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Wenn man heute herumfragen wollte, was so im allgemeinen unter »Frauenbewegung« verstanden wird, so würde man als Hauptbestandteil jeder Definition vermutlich den Gedanken der Frauen emanzipation finden. Tatsächlich aber ist das keineswegs der ausschlaggebende und wichtigste Begriff im Gedankeninhalt der Frauenbewegung. Liegt doch in diesem Begriff der »Befreiung« im wesentlichen nur das negative Moment, während man, um den Inhalt der Frauenbewegung zu erschöpfen, das positive Element hinzufügen muß; während man doch auch fragen muß, wozu die Frauenbewegung die Frau befreien will. Nehmen wir dieses positive Element mit in die Bedeutung des Begriffs hinein, so würde die Definition etwa so lauten, wie das Programm des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins sie formuliert hat: »Die Frauenbewegung setzt sich das Ziel, den Kultureinfluß der Frau zu voller innerer Entfaltung und freier sozialer Wirksamkeit zu bringen.«
Es handelt sich also darum, der Frau zu einer Anpassung an die modernen sozialen Verhältnisse zu helfen, bei der ihr für sich selbst die größtmögliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens gewährt ist und die zugleich die Aufgabe erfüllt, von der Frauenkraft den weitgehendsten, zweckmäßigsten, wertvollsten Gebrauch für die Zwecke der Allgemeinheit zu machen.
Betrachten wir die Frauenbewegung als Führer, welcher der Frau die aus ihrer augenblicklichen Lage sich ergebenden neuen Lebensideale zeigt, so haben wir zu fragen, wie diese Ideale entstanden sind.
Wir haben da unsere Aufmerksamkeit auf zwei einander vielfach berührende, aber doch in ihrem Wesen verschiedenartige geistesgeschichtliche Vorgänge zu richten. Der eine: die Entwicklung des Individuums in der neuzeitlichen Kultur, die Geschichte der Persönlichkeit im modernen Geistesleben; der andere: die Geschichte der Idee der Frauenbewegung selbst.
Wir wenden uns zunächst zu dem ersten Vorgang: zur Geschichte des Individuums.
Machen wir uns diesen Vorgang im einzelnen klar. Was bedeutet im kulturgeschichtlichen Sinn die »Entstehung des Individuums«, und wie vollzieht sich dieser Prozeß in der Geschichte der deutschen Frau, die wir hier vor allem ins Auge fassen.
Georg Simmel nennt in seinem Buch über »Die Philosophie des Geldes« als eine der allgemeingültigsten Normen der soziologischen Entwicklung das Gesetz, daß mit der Entstehung und dem Anwachsen großer sozialer Lebenskreise aus oder neben den kleinen eine Individualisierung und Verselbständigung der einzelnen Glieder dieser Kreise Hand in Hand geht. Er will damit sagen, daß der absolute Zwang, dem bei der familienhaften Arbeitsteilung die ganze Persönlichkeit des einzelnen Gliedes unterworfen werden mußte, für einen stetig wachsenden Teil seines Wesens und seiner Kräfte aufgehoben wird, in dem Maße, als der weitere soziale Lebenskreis die Funktionen der Familie übernimmt. Die Familie, die alle Funktionen zur Erhaltung des Lebens ihrer Glieder selbst leistete, konnte den einzelnen nicht fragen: willst du dies oder jenes tun? Sie legte ihren Gliedern ihre Aufgaben als notwendige, unumgängliche auf. Die soziale Gemeinschaft verfügt über eine größere Zahl von Arbeitskräften, und sie kann deshalb dem einzelnen die Wahl lassen, wo er seine Fähigkeiten verwerten will. In dem Maße als die soziale Gemeinschaft in der Form der Gewerbe, des Handels, der Wissenschaft, der Kirche die Funktionen der Familie übernimmt, gibt sie also dem einzelnen die Freiheit über sich selbst. Ein immer größeres Stück seines Lebens wird ihm nicht mehr ohne sein Zutun durch äußere Notwendigkeiten gestaltet, sondern tritt unter die Herrschaft seiner eigenen Entscheidung. Und je mehr die Macht seines eigenen Willens und der Spielraum seiner eigenen Neigungen wächst, um so mehr wird diese Freiheit ihm bewußt, um so mehr wird sie ihm Bedürfnis und Anspruch. Ein Anspruch, der sich auf den Rest der unerläßlichen allgemeinen Verpflichtungen insofern erstreckt, als der Mensch sie zwar nach wie vor erfüllen will, aber nicht mehr willenlos und ungefragt, sondern indem er ihre Notwendigkeit innerlich selbsttätig bejaht und sich ihr aus eigener Einsicht in die Lebensgesetze des Ganzen beugt.
Schmoller nennt nun das schönste Blatt aus der Geschichte dieses großen Umbildungsprozesses der Familie die »sukzessive Erhebung der Frauenstellung«. Auch die Frau hat an diesem Vorgang der Individualisierung teilgenommen, freilich in weitem Abstand hinter dem Manne, da ihre Lage und ihre Aufgaben weit größere Hemmungen boten. Und was wir heute als eigentlichen Kern der Frauenbewegung erkennen, das ist das Streben, diesen Prozeß der Individualisierung zu einem Abschluß zu bringen.
Die Erhebung der Frauenstellung, von der Schmoller in diesem Zusammenhange spricht, beruht darauf, daß die Frau aufhört, nur Arbeitskraft zu sein, nur ein Rad in einem Triebwerk, von dem nichts erwartet wird als die Funktionen eines solchen, sondern daß ein Stück ihres Wesens erlöst, gewissermaßen ihr selbst geschenkt, aus gebundener in freie Kraft verwandelt wurde. Dadurch allein wird es möglich, daß die Frau auch zu der Kultur, die sich außerhalb der Familie als Kunst, Gewerbe, Wissenschaft, Gemeinde- und Staatsleben aufbaut, in das Verhältnis einer Teilnehmenden, Empfangenden tritt. Ja mehr als das: in das Verhältnis einer Vermittlerin. Denn wie in wirtschaftlicher Hinsicht die Familie aus der Produktions- zur Konsumtionsgemeinschaft wird, so hat sie auch von dem Augenblick an, wo eine geistige Kultur außerhalb entsteht, die Aufgabe, diese geistigen Produkte dem einzelnen zum Aufbau seines persönlichen Lebens zuzuführen, sie als Mittel persönlicher Kultur zu verwenden. Im Leben der germanischen Völker hat die Frau von jeher für den geistigen Konsum der Familie die entscheidende Rolle gespielt. Sie ist die Hüterin der Güter gewesen, die in Religion und Dichtung, Kunst und Wissenschaft erkämpft und für die Verfeinerung und Erhöhung des persönlichen Lebens jedes einzelnen bereitgestellt wurden. Sie war mit ihrem mehr nach innen gewandten Leben für alle Bildungsgüter zunächst empfänglicher als der Mann. Höchst charakteristisch ist in dieser Hinsicht der Kampf, den Amalasvinth, die Tochter Theoderichs, mit den Vornehmen ihres Volkes zu kämpfen hatte, als sie ihrem Sohn Athalarich von einem römischen Grammatiker eine gelehrte Erziehung geben lassen wollte. Abgeordnete setzten sie von dem Unwillen des Volks in Kenntnis, beriefen sich auf ihren Vater, der keine Gotenkinder in die Schule gehen lassen und sie dadurch furchtsam und weibisch gemacht habe, und verlangten so entschieden schleunige Abschaffung des gelehrten Erziehers, daß Amalasvinth nachgeben mußte – ein Kampf der Geschlechter um die Bedeutung der Bildung mit einer gegen heute seltsamen Vertauschung der Rollen. Auch im späteren Mittelalter galten Kleriker und Weiber als die Hüter des geistigen Lebens, die Kleriker berufsmäßig, die Frauen als »Liebhaber«.
Diese Zeit war in der deutschen Geschichte in einer Hinsicht die beste, die die Frauen gehabt haben, die Zeit, die ihnen ihre natürliche Rolle im Kulturleben am leichtesten machte. Und zwar deshalb, weil Wissenschaft, Kunst und Religion noch nicht in dem Maße für den Laien unübersehbar geworden waren wie heute. Alle diese Schöpfungen waren noch wie kleine Bäume, deren Früchte niedrig hingen und ohne Leitern von den Vorübergehenden gepflückt werden konnten. Die Frau, die, wenn sie nicht Nonne war, die Leiter professioneller gelehrter Bildung nicht besaß, konnte doch nach ihnen greifen. Sie konnte, mindestens in den höchsten Ständen von der Notwendigkeit harter Arbeit befreit, in sich selbst und ihrer Umgebung Bedürfnisse pflegen, die dem harten Leben des Mannes gegenüber auf etwas Reineres, Höheres, auf eine Sphäre feineren Genießens, edleren Selbstgefühls gerichtet waren. Vielleicht erklärt sich aus dieser Lage der Dinge zum Teil die schwärmerische Verehrung des Mannes für die Frau, der mittelalterliche Frauendienst.
Die Zugänglichkeit der geistigen Welt aber erhielt sich nicht lange. Mit der fortschreitenden Differenzierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, mit der sich immer mehr verzweigenden Arbeitsteilung auf allen Gebieten, der Ausgestaltung der Wissenschaft in einer Unzahl einzelner Disziplinen, mit all diesen Vorgängen verringert sich die Zugänglichkeit der geistigen Kultur für den Laien, persönliche und sachliche Kultur rücken immer weiter auseinander. Die Wissenschaft bekommt ihre eignen objektiven Ziele, denen sie zustrebt, und erst auf immer weiteren Umwegen kehren ihre Resultate wieder zum Menschen zurück. Innerhalb der sachlichen Kultur aber, in der Welt der produktiven geistigen Arbeit, braucht man nur noch Fachmenschen, die ihr ganzes Leben den Erfordernissen des Berufs widmen können. Von dieser Form geistiger Betätigung war die Frau, die als Mutter und Hausfrau immer noch eine umfassende Aufgabe hatte, so gut wie ausgeschlossen. So steht jetzt die geistige Kultur vor ihr wie ein Tempel mit verschlossenen Pforten, hinter denen sie Gatten und Söhne verschwinden sieht und aus dem sie zu ihr zurückkehren als andere Menschen, mit anderen Interessen, anderen Wertideen, einem aus anderen Quellen genährten Innenleben, als sie selbst es besitzt. Ihre Rolle als Vermittlerin persönlicher Kultur wird schwerer, denn der Weg zur sachlichen Kultur ist weiter. Es wird eine schwierige Frage, was sich aus diesem ungeheuren, immer vermehrten, anschwellenden Reich der Geisteswelt für die Befriedigung, den Aufbau der Persönlichkeit nutzbar machen läßt. Mit der Zeit der Renaissance beginnen für die Frauen Jahrhunderte eines chronischen Bildungshungers. Sie strecken tastend und fragend die Hände nach diesem und jenem aus, immer wieder rasch an die Mauern eines geistigen Gefängnisses stoßend, immer wieder zurückgeworfen von der Unzugänglichkeit der Güter, von denen der Mann sein Leben speiste. Und immer wieder von der Sehnsucht gepackt, etwas von diesen Schätzen zu besitzen, immer wieder ergriffen von dem Lebensdrang, dem einmal geweckten Glück eines geistigen, innerlichen Seins, das sich entfalten, erweitern und vertiefen, das immer reicher und immer persönlicher werden will.
Es kommen wohl Zeiten äußerer Belastung, in denen dieses Bedürfen zurückgedämmt wird, aber es bricht immer wieder durch. Die erste Äußerung der Frauenbewegung ist das Gelüsten nach der Männer Bildung. Es tritt seit der Reformation immer wieder hervor, entweder in der Form der Frage, ob die Frau ihrer Natur nach nicht auch zu gelehrten Studien geeignet sei, oder aber als Forderung. Schon das 17. Jahrhundert, die Zeit des großen Krieges, ist reich an Frauen, die in diesem Sinne um ihre Persönlichkeit, um ihr geistiges Sein kämpften. Von der Gelehrtentochter Anna Maria Schurmann bis zur ersten preußischen Königin Sophie Charlotte eine seltsame Reihe von Frauen, die sich innerhalb des traditionellen Kreises des Frauenwirkens zum geistigen Aushungern verurteilt fühlten, die in Angst um die Lebendigkeit ihres edelsten inneren Besitzes irgendwo den Anschluß an die geistige Kultur ihrer Zeit wiederzugewinnen suchten. Man muß sich dabei gegenwärtig halten, daß die innere Not dieser Frauen durch die allgemeine geistige Unruhe dieser Zeit, die sich in einem titanischen Kampf von Traditionen losrang und den Menschen innerlich auf sich selbst stellte, unendlich verschärft wurde.
Daß es sich hier nicht nur um einzelne, gewissermaßen aus der Reihe der übrigen heraustretende Frauen handelt, sondern daß die Frage der Frauenbildung eine allgemeiner empfundene war, das läßt sowohl die Pädagogik der Zeit – also etwa die Forderungen des Comenius, des Grafen Seckendorf u. a. – wie auch die populärwissenschaftliche Literatur erkennen. In einem Buch wie Harsdörffers »Frauenzimmergesprächspiele« haben wir einen Versuch, wieder so etwas wie eine weibliche Kultur zu schaffen, das heißt ein paar bescheidene kleine Kanäle zu graben, um das Wasser des großen Stromes der geistigen Arbeit der Zeit zu ihnen zu leiten. Man erkennt aber auch die Veränderung der Anschauungen über das Verhältnis der Frau zur Kultur seit dem Mittelalter. Jetzt ist man der Ansicht, etwas Ungewöhnliches, Neues, etwas, dessen Berechtigung bewiesen werden muß, zu verlangen, wenn man die Forderung geistiger Bildung für die Frau vertritt. Ja, in einer Zeit, die auf der einen Seite die ungeheuren Ketzereien der ersten umwälzenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen hervorbrachte und auf der anderen Seite sich in die härteste, ängstlichste und grausamste Orthodoxie flüchtete, in einer Zeit, die sich zum erstenmal der Gefahr des Wissens bewußt wurde, lag der Gedanke gar zu nahe, ob man nicht die Frau von diesem Felde größter Versuchungen so viel wie irgend möglich zurückhalten müsse. Und deshalb stellte sich den kühnen Forderungen eines Comenius, eines Seckendorf die pedantische Vorsicht des älteren Pietismus gegenüber, der die Frau von der Fahrt in das stürmische Meer der gefährlichen Aufklärung dadurch zurückhalten wollte, daß er ihr womöglich selbst die Kulturmittel des Lesens und Schreibens vorenthalten wollte.
Damit aber war ihr nicht geholfen. Sie sah, wie heiß um diese Aufklärung gerungen, wie leidenschaftlich sie bekämpft wurde, wie tief diese Umwandlungen der Menschheit an die Wurzeln ihres geistigen Seins griffen; sie fühlte auch die Mauern ihres Hauses beben in dem Sturm, der draußen tobte. Wie hätte sie in diesem mächtigen Geschehen teilnahmslos zur Seite stehen können? Die Bildungsbewegung unter den Frauen verbreitert sich mit dem Vordringen des Rationalismus. Die moralischen Wochenschriften werden geradezu zu Vorkämpfern der weiblichen Kultur. Eine breite populärwissenschaftliche Literatur versucht, »dem Frauenzimmer« die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu vermitteln, um auch sie »frei durch Vernunft« zu machen.
Immerhin hat man bei diesem ganzen Treiben »des gelehrten Frauenzimmers« der Gottschedzeit das Gefühl einer Modebewegung, die, zwar aus einem tiefen Kulturbedürfnis der Frau geboren, dieses Bedürfnis doch veräußerlichte und in eine ihrem Wesen wenig entsprechende Richtung wies. Diese nüchterne, helle und kühle Verstandesbildung, die so viel mehr auf die äußere Beherrschung der Welt und ihrer Rätsel als in die Tiefe persönlichen Lebens gerichtet war, hatte im Grunde den Frauen nicht viel Positives zu geben, so stark auch die gerade in ihr liegenden Impulse geistiger Selbstverantwortlichkeit waren. Und darum sehen wir die weibliche Persönlichkeit in der deutschen Kultur erst ganz erwachen, als der Funke des geistigen Lebens von diesem kahlen Felde der Aufklärung hinübergetragen wurde in die Welt des Gefühls, des persönlichsten Innenlebens.
So ist es in Deutschland die Kultur des 18. Jahrhunderts, die Zeit der großen Verinnerlichung, die sich ganz besonders an die Frauen wandte und ihre geistigen Kräfte weckte. Es kommt wieder, seit dem Mittelalter zum erstenmal, eine Zeit weiblicher Kultur. Sie war möglich, weil sich der Schwerpunkt des geistigen Lebens in die Kunst schob, und weil damit das, was sie bewegte, sich in einer Form ausdrückte, die unmittelbar zur Seele jedes empfänglichen Menschen sprach. Und so ist diese Zeit Wachswetter für die weibliche Individualität. Die Frau konnte an dem Größten, das geschaffen wurde, vollen, unverkürzten Anteil nehmen. Sie sah sich in die Gemeinschaft des geistigen Lebens ganz aufgenommen. Nicht als Empfangende allein, sondern nun auch als Gebende. Denn diese für den Wert des Persönlichen hellsichtigen Generationen fühlten die weibliche Nuance im geistigen Austausch als einen Reiz, einen Reichtum mehr. Die Frau sah sich als geistige Persönlichkeit wieder begehrt und ehrfürchtig geschätzt. So erwacht in ihr selbst stärker und stärker das Gefühl für den Wert dieses ihres Eigenlebens. Man verfolge z. B. das, was in vielen Frauenseelen damals vor sich ging, in einem klassischen Beispiel, nämlich den Bekenntnissen einer schönen Seele in Goethes Wilhelm Meister. Diese Bekenntnisse zeigen in ganz charakteristischer Weise, daß der entscheidende Wille, das höchste Bedürfnis dahin geht, der Entfaltung der Persönlichkeit mit höchstem Ernst zu dienen, den Ansprüchen der inneren sittlichen Natur alles zu opfern und sich die Bedingungen für das Wachstum seiner Seele von der ganzen Welt zu erkämpfen. Dieses Bemühen treibt die schöne Seele in Kämpfe gegen die traditionelle Gebundenheit ihres Familienlebens; sie opfert ihrem persönlichen Lebensziel die uralte Bestimmung des Frauenschicksals, Gattin und Mutter zu sein. »Wollte er meine Überzeugung nicht stören, so war ich die seine; ohne diese Bedingung hätte ich ein Königreich mit ihm ausgeschlagen« – so verteidigt sie, noch ganz unbeeinflußt durch geprägte Emanzipationsforderungen, für die Frau den Anspruch auf selbständige Gestaltung ihres inneren Lebens.
Zu solchen inneren Erfahrungen war die deutsche Frau im Lauf der Kulturentwicklung gekommen, in diesen Kampf um ihr erwachtes geistiges Sein trieb sie hinein, als die französische Revolution ihr diese inneren Erfahrungen plötzlich in ein ganz besonderes Licht rückte. Die französische Revolution als die letzte gewaltige Konsequenz der ganzen geistigen Bewegung von der Renaissance an.
Denn mit dem Individuum, mit der menschlichen Persönlichkeit gestaltet sich, wie mit dem Kern zugleich die Schale, die individualistische Theorie, gestaltet sich, immer weitere Kreise ziehend, die Doktrin von dem Recht des Individuums gegenüber den von der Gesamtheit, von irgendwelchen äußeren Mächten gesetzten Lebensordnungen. Wir müssen, um die Entstehung der Frauenbewegung als einer geistigen Strömung im Kulturleben zu verstehen, uns das Wesen dieser von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert reichenden emanzipatorischen Entwicklung deutlich machen. Mit dem Wort »emanzipatorisch« ist wirklich der eigentliche Sinn des geschichtlichen Fortschritts in diesen Jahrhunderten bezeichnet. Denn es vollzieht sich in dieser Entwicklung zuerst die innere, dann die äußere Loslösung des Einzelnen von den Institutionen, in die sein Leben gefügt war. Für das Lebensgefühl des mittelalterlichen Menschen gab es diese Trennung von Persönlichkeit und Gesellschaft noch nicht. Er fühlte sich eins mit den Institutionen, die als Kirche, Gemeinde, Staat sein Leben ordneten und ihm die Richtung gaben. Er wehrte sich wohl gelegentlich, wenn ihre Fesseln ihn drückten, aber er war noch nicht fähig zu jener zerstörenden und aufbauenden Kritik, die von der Frage ausging: gibt mir die gesellschaftliche Ordnung Spielraum zur Erfüllung der Aufgaben, zur Steigerung und Entfaltung der Kräfte, die ich als wertvollste erkannt habe, und wie müßte sie beschaffen sein, um mir das zu gewähren? Der einzelne war seiner selbst noch nicht gewiß genug, um sich über die gesellschaftliche Ordnung zu setzen und sie als Mittel zum Zweck, als ein von Menschen geschaffenes und darum menschlicher Kritik unterworfenes Mittel zum Zweck persönlicher Kultur zu erkennen.
Dieser Schritt geschah, wie das ja oft genug schon hervorgehoben ist, in der Renaissance. Burckhardt findet für diesen Vorgang die Formel: »Die Entdeckung des Menschen«. Was aber dort in einer Gesellschaft erlesener Menschen auf den Höhen des Lebens so rasch erblühte wie ein südlicher Frühling, konnte sich in breiterem Kreise, in der zäheren Art und den anderen sozialen Bedingungen des Nordens nur langsam gestalten. Dafür aber gewann es eine historische Festigkeit, die Dauer gewährleistete. Die Befreiung des Einzelnen, die Verselbständigung der Persönlichkeit innerhalb des Ganzen beginnt in Deutschland im Zentralpunkt des inneren Lebens, in der Religion, beginnt als Proklamation der Gewissensfreiheit in der Reformation. Damit nimmt der Einzelne den Teil seines Geschickes in die Hand, der ihm als der wichtigste, entscheidende erscheint. Aber die Emanzipation in der Kirche wird zu einer Emanzipation von der Kirche. Die Wissenschaft, im Mittelalter an die Kirche gebunden und in ihr beschlossen, rückt, indem sie »weltlich« wird, unter die Herrschaft des einzelnen erkennenden Geistes. Der Gedanke der freien Forschung, der sich seit der Renaissance durch viele Hemmungen, ja Rückschritte hindurch Geltung verschafft, bedeutet im Grunde nichts weiter als die Einsetzung des Individualismus auf dem Gebiet der Wissenschaft und des Denkens. Es fehlt der letzte Schritt, in dem die Konsequenzen dieser inneren Befreiung des Individuums gezogen werden, in dem die Anerkennung des Rechtes der Persönlichkeit im Glauben und Denken ausgedehnt wurde auf das Tun, auf seine äußere Stellung in der Volksgemeinschaft. Dieser Schritt geschah in der französischen Revolution; darin liegt ihre weit über ihre politischen Grenzen hinausreichende kulturgeschichtliche Bedeutung. Einer der Männer des Institut de France, jener von der französischen Revolution geschaffenen Akademie der Sozialwissenschaften, De Tracy, spricht es aus, daß nun die Zeit für die denkende Bewältigung der sozialen Fragen gekommen sei, die Zeit für die Sozialwissenschaft, »welche die für das Glück des Menschen wichtigste Wissenschaft ist und notwendigerweise erst zuletzt entwickelt wird, weil sie das Ergebnis und Produkt aller andern ist«.
Die Sozialwissenschaft jener Zeit beginnt mit der Feststellung des Begriffs des Individuums innerhalb der Gesellschaft und umfaßt mit diesem Begriff zugleich eine Reihe von unveräußerlichen Individualrechten, Menschenrechten, die jedem einzelnen zu gewährleisten Zweck der gesellschaftlichen Ordnung sei.
Und da sind wir bei der Entstehung des Begriffes angelangt, in dessen Zeichen die Frau zum erstenmal zum vollen Gefühl ihrer Lage innerhalb der Kultur erwachte, wenn wir der souveränen Voraussetzungslosigkeit, mit der die soziologische Kritik damals alle Lebensverhältnisse beleuchtete, ganz nachgehen, wenn wir beobachten, wie sie vor keiner Tradition stehen bleibt, nichts Überkommenes verschont, alles von Grund auf neu zu gestalten sich vermißt, so können wir uns des Staunens darüber nicht erwehren, daß die Frage: wie weit hat eigentlich die Frau an diesen Individualrechten Anteil? überhaupt nicht aufgeworfen wurde, ja daß die soziologische Betrachtung die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter zueinander und im sozialen Zusammenhang kaum streifte. Und doch ist das verständlich. Zunächst deshalb, weil an diesen Beziehungen zwischen Mann und Weib das Instinktleben einen so starken Anteil hatte, das persönliche Empfinden so durchaus entscheidend schien, daß man schwer dazu kam, hier ein Problem für das Denken zu finden. Und vor allem, das praktische Interesse, das ein so starker Antrieb zur Kritik der staatlichen Ordnung gewesen war, das Gefühl der Unbefriedigung, sprach in dem Manne in dieser Frage nicht mit. Er erlebte nicht, was die Frau erlebte: »Er empfand sein Verhältnis zur Frau als so durchaus befriedigend, daß ihm nicht im entferntesten der Gedanke aufsteigen konnte, auch hier sei ein Problem, auch hier etwas, was einer Kritik nach den neu gewonnenen sozial-ethischen Maßstäben nicht standhielt. Und so stellt denn auch Rousseau, als er seinen Staatsbau nach Vernunftprinzipien aufführt, das Verhältnis der Geschlechter einfach unter die Formel: La femme est faite spécialement pour plair à l'homme. Daß diese Formel mit den Grundlagen seiner Gesellschaftstheorie in klaffendem Widerspruch steht, übersieht er. Mit dem Instinkt des Besitzenden hält er seine Prinzipien von diesem Gebiet fern. Nur die Frauen selbst konnten sie auf ihre eigene Stellung in der Gesellschaft anwenden. Denn nur für sie bedeutete das herrschende System, wie für den tiers état im Staat, Druck und Einengung. Von ihrer Seite mußte die Kritik einsetzen. Mary Wollstonecraft tat diesen Schritt mit den Waffen des Jean Jacques selbst. Aus seinen Voraussetzungen zog sie die Schlüsse für ihr eigenes Geschlecht«. Helene Lange: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin 1904, W. Moeser.
Indem nun alle Unzulänglichkeiten, alle Konflikte, unter denen die Frau in ihrem Verhältnis zur Kultur litt, in das Licht dieser Theorie von den Menschenrechten traten, verknüpfte sich das Verlangen der Frauen nach weiterem Spielraum für ihre Persönlichkeitsentfaltung mit dem stärksten Pathos der Zeit, dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit. In der Theorie von den unveräußerlichen Naturrechten, die als Recht auf Selbsterhaltung, Recht auf Arbeit, Recht auf Mitbestimmung im Staat oder wie auch immer formuliert wurden, schien auch den Frauen die Erlösung von ihrer besonderen Not gesichert. Natürlich ging das Programm der Menschenrechte über diese Not hinaus, die zunächst nur als eine geistige, auf das persönliche Leben beschränkte, nicht als eine wirtschaftliche und noch nicht als eine politische empfunden wurde. Immerhin aber war diese geistige Not groß genug, um eine innere Bedürftigkeit zu erzeugen, die dem Dogma Gläubige sicherte. So schuf einerseits das vorhandene Bedürfnis die Theorie, daß auch die Frau an den Menschenrechten Anteil haben müsse; andererseits aber schuf nun auch die Theorie weitere Bedürfnisse. Denn wenn die naturrechtlichen Gesellschaftstheorien den Besitz der »Menschenrechte« als Inbegriff der menschlichen Würde hinstellen, so war es natürlich, daß die Frauen aus keinen anderen als diesen sittlichen Motiven heraus die Menschenrechte verlangten. Sie mußten sich degradiert vorkommen, wenn der Kampf um diese Rechte als edelste Pflicht galt. In der Werkstätte dieser Theorien sind alle Waffen jenes ersten Kampfes geschmiedet worden, hier sind die Schlagworte von den Sklavenketten der Frau, von ihrer Hörigkeit und Unterdrückung geprägt, wie die französischen Frauen der Erklärung der Menschenrechte in der französischen Revolution ihre Déclaration des droits de la femme an die Seite stellten, so begründeten 1848 die amerikanischen Frauen ihre Bewegung auf eine Declaration of sentiments, die der Verfassungsurkunde der amerikanischen Republik entsprechen sollte. Vgl. History of Woman Suffrage edited by Elizabeth Cady Stanton, Susan B. Anthony, Matilda Joslin Gage. Rochester N.-Y.,1889, S. 10ff. Siehe Anhang S. 151 und 152. Sie ist der charakteristische Ausdruck jenes voraussetzungslosen Idealismus, der ohne Rücksicht auf geschichtlich gewordene und geschichtlich zu begreifende Verhältnisse seine absoluten Forderungen aufstellt und für ihre Nichterfüllung keine andere Erklärung kennt als bewußte Schuld, bewußten bösen Willen.
Wir fragen nun wieder nach der Wirkung dieser von der Revolution geschaffenen Theorie – der ersten, die wirklich als Frauenbewegung bezeichnet werden kann, weil sie alle Lebensbeziehungen der Frau umspannte – in Deutschland. Sie traf dort mit einer dem Allgemeinen, dem Politischen ganz abgewandten, ganz in das persönliche Leben vertieften Geistesrichtung zusammen und prägte sich dementsprechend anders aus als in Frankreich und den Vereinigten Staaten, was war dem Deutschen damals der Staat? Äußere Bewegungsfreiheit galt ihm wenig, innere, d. h. Bewegungsfreiheit im persönlichen Leben, in der Gedankenwelt alles. Die junge Romantik verkündete eine Frauenemanzipation, sie glaubte an die starke Frau, die wie der Mann aus allen Quellen inneren Lebens schöpfte, reich in Bildung und Enthusiasmus; sie predigte die Emanzipation des weiblichen Herzens und des weiblichen Verstandes. Das ist der Sinn von Schleiermachers Katechismus der Vernunft für edle Frauen, während er sich in den Tagebüchern geradezu gegen die politische Freiheit der Frau ausspricht, nicht weil er sie für politisch gefährlich hält, sondern – echt romantisch – weil er fürchtet, sie möchte dabei äußerlicher, durchsichtiger, minder willkürlich und darum minder reizvoll werden.
[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re]
Da dieses ebenso schöne, wie für die Romantik bezeichnende Dokument schwer Zugänglich ist, folge hier der Text:
Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen.
Die Zehn Gebote.
Der Glaube.
Wie stehen wir heute zu dieser Doktrin? Sie hat ohne Zweifel noch immer eine große Werbekraft. Und sie hat als Panier der Frauenbewegung auch noch insofern eine Bedeutung, als auch heute noch die Emanzipation, die Befreiung von hemmenden Traditionen, die Erweiterung zu eng gewordener Lebensformen einen wesentlichen Teil der Veränderungen ausmacht, die getroffen werden müssen, damit die Frau wieder in die Kultur hineinwächst, teilnehmend und an ihrem Teil schaffend. Es ist deshalb begreiflich, daß die Doktrin von den Menschenrechten auch in der modernen Agitation eine Rolle spielt. Es ist damit gegangen wie mit so manchen Theorien, die, wie man zu sagen pflegt, »unters Fußvolk geraten«. So wie die Aufklärung z. B., ursprünglich ein Evangelium der Besten, sich schließlich, wie Lessing es ausspricht, »einzig und allein auf die Freiheit reduziert, gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will«, so wird auch die Forderung der Menschenrechte für die Frau, ursprünglich eine weite und freie, aus vornehmstem sittlichen Empfinden geborene Idee, zu jener platten, gehässigen und philisterhaften Männerfeindlichkeit, die mit dem Ausdruck »Frauenrechtelei« nicht unzutreffend gebrandmarkt wird.
Im ganzen aber dürfen wir sagen: die deutsche Frauenbewegung ist über die Frauenrechtelei hinausgewachsen, sie hat für ihre Forderungen einen besseren Stützpunkt gefunden als jene Doktrin, die, so wenig ihre ethische Kraft und Eindringlichkeit zu bestreiten ist, doch von einem überwundenen Staatsbegriff ausgeht und deshalb nur noch bei der Menge eine vorübergehende Wirkung ausüben, aber dem eigentlichen Bestand des modernen Denkens nicht mehr eingefügt werden kann. Dieses Hinauswachsen über die Frauenrechtelei ist auf zwiefachem Wege zustande gekommen: sowohl durch eine von innen kommende Fortbildung der Theorie, als auch durch die Lehren, die aus dem Eindringen der Frau in die nationale Güterproduktion besonders in ihren unteren Schichten gezogen wurden.
Der inneren Fortbildung der Theorie kam es zugute, daß die deutsche Frau mit den ganzen Errungenschaften der reichsten Zeit unseres deutschen Geisteslebens, mit der Überlieferung jener feinen Innenkultur, die unsere klassische und romantische Dichtung uns vermittelt hat, ein sicheres und deutliches Gefühl ihrer weiblichen Sonderart in sich ausbildete, ein Gefühl, das sie gewiß oft genug irre leitete und gegen neue Anforderungen verschloß, das aber im Grunde der Maßstab für die Lösung der schwierigen Aufgabe war, in neuen Formen ihre ewig vom Manne unterschiedene weibliche Art und die in ihr beschlossenen Kulturwerte auszuprägen. Die ersten Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, in deren Munde der demokratische Gedanke der Menschenrechte noch seinen vollen Klang und seine historische Berechtigung hatte, Louise Otto und Auguste Schmidt, waren durch diese vornehme geistige Kultur hindurchgegangen. Und wenn es auch ihre Aufgabe sein mußte, den emanzipatorischen Teil des von ihnen vertretenen Programms stark zu betonen, so wußten sie doch, daß der schematische Begriff der Gleichberechtigung der Geschlechter einer positiven Ergänzung bedurfte, daß sie nicht das Endziel, sondern nur das formale Mittel zu dem Zweck sein konnte, etwas von der männlichen Persönlichkeit und ihrem Wirken verschiedenes, nämlich eine spezifisch weiblich geartete Kultur als Einschlag und Ergänzung der männlichen Art auf allen Lebensgebieten zu schaffen.
Die gleiche Erfahrung kam aus der Entwicklung der Frauenarbeit. Hier, wo das Dogma der Menschenrechte, in diesem Fall des »Rechtes auf Arbeit«, seine erste Probe zu bestehen hatte, zeigte sich seine Unzulänglichkeit. An dem Beispiel der Fabrikarbeiterin, der niemand dieses Recht auf Arbeit bestritt, und die gerade durch den uneingeschränkten Besitz dieses Rechtes in die schlimmste Sklaverei geriet, die dem Volksganzen alle Werte ihrer Mutterschaft entzog, um sie der Industrie zum Opfer zu bringen, die alles andere eher war als die zu voller, freier und eigenartiger Leistungsfähigkeit entwickelte weibliche Persönlichkeit – in dieser Frau machte die Doktrin der Menschenrechte, machte das nur emanzipatorische Programm Bankerott. In ihr erfaßte die Frauenbewegung in einem eklatanten Beispiel die Wahrheit, daß der Staat eben tatsächlich nicht eine freie Verbindung ganz gleicher Größen ist, sondern ein organisches Gebilde mit einer vielseitigen Arbeitsteilung, dessen Glieder vielfach ineinander greifen, in Abhängigkeitsverhältnisse untereinander treten, die alle Freiheit dem Ganzen gegenüber illusorisch machen können. Man lernte die Frau nicht mehr vor allem nur als ein Individuum, sondern als ein Organ in diesem Volksganzen zu erfassen, ein Organ, das seine besonderen Funktionen zu erfüllen, seine besonderen Aufgaben zu lösen hat.
Von dieser Erkenntnis wurden die Forderungen des alten emanzipatorischen Programms neu formuliert. Ich sage, neu formuliert, nicht etwa durch andere ersetzt. Alle modernen Versuche, eine Theorie der Frauenbewegung zu schaffen, ein Programm ihrer Forderungen aufzustellen, gehen von der Tatsache der Differenziertheit der Geschlechter aus und von der Frage, mit der das schon erwähnte Programm des allgemeinen deutschen Frauenvereins einsetzt: Wie ist der Kultureinfluß der Frau zu freier Entfaltung und voller sozialer Wirksamkeit zu bringen? Im Lichte dieser Frage betrachten sie die ganze Veränderung, die in der Stellung der Familie zu den großen Kultursystemen des Staates, der Güterproduktion, des geistigen Schaffens in Kunst und Wissenschaft sich vollzogen hat, und ziehen die Konsequenz: mit der Einschränkung der Familie als Träger kulturellen Lebens ist das Frauenwirken über seine natürliche Kraft eingeengt. Deshalb muß die Frau in anderer Weise als bisher an den großen Kultursystemen beteiligt werden, die ihrerseits als einseitig männliche Schöpfungen ihre Aufgabe nur unzulänglich erfüllen. Daraus ergibt sich die Forderung: Freiheit der Bildung, damit die Frau mit den allgemeinen Kulturmitteln ihre Art entfaltet, sich für ihre Aufgaben tüchtig macht; Freiheit des Berufs, damit sie suchen kann, wo sie außerhalb der Familie ihre brachliegende Kraft in einer ihr angemessenen Form verwertet, und Bewegungsfreiheit im Staatsleben, damit sie dessen Formen im Sinne ihrer Interessen, ihrer spezifischen Wertideen mitbestimmen und dessen Aufgaben im Sinne ihrer Lebensauffassung mit lösen helfen kann. All diese Freiheiten also nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie das Mittel zur Lösung besonderer Kräfte, zur Ermöglichung besonderer Leistungen sind, und das ganze Programm dieser Freiheiten ergänzt durch ein Programm solcher Maßnahmen der Erziehung, des Schutzes, durch welche die Frau nicht nur den Spielraum im sozialen Leben bekommt, sondern auch in den Stand gesetzt wird, diesen Spielraum mit positiven Leistungen zu erfüllen.