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Und das Große wird klein und das Kleine wird groß!
Ja, nun wußte es, wie das ist.
Vor der Wohnung der roten Schlange saß es, wie klein war es da! So verschwindend, so ohnmächtig. Wohin war der Mut, mit dem es den Hohlschwanz schlug? Die Säuger wollte es von der Herrschaft der Echsen erlösen. Verstehen wollt' es den Weg, den die rote Schlange allein kennt, den Weg, wie man klug wird und mächtig über die Welt. Und diese Welt war so groß, so riesengroß – hier sah es zum ersten Male, wie groß sie war – und Homchen war so klein.
Aber war es denn nicht seine Welt? War es nicht durch die Wälder gesprungen, durch Fluß und Meer geschwommen, über die Wiesen gerannt, über die Felsen geklettert, und leuchtete nicht ihm das weiße Riesendach der roten Schlange hernieder, strahlte nicht ihm das weite Meer entgegen, sprach nicht in ihm mit dem Wallen der weißen Wolke die rote Schlange selbst? Saß es nicht hier durch die Kraft seines Willens, hoch über Meer und Land, über Pflanzen und Tieren, einsam auf ragendem Fels? Stiegen nicht seine Taten in ihm auf als das Eine, das ihm gemeinsam war mit dem übergroßen, gewaltigen Willen der roten Schlange? Wohl war es klein gegen die rote Schlange, aber ihre Größe gehörte ihm zu, sie war auch in ihm, dem Kleinen, und so war es groß und mächtig.
Aber wie kam es nur, so nahe der roten Schlange blühten die schönen Blumen, summten die heitern Immen, und wußten doch nichts von ihr? Kannten sie nicht? Und waren glücklich und froh. Und Homchen, das sie kannte, das zu ihr betete, schwankte so oft in Zweifeln, lebte zwischen Freude und Not, zwischen Hoffnung und Furcht. Sie dachten nicht, so fürchteten sie nichts. War es nicht ein Glück, nichts zu denken?
»O rote Schlange, bist du's, die hinter der heißen Wolke wohnt, so gib mir ein Zeichen!«
Homchen spähte und lauschte angstvoll.
Nichts rährte sich.
»Ich bin wohl noch nicht würdig«, seufzte Homchen, »dich zu sehen. Aber doch weiß ich's, du bist in mir, du zeigst mir meinen Weg.«
Da dröhnte es dumpf – Homchen schrak zusammen. War das Donner? Nein, es klang aus der Erde. Es dröhnte wieder – und nun – was war das? Nun stürzte Homchen wirklich hinab? Es erhielt einen Stoß, daß es sich an den Stein klammerte. Aber die Steine wankten selbst, der ganze Berg zitterte, und Steine und Felsblöeke lösten sich und rollten zu Tale. Nur einen kurzen Augenblick dauerte die Erschütterung. Dann war's wieder still. Ein Glück, daß Homchen hier oben saß, hier konnte wenigstens kein Stein es treffen; der Boden unter ihm hatte wohl geschwankt, aber er war fest geblieben.
Leicht mögt ihr vertrauen, die ihr am breiten, sonnigen Grashang wohnt und Honig schlürft am klaren Tag und die Echsen nicht kennt und ruhig schlaft, wenn die Sonne vergeht, um wieder zu wachen, wenn sie wärmt; wohl mögt ihr vertrauen im festgesponnenen Hause, die ihr mit den bunten Falterflügeln ausschlüpft zum schimmernden Sonnenreigen.
Auch wir müssen vertrauen, die wir zur Höhe klettern, denen die rote Schlange die Sehnsucht gab nach dem andern, das noch nicht ist; auch wir vertrauen, daß sie uns den Weg zeigt. Aber sie gab uns noch mehr. Sie gab uns die Feinde, die im Moore lauern, und sie gab uns den Mut und den raschen Sprung und die scharfen Zähne, daß wir uns wehren. Und wenn wir ruhen wollen in Muße und Trägheit, so gab es uns die Gefahr, daß wir wach werden und klug; gab uns Verstand, daß wir die Welt umfassen, damit wir helfen, daß das komme, was noch nicht ist. Und wenn wir's errangen, zu sitzen auf der Höhe vor ihrer Wohnung und anzubeten ihre Herrlichkeit, so schüttert sie die Berge zu unsern Füßen, daß wir nicht müßig werden vor ihrer Große.
So dachte Homchen, als der Erdstoß vorüber war, und kletterte die Abhänge hinab und an der andern Seite wieder hinauf und immer weiter an glatten Felsen hin, über die es nur selten hinweg zu klimmen vermochte, über Steine, die ihm die Füße wund stießen. Und dann stand es an einer hohen, weißen Mauer, die oben überhing, so daß es nicht hinüberkonnte. Und wieder lief es an ihr entlang, bis dahin, wo sich ein Felsband hinzog, an dem der weiße Sand sich flach anschmiegte.
Und nun wollte es hinan auf die Höhe zur heißen Wolke.
Aber als es in den weißen Sand hineinsprang, da sank es tief hinein, daß es kaum mit dem Köpfchen hervorragte. Und es wühlte, und arbeitete darin mit den Füßen, aber es konnte keinen Grund fassen und kam nicht weiter. Ach, wie kalt war der Sand! Trotz seines warmen Pelzchens fühlte es, wie die Kälte immer tiefer drang. Und wie merkwürdig! Dort, wo Homchen ruhte, da wurde der Sand naß, ganz naß und schwer, und da fror es erst recht. Solch einen Sand hatte es noch nicht gesehen.
Hier konnte es nicht weiter. Es arbeitete sich rückwärts, und das ging leichter, denn es rutschte von selbst hinab. Und nun saß es wieder auf den Steinen.
Hinauf konnte es nicht, aber hier konnte es auch nicht bleiben. Es mußte bald daran denken, sich Nahrung zu suchen. So schlich es mühsam weiter und klomm endlich einen Steinhügel hinan um Umschau zu halten, was es weiter beginnen könne. Jetzt war es oben.
Aber was war denn das, was es da unten sah?
Ein breiter Talkessel. Der steile Geröllabhang ging bald in eine hier und da mit Graswuchs bedeckte Senkung über, weiter unten aber am Talboden wuchs nichts. Gelblich glitzerte es in Flecken und Streifen. Dazwischen zogen sich seltsame Spalten hin. Und an einigen Stellen stiegen aus diesen Spalten kleine weiße Wölkchen auf.
Ging das hier zur heißen Wolke?
Homchen spürte mit der Nase in die Luft. Es lag darin wie ein unangenehmer, beizender Geruch. Und wenn es sich dicht auf den Boden legte, so fühlte es, daß es wie ein leises, unaufhörliches Zittern durch die Erde ging.
Ob es sich hier hinab getraute?
Schon wollte es nach einer der Grasflecken hinabsteigen, da sah es, daß sich dort in der Nähe etwas bewegte. Ein langes, rotbraun schimmerndes Tier mit einer schleimigen Haut wand sich zwischen den Steinen hin. Jetzt begann Homchen in Furcht zu zittern. Hatte man doch gesagt, hinter der heißen Wolke wohnt die rote Schlange. Und das war wirklich eine Schlange. Und diesmal sprach nichts zu Homchen, war hier das ersehnte Ziel? Nahte ihm die rote Schlange? Oder war hier eine Gefahr? Sollte es fliehen? Die Schlange war noch fern. Es war wohl noch Zeit zur Flucht. Aber wenn es doch die rote Schlange war?
Während es so zögerte, vernahm es plötzlich ein donnerndes Getöse hinter sich. Und als es zu dem weißen Berge erschrocken hinüberblickte, sah es, daß dort eine hohe Wolke des weißen Sandes aufwirbelte und ein breiter Strom dieses Sandes den Berg herabstürzte. Immer gewaltiger wuchs die gleitende Masse an, und nun erreichte sie das Ende des weißen Abhangs und stürzte über das steile Felsenband herab, über das Homchen gekommen war. Mit Donnerkrachen sauste sie über die Steine, nach allen Seiten stäubten die weißen Massen empor, und als die Staubwolke sich gelegt hatte, sah Homchen, daß die ganze Rückseite des Hügels jetzt von der herabgestürzten Masse bedeckt war. Dort konnte es nicht mehr hinüber, es wußte ja, daß es durch den kalten Sand nicht hindurchzudringen vermochte. Der Rückweg, die Flucht war ihm abgeschnitten. Wollte das die rote Schlange? Was wäre ihm geschehen, wenn der Sturz früher erfolgt wäre, ehe es den emporragenden Hügel gewonnen hatte?
In ratloser Scheu sah es sich nun wieder um, was aus der Schlange geworden sei. Sie war ihm, den Berg herauf kriechend, bedeutend näher gekommen. Mit starren Blicken folgte Homchen ihren Bewegungen, die auf eine der grasbewachsenen Stellen gerichtet waren. Und nun erblickte dort Homchen ein zweites Tier. Es war eine große Kröte mit weit vorstehenden Augen und breitem Maule; sie war nicht viel kleiner als Homchen selbst. Sie saß am Rande des Grasflecks und hatte die Schlange noch gar nicht entdeckt. Wo blickte sie denn hin? Es mußte dort hinter den Steinen noch etwas sein, was Homchen nicht sehen konnte.
Und nun fuhr die Schlange mit geöffnetem Rachen auf die Kröte zu, die jetzt erst die Gefahr bemerkte. Es war zu spät. Schon hatte die Schlange sie an einem Bein gepackt, nun umschlang sie das Tier mit den Windungen ihres Körpers. Homchen stieß einen Schrei des Schreckens aus. Das konnte die rote Schlange nicht sein, die sich anschickte, die Riesenkröte langsam zu verschlingen.
Aber da kam erst das Schlimmste. Hinter den Steinen kroch eine zweite Schlange hervor. Sie war es offenbar gewesen, nach der die Kröte hingestarrt hatte. Die merkte nun, daß ihr die Beute entgangen war; aber zugleich hatte sie auch ihrerseits Homchen erspäht, das oben auf den Steinen ängstlich hin und her lief. Es dachte noch an Flucht, aber der Felskamm, der das dampfende Schlangental von dem Lawinenfeld schied, war von breiten, senkrechten Spalten zersetzt, über die Homchen nicht hinweg konnte. Es mußte hier oben bleiben. Und die Schlange kroch den Berg herauf. Sie kam ihm näher und näher.
Da erhob sich wieder ein tiefes Rollen, diesmal aus der Erde, und der Berg schwankte wieder unter Homchens Füßen, einzelne Steine lösten sich und sprangen in schnellen Sätzen, auf den Boden aufschlagend, den Berg hinab – Homchen blickte ihnen nach, es sah, wie einer der Steine unten auf die schlingende Schlange traf, wie sie zusammenzuckte, ein zweiter Stein folgte und schmetterte auf den Kopf der Schlange nieder – und sie rührte sich nicht mehr.
Da durchzuckte es Homchen wie ein Blitz. Es tauchte etwas Neues, ganz Neues in seinem Kopfe auf, eine dunkle Vorstellung, daß das noch nie in der Welt gewesen sei, was es jetzt dachte – es wußte eigentlich nicht, was es sei. Es dachte jetzt nur, daß fallende Steine Schlangen zerschmettern, und wie die eine Schlange, so konnten sie auch die andre treffen. Die andre, die schon ganz nahe heran war, die schon den Kopf aufrichtete und den glatten Körper zusammenzog – und es betete nur: Rote Schlange, triff auch diese –
Und doch schien ihm das wieder unverständlich – Schlange sollte die Schlange treffen – wie sollte das sein – war nicht die rote Schlange in ihm selbst – das wußte es doch jetzt – in ihm selbst – das ging alles blitzschnell durch Homchens Gehirn – da hatte es den nächsten Stein, so groß seine Tatze ihn fassen konnte, emporgehoben und gegen die Schlange geschleudert – Und der Stein traf den Körper der Schlange und verwundete ihn – die Haut war glatt und ohne Schuppen – und die Schlange stutzte und schnappte nach einem scheinbar von hinten kommenden Feinde. Das benutzte das gewandte Homchen; im Mute der Verzweiflung schleuderte es Stein auf Stein nach der überraschten Schlange, bis der eine in ihren geöffneten Rachen flog und die Schlange niederstürzte –
Und die Erde bebte, der Donner rollte, aus dem Gipfel des Berges brach eine rote Feuersäule, und unten im Tal öffnete sich breit eine Spalte, daraus quoll es feurig rot, eine glühende flüssige Masse, Dämpfe stiegen auf – – Immer dunkler wurde der Himmel, immer heißer stieg es herauf aus dem Tale – War es der Atem der roten Schlange, den sie im Zorn oder im Tode ausstieß beim Zucken der Erde? – Ging die Welt zu Grunde –?
Homchen hatte die rote Schlange erschlagen –
Ja es hatte sie erschlagen, eine Welt ging zu Grunde – aber eine neue Welt war erstanden –
Es war etwas geschehen, das noch nie gewesen war – nicht mit den Zähnen, nicht mit den Krallen, nicht mit des eignen Körpers Gliedern war der Feind bezwungen – hingestreckt lag er, besiegt durch den geschleuderten Stein – durch die erste Waffe.
Und über den kleinen Erfinder brach die Rache der zerschmetterten Welt herein – Rache dafür, daß der rohen Kraft ein bisher unbekannter Gegner erstehen sollte – ein siegreicher Gegner im Gedanken.
Vom verdunkelten Himmel zuckten Blitze, ein Aschenregen senkte sich nieder. Unter dem Felsvorsprung geduckt kämpfte Homchen mit der Not des Atems – seine Sinne verwirrten sich –
Was war es, das Glänzende mit dem wehenden Schweif, das an ihm vorüberflog? Was waren das für seltsame, singende Töne? Oder war es nur ein Traum?
Weiter donnerte es vom Berge, heiß wehte es vom Tale – regungslos lag Homchen im Aufruhr der Elemente.