nicht mehr nach ihrer Kornproduktion, ihrem Kohlenreichtum, ihrer Industrie, ihrem Export, ihrem Kindersegen, ihrer Wehrkraft, ihrer Steuermenge, berechnet für den Kopf der Bevölkerung, sondern lediglich nach der Zahl der verschlafenen und verträumten Stunden. Es zeigte sich zur Beruhigung aller Patrioten, daß Deutschland an der Spitze der Zivilisation – schlummerte, und man sah jetzt ein, daß der politische Traumzustand, den man den Deutschen ehemals zum Vorwurf gemacht hatte, nichts weiter gewesen war als eine noch unverstandene Vorgeschrittenheit in der europäischen Kulturentwicklung. Es gab nur noch einen kleinen und von jeher verachteten Rest von Antisomnisten, die den Schlaf für ein Übel hielten; die übrigen Parteien entzweiten sich bloß in der Frage, durch welche Mittel der Schlaf am besten befördert werde, und befehdeten sich hierbei allerdings mit maßloser Heftigkeit. Die » Wohlmeinenden«, wie sich die eine Partei genannt hatte, waren der Ansicht, daß die Schlafsucht des Volkes durch künstliche narkotische Mittel möglichst zu steigern sei. Der Staat habe die Pflege des Volksideals mit Gewalt in die Hand zu nehmen, den Anbau und die Herstellung schlaffördernder Produkte durch Zuschüsse zu heben, den Kaffee gänzlich zu verbieten, Schlafprämien einzuführen. Die Gegenpartei, welche sich selbst die » Gutmeinenden« nannte, erstrebte dagegen die Schlafvermehrung auf dem Wege geistigen Einflusses. Sie verbreitete zu diesem Zwecke die Parlamentsreden beider Parteien und der Regierungskommissarien, unterstützte junge lyrische Dichter in der Drucklegung und namentlich der Vorlesung ihrer Poesien – wobei die Auditorien mit bequemen Schlafsofas ausgestattet waren –, gab die großen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts in billigen Volksausgaben heraus und ließ damals berühmte Opern pianissimo aufführen.
Der Abgeordnete Siebler, ein enthusiasmierter »Wohlmeinender«, hatte eben im Volksverein »Langeweile« eine glänzende Rede für das Schlaf- und Traummonopol des Staates gehalten, in welcher er ausführte, daß die Schlaf- und Traum-Verteilung für den einzelnen künftighin staatlich zu regeln und zu überwachen sei. Eine Rede galt für um so gelungener, je rascher die Zuhörer einschliefen; der glückliche Redner hatte dann zugleich den Vorteil, daß ihm niemand entgegnete. Siebler sprach so erfolgreich, daß er selbst das Ende seiner eigenen Rede verschlief; etwas Ähnliches war früher nur einigen Schriftstellern beim Niederschreiben ihrer eigenen Feuilletons gelungen. Freilich war die äußere Einrichtung der Volksversammlungen ihrem Zwecke entsprechend. Da gab es kein gemeinsames Lokal der Zusammenkunft, sondern jedes Mitglied war mit dem Rednersofa telefonisch verbunden und hörte bequem von seinem eigenen Ruhebett aus die Reden beziehungsweise meldete sich dazu. Der beliebten Klage der Hausfrau wegen zu späten Nachhausekommens war damit ein für allemal der Boden entzogen; andererseits kam es allerdings vor, daß ein Redner mitten im Satze abbrach, weil ihm die Gattin das Telefon vom Munde nahm; aber man vermutete dann, er sei bei seinen eigenen Worten eingeschlafen, und ehrte ihn als patriotischen Mann, der das Nationalheiligtum hochhielt.
Siebler war Witwer und hätte daher ruhig ausreden können, wenn sein Reden nicht so schlummerungsbegeisternd auf ihn selbst gewirkt hätte. Aber während alle seine Zuhörer bei seinen Worten in einen wahrhaften Gähnjubel ausbrachen, lauschte im Nebenzimmer bangen Herzens seine Tochter Amalie den politischen Ausführungen ihres eigensinnigen Vaters. In ihre großen braunen Augen kam kein Schlummer; unaufhörlich zerbrach sie sich das blonde Köpfchen, wie sie die eben gehörten schroffen Ansichten mit ihren seit Monaten gehegten Lieblingsplänen vereinigen könnte. Wie sollte das werden? Schon immer standen der Vater und ihr heimlich geliebter Dormio Forbach sich als »Wohlmeinender« und »Gutmeinender« politisch verfeindet gegenüber, und das war der Grund gewesen, warum Dormio noch nicht gewagt hatte, um Amalie anzuhalten. Nun aber trat der Vater auch noch gegen die privaten Interessen ihres Dormio auf, wenn er die Verstaatlichung der Schlaf- und Traumanstalten betrieb. Denn Dormio war Traumfabrikant.
Kaum hatte sich Amalie jetzt von der Festigkeit des väterlichen Schlafes überzeugt, als sie den Sprechanschluß an die Forbachsche Traumanstalt bewirkte. Zärtliche Worte und elektrisch treu vermittelte Küsse feierten den ungestörten Verkehr der Liebenden, bis ihre Sorgen sich in Klagen Luft machten. Endlich erklärte Forbach entschieden, er würde morgen den Versuch wagen, mit Amaliens Vater zu sprechen, möge der Erfolg sein, wie er wolle. Wenn es nur ein Mittel gäbe, den Vater in eine günstige Stimmung zu versetzen! Vielleicht durch einen Traum? Daran hatte Amalie natürlich schon öfter gedacht; aber wie sollte sie den Vater bewegen, sich Forbachs Behandlung zu unterziehen, da er ein entschiedener Gegner der privaten Traumfabrikation war? Eben wollte sie über diese Frage mit dem Geliebten weitere Rücksprache nehmen, als derselbe sich durch Geschäfte gezwungen sah, die Unterredung auf einige Zeit zu unterbrechen. Einer seiner Kunden hatte sich darüber beschwert, daß er immer von seiner Schwiegermutter träume; dem solle man abhelfen.
Der Schlaf hatte die materielle Seite des sozialen Problems gelöst, der Traum sollte die Gemütsfragen in Ordnung bringen. Während des Schlafes denkt der Mensch nicht, das heißt, er denkt nicht in der Art, wie es im Wachen geschieht oder geschehen soll, unter strengster Observanz der Sätze von der Identität, vom Widerspruch und vom zureichenden Grunde. Im Schlafe wird nur geträumt, nicht geprüft und gefolgert. Es kommt uns im Traume gar nicht darauf an, uns plötzlich in abgerissenem Anzuge die Straße fegen zu sehen, dabei aber auf den Schultern unseres vorgesetzten Kabinettschefs spazierenzureiten; wir versetzen ihm mit unseren Füßen einige Rippenstöße, worauf er eine Tabakspfeife aus der Tasche zieht, in welcher wir unsere treulose Geliebte erkennen; während wir dieselbe in den Armen halten, bemerken wir, daß es unsere in Amerika verstorbene Erbtante ist, die sich in einen unendlichen Regen heller Sterne auflöst, von denen wir nicht zu erkennen vermögen, ob es funkelnde Küsse oder heimliche Goldstücke sind – wer kennt nicht diese wirren Phantasiespiele, über welche wir uns nicht im geringsten wundern? Glückliches Volk, das anstatt der unerbittlichen Konsequenz politischer Kritik oder wissenschaftlicher Forschung frei vom Satze des Widerspruchs sein heiteres Traumdasein genießt! Da staunt man nicht mehr über die entgegengesetzte Deutung gleicher Tatsachen aus demselben Munde, nicht über den Gesinnungswechsel eines Mannes, nicht über die positive Erklärung, daß schwarz weiß sei; still vergnügt nimmt man alles hin und tut doch, was man will. Denn die Menschen tragen keine Verantwortung. Sie träumen, und was sie träumen, verschwimmt mit dem Erwachen, nur die süße Erinnerung der Freiheit bleibt. Am Tage einige wache Stunden engumschriebenen Wirkens im streng geregelten Mechanismus des bürgerlichen Lebens, dann sinken sie beseligt wieder in die sanften Arme des Schlafgottes, um den lieblichen Reigen der Traumelfen zu teilen. So löst sich das zweite große Problem der Kultur, wie die individuelle Freiheit zu vereinen sei mit dem notwendigen Zwange staatlicher Ordnung. Je weniger die Menschen wachen, um so weniger bedürfen sie des Zwanges, um so weiter dehnt sich das Reich seliger Traumfreiheit.
Aber diese Freiheit darf keine Bestimmungslosigkeit sein. Sie soll erquicken, nicht durch Überraschungen quälen. Daher muß nach Mitteln gesucht werden, wenigstens die allgemeinen Bahnen des Traumverlaufs zu bestimmen, die Schreckbilder abzuhalten, die ungefähre Richtung der dichtenden Phantasie vorzuschreiben. Auch dies Problem hatte die Biomystik gelöst; ein Professor der Physiologie, der sich in somnambulen Zustand versetzt hatte, entdeckte im Hochschlafe das » Traumorgan«.
Ja, das Traumorgan existierte wirklich, und zwar dort, wo es die Verehrer des tierischen Magnetismus gesucht hatten, in der Nähe der Magengrube, mit welcher die Somnambulen bekanntlich lesen können; es saß im sogenannten Sonnengeflecht des Gangliensystems in Gestalt eines die Nervenbläschen erfüllenden spezifischen Nervengases und hatte die empirische Formel
C 632H 418N 26S 8Fe 2O 99.
Man hatte es einem Mörder exstirpiert, der vor Gewissensbissen nicht schlafen konnte; seitdem erfreute er sich eines ruhigen, traumlosen Schlafes. Ein Philosoph, welcher dem Mystizismus huldigte, verlor das Traumorgan durch einen unglücklichen Sturz auf den Magen, indem er über eine seiner nachschleppenden Perioden stolperte; seit jenem Tage schrieb er durchaus klare Bücher.
Dormio Forbach war Spezialist für das Traumorgan. Er wirkte darauf teils direkt durch äußere Reize, teils setzte er die einzelnen Teile der Hirnrinde mit dem Traumorgan nach Bedürfnis in Verbindung und lenkte dadurch den Gang der Traumphantasie. Seine Haupteinnahme bildete der Versand des von ihm fabrizierten Traumgases, das in besonders präparierte Kautschukkissen gefüllt und von den Abnehmern eingeatmet wurde. Diese Traumkissen waren außerdem mit Vorrichtungen versehen, wodurch leichte Reize auf diejenigen Organe des Schlafenden ausgeübt wurden, deren Tätigkeit im Traumbilde in Anspruch genommen werden sollte. Ein Augenreiz zauberte Farbenspiele hervor, welche die Traumphantasie nach Maßgabe der gleichzeitigen übrigen Reize und der stattfindenden Vorstellungsassoziationen zu beliebigen Bildern umschuf. Wollte man zum Beispiel Landschaften sehen, so wurde zugleich in passender Weise auf das Ohr gewirkt, man sprach die Namen von bekannten Bergen und Gegenden aus, ließ das Geräusch rasselnder Wagen oder sanften Herdengeläutes ertönen und lenkte dadurch die Assoziation der Traumbilder.
Dem unzufriedenen Besteller, der sich über den Traum von der Schwiegermutter beschwert hatte, ließ Forbach ein anderes Traumkissen zurechtmachen.
»Man kann gar nicht genug auf die Individualität der Kunden achten«, sagte Forbach zu seinem Assistenten. »Hätte ich gewußt, daß der Mann verheiratet ist, so hätte ich mich vorgesehen. Sie wissen, wie es uns neulich mit der Bestellung auf Träume von Landschaftsbildern ergangen ist. Der Schläfer hielt den Lichtreiz für ein Schadenfeuer statt für den Sonnenaufgang, aus dem Kuhreigen machte er Feuerlärm, sprang aus dem Bette und goß das Waschbecken darüber. Wir mußten den Schaden bezahlen.«
»Der Mann hatte vermutlich zuviel Traumgas eingenommen.«
»Das nicht, aber er war Brandmeister.«
Forbach brach einen Brief auf, warf ihn aber sogleich ärgerlich auf den Tisch.
»Da haben wir denselben Fall!« rief er. »Doktor Mieriger meldet sich ab; was uns denn einfiele, ihn vom Ausbruch der Cholera träumen zu lassen! Was in aller Welt haben Sie ihm denn geschickt?«
»Er wünschte angenehme geschäftliche Träume, und so sandte ich ihm Kissen Nummer sechs mit leichten Karbolreizen und Trauermarsch. Ich glaubte, für einen Arzt müsse es sehr angenehm sein, von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Stadt –«
»Ja, ich bitte Sie, Doktor Mieriger ist nicht Mediziner –«
»Nicht möglich! Was denn?«
»Direktor einer Lebensversicherungsbank.«
»Dann freilich! So will ich mich sogleich entschuldigen.«
Es klopfte, und ein höchst eleganter, etwas stutzerhaft gekleideter Herr trat ein.
»Ich wollte mir die Frage erlauben«, sagte er, »ob Signora Muratori an die Traumleitung angeschlossen ist.«
»Gewiß, Nummer einhundertsiebzehn.«
»Dann bitte, heute nacht unausgesetzt meinen Namen einzuflüstern: Alboin von Warzheim.«
»Können Sie sich über den persönlichen Auftrag des Fräuleins ausweisen?«
»Das nicht, ich handle in meinem eigenen Auftrage.«
»Dann bedauern wir, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können. Wir dürfen nach dem Traumgesetz nur Anträge von den betreffenden Personen selbst ausführen.«
»Aber bitte, machen Sie hier eine Ausnahme. Bin sterblich verliebt – aussichtslos! Ich habe einen ähnlichen Fall gelesen, in welchem die Mutter dem unglücklichen Liebhaber Namenseinflüsterung gestattet, worauf Traum, Beschäftigung mit seiner Person, Neigung, Verlobung. Wollen Sie gefälligst beliebigen Preis bestimmen, kommt mir nicht darauf an.«
»Mein Herr«, sagte Forbach, »ich kann nicht weiter mit Ihnen verhandeln. Die geringste Pflichtverletzung würde mich für mein verantwortliches Amt unbrauchbar machen. Niemals werde ich von den gesetzlichen Vorschriften abweichen.«
Kaum hatte sich Herr von Warzheim unwillig entfernt, als Forbach sich wieder zur Unterhaltung mit seiner geliebten Amalie anschickte. Diese hatte sich inzwischen ausgedacht, Forbach sollte für ihren Vater ein besonders präpariertes Traumkissen senden, das sie ihm heimlich unter den Kopf legen würde. Seinen Lieblingsneigungen wollte sie damit entgegenkommen; eine Jagd, ein gutes Diner, eine lustige Unterhaltung konnten leicht durch passende Reize ins Traumbewußtsein gehoben werden; war dadurch die gute Laune des Vaters gesichert, so wollte sie ihm ihre Verbindung mit Dormio Forbach durch Einflüsterung als einen trefflichen Gedanken erscheinen lassen. Auf diese Weise hoffte Amalie, die morgen bevorstehende Werbung am besten vorzubereiten.
Aber wie war sie enttäuscht, als Forbach diesen Plan rundweg verwarf. Er dürfe nun einmal ohne Einwilligung des Träumenden keinen Einfluß ausüben, selbst nicht, wenn sie, die Tochter, die Verantwortung übernehme. Vergebens bat und schmeichelte Amalie; so hart es ihn ankam, Dormio blieb fest; er erzählte ihr, wie er eben genötigt gewesen sei, Herrn von Warzheim abzuweisen, und berichtete von ähnlichen Anfechtungen, die ihm häufig genug begegneten. Dann betonte er die Gefahr, die in der zufälligen Entdeckung des Traumkissens durch Siebler läge. Welche Handhabe wäre ein solcher Vorfall gegen die Zuverlässigkeit der privaten Traumanstalten! Endlich aber, da Amaliens Starrköpfchen dies alles nicht gelten lassen wollte, machte er sie darauf aufmerksam, daß der Erfolg selbst ganz unsicher sei. Man könne nicht wissen, ob nicht gerade die Erwähnung seines – Forbachs – Namens zusammen mit dem Amaliens die heiter stimmende Traumwirkung wieder aufhebe und einen Unlusttraum erzeuge, der nun als Warnung für das wache Handeln wirken und somit ihren Plänen gerade entgegenarbeiten würde.
Amalie schmollte. Wenn Dormio so eigensinnig sein wollte, so möge er nun auch zusehen, wie er morgen mit dem Papa fertig werde; und so sagte sie ihm in etwas gepreßter Stimmung »Gute Nacht«.
Der vergötterte Schlaf, von allen als Friedensbringer gepriesen und darum zum Objekt hartnäckigsten Streites gemacht, der gehorsame Begleiter der väterlichen Reden, wollte der Tochter nicht nahen, die ihr Haupt in stetem Nachsinnen auf dem heimlich ihr von Forbach geschenkten Traumkissen umherwarf. Dormio verdiente es zwar nicht, daß sie sich um ihn kümmerte, aber wenn er morgen beim Vater kein Gehör fand, mußte nicht sie am meisten darunter leiden? Konnte sie denn gar nichts tun? Als Kind ihrer Zeit und Weib aller Zeiten kam sie von dem einmal gefaßten Gedanken an die Wirksamkeit des Traumes nicht hinweg. Aber das einzige, was sie zur Verfügung hatte, war ihr eigenes Traumkissen, mit Traumgas gefüllt und mit jenen ewigen Melodien ausgerüstet, welche Liebessehnsucht von jeher und überall in den Menschenherzen geweckt hat:
»Freudvoll und leidvoll,
Gedankenvoll sein,
Hangen und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt,
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt!«
Wie wonnig träumte es sich auf diesem Kissen, in diesem beseligenden Wechsel der Stimmungen, der sich auf dem Grundgefühle frohen, sicheren Besitzes eines unendlichen Glückes abspielt. Die Willensregungen und Affekte egoistischen Ursprungs verschmelzen mit den Gefühlen, die in der Sympathie wurzeln – das ist die Liebe. Stolz und Selbstbewußtsein erfreuen und lösen sich doch willig in der unbedingten Hingabe, Genuß und Entbehrung beglücken gemeinsam, und der Schmerz ist Wonne. – Wie müßte das Kissen auf den Vater wirken! Sollte es nicht die Erinnerung glücklicher Jugend hervorzaubern, Milde in das Herz gießen und dem Verständnis zarter Regung geneigt machen? Sollte es nicht wenigstens eine besänftigende und erheiternde Wirkung ausüben? Es konnten doch nur gute Träume dadurch erzeugt werden, und auf gute Träume folgt ein friedliches Erwachen.
Amalie schlich sich leise in das Zimmer des Vaters und schob vorsichtig dem fest Schlummernden das Kissen unter das Haupt. –
Ächzend und stöhnend ermunterte sich am andern Morgen der Abgeordnete Siebler aus einem schweren Traum; erst als er sich überzeugt hatte, daß er nur geträumt, erheiterten sich wieder seine Züge, und er atmete erleichtert auf. Mit Spannung und Besorgnis beobachtete Amalie ihren Vater beim Frühstück, um die Wirkung des Traumkissens zu erkennen.
Er war sehr einsilbig und offenbar mit einer wichtigen Überlegung beschäftigt. Die Zeitungen, denen er sonst einige Morgenstunden zu widmen pflegte, sah er kaum an, sondern ging unruhig im Zimmer auf und ab. Zufällig haftete sein Blick unter den Anzeigen auf einer Geschäftsempfehlung Forbachs; das paßte in seinen Gedankenkreis, und er erinnerte sich mancher halbunterdrückten Seufzer und versteckten Andeutungen seiner Tochter. Er rief Amalie und sagte zu ihrer größten Überraschung: »Du kennst ja diesen Traumfabrikanten Forbach. Weißt du, daß ich Lust hätte, mich einmal an ihn zu wenden. Wenn mir nur jemand für seine Zuverlässigkeit garantieren könnte!«
Natürlich wußte Amalie mehr als eine Familie aus ihrem Bekanntenkreis zu nennen, die auf Forbach zu schwören bereit war, und die ausgezeichneten Traumwirkungen seiner Offizin belegte sie mit zahlreichen Beispielen. Als sie den Vater so unvermutet zugänglich fand, ging sie nun auch gleich mutig vor und wußte ihre Sache so schlau zu führen, daß sie der Einwilligung des Vaters, der ja außer seinem bisherigen Mißtrauen bezüglich des Traumgeschäfts gegen Forbach gar nichts einzuwenden hatte, bereits sicher war, als letzterer sich melden ließ. Da wurde es denn Forbach nicht schwer, seine Sache zu führen.
»Gegen die Reellität und den Wert Ihres Geschäfts«, sagte Siebler, »kann ich nach den vorgelegten Ausweisen nichts einwenden; und um mich vollständig von Ihren Leistungen zu überzeugen, melde ich mich und meine Tochter als Abonnenten auf Ihr Traumgas bei Ihnen an.«
Und als er die Hände des glückstrahlenden Paares ineinandergelegt hatte und alle drei vor der alten, abgelagerten Flasche köstlichen Neunzehnhundertundneunundneunzigers saßen, da sagte Siebler: »Damit ihr euch nun nicht länger wundert, Kinder, wie ich dazu komme, meine gestrige Rede für das Traummonopol heute so weit zu verleugnen, daß ich mich diesem Privatfabrikanten hier ausliefere, so will ich euch sagen, daß ich beschlossen habe, mich überhaupt von der Politik zurückzuziehen und kein Mandat mehr anzunehmen, wenigstens so lange nicht, als die Traumfrage auf der Tagesordnung steht. Ihr seht mich höchst verwundert an und fragt, wie ich dazu komme, und ich sage euch zur Antwort: durch einen niederträchtigen Traum, den ich diese Nacht hatte. Nun, lieber Dormio, Sie werden dafür sorgen, daß mir ähnliches nicht passiert; eben zu diesem Zwecke bin ich Ihr Kunde geworden.«
»Was war das für ein schrecklicher Traum?« fragte Forbach eifrig, während Amalie schuldbewußt tief errötete.
»Zuerst«, fuhr Siebler fort, »hatte ich ein äußerst angenehmes Gefühl, das ich kaum beschreiben kann; es war das Gefühl erreichter Sehnsucht, das zwar mit dem Bedürfnis neuen Ringens und Kämpfens wechselte, aber doch immer die freudige Sicherheit des Sieges beibehielt; ein Aufundniederschwanken der Stimmung mit dem Vorwiegen der Befriedigung; immer glaubte ich die Worte des Dichters zu hören:
»Freudvoll und leidvoll,
Gedankenvoll sein,
Hangen und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt –«,
aber die Schlußzeilen fielen mir nicht ein.«
Forbach sah Amalie fragend an und sagte zu Siebler: »Und wie malte Ihnen der Traum diese Stimmung? Denn der Traum spricht nur in Bildern.«
»Ganz richtig, nur konnte ich sie nicht festhalten und muß mich begnügen, Ihnen den Gesamteindruck zu schildern. Das wesentliche Moment aber war dieses: Es wurde über das Traummonopol abgestimmt, und schließlich hatte ich die entscheidende Stimme abzugeben. Ich stimmte dafür, es ging durch, und sofort auch war ich Traumminister. Ja, ich war verantwortlicher Chef des gesamten kolossalen Apparats der Schlaf- und Traumverteilung. Ich steckte bis an den Kopf in Seifenblasen, die ich fortwährend nach allen Seiten hin verteilen mußte, indem ich unausgesetzt in den Haufen hineinblies; da flogen sie nach jeder Richtung, und immer neue quollen hervor. In einem ungeheuren Amphitheater aber saß das gesamte Volk, jedem einzelnen flog eine Seifenblase an den Kopf und zerplatzte; sie wurde zu Glasscherben, die man mir mit Grimassen zurückwarf, und bald steckte ich bis an die Brust in den scharfen Splittern. »Das ist nicht mein Traum«, schrie der eine; »ich will einen andern«, der zweite; »heute will ich gar keinen« der dritte; »das ist ja erbärmliches Zeug«, der vierte; und so ging es weiter mit Beschwerden, und jedesmal flogen mir die Scherben um den Kopf. Jetzt sah ich, daß es gar nicht die Leute waren, welche riefen, sondern ringsum saßen große, gedruckte Zeitungslettern, und ein riesiges Ausrufezeichen schrie mich an: »Sehen Sie, Exzellenz Siebler, jetzt nehmen wir den Traumetat vor, und jetzt sollen Sie einmal die ganze Geschichte, die Sie uns haben träumen lassen, wieder zurückträumen, aber von hinten nach vorn.« Dabei wuchs der Scherbenberg um mich immer höher, ich jedoch wuchs selbst mit ihm und trat die Trümmer unter die Füße. Das schmerzte mich, aber das Herz schwoll mir voll Stolz, mir war es, als seien all die tobenden Gestalten Stücke von mir und als müßte ich mich ihnen hingeben, um sie zu erquicken und zu sättigen mit meinem Lebensatem. Und ich blies und blies mit aller Kraft neue und neue Traumblasen in die Menge. Mächtiger und mächtiger quollen sie hervor und bedeckten die ganze Versammlung. Der Atem begann mir auszugehen, die Brust wollte mir springen, so gewaltig blies ich; und ich glaubte sicher, jetzt müßten alle mir danken; denn ich hatte das Volk ganz umhüllt mit rosigen Träumen. Wieder aber flogen die Splitter zu Boden, die Tribünen wuchsen höher und höher, und hernieder toste es: »Wir wollen deine uniformierte Weltstimmung nicht! Nieder mit dem Normaltraum!« Ich aber rief dagegen: »Nehmt, was ich habe, mehr kann ich nicht geben!« So blies ich mit meiner letzten Kraft Wolken von Seifenblasen hervor, und ich hatte ein Gefühl, als zerstöbe ich in Millionen Teile. Die Leute ringsumher haschten danach, hielten sie vor die Augen und warfen sie wütend fort.
»Auf jeder Traumblase ist sein Bild!« schrien sie. »Nun sollen wir ihn selber träumen!« Da flog mir ein Splitter ins Auge, das war, als ginge ein neues Licht rings um mich auf, und ich sah zu meinem Entsetzen, daß all die Seifenblasen im ganzen Raum mein eigenes Bildnis trugen, überall sah ich nur mich selbst; ich blies nicht mehr, aber immer aufs neue quollen die Blasen mit meinem Ebenbild hervor, sie häuften sich um mich und drohten mich zu ersticken; nur dumpf noch grollten in der Ferne die zornigen Stimmen, und vergebens griff ich mit den Armen umher, um mich an einen Menschen zu klammern außer mir. – So wachte ich auf, in Angstschweiß gebadet. Und da schwor ich mir, ferner nicht mehr – nun, kurz und gut, die Traumpolitik ist mir verleidet.«
Erregt durch die Erinnerung, schritt er im Zimmer auf und ab.
»Du hattest«, sagte Forbach leise zu seiner Braut, »dein Traumkissen –«
Amalie nickte. »Verrate mich nicht«, bat sie.
»Nein«, sagte Dormio; »aber du siehst die Folgen der künstlichen Traumbeglückung. Wir können nur allgemeine Züge vorzeichnen, über den Erfolg entscheidet stets die Individualität. Denn das Traumbild ersteht aus dem Vorrat der im Bewußtsein angesammelten Vorstellungen nach Maßgabe der gewohnten Assoziationen. Dadurch sondert sich das Ich vom Ich, und die unendliche Mannigfaltigkeit dieser Wirklichkeit vermag keine Traumvorsehung, kein klügelndes und wohlgemeintes Denken zu überblicken, geschweige denn zu regeln. Dein Traumkissen lieferte Selbstgefühl und Aufopferung; aber was bei dem Liebenden sich in freundliche Harmonien löst, bei dem Parteimann geht es in beängstigenden Kampf über. Das Glück der Liebenden wächst mit der Hingabe der Persönlichkeit, das Glück der Völker fordert die freie Entwicklung der Einzelart.«
»Aber«, unterbrach ihn Amalie fragend, »dann steht es doch mit deiner Traumfabrikation eigentlich recht bedenklich.«
»Nicht schlechter und nicht besser als mit allen anderen menschlichen Vorausberechnungen. Das Leben ist zu bunt, glücklich allein ist die Seele –«
»Stoßen wir an«, sagte Siebler, wieder an den Tisch tretend, »auf den glorreichen Sieg des Menschengeistes über das Schicksal, auf die Herrschaft des Kunsttraumes, des sicheren Führers des Kulturfortschritts!«
Die Gläser klangen, die Liebenden drückten sich die Hände. In ihren Augen lasen sie etwas, was sicherer war als Schlaf und Traum; aber sie sagten es natürlich nicht. Einem Kulturideal widerspricht man niemals.