Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

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Ungefähr zwei Tage später erzählte sie wirklich diese Geschichte, die hier vorweggenommen und auf andere Weise dargestellt wird; denn, weil es nicht gleichgültig ist, ob eine Seele, die bereits der Ewigkeit angehört, in einem begrenzten Herzen – und sei es das Herz ihrer besten Freundin – aufs neue gespiegelt wird, oder ob sie gleichsam als Reiseengel der betreffenden sieben Pilger sich über den hinter ihr liegenden Weg ihres Lebens noch einmal Rechenschaft gibt, hat der Schreiber des Buches es vorgezogen die Legende von Sichelchen durch sie selbst in der Ich-Form berichten zu lassen. In vieler Hinsicht, wenn nicht in jeder, mutet ihre Betrachtungsweise befremdlich und ungewohnt an. Ungewohnt wohl in erster Linie, weil diesem Selbstgespräch [denn das ist es] die Begriffe von Raum und Zeit zwar nicht fehlen, aber in ihrem Bezugssystem anders geworden sind.

Doch was hülfe es schließlich, den Leser mit inhaltlosen Begriffen auf solch seltsamen Sachverhalt vorzubereiten, wenn nicht der Regen heute wie damals herunterrauschen würde; damals, als nämlich die Wanderer in einer undichten Wildhüterhütte Unterschlupf vor dem Gewitter gesucht und auch gefunden hatten – dieser Regen, welcher dem Menschenohr vortäuscht, bereits in den unendlichen Frieden eingegangen zu sein . . . Er rauscht und rieselt und füllt die Luft mit nebliger Feuchtigkeit; mit dem Duft von Pilzen, der Ahnung des Herbstes, die bald darauf wieder von steigender Schwüle und Wärme abgelöst wird. Er raunt und rieselt und tropft von den Blättern der Eichen und Kastanien, die die Hitze brandrot gerändert hat; er läuft wie der Finger Gottes die Adern und feinen Verästelungen ihrer zarten Erscheinung entlang, die sich beständig verändert, und legt in seinem raschen Dahingang das geheimnisvoll Bleibende bloß. 166

 
Es folgt die Geschichte von Sichelchen
[von ihr selbst erzählt]

Seht mir doch dieses verlorene Häuflein, diese sieben Menschen, zusammengeduckt unter dem Unwetter, an! Erwartet jetzt nicht, daß ich – selber befreit von einem gebrechlichen Leibe – ›Seelen‹ von ihnen sage. Ein Kirchspiel kann fünfhundert Seelen in der Statistik des Pfarrers haben, ihn selber nicht mitgerechnet; und die er an der Hand seiner Beichtzettel zählt, sind, wenn man die kleinen Kinder nicht mitnimmt, dreihundert weniger zwei. Aber diese Zwei! Auf sie kommt es an! Diese beiden Ehebrecher und Säufer, dieser Kerl mit der schwarzen Schnurrbartfliege und dieser andere mit dem wilden Knebelbärtchen am Kinn. Wenn der Pfarrer sich schlaflos in seinem Bett wälzt, denkt er an sie wie an leibliche Brüder oder verlorene Söhne, für die er Rechenschaft schuldig ist, und nicht wie an statistisch erfaßte und angepredigte ›Seelen‹, die man kurzerhand abschreiben muß. Denn je näher das Auge an Gottes Auge und das Ohr an dem Ohr der Ewigkeit ist, desto unmöglicher wird es ihm sein, das, was es wahrnimmt, zu rubrizieren, wie man das Vieh rubriziert. Und auch ich: ich sehe hier diese Menschen in der verregneten Wildhüterhütte mit einer solchen Genauigkeit, einer so überirdischen Schärfe und jeden so sehr von dem Anderen getrennt und unterschieden, daß es mir, wäre jetzt dieser Blick der erste und letzte zugleich, den mein Auge auf ihre Gestalten heftet, schlechterdings nicht mehr vorstellbar ist, sie jemals vergessen zu können. O, wie ich sie liebe! Schon hier auf der Erde habe ich ihresgleichen geliebt und mich an den Gegenstand meiner Liebe mit Leidenschaft hingegeben. Aber ich habe ihn übersteigert. Ich habe wie eine törichte Mutter, die die Süßspeise für das Kind so lange mit Fruchtsaft übergießt, 167 bis am Ende von ihrer ursprünglichen Form nichts mehr übrig bleibt, jeden Menschen mit meinem Gefühl überschwemmt. Ich habe ihn aufgelöst und ihn endlich meiner Vorstellung ähnlich gemacht. So aber ist die Liebe der seligen Geister nicht! Sie nämlich erblicken den Menschen gerade in seiner Einmaligkeit. Sie begreifen, warum sich für jeden von ihnen Gott selbst geopfert hat. Sie wissen, daß nichts an ihm zufällig ist, und daß sich der Daumen oder die Nase bei keinem wiederholt. Welch ein Vergnügen der Himmlischen, in jedem einzelnen ihrer Freunde die Einfälle der Natur und des Geistes noch einmal nachzufühlen: diese Einfälle, welche uns ahnen lassen, daß die ewige Weisheit nicht ohne Humor und Sinn für das Komische ist.

Wie entsetzlich, keinen Humor zu haben! Die Hölle und der Wahnsinn entbehrt ihn, denn beide sind zwangsläufig außerstande, ihre eigene Lage zum Anlaß der Selbstironie zu nehmen. Zum Beispiel der arme Friedrich da in seiner Absonderung: könnte er sehen, wie ihm soeben ein Wassertröpfchen die Stirn herabläuft und genau an der Nasenspitze ein Weilchen hängenbleibt . . . vielleicht – Gott möge es ihm verleihen – käme er sich so lächerlich vor wie meiner guten Flora, deren geschlitzte, verwegene Augen ihn mit spöttischer Anteilnahme betrachten, während sie ihre geschmeidigen Schultern, die unbestreitbar etwas zu hoch auf ihrem Rücken sitzen, mit katzenhafter Bewegung an der Lehne der Holzbank reibt. Aber er merkt es ebenso wenig, wie Florentine fühlt, daß mein Blick dieser vertrauten Bewegung folgt, mit der sie sich schon als Schulmädchen immer in der Klasse geräkelt hat. Ist sie überhaupt älter geworden? Ich weiß es nicht, denn mein Blick schält sie ab, wie ein blitzendes, kleines Messerchen eine Gute Luise schält . . .

Nun kommt sie heraus: glatt, lieblich und voll – in Form 168 einer Butterbirne; ein birnenförmiges Stück Natur, das von Saft und Süßigkeit tropft. Etwas ebenso Birnenförmiges gibt es, wenn ich mich richtig entsinne, in einem der bildergefüllten Säle des Schlosses Chantilly, wo Gabriele d'Estrées vor dem Dunkel einer Patrizierstube der Wanne entstiegen ist. Sie hat soeben in Milch gebadet; in der Milch einer jungen Eselsstute, welche zart und anziehend macht; ihre Haut ist weiß, aber stumpf zugleich wie die Haut auf den Brüsten einer Madonna, die Fouquet überliefert hat. Diese Farbe hatte jedoch die Haut des kleinen Schulmädchens nicht, das ich von Jugend auf kenne; dieses stille, schüchterne, samtige Weiß, dem soviel heimliche Melancholie und Hochmut beigemischt ist. Nein! Die übermütige Florentine war frei von Traurigkeit. Sie entbehrte nichts, weil sich ihre Natur in allen Poren schloß und begrenzte, sobald etwas Unerreichbares winkte und sich Beachtung erzwang. Sie liebte nicht jene Art zu denken, die immer weiter läuft und hinaus an die letzten Wegweiser führt; nicht die Milchstraße, nicht die seltsamen Bilder der Apokalypse, die, wenn man versucht, sie einzufangen, sich wie das Licht, das ein Brennspiegel in die Häuser hineinwirft, der Fassungskraft entziehen; nicht das abstrakte Spiel mit den Splittern in dem phantastischen Kaleidoskop des Wenn-und-Aber und ebenso nicht die analytische Geometrie und den Aufbau der chemischen Formeln von Eiweiß und Chlorophyll.

Ich aber! Ich bin wie der Ausgang des Dorfes, wo die großen Dreschhallen stehen; wo die Straße die letzten Häuser zurückläßt, die alten Leute, die kleinen Kinder, die um das Wegekreuz spielen; wo die Bewegungen langsam verzucken, und im Spätherbst von allen Geräuschen des Lebens nur noch das Summen der Sägeblätter, die das Holz für den Winter zerkleinern, übriggeblieben ist. Ich bin wie der Ausgang, der nach der Weite der abgeernteten 169 Felder und dem feinen Waldstrich am Horizont, nach dem Wolkengebirge, dem Traum von der Freiheit und der vollkommen nutzlosen Schönheit verlangt, welcher man weder das Kummet auflegt, noch die man anbinden kann. Schönheit. Man muß wohl kein Weiser sein, um die Schönheit zu lieben, doch muß man so häßlich wie der weise Sokrates sein, um sie neidlos wie die Sonne am Himmel zu verehren und anzusehen. Welches Glück, der Mühe enthoben zu sein, sich mit ihr zu vergleichen, oder der Anstrengung, ihrem Glanz von ferne nachzueifern! In meinem Buckel, wie in dem Tornister des einfachen Fußsoldaten, war für immer der Neid verschlossen, und wenn mich jetzt Arthur und Florentine mit der Mondsichel zu vergleichen belieben, so weiß ich, daß selbst mein verklärter Leib ihn noch zum Bestandteil hat. Denn auch mein Buckel wird auferstehen und einen Teil von mir bilden, ohne den ich nicht vorstellbar wäre; er wird meine Herrlichkeit sichtbar machen, wie er schon jetzt das Kennzeichen ist, an das die Liebe sich heftet und das Zeichen der Auserwählung. ›Seht sie an, diese Sichel, wie schön sie ist!‹ werden die Engel sagen. Aber werde ich dann noch so schön sein wie eben, da der Brunnen mich spiegelt, der Strom und das Meer und die Feuchte des Menschenauges? ›Wie besorgt du um deine Schönheit bist, Sichel!‹ höre ich nun die seligen Boten mit dem Gelächter des Donners rufen, der rings um die Hütte geht.

An diesem Lachen fühle ich deutlich, daß mir die Auferstehung der Toten immer noch einige Rätsel aufgibt, zu deren Lösung selbst die Verdammten, die ungetauften Kinder, die Leiber der Auferstandenen des Karfreitags und das in den Himmel entrückte Eden – ich meine die Mutter Gottes – einst werden mitwirken müssen. Es ist wahr: ich bin um die Schönheit besorgt wie Andere um die Wahrheit besorgt sind, der sie zeitlebens nachgeforscht 170 haben. Ich war nahe daran, an der Schönheit zu sterben; vielmehr an der Schönheit mein bißchen Verstand vollkommen zu verlieren. Man verstehe mich richtig: nicht diesen Vers oder jenes Musikstück meine ich, dieses Gemälde und jenes Bauwerk – ach, überhaupt nichts, woran die Schönheit zu haften scheint, und wovon man sie irgendwie ablösen könnte. Sondern das Wesen der Schönheit selbst, die Schönheit an sich: sie war es, die ihre Pranke in mich geschlagen und mich wie das Raubtier die Beute hinweggetragen hatte . . .

Ich sehe ein kleines Geschöpf an der Erde, auf dem kiesbeworfenen Gartenweg hocken und einen milchweißen Stein betrachten, dessen Farbe von großer Einfachheit und bezaubernder Glätte ist. Diese Farbe dringt in das Wesen des Kindes mit der Gewalt einer Offenbarung, einer reinen, unmittelbaren Vision des absolut Schönen ein. Es bewahrt den Stein auf, wie andere Kinder ihre Sparkasse oder das Kirmesgeld in dem wollenen Handschuh bewahren; es trägt ihn in seine Geheimnisecke, vertieft sich in seinen stillen Glanz und verfällt in jenen verschollenen und zauberhaften Rhythmus, der es in Einklang bringt mit dem Dasein, und von dem es nicht wissen kann, daß es der Rhythmus der Sphären selber ist. Welch eine Kindheit! Hineingezogen in den ursprünglichen Zustand des Daseins, überspringt sie die Puppe, den Kreisel, den Ball und erlebt in der Puppe die Mandragora, in dem Kreisel die saturnischen Ringe und in der kristallenen Murmel die Tiefe der eingeschmolzenen Welt. Diese kleine Zauberin, die ich meine, tritt also mühelos in den Genuß der vollendeten Freiheit ein. Sie herrscht in dem Reich der Imago und krönt [wenn ihr Spieltrieb sie für würdig befindet, ihre Stellvertreter zu sein] die Rose, die Weinbergschnecke, den Igel oder die Feuerlilie; sie verlockt ihre staunende Lieblingsfreundin, die reizende 171 Florentine, zu Festen, die sie ›Gartenhochzeiten‹ nennt: zu der Hochzeit des Veilchens mit einem Maulwurf oder des tölpischen Muschelkalkzwerges mit einer Ringelnatter.

Dann kommt Florentine zur Hochzeit des Zwergs mit einer Ringelnatter. Sie kommt in ihrem fußlangen Kleidchen aus zartblauem Schillertaft, das ihr närrischer Großvater ihr geschenkt hat, und trägt eine schwere Kette darauf aus versilberten Paranüssen.

»Was gibt es zur Hochzeit, Sichelchen? Sag!« fragt sie stürmisch ihre bucklige Freundin. »Gibt es Zuckergußtörtchen? Gebrannte Mandeln und Schokoladenbohnen? Und zeigst du mir, wie der Zwerg sich bewegt, wenn er das Schlängelchen fängt?«

»Wie hübsch du dich wieder gemacht hast, mein Flörchen«, sagt die traurige Mutter der kleinen Sichel und streicht ihr über das Haar. »Ist es wahr, daß du mein Sichelchen gern hast?«

»Ja, und die Zuckertörtchen, Frau Sichel«, sagt die praktische Florentine und breitet mit spitzen, sinnlichen Fingern ihr schillerndes Taftröckchen aus. Die Kinder laufen zärtlich umschlungen in den großen Garten, der jetzt noch unendlich und das Reich der Morgana ist. Unter dem Schatten der Tamarisken steht, das Gesicht in die Hand gelegt, die Hand samt dem Ellbogen auf das Bein, und das Bein auf einen Säulenstumpf stützend, der häßliche Gartenzwerg. »Weiß die Natter, daß sie ihn heiraten muß?« fragt Florentine, und Sichelchen sagt: »Das ist vollkommen einerlei. Er wird ihr einen Ring aus Rubin und ein Krönchen aus Spinnweb schenken, wenn sie vorüberkommt.« »Wann kommt sie?« »Sobald ich den Schleier über den Bräutigam werfe, kommt die Natter aus dem Gebüsch. Unter dem Schleier fängt er sie dann und setzt ihr das Krönchen auf.«

Sie werfen den Schleier, den Sichelchen heimlich zu dem 172 Ort ihrer Spiele getragen hat, über den Zwerg und stellen den alten, siebenarmigen Leuchter und die winzigen Wachslichter auf. Der Wind bewegt den Schleier, die Flämmchen, die das Sonnenlicht unsichtbar macht –.

»Siehst du die Flämmchen, siehst du den Zwerg, wie er sich hinter dem Schleier bewegt, siehst du die Ringelnatter?«

Florentine sieht garnichts, nur Sichelchen sieht es, und endlich sieht es auch Florentine, wie der Zwerg das Schlängelchen faßt. Auf den Knieen hockend, sehen die Kinder der Schlangenhochzeit zu. Hinter dem Schleier rührt sich die Schlange, sie hebt sich von der Erde empor und wird von dem Gnom gekrönt. Die Sonne steigt höher, es ist sehr heiß, auf dem Gras liegen flimmernde, runde Flecken, die langsam weiterrücken. Die Ärmchen über der schweren Kette aus versilberten Paranüssen gekreuzt, starrt Flora nach dem verschleierten Zwerg und seiner Schlangenbraut hin; das krumme Sichelchen neben ihr, die weiterwandernde Sonne, der Leuchter, die gezuckerten Törtchen auf einem Teller aus undurchsichtigem, grünem Glas – das Ganze gleicht einer spanischen Szene, die Velasquez aufgebaut hat.

»Was siehst du jetzt, Sichelchen?« fragt Florentine; vielmehr sie flüstert es.

Ihr krummes Närrchen, ihr Hofnärrchen, wispert: »Ich sehe das Garnichts. Nichts, Lauter Nichtse.« Eine Erinnerung, süß und betäubend wie wolkiger Weihrauch, wie eine Wolke, die Räucherpfannen der Vorzeit entsteigt, sagt: »Nada . . . Ich sehe Nada und Nada.«

»Nada?« fragt Florentine erstaunt. Ihre helle, verwunderte Stimme klingelt wie maurische Messingglöckchen. »Ist es schön, dieses Nada?«

Ich höre mich sagen: »So schön, daß man Nada nur ansehen darf, wenn der Schleier darüberliegt.«

Florentine denkt nach. »Und wenn man ihn aufhebt: muß 173 man dann sterben? Wie das Kind, das die dreizehnte Stube aufmacht, in der die Dreifaltigkeit sitzt?«

Meine Freunde: ihr in der Wildhüterhütte, gegen deren Wände das Wasser anprallt mit ungeheurer Gewalt, wo wie Sintflut der Regen herniederschießt und gegen die Decke trommelt – ihr, unter dem Schleier des Elementes, das den Tod und die Wiedergeburt bedeutet . . . ich sehe euch an, wie ich früher als Kind das Nada betrachtet habe, in dem die Dreifaltigkeit wohnt. Denn sie lebt wirklich in diesem Nada, und ihr Finger geht schattenhaft hinter dem Schleier, während sie unaufhörlich die Schöpfung aus dem Nichtsein hervorbringt, hin und her. Noch immer bringt sie die Schöpfung hervor, und sie wird erst in jeder einzelnen Seele zu ihrem Ende kommen. So braucht der Schöpfer jede von ihnen, die am Werk der Vollendung beteiligt ist, und sie selbst braucht wieder die Nachbarseele, wie die Nachbarseele sie braucht. Das Nada aber, aus welchem der Schöpfer die zweite Erde hervorbringen wird – enthält es [wie einst die ursprüngliche Schöpfung als ihr Vorbild Maria enthalten hatte] in seinem Abgrund wieder das gleiche oder ein ähnliches Element, auf das hin die neugeborene Schöpfung, ohne daß wir es wissen, geheimnisvoll zustreben muß? Ich weiß es nicht. Selbst in der Anschauung Gottes wissen wir nicht um das Ende der Dinge, wann es eintreten, welche Form es haben, und wie es aussehen wird. Auch wir sind beschränkt auf den Augenblick und auf die Erinnerung. Es ist wahr, daß für uns dieser Augenblick voller, die Erinnerung tiefer ist. Doch, was den Engeln selbst noch verhüllt ist, können auch wir nicht enträtseln. Auch wir bleiben in dem Jenseits, was wir waren: zeitliche Wesen und werden es immer sein. Welches Glück! Denn würde die Zeitlichkeit unserem Zustand fehlen, wie könnte ich dann mit Menschen wie diesen, die ich da vor mir sehe, in Liebe verbunden sein?! Liebe . . . was 174 ist sie im Grunde andres als eine Bewegung der Sphären nach Weise der Musik? Sie verläuft in der Zeit wie Musik verläuft, die durch Takt und Rhythmus gegliedert ist, und strebt nach Harmonie. In ihrem Spiel des Suchens und Findens gleicht sie Planetenbahnen, deren Ekliptik den Tag und die Nacht und sämtliche Jahreszeiten einzig um dieses Spieles willen erfunden zu haben scheint . . . während in Wirklichkeit Sommer und Winter nur durch die Ekliptik sind. Weil also die Sphären Musik enthalten, und der Himmel die Erde aus dem Bedürfnis nach Anbetung, Liebe und Freude hervorgebracht hat, ist die Entsprechung der menschlichen Liebe im Himmel aufbewahrt. Jeder Anschlag, der hier unten geschieht, jede Berührung von Mann und Frau, ist oben schon vorgegeben. Ach, zu Liebe und Gnade ist jedes Geschöpf von ewig her prädestiniert!

Wer kann also sagen, daß Friedrich Am Ende seine Vereinsamung selber gewählt, oder daß Arthur Levi-Jeschower, der die Anziehungskraft einer heidnischen Gottheit in Hüften und Händen hat, um dieser Kraft und seiner Liebefähigkeit willen Gnade gefunden hätte?

Es ist wahr, daß er immer geliebt werden wird – schon, wie er damals geliebt worden ist, als er die Haselnußhecke durchbrach und an unseren Spielen teilnahm; ein kleiner Amor mit üppigen Locken und unschuldig dreisten Augen, die [wie die Hummel am Glockenblümchen] an Flora hängenblieben; an dieser Flora im hellblauen Taft mit der Kette aus silbernen Paranüssen, die ihm entgegentrat wie einst Rahel ihrem Liebsten am Jakobsbrunnen. Ich selbst war Lea von Anfang an, Lea mit einer trüben Haut und zausigen, dünnen Haaren; ja, weniger und zugleich mehr als sie, weil keine gesetzliche Vorschrift für mich Beachtung erzwang. Denn wir waren getauft, und wir wußten nicht, daß wir damals, als Vater und Mutter uns 175 zeugten, noch nicht zu St. Christoph zählten oder zu St. Emeran. Nirgendwo wurden die Fasten so streng, und wurde der Sonntag so heilig gehalten wie in unserem Elternhause; nirgendwo gab man in solchen Mengen Almosen, stiftete Kerzen und Blumen und überführte die heilige Inschrift der alten Gesetzestafeln in den neuen, den höheren Bund. Was hätte ich also von diesem Arthur, unserem, wie wir glaubten, verlorenen Spielkameraden, der noch dem Judentum angehörte, anderes für mich erhoffen können, als daß ich für ihn zu opfern und zu beten gewürdigt wäre? O, wie ich ihn liebte, ohne zu wissen, welches Gefühl mich besaß und erfüllte – jedesmal, wenn ich den hübschen, kleinen, verwegenen Teufelsbraten von ferne auftauchen sah! Ich beschloß, ihm das Teuerste, was ich hätte, bedenkenlos anzubieten, wenn er sich einverstanden erklärte, sich bekehren und taufen zu lassen . . . unter dem Schleier des Nada gleichsam, wo der Zwerg die Natternbraut krönte. Für die Vorstellung dieser mystischen Hochzeit unserer Kinderseelen hätte ich sterben mögen, doch welches Opfer mir abverlangt und womit ich bezahlen würde, ahnte ich damals noch nicht.

Wieder einmal saßen Flora und ich regungslos auf den Knieen und starrten nach dem verhüllten Zwerglein und der spielenden Ringelnatter. Es war heiß, ein glühender Nachmittag, der schläfrig und erwartungsvoll machte, und in dem Schoß einer einzigen Stunde den Stoff zu unzähligen Träumen hatte, deren pflanzenhafte Bewegungen sich wie ein morgenländisches Muster ohne Anfang und Ende verschlangen; wie ein bunter, blühender Blumenteppich über merkwürdig staubgrauen Grund; er war wie der überkochende Tiegel eines arabischen Alchimisten, der aus der trüben, schweren Materie das Gold zu entbinden trachtet; wie ein Orchester aus Glöckchen, Triangeln und umwickelten Trommelschlegeln, das auf dem Grund eines 176 Wüstenkraters, der mit Skorpionen und Tigerlilien bis obenhin angefüllt ist, eine grelle und weit entfernte, fremde Musik anhebt. In der Luft hing ein dünnes, bebendes Zirpen; die Atmosphäre verleiblichte sich, wurde körperhaft und schien auf der Netzhaut zu flirren und zu flimmern. Jener Augenblick war es, als zugleich Arthur und die Bewegung hinter dem Schleier in meinen Gesichtskreis trat. Wie immer setzte der Knabe sich zu uns und legte den Arm um Flora; er lehnte die bräunliche, feste Wange an die zarte Schläfe des Mädchens, das nicht zu atmen wagte.

[Noch heute – in dieser Gewitterstunde unter niederzuckenden Blitzen – gehört mir der kleine, brennende Flecken versunkener Gartenerde, als ob ihn vier Erzengel in ein Tuch aus Zeitlosigkeit hätten eingeschlagen und an den Zipfeln ergriffen, um ihn wie ein gerettetes Eden im Schlaf nach oben zu tragen. Er gehörte mir, dieser winzige Flecken, ich war seiner mächtig, wie ich der Bilder, der Träume unter dem Schleier des Nada und des Nada selber so mächtig war, daß es genügt hätte, nur zu wollen, und ich selber wäre hinter den Schleier des Seins und des Nichtseins geraten.]

Wie gewöhnlich – es war ein Teil unserer Spiele – fragte Flora: »Was siehst du?«

»Ich sehe die Schlange, ich sehe den Zwergenkönig, und wie er die Schlange krönt.«

»Und jetzt?«

»Und jetzt –?« echote Arthur Jeschower, »sag, was du hinter dem Schleier siehst. Siehst du immer nur nichts und nichts?«

»Siehst du Nada?« forscht Florentine weiter. »Und darf auch Arthur das Nada sehen, und was hinter dem Nada ist?«

»Nein«, sage ich. »Nur, wer getauft ist, darf hinter das Nada sehen.« 177

Der kleine Arthur hingegen: »Und Flora? Sieht auch Flora die Schlangenhochzeit?«

»Natürlich«, sagt Flora mit glühenden Bäckchen. »Natürlich sehe ich alles, was hinter dem Nada ist.«

Sie lügt, und ich weiß auch, warum sie lügt. Sie lügt so eilfertig und so fromm, wie die liebenden Frauen alle lügen, wenn es dem Liebsten gilt. Einen Augenblick lang sieht der Kleine erst mich und dann Florentine an. Er scheint zu begreifen, daß ihm wie Paris ein Angebot gemacht wird: zwei Göttinnen, reizlos und häßlich die eine, und schön wie der Neumond die andere Göttin; die dritte bleibt unsichtbar. Ja, die ewige Weisheit bleibt unsichtbar, und doch ist es ganz genau diese Göttin, der er den Apfel reicht. »Behalte dein Nada«, sagt er zu mir. Und zu Flora: »Später. Ganz gewiß: später will ich mich taufen lassen. Dann wirst du meine Frau.«

Es ist wirklich genau so gekommen, wie Arthur damals sagte. Ich habe das Nada für mich behalten, und nach Jahren wurde die schöne Flora Arthur Jeschowers Frau. Er ließ sich taufen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Namen der Dreifaltigkeit also, die hinter dem Schleier wohnt. Doch schon in dem Augenblick dieser Entscheidung zerriß das Nada, zerriß der süße, bezaubernde Schleier, hinter welchem der Schöpfer den Himmel, die Erde und das Heer der Engel hervorgebracht hatte, und ich ging in die vollkommen bilderlose und reine Leere ein. Ich trat hinüber, wie sehr junge Tote in das Land ohne Wiederkehr gehen, und vergaß, auch nur das geringste Spielzeug nach drüben mitzunehmen. Mit der späteren Neuschöpfung meines Geliebten war schon damals der ganze Vorrat an Zeichen und Phantasiegestalten, an Traumelementen, Tönen und Farben vollkommen aufgebraucht. Meine Fähigkeit, über Blumen und Tiere und Gartenfiguren zu herrschen, war 178 unwiederbringlich dahin. Der Zwerg war ein mehr als gewöhnlicher Gnom aus Muschelkalk geworden, die Natter erschien mir nicht mehr. Die Vielfalt nahm Abschied, und alle Dinge ließen wie Bäume im Spätherbst ihr Laub von den Ästen fallen; kein Schattentrug und keine Lichterflocken tropften mehr durch die durchflammten Hände der Rotbuche und des Ahorns – – und das Versteckspiel der ganzen Erde mit einer buckligen kleinen Nymphe hörte von da ab auf. Vielleicht, daß ein anderes Wesen als ich es versucht haben würde, die alten Träume und Spiele zurückzurufen, oder den Zauber der Mittagsstunde unwissentlich zu beschwören. Ich aber . . . Ach, meine sieben Freunde, die ihr mir fremd seid, weil ihr wie ich die Grenze zum Totenreich überschritten und das Versteckspiel mit eurer Seele zurückgelassen habt, ihr begreift es, wenn ich euch sage, daß dort, wohin ich mich vorgewagt hatte, das Nichts und die Fülle vertauschbar waren wie Leben oder Tod.

Damals begann man, mich mathematisch oder abstrakt zu schelten. Ich lag auf dem Bauch wie der junge Pascal und zog mit einem Stück Kreide die Sätze der euklidischen Geometrie auf den Boden oder bemühte mich um das Geheimnis der Verhältniszahlen von Mann und Frau in dem Goldenen Schnitt, von welchem ich glaubte, daß die reine Darstellung ganz bestimmter Komplementärfarben ihm entsprechen und das ›Schöne an und für sich‹ [wie ich früher] oder das ›Wesen an und für sich‹, [wie ich später den platonischen Eros, ohne ihn jemals nennen zu hören, in einsamen Stunden hieß] gewissermaßen ausfällen könnte; ausfällen wie die ersehnte Substanz in dem Goldmachertiegel oder die Wurzel der Zahlenreihe Unendlich, die Quadratur des Kreises, das Urwort, das der Worte ursprünglichstes ist. So lebte ich also damals in einer Welt von Symbolen: von abstrakten Zeichen und 179 Hieroglyphen, von chemischen Formeln und Zahlenbildern, in denen ich die Essenz des Daseins und das Aroma aller Erkenntnis auf der Zunge zu schmecken glaubte. Es war der gleiche Geist, der mich antrieb, ihn im Ornament zu erkennen: in Filigranen, Spitzen und Bändern, in Teppichmustern und nordischem Flechtwerk, Ziselierungen, Stickereien und alten Inkunabeln . . . und während ich in der Zeit meiner Spiele mit Arthur und Florentine einer genäschigen, kleinen Raupe geglichen hatte, welche die Füßchen durch die Krümmung des Buckels über das Blatt zieht – ging ich jetzt in den Puppenstand ein. Ich schwebte, keiner Materie bedürftig, in dem zarten und festen Gespinst eines Daseins, das ich selbst hervorgebracht hatte, und starb meinen Raupentod.

Ich studierte Physik und Mathematik, während andere Mädchen tanzten. In Paris und Göttingen, Erlangen, Zürich saß ich Monat für Monat zu Füßen von hochberühmten Lehrern; ich wurde selber gelehrt, und täglich nahm meine Häßlichkeit zu. Mein Rücken, über die Bücher gebeugt, krümmte sich mehr und mehr; auf der Oberlippe, wie bei einer Katze, sprießten mir stachlige Härchen, meine Augen gewöhnten sich an die Nacht und blinzelten gegen das Licht. Aber noch immer verehrte ich die Schönheit aus ganzer Seele; ihren zarten, ach, so vergänglichen Zauber; die nicht zu stillende, tiefe Schwermut, die ihr Anblick bei mir erweckte, und jene Beglückungskraft, welche sie hat, wenn sie [wie Eva aus Adams Rippe] jeden Augenblick neu entspringt.

Meine Freunde, mit dieser Schönheit ist es mir seltsam ergangen. Sie verfolgte mich, weil ich sie nicht besitzen, und schien meine schüchterne, sanfte Verehrung nicht mehr entbehren zu können, weil ich nichts von ihr haben wollte. Wie einer verwöhnten, umworbenen Frau schien die Zahl ihrer Anbeter ihr nicht zu genügen, wenn sie 180 durch meine arme Person nicht voll geworden war; sie lief mir häufiger über den Weg, als ich eigentlich wünschen konnte, und wenn sie Andere von sich fortstieß, mit ihren Launen und Stimmungen quälte oder enttäuschte, indem sie die Hüllen vorzeitig fallen ließ, schien sie Wert auf mein Urteil zu legen, auf meine Bewunderung, meine Treue und Unbestechlichkeit. Ich lernte sie immer genauer kennen und konnte sicher sein, sie zu treffen, wo sie niemand vermutet hätte. Schließlich erkannte ich sie in allen Verkleidungen. Ich brauchte nur ihre Füße zu sehen – diese schlanken, geschmeidigen, fröhlichen Füße einer niederfränkischen Gänsemagd – ihre Hände, die ruhlosen, fleißigen Hände einer böhmischen Klöpplerin zwischen den Stöcken, worüber das Garn gespannt ist – ihren Wangenbug, wenn ihn das kühle Licht einer flackernden Straßenlaterne auf dem Pont des Arts ihrem jungen Geliebten aus dem Dunkel entgegenhob – ihre überaus kostbaren, vollen Brüste, die sie unbefangen [an einer Säule von Maria Maggiore lehnend] aus der Bluse herausholte, um sie dem Säugling in den schreienden Mund zu geben . . . und ich erkannte sie. Dieser kurze, zuckende Augenblick, dieses gespenstische Nicken genügte, um mein ganzes Wesen in der Erkenntnis ihres fast göttlichen Ursprungs erzittern und beben zu lassen; ich begriff, daß nicht nur die Wahrheit schön, sondern die Schönheit auch wahr ist; wirklich und wesentlich wie ein Körper, den wir ansehen und berühren können, während er uns erinnert –.

Vielmehr, die Schönheit erinnert uns nicht, sie ist die Erinnerung selbst. Als Erinnerung trägt sie die ganze Schöpfung unaufhörlich in ihrem Schoß; sie gleicht der heiligen Mutter Anna, auf deren Knieen das Jesuskind spielt, während die Unbefleckte Empfängnis die Arme um es schließt. Doch auch das Jenseits wird erst verbürgt durch die Erinnerung. Oder glaubt ihr, es wäre den Toten 181 möglich, die Lebenden zu erkennen ohne Erinnerung? Selbst die ewige Seligkeit übt sich erst ein durch den Glanz der Erinnerung, und was wir den ›Ratschluß Gottes‹ nennen, erscheint in ihrem Licht. Ja, auch der Ratschluß Gottes erscheint in ihrem Licht. Heute weiß ich, warum meine ersten Spiele dem Nada begegnen mußten; heute da mich die ewige Weisheit zu dem Schutzengel jener Sieben gemacht hat, die ich hier vor mir sehe. Denn sie kommen aus dem gewaltigen Nada, oder sie suchen es. Sie umkreisen es, werden von ihm gezogen und beugen sich über den Rand des Kraters, auf dessen Sohle es liegt: Friedrich Am Ende, Ewald Hauteville, der die Stelle, wo dieses Nada wohnt, an der Gabelung seiner Träume sucht, die in die Totenstadt führen, und die unglückselige schöne Irene, die nicht vergessen kann. Auch Albrecht Beifuß und Lotte Corneli hat der Sog, den dieses Nada erzeugt, mit sich hinweggetrieben. Ihre Leiber dicht aneinander gepreßt, halten sie sich in der dunkelsten Ecke der Wildhüterhütte umklammert, und der Reisighaufen, auf welchem sie sitzen, knistert, als ob er in Flammen stünde, bei jeder Bewegung, welche sie machen, um den Zugriff zu lockern, mit welchem die süße, entsetzliche Raserei ihrer Sinne sie ohne Erbarmen bedrängt. Weder Arthur, noch Florentine empfinden, obgleich sie die beiden mehr fühlen als beobachten, diese Haltung als eine Unschicklichkeit; selbst der Bruder von Lotte umklammert finster, während sich sein Gesicht immer mehr, wenn ich jetzt weiter erzähle, verdüstert, das Handgelenk von Irene von Dörfer und scheint von seiner Schicksalsgenossin [nicht weniger als seine Schwester von Beifuß und Beifuß von seiner Schwester] ganz und gar besessen zu sein.

So ist es. Keiner von diesen Menschen besitzt sich noch selbst, sondern jeder von ihnen scheint sich und sein eigenes Leben von dem Andern zurückzuverlangen. In ihnen, 182 diesen Zufallsgefährten, stellt sich die ganze Menschheit im Kleinen und die Unentwirrbarkeit ihres Daseins unter dem Bild einer Vielgestalt dar, die in Honig und Teer und Federn gewälzt, geblendet, ausgepeitscht und zuletzt sich selbst überlassen wurde. Jede Bewegung bindet sie stärker, verfilzt sie dichter und mehrt ihre Qual und ihre Hilflosigkeit. Sie fühlt, daß sie sich dem Zeitpunkt nähert, wo ihre Rettung darin besteht, in das Feuer geworfen zu werden, in ein Feuer der Reinigung ohnegleichen, das keine Wassergüsse mehr löschen, und das nichts mehr ersticken kann. Hört mich an, meine Freunde: ohne das Feuer ist keine Rettung mehr möglich; jenes Feuer, das den Geist von der Unzucht, und den Leib von der Seele scheidet; das Verwesliche von dem strahlenden Glanz der Unverweslichkeit. Dem Einen von euch bedeutet es Liebe, dem Anderen der Tod; dem Dritten die Reue, dem Vierten die Einsicht, dem Fünften die Preisgabe seiner selbst, dem Sechsten eine unendliche Freude, dem Siebten alles zusammen: die Freude, die Liebe, der Tod.

Auch mir hat das Feuer die Pforte zur Seligkeit bedeutet – jener wabernde, wallende Feuervorhang aus meiner Kinderzeit. Schon wieder lag das Flirren und Flimmern einer wahrhaft unerträglichen Hitze in der gläsern geronnenen Luft, und die Krematoriumstürme von Auschwitz rauchten bei Tag und Nacht. Ich wußte es, denn obwohl man mir Zuflucht in Amerika angeboten und schon die Passage eingezahlt hatte, war ich in Deutschland zurückgeblieben, um ihnen nahe zu sein. Diesen Türmen? fragt ihr. Ja. Auch den Türmen und dem Gelände unter den Türmen, den Baracken und den Barackenbewohnern, vor allem aber dem mächtigen Heer der unschuldigen Kinder, welche die Mütter auf ihren Armen in den Rachen des Todes trugen.

[Man hört im Hintergrund einen Schrei, den Irene von 183 Dörfer ausstößt.] Vermiß dich nicht, meine arme Irene an der Liebe Gottes zu zweifeln, weil du solches gesehen hast! Oder glaubst du, sein eingeborener Sohn – aber ich will dir jetzt nichts entgegnen, was du selber erfahren mußt. Auch darf ich nicht mehr zu lange verweilen, denn der Regen beginnt schon schwächer zu werden, und wenn ihr das nächste Dorf noch erreichen und um Unterkunft bitten wollt, müßt ihr bald weiterziehen. Meine Geschichte, ihr werdet es bereits ahnen, biegt sich zu ihrem Anfang zurück und ist rasch zu Ende erzählt. Vielleicht, als ich Arthur und Florentine zur Flucht verholfen hatte, hätte ich selber gleichfalls fliehen und mein Leben in Sicherheit bringen können, denn als Leiterin einer der letzten jüdischen Wohlfahrtsstellen, wo ich mit einer Flasche Lysol, einem Lehrbuch der höheren Mathematik und den ›Geschichten von Fatima‹ gegen Ungeziefer, Unwissenheit und Hoffnungslosigkeit kämpfte, hatte ich Einblick in alle Schliche, welche noch möglich waren; ich saß an dem Ohr des Dionysos gleichsam und erfuhr, wenn ein Echo als Antwort aus dem Reich des Todes zurückgekommen, und wie es beschaffen war. Trotz meines Buckels besaß ich die Gabe der Unauffälligkeit. Eine Tarnkappe schien mir eigen zu sein, welche mich unsichtbar machte, und ein Schwanenhemd, das mich den Mördern entzog, wenn sie frech um die Ecke kamen. Rette dich! flüsterte mir eine Stimme in meinem Innern zu. Aber für wen? eine zweite, die der ersten nicht unähnlich war. Gleichwohl begann ich mich mit dem Gedanken einer Rettung vertraut zu machen, ohne mich zu beeilen. Ich fuhr fort, den Aufschub der Massentransporte um einen einzigen Tag der Gnade, und die Gelegenheit zu entwischen für Diesen oder Jenen durch Verwechslungen, ungenaue Karteien und verzögernde Rückfragen anzustreben; ich wies die Kranken an das Spital eines menschenfreundlichen Arztes, 184 unterrichtete eine Gruppe Studenten, die noch immer auf Visa hofften, besorgte Schlafstellen für die Geflitzten und Mittagstische in einsamen Häusern, deren Blockwart im Bilde war. Ich gewöhnte mich und gewöhnte die Umwelt so vollkommen an mein Vorhandensein, daß ich wahrscheinlich nicht nur diese Umwelt, sondern auch ihre entsetzliche Schuld durch mein Überleben gerechtfertigt hätte . . . wenn mir nicht eines Tages Deborah und Markus begegnet wären: Deborah, die Zwergin, und Markus, der wackelnde Wasserkopf.

Es war in der Kleiderkammer der jüdischen Wohlfahrtsstelle, zu der ich den Schlüssel hatte; einem Lattenverschlag auf dem Speicher des Hauses, wo man die Schuhe und Kleidungsstücke der Unglückseligen aufbewahrte, die bereits ›abgewandert‹, wie der scheußliche Ausdruck lautete, das heißt: zu Tode verurteilt und abtransportiert worden waren. Wie gesagt: es war in der Kleiderstube, die mehr einem um und um durchwühlten, geplünderten Althändlerladen als dem Teil eines Organismus glich, dessen Zweck es gewesen wäre, sich langsam und wohlbedacht auszuteilen. Denn, da außer mir auch der Hauswart den Schlüssel zu dieser Kammer hatte – ein idiotischer Alter, der sich von Klagen, von Bitten, Befehlen, Geschwätz und Geschrei immer neu überrennen ließ –, stürzten fast täglich Menschen hinauf, die mit flatternden Händen den traurigen Vorrat an Lumpen dezimierten, und die hektisch eingesunkenen Leiber mit vermotteten Stoffen behängten, die übrig geblieben waren; die dünnen Beine mit hauchzarten Strümpfen, von denen keiner zum anderen paßte, und die künftigen Totenschädel mit Hütchen, die sie sich überstülpten und mit hysterischem, wildem Geschnatter vor dem Standspiegel aufprobierten. Diese Kammer war also der letzte Treffpunkt der menschlichen Eitelkeiten; die letzte Planke, auf welcher die 185 Reste der gescheiterten Schiffsgesellschaft in das Meer der Ewigkeit trieben. Hier wurden unter dem Anschein der Hoffnung Gutscheine ausgegeben, die Rettungsringe betrafen, Schwimmwesten, Gürtel und Rettungsboote, die nicht vorhanden waren; hier wurden Funksprüche aufgefangen: ›Haltet aus!‹, ›Wir kommen!‹, ›Dampfer in Sicht!‹, die auf Einbildung oder Verzweiflung beruhten, auf Angst und Lebensgier. Zugleich jedoch war die betreffende Stelle der Ausgang von zuverlässigen Höllendaten; eine Börse, auf der die Schiffspapiere der nächsten Auswanderer notiert und ihr Scheitern vorausgesagt wurde. Jeden Abend trafen sich Männer und Frauen, wenn ihre Zwangsarbeit in den Fabriken, an dem Westhafen, wo sie Kähne entluden, beim Kohlenschippen und Säcketragen beendet war, in der Kleiderkammer und tauschten dort ihre Vermutungen aus; die gesammelten Kippen, das kleine Stück Wurst und die geschmuggelten Kaffeebohnen, die sie ergattert hatten. Hier warfen sie ihre Mäntel und Jacken, die den Judenstern trugen, auf einen Haufen; sie saßen wie abgeschiedene Seelen, die sich der Hüllen entledigt haben, in gespenstischer Heiterkeit beieinander und hörten Stimmen, die aus dem Weltraum in ihre Geisterohren und ihre bereits geschrumpften Herzen wie himmlische Chöre drangen: haltet aus! wir kommen! Dampfer in Sicht! habet Hoffnung! verliert nicht den Mut!

Nur am Vormittag war es ruhig in der Kammer, und daß ich eines Morgens Deborah und Markus dort oben antraf, war so seltsam, als ob eine Frau in der Küche plötzlich die Augen von ihrer Schüssel, in welche sie Erbsen geperlt hat, höbe – – und vor ihr stünde ein winziges Männchen mit Perücke, Schnallenschuhen und Frack wie aus dem Bilderbuch. Ich erschrak so sehr, daß ich heftig scheltend auf beide Kinder losfuhr, die mir mit undurchdringlicher Miene gelassen entgegensahen. »Was tut ihr hier?« fragte 186 ich, immer noch zitternd, und sank auf einen Stuhl; warum ich erschrocken war, wußte ich nicht und erst recht nicht, warum dieses Zittern sich immer mehr verstärkte. Von Markus konnte ich selbstverständlich keine richtige Auskunft erwarten, wohl aber von Deborah. Denn die Zwergin war listig und bei Verstand; so vollkommen, daß sie sich oft ganz bewußt ihrer grotesken Erscheinung bediente, um als unzurechnungsfähig zu gelten, ohne es doch zu sein. Markus dagegen war halb vertiert; ein Kind mit Schleimnase, triefenden Augen und einem dicken, zärtlichen Mund, den er mit schlaffen, schmatzenden Küßchen bei jedem anzubringen versuchte, der sein Vertrauen verdiente. Heute dagegen war dieser Markus auf erschreckende Weise verwandelt. Ein majestätischer stiller Triumph verdüsterte und entflammte zugleich sein zitronenfarbenes, breites Gesicht, das vernünftig geworden war. Ja, es war wirklich vernünftig geworden, wie die Gesichter von Geistesgestörten es kurz vor dem Tode werden.

»Wir reisen nämlich ab, Tante Sichel«, sagte er mit seinem gaumigen Stimmchen. »Morgen reisen wir ab.«

»Ist das wahr, Deborah?« fragte ich leise. [Ich fühlte, es war wahr.]

Deborah nickte und hob voll Stolz ein Täschchen in die Höhe, wie man es früher auf Opernbällen oder in der Theaterloge bei sich zu führen pflegte. »Die ganze Gruppe reist morgen ab«, sagte Deborah bestimmt. »Kinderkreuzzug, hat gestern Herr Löb« [der technische Verwalter des Hauses] »zu Herrn Michaelis« [gesetzlicher Vormund sämtlicher Waisenkinder] »gesagt.«

Die ›Gruppe‹ war, aktenmäßig betrachtet, eine schwer zu registrierende Sache, ein verhängter Knoten von Existenzen, denen nichts gemeinsam war außer dem Kreuzchen oder dem Fragezeichen, welche man in die Namensrubrik ihrer Erzeuger setzte. Einige, wie Deborah und 187 Markus, waren römisch-katholisch getauft, und andere waren es nicht. Es gab unter ihnen Deutsche und Polen, Ruthenen, Spaniolen, Zigeuner, Russen und einen Holländer. Man hatte diese gescheckten Kinder zusammengeworfen, weil jedes für sich einer besonderen Registratur und eigens für es erfundener Gesetze, Bestimmungen, Auslegungsmodi bedürftig gewesen wäre. Auch war es günstig, sie unter dem Mantel eines Kollektivs zusammenzufassen, dessen Zipfel sich beständig verschoben; lüftete man den einen, so blähte der andere sich auf, und eine Auslegung, beispielsweise, die für den Ruthenen günstig war, ließ sich in schlauer Unwissenheit für die anderen gleichfalls in Anwendung bringen wie eine Patentmedizin.

Ich bitte euch, meine sehr lieben Freunde, schaut nicht so sauertöpfisch gelangweilt bei der Erläuterung dieser ›Gruppe‹ und ihrer Besonderheit drein. Es ist wahr: ich könnte mich kürzer fassen. Doch dieser verfilzte närrische Knoten, den man immer wieder mit einem Fluch in die Lade zurückwarf, wenn man in ihr nach einem Bindfaden suchte, war die letzte Spielmöglichkeit, die man hatte; das letzte Ding, das man leicht nehmen konnte, und das im Ernst dazu angetan war, sich über es lustig zu machen. Ich sagte euch schon, daß die ewige Weisheit durchaus nicht ohne Humor und Sinn für das Komische ist. Sie sieht das Erhabene – und zugleich Deborahs Perlentäschchen, das die Zwergin immer noch hoch vor sich hinhält, während sie weiter erzählt. Sie war es überhaupt, jene Weisheit, die mich das Täschchen bemerken ließ, und die es bis über das Ende dieser Geschichte hinaus in einer Spanschachtel aufbewahrt, in der es nach Pfefferminzplätzchen und Mottenpulver riecht. Warum sollte ich daher nicht auch von dem Täschchen und von seinem Perlenmuster erzählen, das eine dicke, blaurote Rose von grotesker 188 Gemütlichkeit aufwies? Von den Eigenschaften der ›Gruppe‹, der Arbeit und dem Anreiz, den sie uns bot?

»Wir haben uns also ausstaffiert«, sagte Deborah wichtig, »obwohl es uns nicht erlaubt ist, die Kammer zu betreten. Nur für Markus fehlt mir noch eine Mütze, die über die Ohren geht.«

Dieser Nachsatz: ». . . fehlt mir noch eine Mütze, die über die Ohren geht«, löste so unvermittelt und heftig einen Lachreiz in meinem Zwerchfell aus, daß ich glaubte zerspringen zu müssen. Ich lachte, daß mir die Tränen über die Backen rollten, ich hielt mir die Seiten, ächzte und stöhnte und bedeckte mein Gesicht mit den Händen, bis ich ruhiger geworden war.

»Oder glaubst du«, fragte die Zwergin mit unbeteiligter Stimme, »daß er im Hut fahren kann?«

»Wir wollen sehen«, entgegnete ich; nahm einen verknautschten Filzhut vom Haken, den ein Häherfederchen zierte, und setzte ihn Markus auf. »Nun . . .«, sagte ich, faßte Deborah und Markus an den Händen und führte sie vor den Ankleidespiegel, der unter der Dachluke stand; dann legte ich den zwei Mißgeburten die Arme um die Schultern, hockte mich zwischen ihnen zu Boden und sah in das Spiegelglas. Ich sah zuerst zwischen mir und dem Spiegel einen feinen Schleier aus Sonnenstäubchen, der – während ein unbeschreiblicher Glanz durch ihn gefiltert wurde– an den farbigen Bändern zerbrach. Dann erblickte ich drei Geschöpfe am Boden, deren Bilder der Spiegel zurückwarf: in der Mitte mich selbst, deren häßlicher Kopf mit der scharf gezeichneten, großen Nase wie der Vogelkopf einer antiken Harpyie aus den buckligen Schultern ragte; rechts Markus, dessen zitronengelbes, von dem Hut beschattetes, breites Gesicht sich zu wohlgefälligem Lächeln verzog, und links von mir Deborah, die Zwergin: die Füße gekreuzt und das Perlentäschchen 189 wie eine Tänzerin ihren Fächer in der hochgehobenen Hand. Von diesen dreien sprach keiner ein Wort. Aus dem Helldunkel trat, im Rücken von uns, ein scharlachroter Satinrock, über den eine kleine Kindertrompete mit giftgrüner Troddel hing; unter dem Rock standen Damenschuhe auf hohen, schief getretenen Stöckeln, und schräg dazu lehnte ein schwarzer Spazierstock, dessen Elfenbeinkrücke, da der Spazierstock im Dunkeln nur geahnt werden konnte, wie Neumond an einem Kulissenhimmel aus schwarzblauer Seide schwebte. Keine Bewegung. Nur Atem und Flimmern. Nur der Zauberbann, nur das Nada der Kindheit, hinter dem die Dreifaltigkeit wohnte. Die Dreifaltigkeit? Welch eine Trinität, in die sich die Menschenfreundlichkeit Gottes als fleischgewordene reine Erbarmung und Güte herniederließ! Ein Buckel, ein Wasserkopf und eine Zwergin, die einander umfangen hielten. Welche Liebe! Welche barocke Schönheit! Welch seraphische Nachtwache, wo das Geklirr und die Speerspitzen unbarmherziger Feinde in rauschende Fittiche, goldene Helme und knisternde Federkiele von Engeln verwandelt waren! Wo die Puppe zerbrach, der Falter sich regte; wo die Schönheit in Liebe, die Liebe in Schönheit wie die Flamme in schmelzendem Wachs verging, und sich beide [wie beide Naturen in Christus] unaufhörlich verbunden hatten.

»Ich gehe mit euch«, höre ich mich zu Deborah und Markus sagen. »Nach dem Osten, nach Nada, durch Nada hindurch und in die Dreifaltigkeit . . .«

 

Meine Geschichte, ihr fühlt es selbst, ist hier zu Ende gegangen, und was äußerlich noch zu berichten wäre, mag Florentine erzählen. Sie wird euch sagen, daß ich den Kreuzzug der ›Gruppe‹ begleitet habe, der nach Theresienstadt ging; daß man noch einige vorgedruckte, schmutzige 190 Karten erhalten habe, die unsere Ankunft bestätigten – daß jedoch diese Karten die ersten und auch die letzten waren, und man mutmaßen mußte, daß unser Ziel die großen Vernichtungslager in Auschwitz und Birkenau waren. Ich höre sie auch von dem Nada erzählen, das ich durchschritten habe, und während sie sich vergeblich bemüht, den Zusammenhang zwischen unserer Kindheit und meinem jetzigen Zustand in der Seligkeit herzustellen, beginnt in ihrem Gedächtnis die Inschrift über dem Hochaltar aufzuleuchten, die sie vergessen hatte. Aus allen Sternbildern wähle ich einen, nicht mehr als nur einen einzigen Stern und füge Stern um Stern zu der Figur dieser mächtigen Inschrift zusammen, die das Ziel aller irdischen Pilgerschaft ist, und zu der sich nicht bloß die Geschichte der Menschheit, sondern auch das zerstäubende Weltall ohne Unterlaß hinbewegt:

gratias agamus Deo domino nostro 191

 


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