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Kurt von Zobel an Aenne Hoffmann.
An Fräulein Anna Hoffmann.
Nachdem nun Ihre Beziehungen zu meinem Schwager, dem Regierungsreferendar Dr. jur. Peter Reinhart, durch dessen Uebersiedelung nach Südwest ein natürliches Ende gefunden haben, will die Familie ein übriges tun und sich mit Ihnen auseinandersetzen. Wir ersuchen Sie, sich zu diesem Zwecke am Sonntag vormittag 10 Uhr im Bureau des Justizrats Willi Wolff, Joachimsthalerstrasse 24, einzufinden.
Hochachtungsvoll
K. von Zobel.
Aenne Hoffmann an Kurt von Zobel.
Herrn Rittergutsbesitzer K. von Zobel.
Da Peters Versetzung nach Südwest ausser der räumlich bedingten keinerlei Veränderung in unsere Beziehungen gebracht hat, so bedarf es auch keiner Auseinandersetzung mit seiner Familie. Sie entschuldigen also, wenn ich Sonntag nicht erscheine.
Hochachtungsvoll
Aenne Hoffmann.
Kurt von Zobel an Aenne Hoffmann.
Wertes Fräulein!
Es handelt sich um keine Hinrichtung. Was wir Ihnen zu sagen haben, ist in fünf Minuten geschehen. Wir handeln dabei nur im Auftrage der Frau Geheimrat Reinhart, die – wie Sie vielleicht wissen – bis vorgestern mit ihrem Sohne zusammen war. Das Interesse für Nachrichten über Herrn Dr. Reinhart aus diesen letzten Tagen dürfte wohl gross genug sein, um zur Entgegennahme ein Viertelstündchen eines Sonntagvormittags zu opfern.
Hochachtungsvoll
K. von Zobel.
Aenne Hoffmann an Kurt von Zobel.
Sehr geehrter Herr!
Wenngleich ich keinen Zusammenhang zwischen Ihren beiden Briefen finde und geneigt bin, dem ersten mehr Glauben zu schenken als dem zweiten, den ich mehr als Mittel zum Zweck betrachte – so komme ich doch!
Nicht, weil ich den Vorwurf fürchte, dass ich mich scheue; sondern weil ich ahne, was Sie mir sagen werden, und weiss, was ich Ihnen zu antworten habe.
Hochachtungsvoll
Aenne Hoffmann.
Aus dem Tagebuch Aenne Hoffmanns.
Heute, Peter, wo ich zu Deiner Familie soll, um zu erfahren, dass es zwischen Dir und mir aus sein muss, – denn was anderes sollten die von mir wollen, die glauben, es gut mit Dir zu meinen? – beginne ich mein Tagebuch.
Wenn sie Dich wenigstens nicht quälen! Aber das werden sie ja nicht tun; denn Du sollst ja gerade, ohne dass man Dich an mich erinnert, das Jahr benutzen, um mich zu vergessen! Wie leicht hast Du es im Vergleich zu mir!
Also ich werde hingehen und ihnen sagen, dass ich dies eine Mal komme. Ein zweites Mal nicht; dass alles, was sie vorbringen, ja gar nichts mit dem zu tun hat, was Dich mit mir verbindet; dass, wenn sich in unseren Beziehungen etwas ändern soll, das doch nur möglich ist, wenn Du oder ich sich ändern – und dass ich mich nicht ändern werde – und dass sie mich daher in Ruhe lassen sollen! – So! Und nun gehe ich!
Punkt zehn Uhr stand ich vor der Tür des Justizrats Wolff in der Joachimsthalerstrasse. Da ich das Gefühl hatte, dass, was hier vorging, in gleicher Weise gegen Dich, wie gegen mich gerichtet war, da ich sozusagen also unsere Interessen, Deine so gut wie meine, zu vertreten hatte, so war ich keinen Augenblick unsicher.
Ich glaube überhaupt, solange wir zusammenhalten, kann es nichts geben, wovor ich zurückschrecke. Selbst dies Riesenmessingschild an der Tür, das die Bureaustunden anzeigt und in dem sich mein ganzer Kopf widerspiegelt, erschreckt mich nicht. Im Gegenteil! Denke Dir, wie ruhig ich bin! Weisst Du, was ich in diesem Augenblick, da ich mich in diesem Messingschild widerspiegele, denke? Dass ich recht gut aussehe! Du, Peter, würdest natürlich wieder übertreiben und sagen: bildschön! Aber so arg ist es nicht. Jedoch, ich bin mit mir zufrieden. Bemerke sogar deutlich, dass ich durchaus nicht ernst aussehe; vielleicht für die, die mich hier erwarten, sogar einen zu fröhlichen Eindruck mache. –
Aber: dem Mutigen gehört die Welt! Ich ziehe kräftig an der Klingel, ein Diener öffnet, ich höre deutlich Männer laut durcheinander lachen, fühle, dass der Diener mich mit mehr Interesse mustert, als sich schickt. Als ich meinen Namen nennen will, unterbricht er mich: »Ich weiss schon!« sagt er, klopft an eine Glastür, hinter der noch immer laut gelacht wird, öffnet sie. Ich sehe vier Herren. Wie wenn man auf einen elektrischen Knopf drückt, geht ein Ruck durch ihre Körper, das Lachen bricht jäh ab; man empfindet förmlich den Knacks, mit dem sie zusammenrücken, steif werden, ernste Mienen aufsetzen und mir entgegenschauen.
Sie sitzen in einem Halbkreis auf schweren, tiefen Sesseln von dunkelrotem Leder, von denen an sich schon eine gewisse Behaglichkeit ausgeht, und wirken so in ihrer korrekten Gespreiztheit, die etwas Gemachtes hat und unnatürlich ist, beinahe grotesk. Ich wenigstens habe sofort die Empfindung und fühle mich dadurch wenn möglich noch sicherer. Ich nicke leicht mit dem Kopf, und sie erwidern meinen Gruss – sehr knapp, aber doch so, dass man es merkt.
Gegenüber dem Halbkreis, den die Sessel mit den vier Herren bilden, steht ein einsamer Stuhl, mit magerem Strohgeflecht und unnatürlich schlanken Beinen. Oder er wirkt doch so neben diesen schweren Sesseln. Das erste, was man empfindet, ist Mitleid. Wie ein verhungertes Bettelkind neben satten Protzenkindern nimmt er sich aus! Zwei dieser Sessel brauchen jetzt nur ein wenig zusammenzurücken, und der magere Stuhl ist nicht mehr.
Diese Gedanken beschäftigen mich kaum einen Augenblick, als einer der Herren mit einer kurzen Bewegung des Kopfes auf diesen einsamen Stuhl weist und zu mir sagt:
»Bitte, nehmen Sie Platz!«
Ich weiss nicht, aber ich glaube, es war Mitleid mit dem Stuhl, dessen trauriger Eindruck mich so rührte, wenn ich erwiderte:
»Danke, ich stehe lieber!«
»Aber es wird lange dauern,« sagte er. Und während er dies sagt, nicken sich zwei der Herren, die erheblich jünger als die beiden anderen scheinen, zu; spitzen vergnügt den Mund, grienen über das ganze Gesicht und verständigen sich durch Blicke, dass sie mich ganz passabel finden.
Ich aber erwidere: »Fünf Minuten halt ich's schon aus,« und ziehe, da sie diese Antwort scheinbar seltsam finden, den Brief aus der Tasche, mit dem sie mich hierher gelockt haben, und lese: »Wertes Fräulein, es handelt sich um keine Hinrichtung. Was wir Ihnen zu sagen haben, ist in fünf Minuten geschehen.«
Der Ausdruck ihrer Gesichter wurde nicht klüger.
Ich aber sage ganz munter:
»So schreibt mir wenigstens ein Herr Justizrat Willi Wolff.« Dann sehe ich sie der Reihe nach an. »Ich habe zwar nicht das Vergnügen, die Herren zu kennen,« – jetzt war's mir, als wenn sie unter dieser Ohrfeige die Köpfe etwas zur Seite bogen, – »aber möglich ist's ja immerhin, dass einer von Ihnen dieser Herr Justizrat Wolff ist.«
Sie bewegten sich jetzt alle in ihren Sesseln und beugten den Oberkörper etwas nach vorn. Einer von den beiden Jüngeren schob sogar die Arme zurück, drückte die Hände auf die Sessellehnen und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Lassen Sie nur,« wehrte ich mit beiden Armen. »Mir ist ganz gleich, wie Sie heissen. Mir genügt's, zu wissen, dass Sie« – und ich hielt ihnen den Brief hin – » die hier sind …«
Aber sie merkten nun doch, dass ihre Ueberlegenheit ihnen nicht das Recht gab, sich über alle Formen hinwegzusetzen. Sie nannten also der Reihe nach ihre Namen. Der Herr mir gegenüber war Dein Onkel, Justizrat Wolff, sein Nachbar Dein Schwager von Zobel; der andere alte Herr, der sogar aufstand und eine Verbeugung machte, Medizinalrat Wolff, und der jüngste, der etwas Unverständliches vor sich hin brabbelte und dabei die Augen schloss, ohne dass sein Monokel herausfiel – ich fand das fabelhaft! –, musste nach Deiner Beschreibung Dein »Lieblings«schwager, der Landrat Moll sein.
Du siehst, ein starkes Aufgebot gegenüber einer wehrlosen Frau. Trotzdem fühlte ich mich keinen Augenblick unbehaglich. Ich hatte ein so sicheres Gefühl, als wenn Du neben mir ständest. Und mir war gar nicht feierlich zu Mute. Das Ganze wirkte – ich kann es nur immer wieder sagen – einfach grotesk. Diese fremden Menschen, die von mir genau so wenig wussten, wie ich von ihnen, die sollten fähig und berechtigt sein, an dem, was uns zusammenhält, auch nur das Leiseste zu ändern? Nein! Und es war wohl gut, dass ich das Ganze nicht ernst nahm. Hätte ich mich, wie sie, bemüht, feierlich zu sein – das Ende dieses Vormittags wäre mein Zusammenbruch gewesen!
Mein Humor hat mir geholfen. Mir ist wie einem Feldherrn, der eine Schlacht gegen eine Uebermacht gewann: weil seine Truppen an die gute Sache glaubten, für die sie fochten, während die Gegner, innerlich unbeteiligt, für fingierte Werte, für eine Lüge, für die gesellschaftliche Moral kämpften. Herrgott, was habe ich heute nicht wieder alles zugelernt! Wie froh bin ich! Also Peter, nun höre, Du musst genau wissen, wie es weiterging – es war köstlich!
Also sie stellten sich vor.
»Nun steht auch nichts mehr im Wege, dass ich mich setze,« sagte ich und liess mich auf den Stuhl nieder.
Ich fand es für sie beschämend, dass sie in Sesseln lagen.
Landrat Moll wandte sich an den Justizrat, fuchtelte nervös mit den Händen und sagte:
»Nu man los!«
Und der Justizrat, dem das alles ziemlich peinlich schien, setzte sich gerade und begann:
»Sie wissen, dass mein Neffe, der Referendar …«
»Regierungsreferendar,« berichtigte der Landrat.
Der Justizrat, der froh war, dass er einen Anfang hatte, war ärgerlich und sagte:
»Na ja – das spielt doch in diesem Falle keine Rolle –«
»Das spielt in jedem Falle eine Rolle,« verbesserte der Landrat.
»Da möchte ich doch wirklich wissen, wieso,« holperte der Justizrat ärgerlich und erhielt zur Antwort:
»Das will ich dir sagen: – weil die Rücksichten, die ein Regierungsreferendar zu nehmen hat, der eines Tages möglicherweise mal königlich preussischer Landrat wird, natürlich ganz andere sind, als die eines x-beliebigen Referendars, der es im besten Falle zum Landgerichtsdirektor oder Präsidenten bringt.«
Der Justizrat, der während dieser Belehrung immer unruhiger geworden war, wandte sich jetzt erregt zu seinem Neffen und sagte:
»Mein lieber Anton! Du scheinst die Situation zu verkennen. Ich habe deiner Schwiegermutter – –«
»Die deine Schwester ist –« unterbrach ihn der Landrat.
»Allerdings!« stimmte der bei, »sonst hätte ich den Auftrag, der mit meinem Amte als Anwalt und Notar nicht das mindeste zu tun hat, auch sicher abgelehnt –«
»Nu also!« näselte Moll, zog mit grosser Nachlässigkeit erst sein goldenes Zigarettenetui, dann sein goldenes Gehänge aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Ich dachte, dass Du an seiner Stelle Dich bestimmt erst an mich gewandt und gefragt hättest: »Sie gestatten doch?« – Und ich war mir klar, dass dieser Landrat keine Manieren hatte.
Der Medizinalrat versuchte zu vermitteln:
»Aber das hat doch wirklich nichts mit den …« begann er. Doch sein Bruder, der Justizrat, wandte sich im selben Augenblick an mich und sagte:
»Fräulein, Sie wissen, weshalb wir Sie hierher gebeten haben.«
»Ja!« sagte ich.
»Der Fall liegt ja so einfach wie nur möglich. Und es ist ja schliesslich auch in Ihrem Interesse, ihn nicht unnötig zu komplizieren.«
»Gewiss nicht!« sagte ich.
»Eben! – Sie wissen, dass mein Neffe in Afrika ist.« –
Ich nickte.
»Nun, dann werden Sie auch zugeben, dass das Wesen eines Verhältnisses« – er zog dies Wort endlos in die Breite, so dass es etwas Gemeines bekam – »zunächst mal zur Voraussetzung hat, dass die beiden beteiligten Teile in erreichbarer Nähe zueinander sind.«
Das war eine Begriffserklärung, die mich an die juristischen Seminararbeiten, die ich für Dich abgeschrieben habe, erinnerte; und da ich sie einwandsfrei fand, so sagte ich:
»Ja!«
»Nun also,« fuhr der Justizrat fort, und der Ausdruck seines Gesichts zeigte, dass er mit dem, was er sagte, zufrieden war, – »dann werden Sie auch zugeben, dass, wenn ein Teil des Verhältnisses in Berlin, der andere in Südwest lebt, von einer erreichbaren Nähe keine Rede sein kann.«
»Sehr gut!« brummte Dein Schwager Zobel, und ich, die ich kaum noch das Gefühl hatte, dass das Dich und mich anging, sagte:
»Gewiss nicht!«
»Womit bewiesen wäre« – und bei diesen Worten sah er mich scharf durch seine Gläser an, – »dass bei Fortfall der für den Bestand eines Verhältnisses notwendigen Voraussetzung dies Verhältnis überhaupt nicht mehr existiert!« Hier machte er eine Pause und stellte einen starken Eindruck bei seinem Bruder, Zobel und dem Landrat fest.
»Und damit«, fuhr er fort, »habe ich zugleich den Beweis erbracht, dass es ein Trugschluss ist, wenn in Ihrer Phantasie etwa dies Verhältnis noch fortbesteht.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit,« sagte ich.
»Nämlich?« fragten Deine Verwandten und sahen mich an.
»Dass ein Verhältnis zwischen Peter und mir niemals bestanden hat.«
»Wie?« fuhr der Justizrat auf – »das heisst doch nicht etwa …?« Und Herr von Zobel rief sehr ungehalten:
»Das ist doch stark! Sie wollen uns doch nicht etwa weismachen …«
»Dumm machen!« verbesserte Landrat Moll und zerknitterte zwischen den Fingerspitzen den Rest seiner Zigarette.
»Ich wollte nur sagen,« erwiderte ich ruhig und bestimmt, »dass, wenn das Sein oder Nichtsein eines Verhältnisses von der Kilometerzahl der Entfernung beider Beteiligten abhängt,« – Du siehst, ich gab mir Mühe, in ihrer Sprache zu sprechen, – »dass das, was mich mit Peter verbindet, dann eben etwas anderes als ein sogenanntes Verhältnis sein muss.«
»Papperlapapp!« sagte Zobel, führte aber gleich die Hand vor den Mund, was wie eine Entschuldigung wirkte, und sah zur Seite.
»Nämlich?« fragte der Justizrat.
»Wortklauberei!« näselte Moll, der mit seinem erquälten Landratston wie ein mittelmässiger Schauspieler in einer schlecht gespielten Komödie wirkte.
»Sie meinen?« wiederholte Dein Onkel.
»Ja, darüber habe ich wirklich noch nicht nachgedacht,« gab ich zur Antwort.
»Es wäre doch immerhin wünschenswert, dass Sie sich darüber klar würden,« meinte Zobel; aber der Justizrat, der schlauer war als Dein Schwager, widersprach:
»Das Denken nehmen wir Ihnen gern ab. Und ich bitte Sie, sich nunmehr mit der Tatsache abzufinden, dass es zwischen Ihnen und dem Regierungs-Referendar Dr. Reinhart aus ist. Wie Sie das, was zwischen Ihnen bestand, nun nennen, ist dabei ganz nebensächlich.«
»Die Ehe wird er Ihnen ja wohl nicht versprochen haben,« sagte Zobel.
»Wir haben uns überhaupt nichts versprochen,« erwiderte ich.
»Vielleicht notierst de dir das,« wandte sich Moll zu dem Justizrat. Und als ihn Dein Onkel erstaunt ansah, wies er mit einem nachlässigen Blick auf mich und sagte:
»Für den Fall, dass später mal Ansprüche jestellt werden …Man kann in solchen Dingen jarnich vorsichtig jenug sein.«
»Ich bin bisher mit Wünschen und Ansprüchen an Sie noch nicht herangetreten,« erwiderte ich. »Wenn ich nicht irre, sind Sie es, die von mir etwas wollen.«
Und der Justizrat, der die Taktlosigkeit Molls empfand, trat mir bei und sagte:
»Ich meine auch, dass wir keinen Grund haben, Ihnen mit Misstrauen zu begegnen.«
»Das is ja noch schöner!« rief Moll, klemmte sein Monokel fester und machte eine ruckweise Bewegung auf seinem Sessel. »Eine Frau, derenwegen man bis nach Südwest retiriert, flösst mir nu nich jrade besonderes Vertrauen ein.«
»So stimmt das denn wohl doch nicht …« sagte der Medizinalrat, der bisher geschwiegen, aber noch keinen Blick von mir gewandt hatte, ziemlich erregt.
»Aber ich bitte, Herr Medizinalrat,« – vermittelte ich, – »woher sollte der Herr Landrat denn über den Peter und mich Bescheid wissen? Soweit ich unterrichtet bin, hat er den Peter seit einem Vierteljahr überhaupt nicht mehr gesehen.«
»Na,« erwiderte der Landrat, schnalzte mit der Zunge und stand auf, – »jetzt wird mir die Sache aber zu dumm. Schliesslich sind wer ja hier nich zusammenjekommen, um uns über den Jrad der Intimität Ihrer Beziehungen zu unterhalten, sondern um es endlich festzustellen – und zwar klipp und klar, – dass von diesem Augenblick an ein Regierungs-Referendar Dr. Reinhart für Sie nicht mehr existiert!« – Pause. – Während der der Herr Landrat einen Schritt nach vorn macht, so dass er mich jetzt beinahe berührt, und dann mit einer Stimme, die mir weh tat, fortfuhr: » Ueberhaupt – nie – existiert – hat!«
Das verstand nicht jeder. Aber der Landrat fuhr fort:
»Mit der Tatsache haben Se sich einfach abzufinden. Wie, das is Ihre Sache.« –
Diese kategorische Form verblüffte alle – nur mich nicht; denn ich empfand deutlich, wie dieser gemütvolle Mensch den andern ihre an sich nicht leichte Mission erschwerte. Ich hatte also allen Grund, mit ihm zufrieden zu sein.
Aber der Diplomat war nun mal im Reden. Er stand dicht vor mir, stemmte die Hände in die Hüften, beugte den Oberkörper nach vorn und sagte in einem Tone, der impertinent und verächtlich war:
»Ueberhaupt was jeht das Sie an, ob der Herr – Schulze, Müller oder Reinhart heisst? Für das, was sie miteinander abzumachen hatten, hätte es am Ende auch genügt, wenn Sie wussten, er hiess Peter; obschon« – und er wandte sich jetzt zu den anderen – »ich für meine Person in solchen Fällen nicht einmal so weit gehe.«
»Aber so nimm doch Rücksicht!« erregte sich der Medizinalrat und sprang auf.
»Hat der Herr, dessenwegen wir uns hier in dieser peinlichen Situation befinden« – er tupfte mit seinem langen Daumen, wie wenn er Staub entfernen wollte, auf seine Schulter, – »etwa auf uns Rücksicht genommen?«
»Lieber Neffe,« sagte er höflich, aber entschieden zu dem Landrat, »entweder du oder ich. Ich überlasse dir gern das Feld.«
»Danke! danke!« sagte Moll und streckte zur Abwehr beide Handflächen nach vorn. »Ich habe keinen Ehrgeiz.« Dann glitt er wieder in den Sessel, knickte ein und schloss die Augen.
»Also, mein Fräulein,« sagte der Justizrat, »so kommen wir natürlich nicht weiter. Wenn Sie Ihre Beziehungen zu meinem Neffen denn nicht als Verhältnis im landläufigen Sinne betrachten – eine Ehe ist es nicht – ein Verlöbnis ebensowenig – ja, schliesslich unter irgendeinen Begriff werden Sie es ja wohl schon bringen müssen.«
»Wir haben uns lieb,« sagte ich, ohne es zu wollen. Es tat mir leid, denn was ging das die an?
»Schön! Und zu welchem Endzweck?« fragte der Justizrat.
»Endzweck?« wiederholte ich leise und sah ihn an. – »Zu gar keinem!« sagte ich dann.
»Also! Sehen Sie! Das ist es, was ich wissen wollte! Gar keinen! Natürlich!«
»Ja, was sollten wir denn für einen Zweck haben?« fragte ich. »Uns genügt doch, dass wir uns lieb haben. Das ist doch gerade unser Zweck. Weiter wollen wir doch nichts.«
Der Justizrat schlug die Hände zusammen und schüttelte den Kopf.
»Und wenn sich mein Neffe nun beispielsweise eines Tages in eine andere verliebt?«
Ich schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein – das tut er nicht.«
»Nehmen Sie an, es geschähe doch – was dann?«
»Ja, das wäre furchtbar!«
»Was täten Sie?«
Ich merkte, wie mein Kopf sich ganz unwillkürlich senkte.
»Was sollte ich dann noch tun?« sagte ich. – »Gar nichts! Ich wäre fertig! Aber ich würde es ihn nicht fühlen lassen. – Vielleicht würde ich auch versuchen, darüber hinwegzukommen. – Schon seinetwegen!«
»Und was weiter?«
Ich verstand ihn nicht.
»Ich meine, aus den Ansprüchen, die Sie in einem solchen Falle aus Ihren Beziehungen herleiten würden, liesse sich vielleicht erkennen, als was Sie Ihr Verhältnis zu meinem Neffen aufgefasst wissen wollen.«
»Ich will ja gar nichts. – Ich stelle auch keine Ansprüche – –«
»Notier das!« brabbelte der Landrat verschlafen vor sich hin. »Man kann …in …solchen Dingen …gar nicht … vorsichtig genug …« – dann bewegten sich seine Lippen nicht mehr.
Ich wandte mich wieder zum Justizrat und sagte:
»Ich und Peter, wir wollen nichts weiter, als dass man uns uns selber überlässt und sich um uns nicht kümmert.«
»Das widerspricht leider dem Standpunkt der Familie. Wir sind – und zwar die Mutter, wie wir« – und er wies auf den Medizinalrat – »die wir Vormünder und Onkel zugleich sind, wie auch« – und er wies auf Moll, den Landrat, und Zobel, den Rittergutsbesitzer – »unsere Neffen, zu der Ueberzeugung gelangt, dass die Trennung im Interesse der Zukunft des jungen Mannes liegt. Diese unsere Ueberzeugung ist unerschütterlich. Wir werden ihr also Geltung verschaffen. Sie werden nicht zweifeln, dass uns Mittel und Wege dafür zu Gebote stehen. Uns, oder wenigstens meiner Schwester, liegt aber daran, von jedem Zwangsmittel abzusehen und zunächst auf gütlichem Wege zu versuchen, Sie zu einem Verzicht, wie wir ihn« – und er zog aus seiner Tasche ein grosses Schriftstück – »bereits zu Papier gebracht haben, zu bestimmen. Treiben Sie aber weiter Renitenz« er zog die Schultern hoch – »so bleibt uns, so sehr das vor allem meine Schwester bedauern würde, nichts weiter übrig, als zu Zwangsmitteln zu greifen. Aber wir erwarten von Ihrer Einsicht, dass Sie es dazu nicht werden kommen lassen.«
»Ich kann dazu nur sagen, dass ich ja gar nicht imstande bin, mich ohne den Peter zu entscheiden. Wir können doch nur gemeinsam – ich kann doch unmöglich – –«
Der Justizrat entfaltete das Papier:
»Wenn Sie mich anhören wollen …«
»Bitte!« sagte ich.
Und er las:
»Ich, die unverehelichte Aenne Hoffmann, bekenne hierdurch, von Herrn Regierungs-Referendar Dr. jur. Peter Reinhart Jahre hindurch wiederholt Geldgeschenke angenommen, von Frau Geheimrat Reinhart, der Mutter des p. p., zur Ablösung des Verhältnisses einmalig 10 000 Mark und heute abermals Mark 10 000 empfangen zu haben.
Dagegen verpflichte ich mich:
1. ein für alle Male auf jeden weiteren Anspruch irgendwelcher Art zu verzichten;
2. die Beziehungen zu Herrn Regierungs-Referendar Dr. Peter Reinhart niemals wieder aufzunehmen, mich weder direkt oder indirekt jemals wieder mit ihm in Verbindung zu setzen und auch etwaige Annäherungsversuche seinerseits unerwidert zu lassen;
3. mich jeder üblen Nachrede hinsichtlich des Regierungs-Referendars – –«
»– oder eines seiner Angehörigen,« brabbelte der Landrat; man kann in solchen Dingen – –«
»Schön, fügen wir das noch hinzu,« sagte der Justizrat und schrieb es hinein. Dann fuhr er fort:
»– – – zu enthalten.«
»So!« sagte der Justizrat, »das wären die Vorschläge, die ich Ihnen namens der Frau Geheimrat Reinhart zu unterbreiten habe.«
»Und die ich – wie Sie kaum anders erwarten werden – von Anfang bis zu Ende ablehne.«
Alle stutzten.
Der Justizrat fand als erster die Sprache wieder.
»Wenngleich das, was ich Ihnen vorgetragen habe, das Aeusserste an Entgegenkommen darstellt, so sind wir doch bereit, Ihre Gegenvorschläge entgegenzunehmen.«
»Ich habe keine Vorschläge zu machen. Nur eines möchte ich sagen: Ich habe niemals Geldgeschenke angenommen.«
»Was?« sagte der Landrat kurz.
Und der Justizrat meinte:
»Aber Sie werden doch –«
»Ich wiederhole: niemals!« erklärte ich mit aller Bestimmtheit.
»Sie hätten demnach«, fragte Zobel, »vier Jahre lang mit meinem Schwager verkehrt, ohne etwas davon gehabt zu haben?«
»O nein! Das behaupte ich nicht. Ich habe unendlich viel von ihm gehabt.«
»Na also!« sagte der Landrat höhnisch, »was reden Sie also! Dann ist's ja gut!«
»Freilich – Geldgeschenke waren das nicht.«
»So hat er Ihnen die Wohnung, den Unterhalt, die Kleider bezahlt!« sagte Zobel. Und der Landrat meinte:
»Als wenn das nicht auf dasselbe herauskäme.«
»Er hat weder zu meiner Wohnung, noch zu meinem Unterhalt, noch zu meiner Kleidung beigesteuert. Er hat unsere Vergnügungen bezahlt …«
»Na, und zu Weihnachten und Jeburtstag? – Wie? Was war'n da? Da hat er denn wohl fürs janze Jahr blechen müssen!« fragte der Landrat.
»Da haben wir uns gegenseitig beschenkt. – Freilich, daran hat niemand gedacht, ob ein Geschenk mehr wert war als das andere. Aber wenn Sie Wert darauf legen, diesen Dingen nachzuspüren, so will ich Ihnen gern behilflich sein. Möglich, dass sich da ein Plus zu meinen Gunsten ergibt; sogar wahrscheinlich. Aber ich bin bereit, dies auszugleichen – allmählich – denn das müsste dann von meinem Gehalt geschehen.«
»Aber ich bitte Sie, wer spricht denn davon!« wehrte der Medizinalrat ab.
Jetzt schnalzte der Landrat mit der Zunge und setzte eine äusserst schlaue Miene auf.
»Na, dahinter wer'n wer schon kommen! Das wär ja noch besser. Sagen Se mal, Fräulein, wie war denn das mit den Arbeiten?«
»Was für Arbeiten?« fragte ich.
»Se haben meinem Schwager ja wohl die Seminar- und Examensarbeiten abjetippt?«
»Allerdings! Die ganzen Jahre über!«
»Aha! Na, dann verraten Se uns vielleicht mal, was Se ihm dafür in Rechnung jesetzt haben.« – Er griente jetzt über das ganze Gesicht und sah überlegen zu dem Justizrat hinüber. – »Aber jewissenhaft, Fräulein; 's wird alles nachjeprüft! – Na? – Ne fünftsll'je – was?«
Ich streifte meinen Handschuh ab und zeigte ihm den Ring mit dem Türkis und den beiden Brillanten. – »Diesen Ring hat mir Peter am Tage seines Examens geschenkt. Ich glaube nicht, dass er dabei an die Arbeiten gedacht hat, die ich für ihn gemacht habe. Aber, wenn es Ihr Gewissen beruhigt, bitte, stellen Sie ihn dafür in Rechnung.«
»Streichen wir also den Passus über die Geldgeschenke,« sagte der Justizrat. »Aendert das etwas an Ihrem Entschlusse?«
»Nein!« sagte ich. »Geben Sie sich keine Mühe, meine Herren. So nicht!«
»Wie denn?« fragte der Justizrat.
» Ein Wort genügt, und ich leiste Verzicht! Und verspreche Ihnen, was Sie wollen, ohne dass es Sie einen Pfennig kostet.«
Sie waren platt. Sahen sich gegenseitig an, schüttelten die Köpfe und sahen dann mit Augen, aus denen die Neugier sprang, zu mir hinüber.
»Bitte!« sagte der Justizrat.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dies eine Wort muss Peter sprechen!« sagte ich.
Ich glaube, sie hatten alle auf eine sechsstellige Zahl gerechnet. Das Wort »Peter« wirkte niederschmetternd.
Und wohl nur, um etwas zu sagen, fragte der Justizrat nach einiger Zeit:
»Und wie muss dies Wort lauten?«
»Geh!« erwiderte ich, »oder doch so, dass ich fühle, es ist sein Wunsch, dass wir uns trennen.«
»Die Angelegenheit ist jetzt in ein Stadium getreten, in dem mein Neffe aktiv nicht mehr in die Verhandlungen eingreifen kann. Ein Kompromiss nach dieser Richtung ist also ausgeschlossen. Dagegen liesse sich über die Beträge, wie über die im Brouillon festgesetzten Fristen reden,« sagte der Justizrat.
»Ich bedauere,« wiederholte ich mit aller Bestimmtheit, »in dieser ganzen Angelegenheit ohne Peter nicht verhandeln zu können.«
»Sie wissen, dass wir Sie in der Hand haben!« sagte der Justizrat.
»Dass wir Sie vernichten können!« setzte Zobel hinzu.
»Und vernichten werden!« ergänzte der Landrat.
»Ich habe ein gutes Gewissen und meine Arbeit; wüsste also nicht, was mir geschehen könnte.«
»Sie haben auch Eltern!« sagte der Justizrat.
Das war eigentlich der einzige ernste Moment dieser ganzen Verhandlung.
»Sie werden sich für das, was Sie bei mir nicht erreichen können, doch nicht bei meinen Eltern revanchieren!« sagte ich ziemlich verächtlich.
»Wir werden nichts unversucht lassen,« sagte der Justizrat.
»Wir werden kein Mittel scheuen!« setzte Zobel hinzu.
»Wir werden über Leichen gehen!« ergänzte der Landrat.
»Wenn's nötig ist,« milderte der Medizinalrat.
Ich stand auf.
»Ich habe keine Macht, Sie zu hindern!«
Noch einmal redete mir der Justizrat zu. Ich blieb fest; verbeugte mich und ging.
Draussen an der Korridortür stand der Diener und horchte. Als er mich sah, nickte er mit dem Kopf und winkte mich herbei. Ich trat zu ihm. Die Tür war nur angelehnt, und die Portiere im Zimmer liess einen Zwischenraum, durch den man den Justizrat, Zobel und den Landrat sehen konnte.
Sie sassen alle drei noch genau in der Stellung, in der ich sie verlassen hatte, starrten verblüfft auf meinen Stuhl, der nun leer war. Keiner sprach ein Wort. In einem Spiegel sah ich jetzt den Medizinalrat. Er hatte das Taschentuch in der Hand und fuhr sich über die Stirn. Dann nickte er mehrmals mit dem Kopf, machte eine Schnute, griente erst und lachte dann aus Leibeskräften laut los.
Die anderen wandten sich zu ihm.
Der Medizinalrat hielt sich den Bauch.
»Hahaha, eine nette Blamage! Hahaha!«
»Lächerlich!« quakte der Landrat, »als ob so eine einen überhaupt blamieren könnte!«
»Hahaha,« brüllte der Medizinalrat und winkte mit der Hand zu Moll hinüber. »Bei dir – hahaha – lieber Neffe – da war's schon keine – haha – Blamage mehr, da war's einfach ne – hahaha – regelrechte Abfuhr – mit Pauken und Trompeten.«
»Das wird sich ja zeigen,« sagte der Landrat und stand auf. »Mit Federbällen bringt man Säue nicht zur Strecke; die treibt man vor die Hunde!«
Da stiess mir der Ekel auf. Ich ging. Und im Gehen sah ich noch, wie der Diener wegsah und sich schämte.
*
Mutter hat es mir folgendermassen erzählt:
Es war gegen Abend, sie sass an Vaters Tisch und erneuerte in den Büchern die Löschblätter, da klopfte es, und sie rief: herein!
Ins Zimmer traten zwei Herren – deine beiden Schwäger – zogen die Hüte vom Kopf und sagten: »'n Abend!«
»Sie sind vermutlich die Frau Oberpedell?« fragte Moll, und Mama erwiderte:
»Ja!«
»Ihr Mann nich da?«
Mama, die glaubte, dass es Herren vom Magistrat seien, war aufgestanden und wollte Vater suchen.
»Ich werde gleich mal nachsehen,« sagte sie.
»Nee, nee, erlauben Se mal; das eilt nich, des können wir am Ende auch mit Ihnen erledigen.«
»Um was handelt es sich denn?« fragte Mama.
»Um Ihre Tochter!«
»Aenne?« schrie Mutter und wurde blass.
»Aha!« sagte Moll, »darauf war'n Se wohl nich einjestellt?«
Mama wankte und liess sich auf einen Sessel nieder.
»Na, hör'n Se mal,« unterstrich Moll, »des is aber in höchstem Masse verdächtig!«
»Wegen Peter …vermutlich …,« stammelte Mama.
»Donnerwetter!« brüllte Moll und riss den Kopf hoch. – »Wer – ist denn – Peter?« fragte er dann breit und mit starker Betonung. – »Und vor allem: Wer gibt Ihnen denn das Recht zu solchen Familiaritäten?«
»Verzeihung!« stammelte Mama, »ich hör's nur immer so von meiner Tochter.«
»Schlimm jenug, dass Sie das dulden! Aber wir wissen Bescheid! Hier!« – Und er zog einen Brief aus der Tasche und hielt ihn Mama vors Gesicht: »Bekennen Sie sich zu diesem Briefe?«
Es war Mamas Brief an Deine Mutter, Peter – Du weisst ja – die Antwort auf ihre Zeilen, dass wir uns trennen sollen.
Mama, die ganz verschüchtert war, sah hin und sagte:
»Ja!«
»Wissen Sie, was das ist?«
Und da Mama den Kopf schüttelte, rief er:
»Ich will es Ihnen sagen, hier vor diesem Herrn, der mein Schwager ist – 'ne Schweinerei!«
Da sprang Mama auf:
»Mein Herr! Was fällt Ihnen ein! Da!« – Und sie wies zur Tür.
Aber Moll winkte ab.
»Ich glaub's, das wäre einfach, sich auf die Art unbequeme Dinge abzuschütteln. Aber damit hab'n Se kein Glück.« Er sah nach der Uhr und wandte sich an Zobel. »Uebrigens, wann jeht 'n das da los in der Oper?«
»Um halb acht,« sagte der.
»Das heisst: in einer Viertelstunde müssen wir mit dem Kram hier fertig sein. Schön! Also kürzen wir das Verfahren ab!« Und er sah ganz unverschämt meine Mutter an. »Schweinerei!« sagte ich – und niemand merkte, dass in diesem Augenblick mein Vater ins Zimmer trat und in der Tür stehen blieb – »sowas zu dulden! Aber wir werden Ihnen das saubere Handwerk legen, Madame!«
»Sind Sie verrückt?« schrie mein Vater und stellte sich wie zum Schutze vor meine Mutter. »Wissen Sie, mit wem Sie da reden?«
»Sieh da!« sagte Moll mit einer Nonchalance, die verblüffend war, »vermutlich der Herr Oberpedell – na, is ja janz gut, wenn Se der Unterredung gleich beiwohnen – also, wie jesagt …«
»Ruhe!« schrie Vater und trat vor Moll hin. Sein hoher, breiter Körper verdeckte den schlanken und schmächtigen Landrat.
»Was suchen Sie überhaupt hier?« brüllte er den Landrat an.
»Ich glaube, das eben deutlich jenug gesagt zu haben – allerdings ohne zu brüllen wie ein Ochse.«
Dies »Ochse« verblüffte Papa. Jetzt erst suchte er sich klar zu werden, was eigentlich vorging. Er zwang seinen Arm, der automatisch in die Höhe schnellte, nach unten – krampfhaft geschah das – biss die Lippen aufeinander, kniff die Augen zusammen und fragte, indem er ruckweise die Worte hervorstiess:
»Wer – sind – Sie – eigentlich?«
Der Landrat überlegte einen Augenblick, dann sagte er:
»Das will ich Ihnen sagen. Wenigstens soweit es für den Fall interessiert. Ich bin Beauftragter der Frau Geheimrat Reinhart.«
»Kenn ich nicht,« erwiderte Vater kurz und bestimmt.
»Na, dann werden Se vielleicht ihren Sohn kennen.«
»Auch nicht!«
Vater hatte sich wieder in der Gewalt.
»Und um was für eine Schweinerei handelt es sich?« fragte er.
Mit einer verächtlichen Kopfbewegung auf Mama, die leblos dastand und Vater anstarrte, erwiderte Moll:
»Das lassen Se sich man von Ihrer Frau erzählen; die weiss Bescheid.«
»Für meine Frau,« sagte Vater mit einer Stimme, aus der seine ganze Ueberzeugung klang, »stehe ich ein! Wenn Sie mit der was abzumachen haben, wenden Sie sich nur getrost an mich. – Also! Was soll sie geduldet haben?«
»Den Geschlechtsverkehr Ihrer Tochter mit …«
Weiter kam er nicht; denn im selben Augenblick sass ihm die Faust Vaters im Gesicht, und er taumelte zur Wand, wo er zusammenbrach.
Mutter stand wie gelähmt und war nicht imstande, sich zu bewegen.
»Sieh nach, wo Pedell Linke steckt – er soll sich um ihn kümmern,« sagte Vater.
»Ich …werde …doch …lieber …selbst,« hauchte Mutter und sah zu Moll, um den sich Zobel mühte.
»Du rührst ihn nicht an!« befahl Vater – und Zobel, der sich bis zu diesem Augenblick völlig zurückgehalten hatte, sagte:
»Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen!«
Vater achtete nicht auf ihn und ging, da Mutter sich noch immer nicht rührte, selbst hinaus, um Linke zu holen.
Der Landrat war schon wieder bei Besinnung; Zobel richtete ihn auf und half ihm auf einen Sessel.
Die Tür wurde aufgerissen. Linke stürzte herein und fragte:
»Brauchen Sie einen Arzt?«
»Nein!« erwiderte Zobel.
Im selben Augenblick rief auch schon Vater aus dem Nebenzimmer:
»Mathilde! Komm herein!«
Da Mutter sich noch immer nicht rührte, nahm Linke sie unter den Arm und führte sie zu Vater.
Der stand an die Wand gelehnt und sah zur Tür. Linke führte sie an einen Stuhl, neben dem sie stehen blieb. Dann ging er.
»Hast du mir etwas zu sagen?« fragte Vater. Seine Stimme war nicht mehr so sicher wie zuvor.
»So sprich schon!« drängte er ungeduldig. »Hast du mir etwas zu sagen?«
»Ja!« hauchte Mutter und umklammerte den Stuhl, an dem sie lehnte.
»Was?« klang es scharf. »Rede!«
Mutter zuckte zusammen. Wie Nadelspitzen traf dies »Rede« ihren Körper.
»Unsere …Aenne …«
»Was ist mit ihr?«
»Ist …doch …ein …braves …Mädel …« – eine Pause entstand – »wenn …sie …ihn … auch …liebt …«
In Vaters Gesicht rührte sich nichts. Selbst sein Auge stand still.
»Rede!« stiess er hervor – ohne dass sich sein Mund bewegte.
»Ich fand nicht den Mut, es dir zu sagen – ich hatte auch nicht das Herz, ihr das bisschen Glück zu nehmen …«
»… und so hab ich's eben geduldet – und geschwiegen.«
Vaters Kopf fiel nach vorn über; es schien, als wenn sein ganzer Körper sich zusammenzog.
»… aber brav ist sie darum doch.«
Mutter wagte nicht aufzusehen.
Vater stand noch eine Weile – dann ging er breit und schwer zur Tür.
»Du!« bettelte Mutter, als er an ihr vorüberging, und streckte zitternd die Arme nach ihm aus. Aber sie existierte nicht für ihn.
Er ging zu Moll hinein, der sich wieder völlig erholt hatte und auf einen Block, der vor ihm lag, Notizen kritzelte. Zobel stand hinter ihm und redete auf ihn ein.
»Das bringt uns nicht vorwärts!« sagte Moll gerade, als Vater ins Zimmer trat. Beide wandten sich um. Moll, der einen neuen Angriff fürchtete, sprang auf, und auch Zobel wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
Vater blieb stehen. Der Kopf, den er vorhin noch stolz im Nacken trug, hing ihm über die Brust.
»Ich komme, um mich zu entschuldigen,« sagte er mit fester Stimme. »Ich möchte mein Unrecht gutmachen; – damit, dass Sie mir den Schlag zurückgeben, wird es nicht getan sein.«
»Allerdings nicht,« erwiderte Moll.
»Fordern Sie etwas anderes!«
Moll und Zobel sahen sich an. Zobel spitzte den Mund – und Moll nickte verständnisvoll.
»Sie haben sich also überzeugt, dass ich recht habe?«
»Ja!« erwiderte Vater.
»Dann werden wir auch schnell zu Ende kommen,« sagte Moll – »Ihr Benehmen halte ich Ihrer Erregung – und Ihrer Kinderstube zugute. Schwamm drüber!«
»Das ist sehr grossmütig,« sagte Vater.
Aber Moll schwächte sofort den Eindruck ab:
»Was bleibt mir anderes übrig?« wandte er sich zu Zobel. »Satisfaktion?« – er zog die Schultern in die Höhe und lächelte spöttisch.
»Ausgeschlossen!« erwiderte Zobel.
»Also!« bestätigte Moll und wandte sich wieder zu Vater – »was geschehen ist, davon erfährt kein Mensch etwas! Ihr Wort darauf!« und er hielt Vater die Hand hin.
Zobel machte ein erstauntes Gesicht, und Vater sah Moll in die Augen.
»Warum zögern Sie?« fragte Moll.
»Nicht wahr, Sie …Sie.« Vater wies mit dem Finger auf Molls Hand und zitterte – es war das erste und letzte Mal, dass Mama ihn zittern sah – »Sie haben nichts …zu …tun …mit mei …ner …Aenne?«
»Ich?« erwiderte Moll. »Im Gegenteil! Ich bin hier, um Ihnen die Augen zu öffnen – um dem ein Ende zu machen!«
Da nickte Vater, schlug ein und sagte mit kräftiger Stimme:
»Danke!«
Dann faselte Moll noch etwas von »Schamlosigkeit« – von »Haus rein halten« – von »deutschem Familienleben« – und hielt dabei noch immer Vaters Hand, drückte sie bei Wendungen, von denen er sich besondere Wirkung versprach, und schloss mit dem Satze, der Mutter, die noch immer im Nebenzimmer stand und wie im Traume alle Vorgänge durch die offene Tür miterlebte, wieder zur Besinnung brachte.
»Darum machen Sie sich nicht zum Mitschuldigen, sondern sorgen Sie dafür, dass Ihr beschmutzter Name wieder rein dasteht.«
Und auf Vater, der ja doch bei allen guten Eigenschaften nur ein ungebildeter Mann ist, übten diese Phrasen eine Wirkung, die viel weiter ging, als in Molls Absicht lag.
»Mathilde!« rief er, ohne sich nach ihr umzusehen. Er fühlte wohl, dass Mutter noch immer an den Stuhl gelehnt dastand und nicht wusste, was sie beginnen sollte.
Aber das sah er nicht, wie es in Mutters hilflosem Gesicht jetzt aufzuckte, als Moll von »Schamlosigkeit« – von »Haus rein halten« – von »deutschem Familienleben« sprach. Wie sich da der erste Widerstand in ihr regte, als sie sah, dass Vater noch immer die Hand dieses Mannes hielt, der sie und ihr Kind beschimpfte.
Als er jetzt »Mathilde!« rief, da lehnte sie nicht mehr wie gelähmt an ihren Stuhl, da stockte ihr Blut nicht mehr – da regten sich wieder starke Gefühle, und mit fester Stimme rief sie:
»Ich komme!«
Sie ging zu ihnen hinein, trat dicht an sie heran und sagte:
»Da bin ich!«
Vater wandte sich um:
»Du gehst noch heute aus dem Hause!« sagte er, »und Aenne nimmst du mit dir!«
»Was?« rief Mutter und riss Augen und Mund weit auf. »Das bekommst du fertig? Dazu hast du das Herz? – Du setzt uns auf die Strasse?«
Auch Moll und Zobel waren betreten. Die Lösung ging ihnen gegen den Strich.
»Ja, ist es denn möglich!« sagte Mutter, »ohne dass du weisst, wie alles kam.«
»Du hast das Mädchen auf dem Gewissen!« erwiderte Vater.
»Sie hinauszujagen wäre freilich einfacher gewesen.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Weil ich nicht bin wie du! Gottlob! – Weil ich ein Herz habe – weil es mein Kind ist!«
»Soo!« sagte der Vater.
»Ja!« erwiderte Mutter lebhaft – »ich habe mich lange genug damit gequält – mehr als einmal wollte ich ein Ende machen.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Es ist noch immer Zeit,« sagte Moll.
»Nein!« erwiderte Mutter bestimmt und beinahe freudig. » Für was denn? Etwa für eure Phrasen? Des beschmutzten Namens oder gar des deutschen Familienlebens wegen? – Da ist mir das bisschen Glück meines Kindes mehr wert!«
»Donnerwetter!« sagte Zobel und schüttelte den Kopf – und Moll bestätigte.
»Da begreift man allerdings alles!«
»Ist denn das möglich?« fauchte Vater.
»Es scheint doch so,« meinte Moll.
»Und ich hatte keine Ahnung!«
»Dabei besteht das Verhältnis jetzt bald vier Jahre,« sagte Zobel.
»Willst du nun endlich die Menschen fortschicken und mich anhören?« fragte Mutter.
»Ich weiss genug!« brüllte Vater – »und wenn einer geht, bist du es! – Verstehst du noch immer nicht, was du angerichtet hast?«
»Was hier angerichtet ist, das geht nur dich und mich und unser Kind an.«
»Ihr geht mich nichts mehr an!« wiederholte Vater. »Ihr habt euch vier Jahre lang ohne mich verständigt – Ihr werdet auch weiter ohne mich fertig werden.«
Da ging Mutter hinaus.
Als sie an der Tür war, hörte sie noch, wie Moll sagte:
»Mir scheint doch, als wenn die eigentliche Schuldige Ihre Frau wäre.«
Mutter war ganz ruhig, als sie in mein Zimmer kam. Sie erzählte mir alles. Und sie sagte kein Wort gegen Vater.
»Er versteht's nicht anders,« sagte ich.
»Es scheint so!« erwiderte Mutter. –
Ich kann Dir nicht sagen, Peter, wie mir zumute ist, dass Vater und Mutter nun meinetwegen auseinandergehen. Ich habe in diesem Augenblick zum ersten Male darüber nachgedacht, ob sie denn jemals »zusammen« waren. Ihr Leben ging ruhig dahin. Es gab keine Zwischenfälle, keine grossen und kleinen Ereignisse. Niemals geschah etwas, was eine Aussprache nötig machte. Jeder tat seine Arbeit, sie schliefen nebeneinander, assen zusammen, jeden Sonnabend rechnete Vater mit Mutter ab, und des Abends sassen sie sich gegenüber; er rauchte und las die Zeitung, und Mutter nähte. So haben sie sich in den zweiundzwanzig Jahren eigentlich nie kennen gelernt und wussten gar nicht, wie verschieden sie in ihrem Fühlen und Denken waren. Aber das mag wohl meist so sein! Und das ist wohl gut so. Das Gleichmass und die Gewohnheit sind für unsere Kreise die Surrogate des Glücks. Denn Glück ist bei uns das, – was nicht Unglück ist. –
Mutter war noch im Erzählen, als Vater die Tür aufriss und ins Zimmer trat.
Ich griff instinktiv nach Mutters Hand.
»Also,« sagte Vater und sah mich wütend an, »trotz der Schande, die du mir gemacht hast, werde ich dich im Hause behalten.«
Mutter staunte.
»Ich will versuchen, ob bei strenger Zucht aus dir nicht doch noch ein anständiger Mensch zu machen ist.«
Ich wollte etwas sagen.
»Schweig!« fuhr er mich an, dann wandte er sich an Mutter und sagte:
»Du als die Hauptschuldige gehst aus dem Hause.«
»Was?« rief ich entsetzt und drückte Mutters Hand.
Mutter sah mich nur an.
»Und wenn der Linke dich noch will – trotz der Geschichte – ich werd mit ihm sprechen – dann sagst du Ja, verstanden?«
»Nein!« polterte ich, ohne dass ich es wusste.
Vater stand sprachlos.
Und Mutter, die noch immer meine Hand hielt, sagte leise:
»Kind!«
»Ich kann den Linke nicht heiraten.«
»Warum nicht?« Vater bebte vor Wut.
»Weil ich einen anderen liebe!« stiess ich mit aller Energie hervor.
»Ihn!« – und ich liess Mutter los und ballte die Fäuste.
Da ging Vater auf mich zu – hob beide Arme:
»Untersteh dich!« sagte er.
Wir standen uns so dicht gegenüber, dass sein heisser Atem in mein Gesicht schlug.
»Und wenn du mich in Stücke schlägst …«
Seine Hände lagen an meinem Hals:
»Ich bringe dich um!« brüllte er.
Ich sah ihn ruhig an und rührte mich nicht. – So standen wir eine Weile. Dann sagte er:
»Ich werde dich zwingen!«
Ich schüttelte nur den Kopf.
Da liess er die Arme fallen, spreizte die Finger, verzog den Mund und sagte:
»Pfui!«
»Ich schäm mich nicht, Vater! – So begreif doch! …«
»Geht!« – Dann wandte er sich zur Tür und ging, ohne sich nach uns umzusehen, hinaus.
Die Tür blieb offen. Im Nebenzimmer standen Moll und Zobel. –
»Nun?« fragte Moll, »ist die Sache in Ordnung?«
Vater schüttelte den Kopf:
Dann liess er sie stehen.
»Das ist fatal!« sagte Moll. –
Eine Stunde später gingen Mutter und ich aus dem Hause.
Mutter schrieb noch einen langen Zettel für Vater, tat ihn in ein Kuvert und legte ihn auf den Tisch. – Sie sagte mir nicht, was sie geschrieben hatte; und ich fragte auch nicht. Aber als wir gingen, zitterte sie, und ich musste sie stützen.
Mutter klagt nicht, aber ich fühle, dass sie leidet.
*
Heute früh rief mich der Notar Siewers in sein Privatkontor. Das ist nichts Ungewöhnliches, da er mich seit zwei Jahren alle vertrauliche Korrespondenz, die nicht durch das Bureau gehen soll, erledigen lässt. Ich ging also ahnungslos mit meinem Stenogrammbuch zu ihm hinein und setzte mich – er telephonierte gerade – an das kleine Pult, das vor seinem Schreibtisch steht.
»Sagen Sie, Fräulein Hoffmann,« begann er, nicht unfreundlicher als sonst, »hier laufen seit einiger Zeit fortgesetzt Beschwerden über Sie ein.«
»Das ist kaum möglich, Herr Notar!« erwiderte ich.
»Wieso kaum möglich?«
»Weil ich meine Pflicht tue und mich sonst um nichts und niemanden kümmere.«
»Das scheint doch leider nicht so,« sagte er und kramte in seinen Akten, die vor ihm auf dem Tische lagen. »Ich habe zu Ihnen stets ganz besonderes Vertrauen gehabt – das wissen Sie – und mein Interesse – wie soll ich gleich sagen? – nun, es endete nicht da, wo sonst mein Interesse Bureauangestellten gegenüber endet. Väterlicher Freund ist vielleicht zu viel,« – er zog die Schultern in die Höhe – »vielleicht auch zu wenig – ich bin mir selbst nicht klar darüber – jedenfalls, es war mir geradezu ein behagliches Gefühl, Sie hier zu wissen und mit Ihnen zu arbeiten – ich könnte es mir einfach nicht vorstellen, dass da auf Ihrem Platze eine andere sässe.«
»Das beglückt mich sehr,« sagte ich.
»Ich denke dabei zunächst noch gar nicht an Ihren Fleiss und Ihre Intelligenz – Sie wissen, wie ich beides schätze. – Es ist noch etwas anderes – aber lassen wir das – es gehört nicht hierher – zumal nach dem, was gegen Sie vorliegt.«
»Ich begreife nicht …«
»Hören Sie mich nur an, nachher, da können Sie sich verteidigen. Also wie gesagt: jeder andern Dame liesse ich ihr Gehalt auszahlen, und der Fall wäre erledigt. Bei Ihnen krieg ich's nicht fertig – da mache ich eine Ausnahme.«
Jetzt erst sah ich, dass sich der Notar für mich interessierte – wie dumm muss ich sein, dass ich das in viereinhalb Jahren noch nie bemerkt habe.
»Sie werden natürlich wissen, um was es sich handelt.«
Ich verneinte.
»Wie? – Sie wissen nicht?«
»Ich weiss nur, dass hier täglich Briefe, Telegramme, ja, neuerdings sogar Blumen für mich abgegeben werden, ohne dass ich eine Ahnung habe, von wem?«
»Aber! aber!« wehrte der Notar ungläubig.
»Ich kenne die Menschen nicht, die mir da schreiben.«
»Hören Sie mal,« schalt der Justizrat und rückte seinen Sessel vom Schreibtisch ab, »so etwas dürfen Sie mir denn doch nicht erzählen.«
»Herr Justizrat, ich lüge nicht! Ich lüge nie! Ich habe auch gar keinen Grund, da ich nichts zu verbergen habe.«
Ich war ganz ratlos. Ich griff in die Tasche und zog zwei Briefe, die morgens auf meinem Schreibtisch gelegen hatten, heraus. Ich hatte sie, ohne sie zu öffnen, zwei-, dreimal mitten durchgerissen. Man konnte das deutlich sehen, da die Kuvertteile oben und seitwärts noch geschlossen waren. Ich zeigte sie dem Notar, und er überzeugte sich, dass ich die Wahrheit sprach.
»An sich, da kümmern mich die privaten Angelegenheiten meiner Angestellten natürlich gar nicht – aber wenn es, wie hier zu einem Bureauskandal ausartet …«
»Was?« sagte ich ganz entsetzt.
Der Notar drückte auf die Klingel.
»Den Bureauvorsteher!« sagte er dem Diener, der ins Zimmer trat.
Dann kramte er, ohne mich anzusehen, wieder in den Akten. Aber ich fühlte, dass er nicht las.
»Sehr weh tut mir das!« sagte er unvermittelt und ohne aufzusehen.
Ich wollte eben etwas erwidern – ich glaube, ich hätte ihm, wie er so dasass und ganz in schweren Gedanken hing, alles von uns erzählt – da ging die Tür auf, und der Bureauvorsteher trat ins Zimmer.
Mir war, – oder täuschte ich mich? – als zuckte er bei meinem Anblick leicht zusammen.
»Da sind Sie ja!« sagte der Notar und richtete sich in seinem Sessel auf. »Also der Herr Bureauvorsteher behauptet, Sie wären seit einer Woche ein Aergernis für das ganze Bureau.«
Der Bureauvorsteher nickte und sagte:
»Ja! Ausser, dass man Ihnen fortgesetzt Briefe, Telegramme, ja neuerdings sogar Blumen ins Bureau schickt, verlangt man Sie alle paar Stunden am Telephon.«
Wenn Sie mich doch einmal an den Apparat liessen, damit ich feststellen kann, wer …«
»Es ist nicht immer ein und derselbe,« unterbrach er mich spöttisch.
»Ja …aber …ich …kenne …ja … niemanden!« rief ich ganz verzweifelt.
»Einseitig pflegen derartige Bekanntschaften selten zu sein.«
Und der Notar seufzte und gab ihm recht, indem er mit dem Kopfe nickte.
Ich war ganz ausser mir:
»Also …ich kann …nur wiederholen … ich weiss von nichts!« rief ich.
»Demnach eine Mystifikation?« fragte der Notar.
»Oder …« ich zögerte, es auszusprechen!
»Nun?« fragte der Notar. Und da ich schwieg, sah er mich an und sagte: »Oder was haben Sie sonst für eine Erklärung?«
»Das wüsste ich auch gern!« meinte der Bureauvorsteher – und die Ironie, mit der er das sagte, reizte mich so, dass ich es aussprach:
»Möglicherweise eine Verwechselung!«
»Welcher Art?«
»Ich weiss es nicht. Aber da ich es unmöglich sein kann …«
Der Bureauvorsteher schüttelte ungläubig den Kopf.
»… so denke ich mir, dass sich irgendwer meines Namens bedient. – Eine andere Erklärung habe ich nicht!«
»Das wäre möglich!« sagte der Notar, und mir schien, als wenn diese Aussicht ihn beglückte.
»Gegen einen derartigen Vorwurf muss ich meine Damen denn doch in Schutz nehmen,« protestierte der Bureauvorsteher.
»Ich glaube ja auch nicht …« sagte ich verlegen, und der Bureauvorsteher meinte:
»Also, wozu dann diese Verdächtigungen?«
Aber der Notar widersprach:
»Es brauchte ja gar keine Dame des Bureaus zu sein – es wäre zum Beispiel denkbar, dass eine Freundin …«
»Ich habe keine Freundin!« sagte ich, und der Bureauvorsteher erklärte:
»Im übrigen passt die Beschreibung, die ich mir am Telephon von einem der Herren habe geben lassen, eben nur auf Fräulein Hoffmann, die ja doch keine alltägliche Erscheinung ist.« –
Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte, und der Justizrat, der meine Hilflosigkeit sah, kam mir zu Hilfe und fragte:
»Was steht denn so in den Briefen, die man Ihnen da schreibt! – Natürlich nur, wenn Sie es sagen wollen.«
»Aber ja!« sagte ich, »… es ist immer dasselbe sinnlose Zeug, als wenn es jemand darauf abgesehen hat, mich zu kränken!«
Ich griff in die Tasche, stellte schnell einen der noch ungeöffneten, aber zerrissenen Briefe zusammen und reichte ihn dem Bureauvorsteher.
Der kniff die Augen zusammen und las:
»Allerliebste! Denke nicht
an Dein Bureau, sondern an mich, und sei heut nacht 11 Uhr wieder im Café! Ich komme bestimmt! Und freue mich!
Dein X.«
»Ja, da hört ja doch alles auf!« brummte der Notar und blätterte erregt in seinen Akten.
»Wahnsinn ist das!« rief ich, »der mich nichts angeht!«
»Wen denn?« lächelte der Bureauvorsteher.
»So fragen Sie doch meine Mutter, ob ich nicht Abend für Abend zu Hause sitze! Es muss doch dahinter zu kommen sein. An sich ist es mir ja gleich, was die Welt von mir denkt!«
»Es handelt sich hier nicht um die Welt, sondern um Ihre Stellung,« erwiderte der Notar. »Wenn Ihnen also daran liegt, hier weiter zu arbeiten – ich wiederhole Ihnen, mir liegt daran –«
Der Bureauvorsteher sah erstaunt seinen Chef an.
»So klären Sie das auf – oder besser: schaffen Sie Wandel und sorgen Sie dafür, dass die Störungen unterbleiben.«
In diesem Augenblick schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Deine Schwäger!
»Was ist?« fragte der Notar, der meine Erregung sah, »haben Sie einen Anhalt?«
Ich sah ihm an, wie sehr er eine mir günstige Lösung wünschte. Aber sieh, Peter, ich konnte ihm doch unmöglich erzählen, woran ich dachte. Auch hatte ich doch gar keinen Anhalt. Und es war im Grunde nichts weiter als eine Empfindung. Nicht einmal, dass ich mir auch nur in Gedanken einen Zusammenhang konstruieren konnte.
»Es ist nur eine Vermutung!« sagte ich.
»Nämlich?« fragte er.
»Ich kann darüber nicht sprechen;« – und da ich sah, wie ihn das kränkte, fügte ich hinzu:
»Leider! – Aber es geht nicht!«
»Bitte! bitte!« wehrte der Notar, »ich will durchaus nicht in die Geheimnisse Ihres Herzens dringen.«
»Es hat mit meinem Herzen nichts zu tun,« erwiderte ich.
Aber mir schien sein Wesen jetzt verändert, als er sagte:
»Also, Fräulein, Sie haben gehört, was der Bureauvorsteher gesagt hat – dauern die Störungen an, so bleibt mir schon mit Rücksicht auf mein Personal gar keine Wahl – Sie verstehen?«
Er bewegte leicht den Kopf.
Mich beschäftigte der Gedanke an Deine Schwäger so stark, dass ich, ohne etwas zu erwidern, aus dem Zimmer ging.
Dass die beiden weiter über mich sprachen, fühlte ich. –
Als ich heute früh ins Bureau kam, lag auf meinem Pult ein Brief:
Wertes Fräulein Hoffmann!
Ihrer Anregung folgend, habe ich meinen Bureauvorsteher veranlasst, die Richtigkeit Ihrer Angaben nachzuprüfen.
Mein Bureauvorsteher hat nun eruiert, dass Sie Ihr Vater, der Ihre Lebensführung nicht billigte, des Hauses verwiesen hat.
Damit finden auch die Vorgänge in meinem Bureau ihre Erklärung und Bestätigung.
Mir bleibt nach alledem nur übrig, Sie zu bitten, mit dem heutigen Tage Ihre Tätigkeit in meinem Bureau als beendet zu betrachten und sich von meinem Kassierer das Gehalt für den laufenden und den nächsten Monat aushändigen zu lassen.
Ich persönlich werde, um Ihnen ein gutes Gedenken zu bewahren, die Vorgänge der letzten Woche zu vergessen suchen.
Mit bester Begrüssung
Siewers, Notar.
*
Ich werde meine Zeit nicht damit vertrödeln, dass ich sentimentale Betrachtungen darüber anstelle: »Was soll nun werden?«
Es ist gut, wenn man Pflichten hat! Da ich für Mutter zu sorgen habe, drängt die Notwendigkeit, so schnell wie möglich eine neue Stellung zu finden, alle Gefühle zurück. Ich frage also nicht, tat der Notar recht, mich nach viereinhalb Jahren, in denen ich nie ein Aergernis gab, eines unaufgeklärt gebliebenen »Bureauärgernisses« wegen, dessen Ursache ich dem äusseren Scheine nach war, zu entlassen. Ich will auch nicht in die Mysterien dieses »Bureauärgernisses« dringen. Ebensogut wie eine Verwechselung, die sich nach dem ersten Mal allerdings hätte aufklären müssen, kann es eine Intrigue des Bureauvorstehers sein, der seine Freundin an meine Stelle bringen möchte. Obgleich es mir schwer fällt, an so viel Schlechtigkeit zu glauben. Auch dass Deine Familie mit so schmutzigen Waffen kämpft, will mir nicht in den Kopf. Also lasse ich den Fall auf sich beruhen und laufe, da Mutter natürlich nichts davon erfahren soll – sie ist sehr herunter und regt sich über alles auf – während meiner sonstigen Geschäftszeit, das heisst, ununterbrochen von neun bis fünf, nach einer neuen Stellung herum.
Die Aussichten sind, da ich jetzt ausser englisch und französisch auch italienisch korrespondiere, nicht gerade schlecht, wenngleich ich natürlich nirgends mit 200 Mark beginnen werde. Aber wenn ich erst einmal dabei bin, dann komme ich auch vorwärts.
Aenne Hoffmann an ihren Vater.
Lieber Vater!
Ich habe auf eine über mich erteilte Auskunft hin meine langjährige Stellung verloren. Eine neue zu finden, scheiterte bisher regelmässig kurz vor Abschluss an einer »leider ungünstigen Auskunft über meine persönlichen Verhältnisse«, von denen ausser dir niemand etwas weiss. Da ich sicher bin, dass es nicht Dein Wille ist, mir zu schaden, so bitte ich Dich, jeden, der fernerhin Auskünfte über mich einholt, an Mutter zu verweisen, oder, falls Dir das gegen das Gefühl geht, Dich auf die Mitteilung zu beschränken, dass ich persönlicher Differenzen wegen nicht mehr in Deinem Hause lebe.
Ich halte es noch für meine Pflicht, Dir zu sagen, dass Mutter unter der Trennung leidet und bei schlechter Gesundheit ist.
Mit bestem Gruss
Deine Tochter Aenne.
Liebes Fräulein Aenne!
Ihr Vater hat Ihren Brief erhalten und mich beauftragt, Ihnen zu sagen, dass er, seitdem Sie fort sind, mit niemandem über Sie gesprochen hat. Er hat also auch niemals eine Auskunft über Sie erteilt.
Im übrigen ist er bereit, solange Sie ohne Stellung sind, für Sie zu sorgen und, falls es der Gesundheitszustand Ihrer Mutter fordert, auch sonst zu Ihrem Lebensunterhalt beizutragen.
Mit bestem Gruss
Franz Linke, Pedell.
Diesen Zeilen, die ich im Auftrage Ihres Vaters sende, möchte ich von mir aus folgendes hinzufügen. – Auch Ihr Vater leidet, wenngleich er es nicht sagt, unter der Trennung. Er ist ein ganz anderer geworden. Er spricht überhaupt nicht. Er frisst allen Gram in sich hinein. Aber ich weiss: wenn Sie mit Ihrer Mutter heute zu ihm zurückkehren und ihm versprechen, meine Frau zu werden, so wäre alles gut und in Ordnung. Ich bitte Sie, es zu erwägen, und grüsse Sie und Ihre Mutter bestens
*
Wenn Du wüsstest, Peter, mit welchen Gefühlen ich zu meinem Vater gehe! Mutter ist krank und braucht Pflege. Auch soll sie ständig jemanden um sich haben. Der Arzt wollte, dass ich Urlaub nehme, und Mama bat ihn, meinem Chef ein paar Zeilen zu schreiben. So musste ich ihm meine Lage, an der ich nun bald vierzehn Tage allein schleppe, anvertrauen. Er war sehr menschlich und hat sich hinter meinem Rücken an den Notar gewandt. Der hat kurz geantwortet: es täte ihm leid, der Posten sei besetzt; doch sei er jederzeit bereit, mich zu empfehlen. – Wie die Empfehlungen seines Bureauvorstehers aussehen, habe ich ja nun vierzehn Tage lang zu spüren bekommen. –
Ich ging also zu Vater.
Ich klopfte zunächst bei Linke an, der eine Riesenfreude hatte, aufsprang und mir am liebsten um den Hals gefallen wäre. »Fräulein Aenne!« rief er und strahlte über das ganze Gesicht. »Das ist aber mal vernünftig!« – und um ihm zu zeigen, dass mein Besuch nicht ihm galt, fragte ich gleich: »Ist der Vater da?«
»Aber gewiss ist der da! Der rührt sich überhaupt nicht mehr aus dem Hause. Der sitzt da und wartet – na, und ich – ich mach's nicht anders. Aber nun sind Sie ja da! Gott sei Dank! – Blass sehen Sie aus! Sehr blass! Auch schmaler sind Sie geworden!« Er schüttelte den Kopf. »Nein! Wozu das nur alles war! Die Wochen möchte ich nicht noch mal erleben!«
Er hatte einen ganz roten Kopf und redete, während er sonst kaum den Mund aufmachte, unaufhörlich auf mich ein. Immer wieder fing er von den letzten Wochen zu erzählen an.
»War's denn wirklich so schlimm?« fragte ich, nur um etwas zu sagen.
»Ja! ja!« beteuerte er, »diese unheimliche Stille. Niemand traute sich, was zu sagen. Dabei war uns das Herz schwer. Ich sage Ihnen, das ist schlimmer, als wenn jemand gestorben ist. Ueber einen Toten, da kommt man hinweg – da fügt man sich; was soll man tun? Aber so jemand verlieren, ohne dass es sein muss, der zu einem gehört, das frisst ans Herz.«
»Sie sind ein guter Mensch!« sagte ich und nickte ihm zu.
»Wie ist es Ihnen denn nun so ergangen?« fragte er und drückte meine Hand.
»Mässig!« erwiderte ich, »vor allem der Mutter. Zu fünfzig, da findet man sich nicht mehr zurecht, wenn man so rausgerissen wird aus allem, was man gewöhnt war. Aber davon später, lieber Linke! Jetzt möcht ich mal erst, dass Sie dem Vater sagen, dass ich da bin.«
»Kommen Sie mit!« Er liess meine Hand nicht los, und wir gingen den langen Korridor hinunter bis zu Vaters Tür.
Linke hatte die Schlüssel. Er schloss auf. In dem kleinen Raum, der in die Zimmer führte, lag noch alles umher wie bei unserem Fortgang. Vater hatte an nichts gerührt.
»Ich will sehen, ob er drin ist,« sagte Linke und klopfte an die Tür.
»Ja?« rief Vater.
»Ich bin's,« sagte Linke und öffnete behutsam.
Vater sass an seinem Tisch. Er hatte ein Blatt oder irgendeine Zeitung vor sich. Ich fand ihn unverändert.
Linke trat ins Zimmer und liess die Tür offen:
»Was is?« fragte Vater.
»Die Aenne!«
»Wa …?«
Vater fuhr mit einem Ruck auf.
»Aenne?« wiederholte er. »Was is denn?«
Ich ging hinein.
»Guten Tag, Vater!« sagte ich.
Er bewegte den Kopf.
»Tag!«
Ich sah seine Unruhe.
»Ist mit der Mutter was?« fragte er schnell.
»Ihretwegen bin ich gekommen.«
»So!« sagte Vater.
»Es geht ihr nicht gut.«
»Was fehlt ihr?«
»Du weisst ja – das Herz – sie hat nicht die Pflege – und dann: sie hat keine Ruhe, seitdem sie von hier fort ist.«
»Habt ihr einen Arzt?«
»Ja!«
»Was sagt der?«
»Ruhe!«
»Hm,« sagte der Vater.
»Jede Erregung schadet ihr!«
»Nun, Ruhe, die hat sie ja wohl!«
»Aeusserlich ja! Aber …«
»Was?«
»Sie kommt eben nicht darüber hinweg.«
»So bereut sie also?«
»Danach habe ich sie noch nie gefragt.«
»Nun, sie hätte sich ja, auch ohne dass man sie fragt, darüber äussern können.«
»Möglich, dass sie das fühlt – gesagt hat sie jedenfalls nichts – vielleicht, weil sie denkt, sie tut mir damit weh.«
»Danach hat sie bei mir nicht gefragt.«
»Ich glaube auch, dass sie bereut; und da du Wert darauf legst, will ich sie fragen.«
»Nein! nein!« widersprach der Vater. »Das lass nur! Wenn sie das nicht aus sich selbst heraus …«
»Aber das tut sie ja!« unterbrach ich, »ich glaube es sicher!«
»So?« fragte Vater.
»Aber im Augenblick, da handelt es sich um …mehr …um Wichtigeres.«
»Ich wüsste nicht, was wichtiger wäre,« sagte Vater mit grosser Bestimmtheit, und ich ging einen Schritt auf ihn zu und schrie ihm ins Gesicht:
»Ihr Leben!«
Vater presste die Lippen zusammen und senkte die Augen.
»Ist es so schlimm?« fragte er.
»Ich habe meine Stellung verloren, das weisst du.«
»Du hast es mir geschrieben; warum weiss ich nicht.«
»Weil irgendwer mir nicht wohl will – mich verfolgt – verdächtigt.«
»Wer sollte das sein!«
»Ich weiss es nicht.«
»Niemanden.«
»Ausser …ihm,« sagte Vater.
»Er ist in Afrika.«
»Ich weiss. – Und …du …hast …nach ihm …?«
»Was?«
Vater sah mich an.
»… niemanden kennen gelernt?«
Jetzt erst begriff ich – ich fuhr zusammen.
»Vater!« rief ich entsetzt, »für was hältst du mich?«
Und Linke, der dabei stand, trat an mich heran und nahm meine Hand.
»Herr Hoffmann!« sagte er vorwurfsvoll, »warum kränken Sie die Aenne?«
»Ich kenn mich nicht aus in den Dingen,« sagte Vater, »und ich weiss nicht, wo der Unterschied ist zwischen ihm und einem andern.«
»In der Liebe!« schrie ich, »gerade weil ich ihn liebe, werde ich nie im Leben einem anderen Manne gehören können.«
Da liess Linke meine Hand los und sah zur Erde.
»Du willst also«, sagte Vater, »zeit deines Lebens …?«
»Was, Vater?« fragte ich.
»Das …weiss …ich …nicht; – ich …werde … vielleicht …auch seine Frau – sogar wahrscheinlich! …Wie gesagt, das sind Dinge, über die …ich nicht nachdenke …ich weiss es nicht …es ist schliesslich …auch …gleich …und kein Unterschied …ob so …oder so …wo wir uns doch lieb haben … und zusammengehören …«
»Also unverändert!« sagte Vater, der mir innerlich schon näher gekommen war, nun aber ganz deutlich wieder von mir abrückte.
»Darin wird sich wohl nie etwas ändern!« sagte ich.
Vater geriet in Wut; ich sah ihn fest an; er beherrschte sich. Und ich sagte, um ihn abzulenken:
»Irgendwer muss ein Interesse daran haben, mich zu schädigen. – Jedenfalls: ich finde keine Stellung. Wer da seine Hand im Spiele hat – ich weiss es nicht.«
»Man wird um deine Beziehungen wissen! – Glaubst du, dass das eine Empfehlung ist?«
Ich schüttelte den Kopf:
»Von uns beiden weiss niemand – hat niemand je etwas gewusst. – Und dann, ich sagte schon: er ist in Afrika.«
»Verrückte Sachen sind das! Hätte ich davon gewusst, als du unter meiner Gewalt standst, ich hätte dir die Flausen schon ausgetrieben.«
»Es handelt sich jetzt um die Mutter,« sagte ich. »Sie weiss natürlich nicht, dass ich meine Stellung verloren habe.«
»So?« fragte Vater, »wie ist das möglich?«
»Wenn sie es erführe, wenn sie gar wüsste, dass ich nun schon vierzehn Tage lang herumlaufe, ohne etwas zu finden – nach dem, was der Arzt sagt – ja, ich fürchte das Schlimmste.«
Das traf ihn!
Und um den Eindruck festzuhalten, setzte ich hinzu:
»Siehst du, das ist es.«
Er empfand das als Vorwurf.
»Und durch wen ist es dahin gekommen?« fragte er.
»Man kann auch eine andere Auffassung haben!« erwiderte ich.
»So? Kann man? – Nun, es fragt sich eben, ob man es vom Standpunkt eines anständigen Menschen aus beurteilt.«
»Mama ist auch ein anständiger Mensch und hat es anders beurteilt,« sagte ich. »Und hat drei Jahre lang nicht gelitten, obgleich sie es wusste.«
»Sie ist gutmütig und schwach; und du hast ihre Schwäche ausgenutzt.«
Ich widersprach nicht.
»Also!« sagte Vater und trat auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter; »So sei verständig, Aenne, wo du das siehst! Gib es auf! Was kann das für ein Glück sein, wo die Mutter daran zugrunde geht; – na, und ich …siehst du – heraus muss es: ich leide auch!«
Ich habe Vater nie so sprechen hören.
Linke, der sich an Vaters Worten aufrichtete, trat an mich heran.
»Es ist so!« beteuerte er. »Ich weiss das!«
»Also nimm die Mutter und dann kommt! – Und was war, das wollen wir vergessen – was, Linke, das meinen Sie auch?«
Linke zitterte vor Erregung. Ich sah deutlich, wie er erst Vater ansah und dann nicht recht wagte, zu mir aufzusehen.
»Gut wär's!« seufzte er und nickte mit dem Kopfe.
»Na also!« – Vater drückte mich an sich und küsste mich auf die Stirn.
Mir wurde ganz schwarz vor den Augen – die todkranke Mutter – das Elend – der veränderte Vater – der gute Blick Linkes – ich fühlte, wie ich schwankte. – Ich wollte den Arm heben – er war schwer wie Blei. – Ich wollte Vater in die Augen sehen – ich bekam den Kopf nicht hoch. – Ich schwankte – Peter! ich schwankte! – In diesem Augenblick war's mir, als wäre ich Dir untreu – als drängte irgend etwas in mir – Elternliebe, Heimatgefühle, Pflichtbewusstsein, ich weiss ja nicht, was – aber ich fühlte, dass Dein Bild in mir verblasste; ich fühlte zum ersten Male, dass mich mit dem Vater etwas verband – Peter, was sollte ich tun? – Ich zitterte und fiel in die Knie. Vater hielt mich fest und zog mich zu sich empor. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und weinte.
Eine Weile standen wir so; dann sagte Vater:
»Und nun geh, mein Kind, und hole die Mutter!«
Ich stürzte aus dem Zimmer, sah noch in Linkes strahlendes Gesicht und hörte, wie Vater sagte:
»Nun wird noch alles gut.«
*
Als ich wieder im Freien war, war's mir, als wenn ich aus einer Betäubung erwachte. Ich war mir über mich selbst nicht klar. Ich fand nicht zu mir zurück; ich suchte, was ich da oben erlebte, aus meinen Gefühlen auszuschalten – ich wollte vergessen – es gelang mir nicht. Ich schüttelte mich, wie sich ein Hund schüttelt, den man gestreichelt oder geschlagen hat – aber der Eindruck blieb unverändert.
Vater, Mutter und ich, wir gehörten zusammen! Das spürte ich deutlich; fast körperlich. Es war die Quintessenz von dem, was ich da oben erlebte, und es war zugleich das erstemal, dass ich – ganz unmittelbar – Vaters Liebe spürte.
Und damit war auch zum ersten Male ein innerer Konflikt gegeben. Alles, was voranging, hatte mich nur Mutters wegen bewegt. Ich war meines Rechts und meiner Sache sicher; dass ich für Mutter erwarb, sie pflegte, sie mit Zärtlichkeit umgab, liess keinen Vorwurf, kein Gefühl der Verantwortung in mir aufkommen.
Jetzt war das anders! Vater hatte sein Herz enthüllt, und die Rückwirkung auf mich bewies, dass auch ich an ihm hing. Deutlich klang in mir jedes seiner Worte nach, hinter die er seine starke und tiefe Bewegung zu verbergen suchte!
Peter, glaube nicht, dass sich mit dieser Erkenntnis, über die ich jubeln sollte, mein Gefühl für Dich verändert hat! Ich kann nicht jubeln! Denn ich bin unfrei! Vater steht zwischen uns! Und am Ende auch Mutter! Und ich komme nicht los von ihnen! Ich will unsere Liebe rein erhalten! Bleibt sie es aber, wenn sie Vater und Mutter zugrunde richtet?
Wenn Du doch da wärst! Du würdest gewiss beide beruhigen. Und sie würden Dir glauben. Da sie aber nichts von Dir wissen, wo Du ihnen durch mich doch so nahe stehst, näher als irgendein Dritter – siehst Du, Peter, das verrückt das Bild und ist der Grund, dass sie sich allerlei Gedanken machen.
Wenn Du doch da wärst, Peter, und ihnen das alles sagen könntest! Wie glücklich könnten wir alle sein! – Es war doch hart von Deiner Familie, uns zu trennen; härter, als ich dachte. Ich bin so unruhig und habe niemanden, dem ich mich erschliessen kann. Wenn ich nur zurechtfände! Vater, Mutter und Du! Warum soll das nicht möglich sein? Jeder will das Gute.
Du hättest Dich mit mir verloben sollen, bevor Du fortgingst, sagte Mutter neulich. »Dann wäre alles gut,« meinte sie.
Was sie damit nur für einen Sinn verbindet? Verloben! Mir erscheint das lächerlich! Eine Rückwärtsbewegung! Bei Menschen, die längst eins sind. – Aber sie bleibt dabei. Sie sieht darin mehr als bloss Form und Ordnung; ihr ist es eine Art öffentliche Bestätigung, wenn nicht gar eine Heiligung.
*
Mutter schlief, als ich nach Hause kam. Ich beobachte sie unaufhörlich und sehe daher an ihr jede Veränderung. Mir schien sie heute besonders unruhig. Die Augenlider zuckten unaufhörlich; auch schien mir, dass ihre Augen nicht ganz geschlossen waren. Einmal fuhr sie mit der Hand ans Herz, und ich dachte, dass sie wach sei. Aber ihr Arm glitt gleich wieder nach unten, und ich sah deutlich, wie ihre Kniee zitterten.
Ganz leise berührte ich ihre Hand, die liebe gute Hand! Liess mich langsam neben ihr nieder, legte behutsam meinen Kopf auf ihren Schoss, hörte jeden Atemzug – und fühlte, wie ich so bei ihr sass, dass ich ganz ruhig wurde. Beinahe wohl war mir. Ich schloss die Augen – und schlief ein.
Nach einer Weile, als ich erwachte, fühlte ich, wie Mutters Hand sanft und leise über meinen Kopf fuhr. Ganz behutsam streichelte sie mit ihren zarten Fingern mein Haar. Jede ihrer Bewegungen spürte ich in meinem Herzen. Ich rührte mich nicht, ich schloss die Augen und mühte mich, nicht zu denken.
Erst als Mutter mit aller Vorsicht, um mich nicht zu stören, meinen Kopf etwas zur Seite bog, fragte ich leise:
»Drücke ich dich, Mutter?«
»Bist du wach, mein Kind?«
Da hob ich den Kopf und sah Mutter an.
»Ist dir was?« fragte sie besorgt, »dass du so müde bist?«
»Mir ist ganz wohl,« sagte ich und stand auf. »Und wie geht es dir?«
»Danke, schwach …aber sonst geht's. – Nun, hast du deinen Urlaub bekommen?«
»Nein!« sagte ich und wagte nicht aufzusehen.
»Schlimm! schlimm ist das!« klagte Mutter – »was soll nun werden? – Ich kann allein nicht mehr aus dem Sessel! – Die paar Wochen hätt ich dich gern noch um mich gehabt!«
»Aber Mutter!« wehrte ich ab.
»Lass nur, Kind! – Dann muss es eben auch so gehen!«
»Nein!« sagte ich. »Du musst deine Ruhe und Pflege haben. Beides hast du hier nicht! Und darum …«
»Willst du mich etwa in ein Krankenhaus bringen?« fragte Mutter entsetzt.
»I Gott bewahre! Aber jemand anders will dich haben!«
»Mich?« – Mutter schüttelte den Kopf – »das glaub ich nicht! Wer sollte mich wohl haben wollen!«
» Der Vater!«
Da richtete sich Mutter auf; mühelos! ganz gerade sass sie da! Mit ihren grossen grauen Augen, über denen jetzt ein leichter Glanz lag, sah sie mich an. In ihren Mundwinkeln zuckte eine starke Erregung.
»Der Vater?« wiederholte sie.
»Ja, Mutter, dich will er haben! Er braucht dich!«
»Braucht mich!« wiederholte sie leise.
»Du hast ihm gefehlt – vom ersten Tage an! Heute noch sollst du kommen. Ich habe es ihm versprochen.«
»Heute noch!«
»Diese Nacht schon wirst du wieder in deinem Bette schlafen – hinter dem grünen Vorhang – und die alte Uhr wird wieder ticken, und du wirst den Vater rütteln, wenn er sich im Bette wälzt und schnarcht.«
»In meinem …Bette …werde …ich …wieder … liegen …,« hauchte Mutter, »… diese Nacht noch … ja, das ist gut …sehr gut ist das! …Er braucht mich … der gute, alte, grobe Mann!« – Sie strahlte jetzt über das ganze Gesicht. – »Ich werde kommen! …« Sie nickte lebhaft mit dem Kopf. »Ja! Heute noch werde ich kommen …er braucht mich ja …der gute Alte …und alles werde ich machen, wie er es haben will.«
Sie verlor sich in ihre Gedanken und lächelte vor sich hin.
Ich kramte inzwischen nebenan ihre Sachen zusammen.
Als ich wieder hereinkam, erschrak ich. Mutter hatte sich ohne Hilfe erhoben, stand mitten im Zimmer, ihr Gesicht war ganz rot.
»Komm nur, wir wollen uns eilen! Er braucht mich!« sagte sie und kam mir entgegen. »Hat er's dir selbst gesagt? Warst du bei ihm?«
»Ja! Ich habe mit ihm gesprochen,« sagte ich. »Er ist sehr gut!« – Mutter strahlte – »Ich wusste das nicht!«
Mutter war so überrascht, erregt und betäubt, dass sie gar keinen Gedanken fassen konnte. Ich hatte ihr schnell den Mantel übergeworfen, den Hut aufgesetzt und sie dann unter den Arm genommen. Sie stand noch immer wie verklärt da und liess alles mit sich geschehen. Erst jetzt, als wir in die Flurtür traten und ich die Tasche, in die ich hastig ein paar Sachen von ihr hineingeworfen hatte, aufnahm, blieb sie plötzlich stehen, sah sich scheu nach allen Seiten um, zuckte leicht auf, ihr Gesicht veränderte sich, und mit einer Stimme, in der bange Furcht lag, fragte sie:
»Und du?«
Es war unmöglich, ihr jetzt – zumal ich mir selbst nicht klar und innerlich zerrissen war – die Wahrheit zu sagen, die ich in diesem Augenblick ja selbst nicht kannte. So sagte ich dann:
»Ich bringe dich hin.« Und da sie das nicht als Antwort nahm, sondern noch immer ganz ängstlich zu mir aufsah, fügte ich hinzu:
»Ich komme auch! Ein wenig später! – Erst muss ich alles erledigen. Und wenn das zu Hause geschieht, nicht wahr, du kennst doch Vater – so gut er ist – das gibt dann Unruhe und Aerger.«
Wenngleich sich Mutter in einer Gemütsverfassung befand, in der der Glaube gern den Wünschen folgt, so schien sie jetzt doch etwas nachdenklich:
»Ob du wohl kommen wirst?« sagte sie mehr zu sich, als dass sie mich fragte.
»Ich komme! Verlass dich darauf! Alles geht jetzt in Ordnung! Und vor allem: du musst nun wieder gesund werden.«
Da schüttelte Mutter den Kopf und sagte: »Gesund nicht! Wenn ich nur Ruhe habe!«
Ich setzte sie in einen Wagen und fuhr mit ihr zu Vater. Unterwegs hielt sie meine Hand, und je näher wir kamen, um so fester hielt sie sie.
Als der Wagen um die Ecke bog, streckte sie den Kopf vor und sagte, indem sie meine Hand drückte:
»Jetzt!«
Vor der Tür stand Linke. Und als der Wagen hielt und Linke eben den Schlag öffnete, kam auch Vater.
»Da seid ihr ja!« sagte er laut und gab ihr die Hand.
Mutter nickte nur immer und sagte: »Ja!« Und als Vater sie auf dem Arm hatte und ins Haus trug, da nickte sie noch immer und liess keinen Blick von mir, bis auch ich im Hause war und Linke hinter mir die Tür schloss; da war wieder der leichte Glanz in ihren Augen, und sie sagte:
»Na, siehst du!«
Und ich nickte ihr zu und erwiderte: »Gewiss, Mutter!«
Oben setzte Vater sie auf den alten grünen Sessel, nahm den Plaid, der auf dem Sofa lag, und deckte sie zu. Dann stellte er sich vor sie hin, sah sie lange an und sagte:
»Na, Mutter?«
Mutter rekelte sich vor Behagen.
»Gut! gut!« erwiderte sie breit und holte tief Atem. »Nun ist alles gut.« Und sie umfasste mit ihren Blicken das ganze Zimmer und begrüsste mit leichtem Lächeln jedes Stück Möbel wie einen alten Bekannten.
»Als wenn man nie weggewesen wäre!« sagte sie.
Auf dem Tische standen zwei Sträusse mit allen möglichen Blumen.
Als Vater sah, dass ich sie bemerkte, wies er auf Linke und sagte:
»Von ihm!«
»Ah!« sagte Mutter.
Ich nahm einen Strauss aus der Vase, reichte ihn der Mutter. Sie zog die Hände unter dem Plaid hervor und beugte sich über die Blumen:
»Schön!« sagte sie und nickte Linke, zu.
Vater sah mich an und wies auf den Tisch:
»Und der andre, Aenne, der ist für dich!«
Ich reichte Linke die Hand und sagte:
»Schönen Dank! Ich freue mich sehr!«
Linke errötete.
»Das soll nur so ein Willkommensgruss sein!« sagte er.
»Na, na!« rief der Vater, »'n bisschen mehr haben Sie sich wohl doch dabei gedacht!«
Linke sah, wie ich erschrak – und sah zur Erde.
»Aber nein!« sagte er ganz verlegen.
»I was!« rief Vater, »ich liebe klare Verhältnisse! Das ist die Hauptsache unter Menschen, die zusammen leben und zusammen bleiben! – Was, Mutter?«
Mutter sah ängstlich zu mir hinüber:
»Hoffentlich!« hauchte sie.
»Und darum sagt von heute ab jeder, was er auf dem Herzen hat – ob's gefällt oder nicht.«
Eine Pause entstand.
Ich sah Linke an; nicht gerade feindlich; aber bestimmt und reserviert; und es gelang mir, Vaters Worten die Wirkung zu nehmen.
Denn Linke, der schon zu mir aufsah und eben reden wollte, stand unbeweglich und sprach kein Wort.
»Nun!« sagte Vater und ermunterte ihn.
Mutter richtete sich auf und hob beide Arme:
»Lass nur!« bat sie und zitterte am ganzen Körper. »Das wird schon alles kommen – nicht wahr, Aenne?«
»Gewiss!« sagte ich, und Mutter meinte:
»Das braucht ja nicht gleich heut zu sein!«
Vater sah erst mich, dann die Mutter an. Einen Augenblick schwieg er, dann sagte er und schien plötzlich verändert:
»Ach so!«
»Es wird …sich …ja …alles …finden!« flehte Mutter. »Nur nicht …gleich …heut …morgen … oder in ein paar Tagen.«
Vater liess kein Auge von mir.
»Hat das eine Bewandtnis?« fragte er – und seine Stimme klang beinahe wieder wie damals, als wir von ihm gingen.
»Was?« erwiderte ich.
»Dass du Hut und Mantel anbehältst!«
Ich sah an Mutters Augen, wie ihr Herz ging. In Todesangst sass sie auf ihrem Sessel. Ihr Blick hing an mir. Mir war, als wenn sich ihre Lippen bewegten und »Aenne!« flehten.
»Ich kann ja ablegen!« sagte ich und öffnete meinen Mantel.
»Du bleibst also nicht?«
»Das entscheidest du!« sagte ich.
»Lass sie bei mir!« flehte die Mutter.
Vater fasste sich an den Kopf.
»Ja, das klingt ja grade, als ob …aber das ist ja nicht möglich! …Also so sag schon, was ist? Nicht wahr, du gehörst doch jetzt uns? Du bist doch nun eine andre?«
»Ich bin dieselbe geblieben!« sagte ich ruhig und bestimmt.
»Das heisst …doch …nicht …« – Vater stiess jedes Wort einzeln hervor – »Dass du noch immer …wie? … ja, das ist doch nicht denkbar …Aenne! Dass du …aber nein!!« – Er suchte sich selber zu beruhigen. – »Vielleicht, dass du innerlich noch nicht drüber weg bist – aber du bist doch ein anständiger Mensch! Wie?«
»Das bin ich, Vater!«
Mutter stand jetzt halb in ihrem Sessel.
»Er ist ja fort!« sagte sie, »wer weiss, wann er wiederkommt!«
»Hier handelt es sich um was anderes, – um ein Prinzip – ob du einsiehst, darauf kommt es an, ob du das verstehst, dass davon nie mehr die Rede sein kann, dass das etwas war, ja, wie drück ich mich aus? – etwas Verkehrtes, etwas, was dich einfach hier heraushebt aus unserer Sauberkeit.«
»Ich habe nicht das Gefühl, dass ich beschmutzt bin,« sagte ich.
»Soo!« rief Vater, »na dann freilich! Wenn du das Gefühl nicht hast! Ich hab es! Na, und schliesslich – da ich dein Vater bin, da ist dir das vielleicht auch nicht ganz gleichgültig!«
»Gewiss nicht!« erwiderte ich.
»Nun also!« sagte Vater.
Er hatte sich noch immer in der Gewalt. Man sah, wie er sich beherrschte! Ich hatte nie geglaubt, dass Vater so viel Haltung aufbringen könnte.
»Nun reiss dich da raus!« sagte er, »schon Mutters wegen! Das sind schiefe Sachen. Die bringen kein Glück!«
Mutter stand jetzt und hielt sich mit beiden Armen an den Lehnen des Sessels.
»Das mein' ich auch!« sagte sie.
»Mutter!« rief ich.
»Ich weiss, mein Kind, ich weiss!« sagte sie, als wenn sie mich trösten wollte; »ich weiss alles, was du durchmachst!«
»Ja …aber …«
»Lass nur! lass nur!« wehrte sie ängstlich, »ich will dir nicht weh tun! Du tust mir leid, ich will auch nichts gegen ihn sagen, obschon …«
»Was?« fragte ich ängstlich.
»Was ist nicht recht?« drängte ich Mutter – und sie erwiderte zögernd:
»Lass nur! …Ich weiss doch, dass du Sorgen hast.«
»Dafür kann er doch nicht.«
»Doch!«
Ich staunte, wie bestimmt sie das sagte.
»Ein Jahr, das ist für dich eine Ewigkeit! Freilich, für ihn,« sie zog die Schultern in die Höhe, »da ist's nicht so schlimm. So oder so – in seiner Lage, da lässt's sich ertragen.«
»Ich hatte es ja so gewollt.«
Aber sie liess das nicht gelten.
»Wenn auch! Wenn auch!« sagte sie. »Vorher, ehe er ging, da musste er mit dem Vater sprechen. Siehst du, schon seinetwegen musste er das! Seiner Ruhe wegen. Dass er das nicht tat, das war nicht recht – dass er ging, ohne dass er wusste, was aus dir wird.«
»So bist du auch gegen ihn?« fragte ich.
»Ich bin für dein Glück,« erwiderte Mutter.
»Und du meinst, wenn er mit dem Vater gesprochen hätte …«
»Lass mich aus dem Spiele!« rief Vater wütend, ballte die Fäuste und hob die Arme und stand da, als wenn er jemanden gepackt hätte und nun hin und her schüttelte. – »Wenn er gewagt hätte, mir unter die Augen zu treten, dieser Halunke …!«
Ich schrie laut auf; mir war, als wenn mir Vater einen Schlag versetzte.
»… ich habe mich in der Gewalt, aber ich glaube, wenn er hier vor mir stände – und du daneben, ich brächte ihn um, den Schuft!«
»Vater!« schrie ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme. »Wenn er ein Schuft ist, was bin dann ich?« forderte ich ihn heraus.
»Gibst du ihn auf?«
»Nein!« schrie ich, warf den Kopf zurück und sah ihn an.
»Du bleibst bei ihm?«
»Ja!«
»Auch so …ohne alles …ganz gleich, als was?«
»Ja!« gellte ich, »tausendmal ja!«
»Und fragst mich, was du bist?« Wir standen uns dicht gegenüber, »ich will es dir sagen, eine Hu…«
Ich weiss nicht, ob er es aussprach, mit einem dumpfen Geräusch fiel neben uns etwas zu Boden, ich wandte mich um, es war Mutter!
Ohne dass wir es merkten, war sie, die sonst keinen Schritt allein tun konnte, an uns herangetreten. Mir wurde schwarz vor den Augen. Ich sah nichts mehr. –
Es lagen Stunden dazwischen, als ich auf einer Chaiselongue im Nebenzimmer erwachte. Irgendwer hielt meine Hand und fühlte den Puls.
»Nehmen Sie einen Schluck Wasser!« sagte er und reichte mir ein Glas.
Ich trank.
»Schonen Sie sich! Sie haben nicht viel zuzusetzen.«
Er wies auf ein Rezept, das neben mir auf dem Stuhl lag, nickte mir zu und ging.
Gleich darauf trat Vater ins Zimmer, in der Tür blieb er stehen.
»Sobald du dich kräftig genug fühlst – draussen steht ein Wagen! Linke fährt dich nach Hause!«
»Danke!« sagte ich und mühte mich auf.
»Es bleibt also dabei?« fragte er.
»Lass mir doch Zeit!« bat ich.
»Ich fürchte, du hast schon zu viel Zeit darauf verwendet.«
Dabei sah er mich an, dass es mir eiskalt durch den Körper lief.
»Was ist denn?« fragte ich ängstlich und wusste noch immer nicht, was eigentlich geschehen war.
»Wenn du die Mutter noch einmal sehen willst …«
»Was?« stiess ich kurz hervor.
»Sie liegt drinnen.«
Ich stürzte ins Nebenzimmer.
»Sie weiss von nichts mehr,« sagte Vater, als ich an ihm vorbeischoss. –
Drinn lag Mutter! Meine Mutter! Peter! Peter! Meine Mutter! Mit geschlossenen Augen – und wusste von nichts mehr!
*
Ich weiss nicht, wie lange ich so stand. Ich weiss auch nicht, was geschah. Ich spürte nur, irgend etwas ging vor – irgendeine Veränderung, es war wohl im Blut, ich spürte es deutlich.
Denken konnte ich nichts. Mir war, als setzten die Funktionen meines Gehirns aus. Als stände es still.
Da kam Vater!
Und nun musste etwas geschehen. Jetzt musste er mich bei den Händen nehmen. »Aenne!« musste er sagen, »arme Aenne!« – und auf die Mutter weisen. Da war ja, was uns einte: die grosse Leere und der grosse Schmerz!
Ein Wort, das mein Herz traf, und er hätte alles – alles, Peter, auch Dich – von mir fordern können.
Hier steht dies grosse Geständnis, das uns, wenn Du es später einmal liest, vielleicht auseinanderbringt! Aber Du siehst daraus auch, wie mir in dieser Stunde ums Herz war.
Da kam Vater! Und nun musste etwas geschehen!
Aber was geschah? Er nahm mich nicht bei den Händen. Er sagte auch nicht »arme Aenne!« Er wies auch nicht auf die Mutter. Kein Wort traf mein Herz – und er forderte nichts von mir.
»Draussen steht dein Wagen!« sagte er, und seine Stimme klang unverändert.
Da blieben mir die Tränen in den Augen stehen, als wenn sie zurücksuchten. Da stand mein Herz einen Augenblick still, da hasste ich meinen Vater – und stürzte hinaus.
*
Du weisst, Peter, dass ich nicht sentimental bin. Aber es vergeht kaum ein Augenblick, in dem ich nicht Mutters leeren Sessel vor mir sehe.
Ich sehe ihn tagsüber, wenn ich von einem Bureau ins andere laufe; ich träume von ihm; und er steht vor mir, wenn ich des Morgens die Augen öffne.
Aber auch das hat, wie alles, sein Gutes. Für mich gibt es nun keine Enttäuschungen mehr. Bei jedem Refus, der mich in Gedanken an Mutter ehemals erschrecken liess, denke ich jetzt: der Sessel ist leer! Und damit bin ich denn auch schon über die Enttäuschung hinweg.
Wie wenig sentimental ich bin, habe ich empfunden, als ich vor vierzehn Tagen, erschrick nicht, Peter! – den Ring aufs Leihamt trug. Ich dachte, dass ich mich nie von ihm trennen würde. Und das dachtest Du auch! Als die Not kam, von der ich auf diesen Blättern gewiss nicht zu viel berichtet habe, da blieb mir nichts anderes übrig, da musste ich handeln. Und ich erschrak selbst, wie schnell ich mich entschloss, als ich keinen anderen Ausweg sah.
Als ich ihn vom Finger streifte, da standen wohl Tränen in meinen Augen, und als ich ihn auf dem Leihamt in die Hände des Beamten legte, da gab es mir wohl einen Stich ins Herz – aber wenn ich früher einmal daran gedacht hätte: ich glaube, es hätte mich umgeworfen.
So ändert die Not die Menschen!
Und wenngleich ich noch heute ganz unwillkürlich alle paar Minuten auf den leeren Finger sehe und mich freue, dass der Rand, den er hinterlassen hat, noch immer nicht verblasst ist, so war es mir doch gelungen, die ganze Zeit über sein Verschwinden vor Mutter zu verbergen.
*
Heute früh hätte ich beinahe gegen unsere Verabredung verstossen und Dir geschrieben. Ich hatte nämlich eine kleine Freude; und Du kannst Dir nicht denken, wie mir ist, dass ich Dir darüber nichts mitteilen kann. Nie, selbst in den schlimmsten Tagen, ist mir der Gedanke gekommen, Dir zu schreiben. Ich dachte im Gegenteil: gut, dass der Peter nichts weiss. Aber nun, nicht wahr, wo ich über das Schlimmste hinweg bin, da würdest Du Dich doch mit mir freuen!
Ich habe also eine Stellung! Freilich eine sehr magere. In einem Abschriftenbureau. Mit hundert Mark Anfangsgehalt. Die Dame selbst hat mir nicht zugeredet. Im Gegenteil: sie hat mich gewarnt:
»Denken Sie an Ihr Fortkommen. Wenn Sie bisher gefragt wurden, was haben Sie in Ihrer vorigen Stellung verdient, konnten Sie antworten: zweihundert Mark. Von jetzt ab müssen Sie sagen: hundert Mark.«
Sie hat gut reden! Ich habe ja nicht die Wahl zwischen hundert und zweihundert Mark, sondern ich kann entweder weiter hungern oder mich satt essen.
Ich bin ganz froh, soweit ich das in Erinnerung an Mutter sein kann, und habe das Gefühl, dass mir nun bis zu Deiner Rückkehr – es sind noch acht Monate! – nichts mehr passieren kann.
*
Als ich heute mittag nach Hause kam, traf ich auf der Treppe den Briefträger, der einen eingeschriebenen Brief für mich hatte:
»Sehr geehrtes Fräulein! Jemand, den Ihre Not plagt und deren Herd
kennt, möchte sich Ihnen erschliessen. Das traurige Schicksal Ihrer Mutter, die ein Opfer der gegen Sie gesponnenen Intrigue wurde, lässt mein Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Wann darf ich Sie sehen?
Hochachtungsvoll
H. S. Postamt 7.«
»Mutter, die ein Opfer der gegen Sie gesponnenen Intrigue wurde …« las ich noch einmal. Was für eine Intrigue? Etwa die Briefe? Natürlich, diese Briefe! Und dann die Auskünfte! Das gehörte zusammen! Das war ein und dieselbe Quelle! Da würde man es also erfahren! Endlich erfahren! Oh, das lohnte sich schon!
Aber nein! Mutter wusste ja nichts! Weder von den Briefen, noch von den Auskünften hatte sie eine Ahnung. Nicht einmal, dass ich aus meiner Stellung war, wusste sie! Und da in dem Brief stand, dass sie ein Opfer wurde der gegen mich gesponnenen Intrigue …!? Das stimmte nicht! Gottlob, dass das nicht stimmte! Denn der Gedanke, dass sie …durch mich …
Immer wieder las ich den Brief. Wer war das? H. S.! Eine spitze, steile, unsympathische Handschrift! Nicht einmal ob's eine Frau oder ein Mann war, liess sich erkennen.
Ich nahm eine Karte und schrieb:
»H. S. Postamt 7.
Sie treffen mich jeden Abend nach acht zu Hause.
Aenne Hoffmann.«
Ich stürze zur Post, klebe zwei Marken auf und stecke die Karte in den Rohrpostkasten. Abends eilte ich mich, nach Hause zu kommen. Es war ja immerhin möglich, dass der Schreiber des Briefes schon heute kam. –
Ich sprang schnell die Treppen hinauf, stürzte in meine Stube, legte Hut und Mantel ab, – – da klopfte es auch schon, und ich rief: Herein!
Ein langer, hagerer, blonder Mann von etwa dreissig Jahren trat ins Zimmer.
»Darf ich?« fragte er.
»Bitte!«
Schüchtern, fast mimosenhaft kam er näher. Als er noch ein, zwei Schritte von mir entfernt war, blieb er stehen, zog aus dem Mantel eine Karte, die er mir reichte.
»Ich bin doch richtig?« fragte er zaghaft.
Ich warf einen Blick auf die Karte: es war meine Rohrpost.
»Ja,« sagte ich und wies auf einen Stuhl. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er zögerte; erst als ich ihn nochmals einlud, setzte er sich und legte seinen schwarzen Schlapphut vor sich auf den Tisch.
»Wer sind Sie?« fragte ich.
Er sah mich an. Er trug eine goldene Brille; aber mir war, als wenn er über die Gläser hinwegsah, und seine wässerigblauen Augen, die etwas Unstätes und Stechendes hatten, lagen tief in den Höhlen. Er fuhr mit der Hand über sein weiches langes Haar und strich es zur Seite.
»Wer ich bin,« fragen Sie, »ich will es Ihnen sagen: ein unglücklicher Mensch.«
Man sah es ihm an. Gedrückt sass er da, und sein Gewissen schien an irgend etwas zu schleppen.
»Unglücklich durch Sie!« sagte er.
Ich machte wohl ein erstauntes Gesicht, denn er fuhr fort:
»Natürlich, ohne dass Sie es wissen.«
»Was heisst denn das?« fragte ich. Und mein entschiedener Ton schien ihn zu erschrecken. Denn er fuhr leicht zusammen und sah mich, ohne den Kopf zu bewegen, von der Seite an. Auch jetzt wieder sah er nicht durch die Brillengläser. Etwas Scheues lag in seinem Blick. Man wusste nicht recht, ob man sich vor ihm fürchten oder Mitleid mit ihm haben sollte.
Mir dauerte das alles viel zu lange. Ich zog den Brief aus der Tasche, den ich mittags bekommen hatte, und sagte:
»Also, was hat das mit diesem Brief für eine Bewandtnis? … Was Sie von meiner Not wissen, das kümmert mich – zunächst wenigstens – nicht. Sie existiert, wenn es Sie interessiert, übrigens nicht mehr.«
»Ich weiss,« sagte er.
»Was wissen Sie?«
»Dass Sie seit Dienstag mit einem Gehalt von hundert Mark in dem Abschriften-Bureau von Frau Agnes Lehmann beschäftigt sind.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiss alles, was Sie angeht.«
»Wer sind Sie denn?«
Er erhob sich auf seinem Stuhl und beugte den langen Oberkörper ein wenig nach vorn.
»Hermann Seifert ist mein Name. Mein Vater war der berühmte Gelehrte Waldemar Seifert.«
»Das ist noch immer keine Erklärung,« sagte ich. »Also bitte, was für einer Intrigue ist meine Mutter zum Opfer gefallen?«
Er sah mich scharf an. Ich suchte seinen Blick zu erwidern; aber er tat mir weh – er stach mir förmlich in die Augen.
»Ich meine die Briefe,« sagte er.
Also doch. Mir war etwas unbehaglich zumute.
»Unmöglich,« sagte ich; »davon wusste meine Mutter nichts.«
»Wie? Dann haben Sie? …«
»Alles für mich behalten,« unterbrach ich ihn und sah, dass er enttäuscht war.
Nach einer Weile sagte er: »Sie waren doch gar nicht zu Hause, wenn die Briefe kamen.«
»Zu Hause?« fragte ich und erschrak, »– ja …zu … Hause …die …Briefe …, die …kamen …doch … nicht ins Haus …das wäre …ja …furchtbar … wie? – – So reden Sie doch! Was für Briefe meinen Sie denn?«
»Die Briefe, die Sie ins Haus bekamen, unterschieden sich kaum von denen, die man Ihnen ins Bureau sandte. Meiner Schätzung nach waren es etwa sechs bis sieben.«
»Hierher? – – Unmöglich!«
»Das ist allerdings sonderbar,« sagte er. »Dann wird Ihre Mutter die Briefe wohl an sich genommen haben.«
Ich wandte mich um. Da stand Mutters leerer Sessel und vor dem Sessel das kleine Tischchen, in dem sie allen möglichen Kram, an dem ihr Herz hing, aufbewahrte. Sessel und Tischchen standen noch unberührt, – genau wie an dem Tage, an dem sie von mir ging – um zu sterben. Irgendeine Scheu, die mir im Blute lag und über die ich mir keine Rechenschaft zu geben suchte, hatte mich bisher zurückgehalten, an dem Sessel zu rühren oder gar den Schub des Tischchens zu öffnen.
Jetzt flog ich, ohne recht ein Bewusstsein von dem zu haben, was ich eigentlich tat, auf den Tisch zu und riss den Schub auf. Ich fuhr entsetzt zurück. – Ohne den Sessel, an dessen Lehne ich stiess und mich festhielt, wäre ich zu Boden gestürzt. –
Da lagen neben allem möglichen Kram und alten Erinnerungen die Briefe! Sechs bis sieben mochten es sein! Von denen ich nichts wusste! An mich gerichtet! Dasselbe Papier, dieselbe Handschrift! Ich kannte sie nur zu gut! Und der erste war geöffnet! Die anderen lagen unberührt! Neben dem Brief lag ein Kuvert, darauf stand mit Mutters gekritzelter Schrift: »An Aenne!«
Ich sank auf den Sessel.
Der Herr hatte sich erhoben und war lautlos an das Tischchen getreten. Er beugte sich über den Schub, wohl eine Minute lang. Dann sah er mich an.
»Das tut mir leid,« sagte er, »das ahnte ich natürlich nicht.«
Dann ging er an den Tisch zurück, an dem er gesessen hatte. Ich sah, dass er etwas aus der Tasche nahm und auf den Tisch legte. Er nahm seinen Hut, sah noch einmal zu mir hinüber und ging.
Ich wollte ihm sagen: Bleiben Sie! Aber ich war wie gelähmt; ich brachte kein Wort heraus.
Ich sass jetzt auf Mutters Sessel, und vor mir, weit aufgezogen, stand der Schub. Ich brauchte nur den Arm auszustrecken und danach zu greifen, und hielt Mutters Brief in der Hand: An Aenne! Ich sah es deutlich vor mir und hatte weder die Kraft, mich loszureissen und aufzusehen, noch den Mut, den Brief zu nehmen und ihn zu öffnen.
Ich hörte die Uhr schlagen und nahm mir vor: das nächste Mal, wenn sie wieder schlägt, dann öffnest du den Brief und liest ihn. Und wenn die Uhr dann wieder schlug, sagte ich: das nächste Mal! Und so verging die halbe Nacht!
Es war gegen Morgen – ich sass noch immer auf Mutters Sessel – da nahm ich den offenen Brief, der obenauf lag, und las:
»Liebe Aenne!
Sei lieb und lass mich nicht warten. Sei froh, dass Du von dem Notar fort bist. Ob Du nun einen Tag früher oder später eine neue Stellung findest – was hängt daran! Komm!
Der Brief fiel mir aus der Hand. Das also hatte Mutter gelesen. – Und geglaubt! – Das hatte sie durch Wochen mit sich herumgeschleppt! Die Aermste! Darum wollte sie fort. Darum zog sie zum Vater. Arme Mutter! Warum hast du nicht gesprochen! Kanntest du mich so wenig, dass du das glauben konntest?
Ich zog vom Sessel aus die Gardinen zurück. Es war Tag. Ich nahm Mutters Brief aus dem Schub. Er war eiskalt. Meine Hand fuhr über ihn her. Einen Augenblick dachte ich: lies ihn nicht! Zerreiss ihn! Denke, wenn sie dich in ihrem Irrtum aufgab. Wenn sie sagte, dass sie dich verachte – wie willst du weiterleben?
Ich erschrak über meine Mutlosigkeit, riss das Kuvert auf und las:
»Arme Aenne!
Was machst Du durch, mein armes Kind. Und sagst mir nichts, um mich zu schonen. Auch ich sage Dir nicht, dass ich mehr weiss, als Du denkst, um Dir nicht weh zu tun, und lasse Dich nicht fühlen, was ich um Dich leide, weil ich es Dir nicht noch schwerer machen will.
Wenn ich Dir doch helfen könnte!
Wenn ich im Willen doch so stark wäre, wie im Glauben! Ich würde mit Dir sprechen und versuchen, Dich zu stützen. Aber ich bin schwach und elend und würde Dich mit zugrunde richten, wenn ich Dich in mein Herz sehen liesse.
Tagsüber, wenn Du fort bist, weine ich um Dich; und nachts, wenn Du neben mir liegst und glaubst, dass ich schlafe, bete ich für Dich. Das, Aenne, ist alles, was ich für Dich tun kann! Glaube mir, es gibt nichts Traurigeres, als eine Mutter, die ihrem Kinde nicht helfen kann!
Wenn Du wirklich diesem Menschen zum Opfer fielst – dessen Briefe ich nicht aus den Händen gab, – ich konnte es nicht! – Du bliebst darum doch, was Du bist!
Aber ich glaube es nicht; denn wie ich alles spüre, was in Dir vorgeht, so hätte ich auch die Qualen gefühlt, die Dich das gekostet hätte! Es ist nicht wahr! Wenn ich aber irre: Mein ganzes Mitleid, Aenne, gehört Dir!
Ich fühle, dass ich bald von Dir gehe! Da sollst Du wissen, dass ich den Glauben an Dich mit ins Grab nehme! Meine ganze Liebe lasse ich Dir zurück! Richte
Dich daran auf! Und wenn Du gar nicht weiter kannst, dann verlier Dich nicht, sondern folge mir!
Deine Mutter!«
Mutter! – Ich beugte mich über den Brief – und konnte weinen! Du hast mir Stolz und Leben und Hoffnung zurückgegeben! Mutter! Deine Aenne dankt dir! An deiner Liebe und deinem Vertrauen richtet sie sich auf und glaubt wieder ans Leben und an ein Glück!
*
»Was ist Ihnen?« fragte Frau Lehmann, als ich heute morgen ins Bureau kam.
»Leicht ist mir!« gab ich zur Antwort.
»Haben Sie irgendeine Freude gehabt?«
»Ja!«
»Nämlich?«
»Ich hatte die beste Mutter, das wissen Sie.«
»Sie haben es mir erzählt.«
»Und diese Mutter hat mir ein Vermächtnis hinterlassen, ein Vermächtnis, sage ich Ihnen, Frau Lehmann! – Ich bin glücklich und stolz.«
»Auch reich?« fragte sie.
»Gewiss! Denn ich würde dies Vermächtnis nicht gegen Millionen eintauschen!«
»Nanu?« sagte sie.
»Können Millionen gegen Schicksalsschläge schützen?« fragte ich.
»Nein, gewiss, das können sie nicht,« gab sie zur Antwort.
»Also! – Aber mir, denken Sie, kann in meinem ganzen Leben nun nichts mehr passieren.«
»Das muss ja ein ganz ungewöhnliches Vermächtnis sein!«
»Das ist es auch! Man kann schlafen, arbeiten und vergnügt sein! Ist das nicht mehr wert als Geld?«
»Mir wäre Geld lieber!« sagte sie, da brach ich das Gespräch ab und ging an die Arbeit. –
Als ich abends nach Hause kam, war mein Zimmer noch in grosser Unordnung. Ich hatte nichts aufgeräumt, und es lag daher noch alles herum; der Schubkasten stand noch offen, der Sessel war noch verrückt, nicht einmal die Fenster waren geöffnet.
Auf dem Tisch lag eine Visitenkarte: »Hermann Seifert, Berlin W 30, Motzstrasse 2.« – Seifert, das war der lange, blonde, magere Herr von gestern abend, dem ich die Aufschlüsse dieser Nacht verdankte.
Im ersten Augenblick dachte ich, er wäre in meiner Abwesenheit dagewesen. Aber wie wäre er dann in mein Zimmer gekommen, dessen Schlüssel ich stets bei mir trug? Und ich besann mich, und mir fiel ein, dass er ja gestern, ehe er ging, irgend etwas aus der Tasche genommen und auf den Tisch gelegt hatte – und das war sicher diese Karte.
Eine ganz rätselhafte Sache! sagte ich mir. Aber schon hatte ich ihn und seine sonderbare Mission vergessen. Ich nahm Mutters Brief, und ohne Scheu, ja eigentlich ohne dass ich es mir vornahm, sass ich plötzlich auf Mutters Sessel. Ganz ruhig war es in mir, und ich las ganz langsam Zeile für Zeile ihres Briefes – und nach jedem Satz machte ich eine Pause. Das tat mir wohl, und ich beschloss, es jeden Abend zu wiederholen. –
Da klopfte es leise. Ich rief: herein! Und der lange, blonde, magere Mann stand in der Tür.
»Darf ich?« fragte er.
»Bitte!«
Er trat mit seinem schleichenden Gang ins Zimmer und blieb wie gestern an dem grossen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, stehen. Ich hatte ein Gefühl der Dankbarkeit für ihn. Wer weiss, wie lange ich mich ohne seinen Hinweis noch gequält und wann ich mich an Mutters Schub gewagt hätte!
»Ich habe gestern«, begann er zögernd, »hier meine Karte zurückgelassen.« – Er nahm sie auf.
»Ich weiss! Ich habe sie gefunden.«
»Ich dachte, dass Sie mir schreiben würden.«
»Wieso?«
»Ich war Ihnen noch eine Erklärung schuldig.«
»Richtig! Sehen Sie, das hatte ich ganz vergessen!«
»Vergessen?« fragte er erstaunt.
»Ja!« sagte ich und stand auf.
»Sie werden sich über meine Veränderung wundern.«
»Allerdings,« sagte er, »das tue ich.«
»Sie hatten vermutlich mit meinem Zusammenbruch gerechnet.«
»Die Verfassung, in der ich Sie gestern abend verliess, deutete darauf hin.«
»Und denken Sie! Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin heute ruhiger.«
»Um so besser für Sie!« sagte er und sah mich über die Brillengläser an. »Haben Sie inzwischen etwas erlebt?«
»Ja! – Ich habe so Grosses erlebt, dass mir das, was mir gestern noch wichtig schien, heute fast bedeutungslos erscheint.«
Er sah mich an, als suchte er auf meinem Gesicht die Lösung. Da er sie nicht fand, sagte er:
»Vielleicht erklären Sie mir …«
»Aber nein! Wie käme ich dazu? Wer sind Sie überhaupt und was wollen Sie? – Ich begreife selbst nicht, wie ich Sie bitten konnte …«
»Pardon!« verbesserte er, »ich bat Sie! Mein Gewissen verlangte eine Aussprache. Wenn Sie augenblicklich vielleicht auch keine Hilfe brauchen – man wird Ihnen die Ruhe nicht lange gönnen, man wird zu neuen Schlägen ausholen und nicht ruhen, ehe man Sie nicht zur Strecke gebracht hat.«
»Und wer ist das? – Wer hat ein Interesse?«
Er sah mich ungläubig an.
»Sollten Sie das nicht wissen?«
» Seine Familie?« fragte ich.
»Sie wissen es also.«
»Und die kämpfen mit solchen Mitteln?«
»Bedenken Sie, es handelt sich um den Sohn!«
»Dass das moralische Recht ihnen wenigstens nach aussen hin zur Seite steht.«
»Gibt es denn eine Moral nach aussen und eine nach innen?« fragte ich.
Er lächelte.
»Gewiss!« sagte er.
»Und welches ist die richtige?«
»Der Wirkung nach natürlich die äussere – nach der inneren fragt kein Mensch.«
»Und ich frage nicht nach den Menschen.«
»Bis auf einen – soweit ich unterrichtet bin.«
»Der denkt wie ich.«
»Dachte,« verbesserte er.
»Wie können Sie das behaupten?«
»Ich behaupte es nicht. Ich vermute nur.«
»Was vermuten Sie?«
»Dass die Mittel, die man ihm gegenüber in Anwendung bringt, nicht viel harmloser sind, als die, mit denen man gegen Sie vorgeht.«
Ich erschrak. Er sah es.
»Aber Sie müssen ja wissen, ob er ebenso widerstandsfähig ist wie Sie; ich kenne ihn kaum. – Ich weiss nur, dass da draussen schon manch einer ein andrer geworden ist.«
»Was haben Sie für einen Grund, mir das zu sagen?«
Er sah mich an. Einen Augenblick überlegte er; dann nahm er den Kopf zurück, richtete die Augen scharf auf mich – es war das erstemal, dass er durch seine Brille sah – und sagte:
»Ich bin der Vertrauensmann seiner Familie.«
Ich war verblüfft. Ehe ich etwas erwidern konnte, fuhr er fort:
»Alles, was bisher gegen Sie unternommen worden ist, habe ich ersonnen.«
Ich wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
»Die erste Etappe liegt hinter Ihnen.«
»Gottlob!« sagte ich.
»Natürlich hat es damit nicht sein Bewenden. Ich habe den Plan bis zu Ende durchdacht. Die Familie kennt ihn und hat ihn gebilligt.«
Ich glaubte ihn zu verstehen.
»Sie sind also der Vertrauensmann der Familie?«
»Ja!«
»Demnach wollen Sie mit mir verhandeln?«
»Nun, dann will ich Ihnen gleich sagen: geben Sie sich keine Mühe! Ich fürchte mich nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Sie verstehen mich falsch.«
»Ich glaube kaum.«
»Ich will nicht etwa, dass Sie nachgeben oder verzichten.«
»Sondern?«
»Ich bin auch nicht im Auftrage seiner Familie hier. – Ich sagte es Ihnen schon gestern.« – Er sah zur Erde. – »Ich bin ein unglücklicher Mensch.«
»Mir scheint vielmehr, dass es Ihr Vergnügen ist, andere unglücklich zu machen.«
Er schüttelte den Kopf. Wie er so dastand, konnte man Mitleid mit ihm haben.
»Dann ist es womöglich Ihr Beruf – oder des Geldes wegen?«
Er nickte.
»Ich möchte, dass Sie mich verlassen!« sagte ich.
Da sah er mich bettelnd an und schluchzte laut.
»Was soll das?« rief ich. »Ich ertrage das nicht! Mir ist das grässlich! Ich kann nicht sehen, wenn ein Mann weint. Bitte, gehen Sie!«
»Ich habe mich verleiten lassen,« sagte er, »es ging mir schlecht.«
Seine Stimme klang jetzt wie die eines Kindes.
»Mein Vetter, der Landrat Moll, der das wusste …«
»Ihr Vetter?«
»Ja! Peters Mutter ist meine Tante. Also der liess mich kommen und trug es mir an. Ich sagte erst: nein! Aber dann drang er in mich; alles mögliche hielt er mir vor: das Renommee der Familie – die unvermeidliche Katastrophe – die Unreife und Zerfahrenheit Peters, der es uns noch mal danken werde, na, und schliesslich, da habe ich ›ja‹ gesagt.«
»Das alles haben Sie mit sich abzumachen,« sagte ich.
Er überhörte es – oder er tat doch so.
»Und denken Sie! Nun kann ich nicht weiter.«
»Um so besser!« sagte ich. »Wenn sich Ihr Gewissen rührt, so legen Sie das ehrenvolle Amt nieder, es werden sich andere finden.«
»Ich dulde es aber nicht,« sagte er wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Was kümmert das Sie, was andere tun?« fragte ich.
»Es bleibt mein Werk,« erwiderte er. »Damit, dass ich jetzt zurücktrete, kommt mein Gewissen nicht zur Ruhe.«
»Daran hätten Sie früher denken sollen.«
»Alles hängt jetzt von Ihnen ab.«
»Wieso von mir?« fragte ich.
»Sie sind die einzige, die mir helfen kann.«
Ich fand das sonderbar.
»Ich?«
»Ich will diesen Leuten, die mich so weit erniedrigt haben, heimzahlen.«
»Danke!« sagte ich, »Ihre Rache befriedigen Sie nur selbst. Daran nehme ich nicht teil. Wenn Sie aber glauben, dass Sie bei mir etwas gutzumachen haben und mich nun als Genugtuung oder Sühne gegen diese Leute schützen wollen – bitte! Das bleibt Ihnen unbenommen.«
Er wollte nach meiner Hand greifen. Ich zog sie zurück.
»Ich darf also?« fragte er und sah mich flehend an.
»Was wollen Sie tun?«
»Meine Tat ins Gegenteil kehren. Gutmachen, was noch gutzumachen geht. Den Plan dieser Leute durchkreuzen. Ihnen helfen!«
»Und sich von denen bezahlen lassen?« fragte ich.
»Nein!« sagte er. »Aber Sie haben nach dem, was Sie von mir wissen, recht, so zu denken.«
Er zog aus der Tasche ein Kuvert und reichte es mir.
»Bitte!«
Ich sah die Adresse: »Einschreiben. Herrn Landrat Moll.«
»Das interessiert mich allerdings!« sagte ich, nahm den Brief und las:
»Lieber Vetter!
Beiliegend sende ich Dir den Scheck für die in Sachen Aenne Hoffmann von mir geleisteten, respektive noch zu leistenden Dienste zurück und teile Dir mit, dass ich in der bewussten Angelegenheit nicht mehr tätig sein werde. Euch den Grund für mein verändertes Verhalten, das lediglich eine Folge meines erwachten Gewissens ist, mitzuteilen, wollt Ihr mir ersparen. Mit bestem Gruss
Hermann Seifert.«
»Das überzeugt mich,« sagte ich und reichte ihm den Brief zurück.
»Geben Sie ihn selbst auf!« bat er mich.
»Aber wozu?« fragte ich ahnungslos.
Er drängte mir den Brief auf, und ich nahm ihn wieder an mich, um ihn am nächsten Morgen zu befördern.
»Nun sollen sie nur kommen!« sagte er mit herausforderndem Blick. »Je toller sie es treiben, um so schneller wird mein Gewissen zur Ruhe kommen, denn um so grösser werden die Dienste sein, die ich Ihnen leisten kann.«
»Daran liegt mir nun gar nichts,« sagte ich. »Mir wäre viel lieber, wenn Sie erwirken, dass man mich endlich in Ruhe liesse.«
»Ich will alles tun, alles, was Sie wünschen. Je mehr Sie meine Dienste in Anspruch nehmen, um so glücklicher machen Sie mich.«
Ich wollte ihn fragen, ob er etwas von Dir wüsste; ich konnte mit diesem fremden Menschen nicht von Dir sprechen, Peter!
»Was werden Sie nun tun?« fragte ich.
»In Ihre Dienste treten.«
»Was denken Sie!« wehrte ich ab. »Ich verdiene hundert Mark im Monat. Wie soll ich Sie da bezahlen. Das einzige Schmuckstück, ein Ring, ist auf dem Leihamt. Ich bin froh, wenn ich selbst durchkomme.«
»Ja, glauben Sie, ich werde Geld von Ihnen nehmen?« fragte er ganz empört. »Vergessen Sie nicht, ich bin schuld, dass Ihr Vater Sie aus dem Hause gejagt hat; durch mich haben Sie Ihre Stellung verloren; wochenlang sind Sie herumgelaufen und haben einen neuen Posten gesucht. Jedesmal, wenn Ihr Engagement dem Abschlusse nahe war, bin ich mit einer schlechten Auskunft dazwischengetreten. Gehungert haben Sie durch meine Schuld. Aber damit nicht genug: Ihre Mutter habe ich unter die Erde gebracht, und als letztes, wissen Sie, was ich als letztes Ihnen zugedacht habe? Ich wollte Sie einem fremden Manne in die Arme treiben! – So bin ich mit Ihnen verfahren. Und da sprechen Sie von bezahlen, wo Sie es sind, die tausendmal zu fordern hat!«
»Aber Sie sagten doch selbst, es geht Ihnen schlecht; Sie müssen doch auch leben.«
Er errötete leicht und war verlegen.
»Ich habe, was ich brauche!« sagte er.
»Also war es nicht die Not?« fragte ich.
»Damals schon. Aber heute geht es mir besser!«
»Darf ich ganz ehrlich sein?« fragte ich.
»Ich bitte darum!«
»Mir leuchtet alles ein, was Sie sagen. Ich verstehe auch Ihre Selbstquälerei und Ihren Wunsch, Ihr Gewissen zur Ruhe zu bringen. Mir scheint das sogar natürlich. Aber sehen Sie, ich bin so geradeaus, so gar nicht kompliziert. Und da sage ich mir: möglicherweise ist das Ganze nur ein Manöver, das ich in meiner Ahnungslosigkeit natürlich nicht durchschaue, und hinter dem sich – ich muss es aussprechen, selbst auf die Gefahr hin, Sie zu kränken – eine neue Gemeinheit verbirgt.«
»Bravo!« rief er. »So gefallen Sie mir; man kann gar nicht argwöhnisch genug sein.«
Offen gesagt, ich unterschied nicht recht, ob das echt war, oder ob er dahinter seinen Schreck verbarg. Mir schien es jedenfalls etwas gezwungen.
»Die Antwort genügt mir nicht!« sagte ich.
Einen Augenblick dachte er nach. Genau wie vorhin kniff er die Augen zusammen und trommelte mit den Spinnenfingern auf dem Tisch. Dann sah er mich an.
»Das soll Ihnen auch nicht genügen,« sagte er. »Sie haben allen Anspruch darauf, dass ich mich Ihnen restlos decouvriere.«
»Und wie sollte das geschehen?«
»Dass ich Ihnen mein ganzes Material ausliefere, aus dem Sie dann jede meiner Behauptungen nachprüfen können.«
»Und wo befindet sich das Material?« fragte ich.
»In meiner Wohnung.« –
Eine halbe Stunde später kam ein Bote und brachte mir das Material. Ich las die ganze Nacht. Es waren keine schönen Stunden, Peter! Schmutz über Schmutz!
Morgen gebe ich es zurück. Aber ich will doch, dass Du wenigstens das eine oder andere davon kennen lernst. Ich schreibe also schnell die wesentlichsten Stellen ab.
In Sachen Aenne Hoffmann: Protokoll I stand auf dem Aktenstück, das ich aufschlug. Es begann mit einem Briefe Deines Schwagers Moll an Seifert:
»Lieber Hans Seifert!
Wenn Du Lust und Zeit hast, Dir einen Patzen Gold zu verdienen, dann sei morgen um 5 bei mir.
Bestens
Dr. jur. Moll, Landrat«
Ich ging also am nächsten Vormittage zu Vetter Moll. Ich bin zwei Jahre lang nicht mehr bei ihm gewesen. Als ich mit seiner freundlichen Unterstützung damals nach vielem Hin und Her endlich entmündigt war, liess er mich kommen und bot mir Erhöhung meines Monatswechsels von 250 auf 270 Mark an, falls ich mich verpflichte – ihn nicht mehr zu kennen. Ich sehe ihn noch mit seinem eingeklemmten Monokel vor mir stehen:
»Janz gleich wo, ob im Lokal, auf der Strasse oder im Theater. Du bist nu mal deklassiert und damit für mich nichts anderes als irgend 'n Schuster oder Friseur. Also Distanz!«
»Ja,« sagte ich, »für zwanzig Mark wird sich das schwer machen lassen.« Und wir einigten uns schliesslich auf dreissig, wofür ich ihm noch alles mögliche versprechen musste.
Wenn er mich jetzt mit Hilfe des Einwohnermeldeamtes, denn ich stand weder im Telephon- noch im Adressbuch, zu sich bat, so musste das einen ungewöhnlichen Anlass haben.
»Aha!« sagte er, als ich ins Zimmer trat. »Da sind Sie – ä – ä – bist du ja.«
»Auf die Minute,« erwiderte ich, »es schlägt eben fünf.«
»Morjen!« rief eine Stimme vom Sofa her, und ich erkannte Zobel, der mich genau musterte und angriente.
Eines Händedruckes würdigten sie mich nicht.
»Siehst ja janz passabel aus,« sagte Moll; »wahrhaftig schade um dich,« und Zobel bestätigte:
»Ich habe dich immer für einen schlauen Fuchs gehalten. Du hättest dich mit deinem feinen Spürsinn und deinem Kombinationstalent übrigens ganz ausgezeichnet zum Diplomaten geeignet.«
»Erlaub mal!« widersprach Moll, »dazu gehört denn doch wohl noch etwas mehr als 'n bisschen Nase und Kombinationstalent. Aber für was anderes scheinst du mir geradezu prädestiniert.«
»Nämlich?« fragte ich.
»Zum Detektiv!«
»Danke!« sagte ich.
»Nur darfst du bei deiner Intrigantennatur nicht beide Teile verschieben, das liebst du ja wohl? Erstens is es amüsanter und dann trägt's doppelt.«
»Ihr scheint nach allem, was ich höre, ein Geschäft für mich zu haben, bei dem ihr euch nicht gern die Finger beschmutzen wollt,« sagte ich.
»Erraten!« rief Zobel, und Moll klopfte sich auf die Schenkel und sagte:
»Manchmal is es wahrhaftig janz gut, so'n Aussenseiter in der Familie zu haben. Mit dir kann man doch deutsch reden.«
»Das könnt ihr!« erwiderte ich.
»Na also! Sieh mal, du hast doch nichts zu verlieren; du kannst nur jewinnen. Hingegen wir …«
»Verstehe!« sagte ich.
»Wenn du also Zeit hast, Geld verdienen willst und der Fall dir liegt …«
»Zeit hab ich, Geld verdienen will ich auch, und wenn der Fall, um den es sich handelt, nicht gar zu einfach ist, dann wird er mir auch liegen.«
»An sich eine simple Chose,« sagte Moll, »Frauenzimmersache!«
»Meine Spezialität!« erwiderte ich.
Und nun erzählte Zobel mit allen Einzelheiten den Hergang bis zum Augenblick Deiner Abreise nach Südwest.
»Ich sehe bisher keine Komplikation,« sagte ich.
»Bis dahin ging auch alles glatt,« erwiderte Moll. »Und als Peter glücklich auf dem Meer schaukelte, hielten wir die Anjelegenheit für erledigt.«
»Da konntet ihr auch!«
»Wir zitierten das Frauenzimmer zu uns …«
… um uns ganz formell mit ihr auseinanderzusetzen …«
»Blödsinn!«
»Menagier dich!« sagte Zobel, und Moll fuhr fort:
»… boten ihr ein kleines Vermögen …«
Ich führte den Zeigefinger an die Stirn. –
»… und behandelten sie partout als Dame.«
»Nehmt's mir nicht übel,« sagte ich, »aber das kommt mir ungefähr so vor, als wenn ihr ein Pferd, das nicht über den Graben will, statt ihm die Sporen zu geben, mit Zucker traktiert.«
»Unsere Schuld war es nicht,« sagte Moll, »wenn es nach uns gegangen wäre, stände es heute anders – aber das ist heute zu spät.«
»Und wie reagierte das Dämchen auf eure Courtoisie?« fragte ich.
»Denke dir, diese freche Person war um keine Antwort verlegen, behandelte uns – ja, wie soll ich sagen? – als wenn wir ihresgleichen wären, und lehnte sämtliche Vorschläge ab.«
»Und was verlangte sie?«
»Eine Erklärung Peters, dass wir in seinem Auftrage handeln.«
»Nun, und? is die nicht beizubringen.«
»Ich bitt dich, du kennst doch Peter. – Aber wir gingen weiter. Was tut man nicht alles, wenn es sich um das Renommee der Familie handelt.«
»Ich weiss!« sagte ich höhnisch und wies auf mich.
»Lassen wir das!« bat Zobel.
»Also was tatet ihr?« lenkte ich ein.
»Wir erniedrigten uns so weit, dass wir zu den Eltern fuhren und sie aufklärten.«
»Das war 'ne Sache,« bestätigte Zobel, »ich sage dir, der janze Abend war uns verdorben.«
»Wie können einem solche Leute die Stimmung verderben?« fragte ich.
»Wir sind eben zartfühlender,« sagte Zobel, und da ich ungläubig
»Na, na« sagte, so ereiferte sich Moll und sagte:
»Du wirst es nicht glauben, wir hatten an dem Abend Billetts für die Oper, aber wir sind nicht dagewesen, sondern sind zu Hiller gefahren, um überhaupt erst mal wieder wir selbst zu werden.«
»Na, und seid ihr's geworden?«
»Jewiss, bei der zweiten Flasche Pommery, da sind wir den üblen Jeschmack denn los jeworden.«
»Und der Erfolg des Besuches?« fragte ich.
»Davon wollen wir lieber nicht reden,« sagte Zobel. »Es war ein Misserfolg.«
Der Schluss war jedenfalls der, dass der Alte die Tochter und Mutter an die Luft setzte. – So! Und nun weisst du Bescheid und sollst weiter helfen.«
Ich dachte einen Augenblick nach:
»So viel steht fest,« sagte ich, »einfacher ist der Fall durch eure Bemühungen nicht geworden; im Gegenteil; komplizierter. Aber natürlich, machen lässt es sich noch immer. Freilich, ob auf gütlichem Wege, das weiss ich nicht.«
»Ausjeschlossen!« sagte Moll. »Jetzt gibt es keine Rücksichten mehr.«
»Ich dachte, weil Ihr vorhin sagtet, dass es der Wunsch Eurer Schwiegermutter sei …«
» War,« verbesserte Moll. »Der Versuch is jemacht. Contre coeur, das darfst du uns glauben. Na, und der Erfolg? – Du sagst ja selbst: komplizierter is es jeworden. Jetzt haben wer's statt. Jetzt heisst es: druff! und wenn es Späne hagelt.«
»Und eilt die Sache?« fragte ich.
»Natürlich eilt se!« erwiderte Zobel, »wir wollen die dreckige Geschichte endlich aus 'm Kopp haben. Das widert einen ja schon an.«
Wir einigten uns über die Bedingungen, und ich ging an die Arbeit. –
»Hat die Mutter zugegeben, von dem Verkehr ihrer Tochter gewusst und ihn begünstigt zu haben?« fragte ich.
»Jawoll!« sagten beide gleichzeitig.
»Hm – worin diese Begünstigung bestand, wisst ihr nicht?«
»O ja,« sagte Moll, »sie hat zwischen den beiden vermittelt.«
»Ausjezeichnet!« rief ich. »Das wollte ich hören! Vermittelt hat sie! Am Ende hat sie den Leutchen auch die Gelegenheit verschafft.«
»Aber selbstverständlich! Das gab sie ja zu! Sie hat es durchaus gebilligt!« eiferte Zobel drauflos – »geradezu begünstigt hat sie die Schw…«
»Danke!« sagte ich und verlangte Tinte und Papier.
»Und wie lange dauerte dieser Verkehr schon?«
»Jahrelang!«
»Man kann also von Gewohnheit sprechen?«
»Selbstredend!« bestätigte Moll. Mir schien das fraglich.
Ich schrieb.
»Was machst du da?« fragte Zobel.
»Eine Anzeige wegen Kuppelei bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht I.«
»Jrossartig!« sagte Moll.
»Geht 'n das?« fragte Zobel.
»Gehn tut alles,« erwiderte ich. »Es muss nur richtig angefasst werden. – Der § 180 lautet: Wer gewohnheitsmässig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird gegen Kuppelei mit Gefängnis bestraft.«
»Bravo!« rief Moll.
»Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte …«
»Daraus werden sie sich wenig machen,« meinte Moll.
»… sowie auf Zulassung von Polizeiaufsicht erkannt werden.«
»Das wird ihnen schon ekliger sein.«
»Und da es sich hier um Mutter und Kind handelt,« sagte ich, »so ist es sogar qualifizierte Kuppelei, auf die, auch ohne dass sie gewohnheitsmässig ist, Zuchthaus steht.«
»Da sind wir ja fein raus!« meinte Zobel, und Moll vergass sich in seiner Freude so weit, dass er mir, dem entmündigten Familienmitgliede gegenüber, familiär wurde, mir auf die Schultern klopfte und rief:
»Fabelhaft! und auf so was kommt nun unser sogenannter Onkel, der Justizrat, nicht!«
»Aber, meine Herren,« sagte ich spöttisch, »wie sollte er auch! Der Mann ist doch Jurist.«
»Ausjezeichnet!« rief Moll und lachte.
»Ihr werdet meine Anzeige später durch eidesstattliche Versicherungen stützen. Ist dann die Voruntersuchung im Gange, so wird es mit Hinweis auf euch als Zeugen nicht schwer fallen, dem Dämchen klar zu machen, wovon der Ausgang dieses Prozesses abhängt.«
»Gut!« sagte Moll, »das leuchtet mir ein! Weisst du sonst noch was?«
»Gewiss!« erwiderte ich. »Aber nach der Richtung werdet ihr vermutlich schon Schritte unternommen haben.«
»Nach welcher?« fragte Zobel.
»Na, das ist doch klar! Das Mädchen muss zunächst mal aus ihrer Stellung, und was wichtiger ist, es darf in keine neue hinein. Menschen mit leeren Magen überzeugt man leicht.«
Moll und Zobel sahen sich an.
»Wenn sich das machen liesse,« sagte Moll.
»Ich sagte schon einmal: machen lässt sich alles; es kommt nur darauf an, wie man es anfasst.«
»N'bisschen ruppig – findet ihr nicht?« sagte Zobel.
»Nanu!« brüllte Moll, »fängst du jetzt auch schon an, gefühlsduselig zu werden.«
»Nee! nee!« wehrte Zobel, »macht man! Mir is schon alles recht.«
»Na also!« sagte Moll und wandte sich an mich: »Uebrigens gibt's noch ein Mittel.«
»Nämlich?« fragte ich.
»Sie einem anderen Mann in die Arme zu treiben! Ein erwiesener Treubruch – und Peter passt!«
Ich nickte mit dem Kopf und sagte:
»Ich werd es mir merken.«
Zobel und Moll setzten die eidesstattlichen Versicherungen auf und gaben sie mir.
»Und wenn alles glücklich vorüber ist, dann werde ich als Extrabelohnung die Aufhebung deiner Entmündigung in die Wege leiten.«
»Danke!« sagte ich, »jetzt hab ich mich daran gewöhnt und fühle mich bei dieser verminderten Verantwortlichkeit ganz wohl.«
»Machst de noch immer so faule Sachen?« fragte Moll.
»Eigentlich nicht.«
»Aber 'nen Schock Frauen hast du wohl noch immer am Halse?«
»Die habe ich freilich beibehalten.«
»Könnte man da nicht mal …?« fragte Moll mit einem scheuen Blick zu Zobel.
Der war erst platt. Dann trat er nahe an mich heran und sagte:
»Eben! Könnte man da nicht mal …?«
»Gewiss könnte man!« erwiderte ich.
»Für uns, du verstehst, ist es so schwer; man hat so wenig Gelegenheit – aber du könntest doch …wie?«
Und wir schüttelten uns alle drei die Hände und lachten laut.
Draussen horchte ich einen Augenblick an der Tür:
»N'ganz brauchbarer Mensch!« sagte Zobel.
»Sehr!« erwiderte Moll, »so 'ne Kreuzung von Detektiv und Hochstapler.«
Da musste ich lachen und ging.
Es folgt nun – Gott, wie klein und verächtlich! – der Feldzug gegen mich, der, wie Du ja weisst, mit einer Stellung von hundert Mark zu meinen Gunsten geendet hat. Mit der Wiedergabe dieser geschmacklosen Kampagne will ich Dich verschonen. Aber höre, was nun kommt:
In Sachen Aenne Hoffmann: Protokoll II.
Da ich eruiert habe, dass gestern abend an Frau Hoffmann die Ladung zu der verantwortlichen Vernehmung ergangen ist, so habe ich mich heute früh zu ihr auf den Weg gemacht. Sehr zeitig, weil ich mich selbst davon vergewissern wollte, dass die Tochter nicht mehr im Hause ist.
Kurz vor acht sah ich sie aus dem Hause kommen und beobachtete auch, dass ihr jemand in einiger Entfernung folgte! Unser Vertrauensmann! Sie mag nur laufen! Eine neue Stellung wird sie so bald nicht finden.
Im übrigen habe ich die Wahrnehmung gemacht, dass diese Aenne Hoffmann ein ungewöhnlich hübsches Mädchen ist. Sie hat so gar nichts von dem Typ der kleinen Leute. Allein der Gang lässt auf Herkunft aus gutem Hause schliessen. Da ich mir auch das Vergnügen gemacht habe, Herrn Pedell Hoffmann, diesen Proletarierkoloss, zu beaugenscheinigen, so neige ich der Ansicht zu, dass sich Mama Hoffmann, von deren Kuppelnatur ich mein Gewissen durch gütiges Zureden nunmehr überzeugt habe, zu einer Zeit, als sie noch jung und der Tochter vielleicht nicht unähnlich war, »ausser dem Hause« vergnügt hat. Von diesem Proletarierkoloss stammt sie nicht! Jedenfalls wird der Punkt drei unseres Programms: »Männer auf sie zu hetzen« auf keine Materialschwierigkeiten stossen. Last not least: ich stehe zur Disposition.
Ich sah also dieser Aenne Hoffmann nach und folgte ihr bis zur nächsten Strassenecke. Wie ich das liebe! Eine Frau, die keine Hüften hat und sich doch in ihnen zu wiegen scheint! – Was für Chancen hätte diese Frau! Wie leicht wäre die zu lancieren! Ich würde ihr die Karriere garantieren! Aber ihr Blut ist zu schwer. Und statt über die Bühne und die internationalen Hotels in die Arme und Depots verliebter Gimpel zu steigen, wird sie sich an diesem grünen Referendar verbluten!
Sie schwebte mir noch immer vor, als ich die Tür zum Zimmer der Frau Hoffmann öffnete! So wohnt sie nun! dachte ich, und könnte eine Beletage im Tiergarten haben! Und es kam mir wieder zum Bewusstsein, dass es kein beschwerlicheres Gepäck für die Lebensreise gibt, als Moral und Gewissen!
Frau Hoffmann traf ich genau in der Verfassung, in der ich sie vermutet hatte. Während ich ihrer Tochter von der Strassenecke aus nachsah, hatte ihr der Postbote den Brief mit dem schwarzen Siegel der Königlichen Staatsanwaltschaft überreicht. Sie sass wie entgeistert vor dem Blatt, dessen Inhalt sie noch nicht fasste. Ich kam also gerade recht, um den ersten Eindruck, den wichtigsten, mitbestimmen zu helfen. Ich stand schon neben ihr. Aber sie bohrte ihre Augen in das Blatt und sah mich nicht. Sie begriff offenbar gar nicht, was sie las. Ihr Verstand hatte ausgesetzt.
»Sie sind Frau Hoffmann?« fragte ich und dämpfte nach Möglichkeit meine Stimme.
»Grosser Gott! schon!« rief sie entsetzt und wandte sich um. »Ich komme!« – Aber als sie aufstehen wollte, spürte sie erst, dass sie sich nicht bewegen konnte. Der Schrecken sass ihr fest in den Gliedern.
»Sie müssen sich Ihre Tochter erhalten!« sagte ich.
Sie fasste mich beim Arm und sah mich an. Dann nickte sie:
»Nicht wahr, ja! Das muss ich. Aber wenn Sie mich doch holen.«
»Ich hole Sie nicht! Im Gegenteil, ich will vermitteln.«
»Vermitteln?« fragte sie, »zwischen wem?«
»Eben in dieser Sache,« sagte ich und wies auf die Ladung.
»So sind Sie …von …da?«
»Ja und nein! – Ich vertrete die Interessen des jungen Herrn Reinhart.«
»Also auch die meiner Tochter?«
»In gewissem Sinne – ja!«
»Und das hier?« fragte sie und wies wieder auf das Blatt.
»Kann Hals und Kragen kosten,« sagte ich.
»Wem?« fragte sie.
»Zunächst natürlich Ihnen.«
»So! so!«
»Immerhin, auf eine Mutter, die ihr Kind verkuppelt, steht Zuchthaus.«
»Aber …ich …habe …doch …nicht …mein … Kind …ver…« Sie war wie vor den Kopf gestossen und drückte die Hände an die Stirn.
»Es scheint doch, dass die Königliche Staatsanwaltschaft diese Auffassung hat.«
»Woher hat sie die? – sie ist falsch! Ich werde alles sagen! – Gewiss! Ich habe meinem Kinde nicht verboten, dass sie mit dem Peter zusammenkam.«
»Das hätten Sie aber tun sollen.«
»Aber ich habe es auch nicht gebilligt. Nach aussen, da habe ich die Aenne sogar gewarnt, schon meines Mannes wegen. Innerlich, da hatte ich freilich meine Gedanken für mich.«
»Was dachten Sie?« fragte ich.
»Das kümmert nur mich, was ich dachte.«
»Aber Sie wussten doch, wann und wo die jungen Leute zusammenkamen?«
»Nein!« hauchte sie mich an und sagte sicher die Wahrheit. »Ich ahnte es das eine oder andere Mal, wenn die Aenne fort war. Aber wie mir dann war, was ich dann durchmachte,« sie seufzte laut, »nicht dem ärgsten Feinde meines Kindes wünsche ich die Qualen.«
Wenn sie das mit den Augen, in denen ihre ganze Seele lag, dem Staatsanwalt sagte, stellte der die Untersuchung ein.
»Und wenn Sie Ihrem Manne rechtzeitig Mitteilung gemacht hätten – glauben Sie nicht, dass der dann Mittel und Wege gefunden hätte, um den Verkehr Ihrer Tochter zu verhindern?«
»Darüber denke ich alle Tage nach« sagte sie, »und manchmal, da glaube ich fast, dass das im Anfang möglich gewesen wäre.«
»So haben Sie also, was Sie als Mutter doch nie und nimmer durften, durch Ihr Unterlassen den beiden die Möglichkeit verschafft, miteinander unerlaubt zu verkehren.«
»Das gebe ich zu.«
»Damit sind Sie aber auch erschlagen.«
Sie sah mich gross an.
Ich nannte ihr den Wortlaut des Paragraphen. Sie schien ihn auch zu begreifen. Denn sie sank förmlich in ihrem Sessel zusammen und erwiderte nichts.
Auch ich schwieg jetzt, da jedes Wort die Wirkung schwächen musste.
Nach einer ganzen Weile fragte sie, ohne aufzusehen:
»Was wird also geschehen?«
»Das lässt sich natürlich nicht sagen; so ein Prozess …«
»Prozess!« wiederholte sie tonlos.
»… ist ein Lotteriespiel. Er kann gut ausgehen, er kann ebensogut mit einer Verurteilung enden!«
»Und Aenne?« rief sie unwillkürlich und erschrak über sich selbst.
»Viel für die Entscheidung wird davon abhängen, ob die Beziehungen noch fortbestehen.«
»Und dann sind natürlich die Zeugen von Wichtigkeit.«
»Grosser Gott, das erfährt dann am Ende auch mein Mann!«
»Das wird sich, wenn es zum Prozesse kommt, nicht vermeiden lassen.«
Das wirkte wie Keulenschläge. Sie presste die Lippen aufeinander und krümmte den Rücken.
»Aber vielleicht, dass es gar nicht dahin kommt,« sagte ich. »So ein Prozess wäre natürlich auch für die Familie Reinhart unerquicklich. Da der junge Herr auf Reisen ist, so wird man zunächst seine Schwäger vernehmen.«
»Was wissen denn die?« fragte Frau Hoffmann.
»Die waren ja wohl der äussere Anlass, dass Sie sich von Ihrem Manne trennten.«
»Ja – und …?«
»Nun, wenn die Frage, ob durch Ihr Verhalten den Leuten die Gelegenheit zu ihrem Verkehr gegeben wurde, schon bei Ihnen lediglich eine Frage des Gefühls ist, um wieviel mehr muss sie es dann bei denen sein, die ja lediglich die damals in Ihrem Hause gewonnenen Eindrücke wiederzugeben haben.«
»Davon soll es abhängen?« fragte sie.
»In erster Linie!«
»Und kennen Sie deren Gefühle?«
»O ja,« sagte ich.
»Nämlich?«
Ich hoffte, mich durch meinen Blick verständlich zu machen; aber sie verstand mich nicht – und so sagte ich denn:
»Gefühle kann man regulieren.«
Sie sah mich gross an.
»Und da man sie nicht kontrollieren kann, so läuft man keine Gefahr dabei, wenn man sie in einem so ungewöhnlichen Falle wie diesem nach Bedarf einstellt.«
»Ja, aber man muss doch die Wahrheit sagen!« erwiderte sie treuherzig.
»Wo ist die Wahrheit?« fragte ich. »Wie oft täuscht man sich über seine eigenen Gefühle.«
»Das ist dann doch wohl anders,« sagte sie, »hier täuscht man doch andere.«
»Meine liebe Frau Hoffmann,« sagte ich, »meine Mission ist erfüllt. Um es kurz zu wiederholen: Gegen Sie schwebt ein Verfahren. Wenn die Schwäger des jungen Herrn Reinhart in einem für Sie ungünstigen Sinne aussagen, sind Sie geliefert – es kommt zum Prozess, und Sie marschieren ins Zuchthaus.«
Frau Hoffmann sank wieder in sich zusammen.
»Ich denke mir nun, wenn diese Herren Grund haben, Ihnen freundlich gesinnt zu sein, dass sich dann diese ganze Liebelei und alles, was drum und dran hängt, also auch die Rolle, die Sie darin spielen, in ihren Köpfen sehr harmlos ausnehmen wird und dass ihre Aussagen Sie also entlasten werden. Sind die Herren aber gegen Sie eingenommen, was ist natürlicher, als dass sich in ihren Köpfen das Bild von den Vorgängen verschiebt, dass sie – ohne ihrem Gewissen Gewalt anzutun – alles in einem für Sie ungünstigen Lichte sehen – und Sie belasten.«
»Ich sehe das ein!« sagte sie, »und will jedes Opfer bringen – jedes! Aber was kann ich für sie tun? Ich bin nichts. Ich habe nichts. Ich will mein lebelang für sie arbeiten, ohne dass sie mich zu bezahlen brauchen – aber was kommt es ihnen darauf an? Ich weiss ja nicht, was ich für sie tun kann?«
»So will ich es Ihnen sagen. Es gibt nur eine Rettung für Sie! Die Trennung Ihrer Tochter von Herrn Reinhart!«
Frau Hoffmann fuhr in ihrem Stuhl zurück.
»Sie sind die einzige, die das bewirken kann,« sagte ich.
»Ich soll mein Kind opfern?« – Sie schüttelte den Kopf. – »Nein! Das tue ich nicht!«
»Ihre Tochter wird nicht daran zugrunde gehen.«
»Es wird nur darauf ankommen, es ihr richtig beizubringen!«
»Ja, glauben Sie denn, dass ich die Sache mit Peter jemals zugegeben hätte, wenn ich nicht genau wüsste, dass sie einfach nicht los kann?«
»Es käme auf den Versuch an! Sie muss natürlich Zerstreuung haben. Unter Menschen gehen. Wenn sie Abend für Abend zu Hause sitzt, kann sie natürlich nicht auf andere Gedanken kommen. Aber wenn sie in lustiger Gesellschaft ist, wird sie zunächst mal abgelenkt werden; sie wird sehen, dass es ausser ihrem Peter auch noch andere ganz passable Männer gibt. Man muss ihr gar keine Zeit lassen, nachzudenken. Sie muss von einem Vergnügen ins andere! Darf aus der Feststimmung gar nicht herauskommen! Je toller, desto besser! In einen Wirbel muss sie hinein, und dass sie heil herauskommt, dafür übernehme ich die Verantwortung.«
»Und wo, meinen Sie, sollte das enden?«
»Irgendwo! Was spielt das für 'ne Rolle? Unter uns, Frau Hoffmann, einen Freund, wie den jungen Herrn Reinhart, findet Ihre Tochter noch alle Tage.«
»Sie kennen mein Kind ja nicht!« rief Frau Hoffmann, die sich in grosser Erregung in ihrem Sessel hin und her bewegte, »sonst würden Sie es nicht übers Herz bringen, so zu reden! – Nein!! Für den Preis nicht! – Dann will ich lieber auch das noch auf mich nehmen!« Und sie wies auf die Ladung, die vor ihr auf dem Tischchen lag. – Plötzlich wandte sie sich zu mir und sah mich gross an; irgendein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
»Grosser Gott!« rief sie, »Sie werden sich doch nicht etwa hinter meinem Rücken an Aenne wenden?«
Natürlich! Sie konnte nicht wissen, aus welchem Grunde ich mich an sie und nicht an ihre Tochter wandte. Ich hütete mich wohl, es ihr zu sagen. Und von selbst kam sie nicht darauf, dass Aenne sich, wo es sich um die Not ihrer Mutter handelte, an Peter wenden würde, der dann – was blieb ihm weiter übrig? – bei seinem übertriebenen Pflichtgefühl, ohne viel nach seiner Familie zu fragen, zurückkehrte. Und damit war dann die Partie für uns verloren!
Ich konnte der Alten also mit gutem Gewissen das Versprechen geben, das sie verlangte. Noch einmal drang ich in sie, und ich war überzeugt von dem, was ich sagte, wenn ich ihr von den Chancen sprach, die sich gerade ihrer Tochter in der grossen Welt böten. Sie sollte mir daher helfen, dieser aussichtslosen Liebelei mit einem jungen Menschen, der noch nicht einmal trocken hinter den Ohren sei, ein Ende zu machen. Im Interesse des Prozesses, wie im Interesse der Zukunft ihrer Tochter. Und dabei sah ich in Gedanken das Mädel wieder, wie vor einer Stunde, auf der Strasse gehen. Ich ereiferte mich immer mehr:
»Alle Welt wird sich um sie schlagen! Also, noch einmal, Frau Hoffmann, vergessen Sie nicht, was auf dem Spiele steht, und sagen Sie ja!«
Jetzt erst sah ich, dass die Alte am ganzen Körper zitterte und kreidebleich war.
»Die Ehre meines Kindes steht auf dem Spiele!« fuhr sie mich an.
Da verlor ich die Geduld; denn nun sah ich: ich hatte alle Mühe umsonst verwandt.
»Sehr lustig!« sagte ich spöttisch. »Wie oft verspielt Ihre Tochter denn so ihre Ehre?«
»Warum verleumden Sie mein Kind? – Wissen Sie etwas? – Aber ich sage Ihnen gleich: es ist eine Lüge! Meine Aenne verliert sich nicht!«
Das ging mir denn doch über den Spass:
»Liebe Frau,« sagte ich, »die Verstellung nützt Ihnen nichts. Und wenn Sie jetzt auf diesen Prozess hin auch ein Dutzendmal widerrufen; es bleibt bestehen, dass Sie um den Verkehr Ihrer Tochter gewusst haben.«
»Habe ich! habe ich!« eiferte die Alte, »und damit Sie es genau wissen, es gab sogar Stunden, wo ich es nicht einmal verwünscht habe – wo ich beinahe froh war und mir gesagt habe: wer weiss, vielleicht hat sie recht!«
»Soo?« sagte ich vorwurfsvoll.
»Jawohl! Das habe ich gesagt, wenn ich das Glück Aennes sah und dann an meine Jugend dachte. Ganz froh war ich dann und hab die Augen zugemacht und mir gesagt: sieh nichts!«
Ich liess sie reden.
»Ich wusste ja, wo sie hinging; du lieber Gott, was hat sie sich manchen Tag gequält, um für mich und den Vater einen Grund zu finden, um aus dem Hause zu kommen. Manchmal, da konnt ich's kaum noch mit ansehen; da hab ich denn ganz ahnungslos getan und gesagt: Geh 'ne Stunde in de Luft, Aenne, mach dir Bewegung, wo du den ganzen Tag über still sitzt. – Dann strahlte Aenne, und weg war sie. –«
Sie schien ganz zu vergessen, dass ich da war. Wie für sich selbst, brachte sie die alten Erinnerungen hervor und vergass dabei den Ernst des Augenblicks.
»Nun will ich nur hoffen, dass sie sich in dem Peter nicht täuscht; aber ich glaub schon, dass er zu ihr hält.«
Ich hatte mein Notizbuch herausgezogen und eifrig mitgeschrieben. »So!« sagte ich.
Frau Hoffmann, die ganz verträumt war, riss die Augen auf und sah mich an.
»Richtig!« sagte sie, »Sie sind ja da!« und fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Was machen Sie denn da?«
»Hm,« sagte ich, »nichts von Bedeutung! Ich notiere mir nur ein paar Worte, nicht der Rede wert! Nicht wahr, ich habe Sie doch recht verstanden?« ich las: »Ich wusste ja, wo sie hinging – so sagten Sie doch wohl, – du lieber Gott, was hat sie sich manchen Tag gequält, um für mich und den Vater einen Grund zu finden, um aus dem Hause zu kommen. Manchmal, da konnt ich's kaum mit ansehen, da hab ich denn ganz ahnungslos getan und gesagt: Geh 'ne Stunde in de Luft, Aenne …«
»Was soll das?« fragte sie ahnungslos.
»Man kann nicht wissen!« erwiderte ich. »Am Ende, dass man mein Zeugnis auch verlangt. Und da man vereidigt wird, so ist es immer gut, man beugt Irrtümern vor.«
Sie begriff noch immer nicht, worauf es ankam.
»Ja – ja,« sagte sie ängstlich, »der Prozess! – Was wird das werden?« Und sie sah mich an, als wenn sie bei mir Hilfe suchte.
»Auf die Gewährung und Verschaffung von Gelegenheit kommt es an,« sagte ich und hielt ihr mein Notizbuch unter die Nase. »Dies Blatt hier bricht Ihnen das Genick«
Wie entgeistert sah sie mich an. Dann flogen ihre Augen über das Papier – sie war starr; denn sie begriff.
»Versprechen Sie mir die Trennung der beiden Leute, und dies Blatt gehört Ihnen!« sagte ich und machte Anstalten, es herauszureissen.
Da bekam ihr Gesicht einen verächtlichen Ausdruck.
»Nein!« sagte sie und schüttelte den Kopf, »ich werde es nicht tun.«
»Sie müssen ja wissen,« erwiderte ich.
Sie verzog den Mund, sah mich von oben bis unten an und sagte:
»Ein feiner Mann sind Sie!«
Ich lachte.
»Törin!« sagte ich. »Sehen Sie denn noch immer nicht ein, worauf es ankommt. Und wenn Sie tausendmal im Rechte sind, es nützt Ihnen gar nichts. Wir kämpfen gegen die Mutter, die ihr Kind verkuppelt. Wir werden das nötige Pathos schon aufbringen. Die Moral ist auf unserer Seite!«
»Lassen Sie mich allein!« forderte Frau Hoffmann. – Sie wies mir die Tür; denn sie sagte es so bestimmt, dass ich ganz unwillkürlich nach meinem Hut griff und mich zum Gehen wandte.
Für heute war es genug. Jetzt brauchte sie Musse, um innerlich zu verarbeiten, was ich ihr beigebracht hatte. Blieb sie halsstarrig, womit ich rechnen musste, so blieb immerhin ihr Geständnis, und auf das hin kapitulierte die Tochter. Denn das konnte selbst Peter nicht entkräften!
Alles in allem also ein Erfolg! Ein sachlicher – aber auch ein ideeller; denn ich muss immer an Aenne denken und an ihren Gang, der mich so erregt.«
Eine Pause, Peter! um zu begreifen, was in diesen Seiten steckt! Die ganze Niedertracht eines mitleidslosen Menschen; aber auch die ganze Grösse und Güte meiner Mutter! Das hat sie mit sich herumgeschleppt, ohne mit mir oder sonst einem Menschen davon zu sprechen. Das hat sie um uns gelitten! Und ich dachte wunder, was ich tat, wenn ich die Sorgen, die mich drückten, für mich behielt!
Ich will Dich damit verschonen, Peter, was ich beim Lesen dieses Protokolls empfand. Nur das sollst Du wissen: Ich fiel vor ihrem Sessel auf die Knie und betete zu ihr. Und in meinem Herzen regte sich ein Gefühl, das mehr als Kindesliebe war. Wie ich zu Gott bete, betete ich zu Mutter. Wenn ich sie, als sie starb, verloren hatte – in dieser Nacht gewann ich sie zurück. Wie mein Herz an Gott hängt, so hängt es nun an ihr. Mutter ist mir heilig geworden!
Weisst Du, Peter, ich glaube, das ist mehr als Liebe, – das ist Religion!
»
In Sachen Aenne Hoffmann«:
Protokoll III.
Ich war zur Berichterstattung an Zobel befohlen. Als ich hinkam, war die Familie bereits versammelt.
Ich hatte mich draussen mit dem Diener, der mir den Mantel abnahm, in ein gleichgültiges Gespräch eingelassen, um von der Unterhaltung, die drin ziemlich laut geführt wurde, etwas zu hören. Ich überzeugte mich schnell, dass sie von Geschäften sprachen, und trat ein.
Ich hatte meine beiden Onkel seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen, ging auf den Medizinalrat zu und reichte ihm die Hand.
»Tag, Onkel,« sagte ich, »wie geht's?«
Er gab mir kaum zwei Finger, sah mich gar nicht an, sagte kurz: »Tag!« und beschäftigte sich dann wieder mit Schriftstücken, die vor ihm lagen.
Auch die Begrüssung des Justizrats liess an Herzlichkeit zu wünschen übrig. Das fiel selbst Zobel auf, und er sagte:
»Na nu, habt euch man nicht! Wenn ich nicht irre, haben wir hier in dem Zimmer vor ein paar Wochen ein gewisses Fräulein Hoffmann empfangen.«
»Und wie empfangen!« bestätigte Moll. »Wie 'ne Hofdame!«
»Na also, am Ende steht uns ein Familienmitglied, selbst wenn's in seiner Spielwut mal daneben gehauen hat, näher, als 'n ixbeliebiges Frauenzimmer.«
»Mir ist es ganz lieb,« sagte der Justizrat zu Zobel, »dass du das hier zur Sprache bringst. Wenn mein Bruder und ich euch beiden auch plein pouvoir in der Angelegenheit Peters gegeben haben, so protestieren wir doch in aller Form …«
»Lieber Onkel,« unterbrach ihn Moll, »der Zweck heiligt die Mittel.«
»Nein!« sagte der Medizinalrat und bekam einen roten Kopf. »Es ist eine infame Kränkung für Peter, die Erledigung einer Angelegenheit, die ihm ans Herz geht, einem Menschen zu überlassen, der jeden Anspruch auf Achtung verloren hat.«
»Wenn es sich um eine saubere Angelegenheit handeln würde, so wären wir auch in der Wahl der Mittel peinlicher verfahren,« erwiderte Zobel.
»Sehr richtig,« stimmte Moll bei; »aber wenn man schon mal in der Familie so 'n …« Er zögerte.
»Sag ruhig mauvais sujet,« ergänzte ich, und Moll sagte:
»Das wollte ich natürlich nicht sagen. Jedenfalls aber ist es doch angenehmer, als einen wildfremden Menschen in unsere Familienangelegenheiten reinsehen zu lassen.«
Der Justizrat wandte sich jetzt an mich.
»Ich denke doch, wo du unsere Ansichten nun kennst, dass du selbst so viel Takt hast, um zurückzutreten.«
Ich musste lachen.
»Habt ihr schon mal ein mauvais sujet mit Takt gesehen?« fragte ich, »und könnt ihr erwarten, dass ich taktvoller bin, als meine hochverehrten und angesehenen Herren Vettern? – Im übrigen, ich dränge mich nicht! …Bitte, wenn ihr einen andern wisst, ich verzichte.«
»Davon kann natürlich keine Rede sein,« widersprach Zobel. »Wir sind froh, dass wir dich haben. Du hast dich durchaus bewährt, und wir haben allen Grund, mit dir zufrieden zu sein.«
Die alten Herren sprachen leise ein paar Worte miteinander. Dann sagte der Medizinalrat:
»Hat das von mir angeregte Heiratsprojekt übrigens Fortschritte gemacht? Ich wiederhole, dass dieser Vorschlag in erster Linie den Zweck hat, auch bei Peter die Trennung zu betreiben. Schon wenn er im Prinzip einer Ehe zustimmt und das schriftlich zum Ausdruck bringt, so wird man damit bei Fräulein Hoffmann mehr erwirken als mit Daumschrauben und Kniffen, die einmal unfair sind und sie andererseits in ihrem Widerstand nur bestärken.«
»Auch da habe ich einen Fühler ausgestreckt,« sagte Zobel. »Und zwar bin ich einfach zu dem bekannten Geheimrat Rosen gegangen und habe ihm gesagt: Herr Geheimrat, mein Schwager liebt Ihre Tochter.«
»Wie bist du denn gerade auf den gekommen?« fragte der Justizrat.
»Das würdest du bei jedem fragen,« erwiderte Zobel. »Ich habe mir einfach ein Dutzend unserer bekanntesten Millionäre herausgesucht und nachgeforscht, wer von ihnen eine erwachsene Tochter hat. Der Name Reinhart ist so gut, dass ich es, ohne einen Affront zu fürchten, riskieren konnte.«
»Ja, aber der muss doch ganz verblüfft gewesen sein?«
»Der Geheimrat? Nee! Das heisst: zuerst allerdings. – »Meine Tochter?« fragte er, und als ich sagte: »Ja!« rief er: »Die ist ja gar nicht da!« – »Nicht da?« wiederholte ich. – »Nee! Die ist seit über einem Jahr in Edinburgh in Pension« – und da ich sehr verlegen war und nicht wusste, was ich erwidern sollte, so sah er mich von unten herauf an und fragte: »Sie meinen doch nicht etwa meine Frau?« – Na, das konnte ich mit gutem Gewissen verneinen. Ich blieb also dabei und sagte: »Nein! Ich weiss genau, dass ich Ihre Tochter meine. – Wenn Sie die Güte hätten, – Sie haben gewiss ein Bild.«
»Aber natürlich! Eine ganze Menge!« und er zeigte mir seine Tochter, die ich nie vorher gesehen hatte, im Tenniskostüm, als Reiterin, im Strassenkleid und in Gesellschaftstoilette. Ganz allerliebst! Peter kann sich freuen! – Und ich erklärte: »Natürlich, das ist sie!« – »Sie kennen sie auch?« fragte der Geheimrat erstaunt. – »Aus den Beschreibungen meines Schwagers.« – » Wo ist er?« – »Augenblicklich ist er als Regierungs-Referendar in Südwest. Aber es kommt kein Brief, in dem nicht von Ihrer Tochter die Rede ist.« – Ich sah sofort, wie sehr dem Geheimrat diese Verbindung behagte. – »Mein Herr Baron,« sagte er freundlich, »ich werde mit meiner Frau sprechen; aber ich darf Ihnen heute schon sagen, dass es mich freuen würde, wenn die jungen Leute sich fänden und unsere Familien dadurch in ein verwandtschaftliches Verhältnis träten.«
»Da sieht man wieder,« sagte der Medizinalrat, »Ehen werden im Himmel geschlossen.«
Es folgt der ironisch gehaltene Bericht über den Verlust meiner Stellung und über meine verzweifelten und erfolglosen Versuche, eine neue zu finden. Es ist hier und da vermerkt, dass Deine Schwäger Zeichen des Beifalls geben, während es an einer anderen Stelle heisst: dass das Gesicht des Justizrats immer ernster wurde und der Medizinalrat laut sein Missfallen äusserte.
Am Schluss erklärte der Justizrat:
»Ich will mit den Dingen nichts zu tun haben! Und ich erkläre ausdrücklich, dass ich diese Kampfesweise missbillige. Ich werde meiner Schwester heute noch mitteilen, dass ich mich mit der Angelegenheit nicht mehr befasse.«
Und der Medizinalrat zitterte vor Erregung und brüllte:
»Damit ist es nicht getan! Ich verlange, dass man dem Schinder sein Handwerk legt!«
»Ich stelle zunächst fest, dass wir anfangs in schonendster Weise vorgegangen sind. Dass wir ein nicht alltägliches Entgegenkommen und eine geradezu beispiellose Geduld gezeigt haben.«
»Sehr richtig!« rief Landrat Moll.
»Ich konstatiere ferner, dass der Erfolg ein negativer war; dass der Widerstand um so bestimmter wurde, je rücksichtsvoller wir verfuhren. Wir haben uns nicht gescheut, persönlich mit dem Mädel zu verhandeln. Mein Schwager, der Landrat, und ich haben uns so weit erniedrigt, in das Haus dieser Leute zu gehen. Man hat uns geschmäht, ja, man hat uns tätlich angegriffen. Da endlich haben wir es an der Zeit gehalten, andere Saiten aufzuziehen. Wir haben erkannt: ehe man dem Pack nicht an die Gurgel geht, bis ihnen der Atem wegbleibt, gibt es nicht nach. Wir haben eine geeignete Persönlichkeit gesucht und in unserem ehemaligen Verwandten Hermann Seifert gefunden. Es hat sich gezeigt, dass unsere Wahl eine richtige war. Und nun, wo wir endlich vorwärtskommen, wo wir zum ersten Male einen kleinen Erfolg zu verzeichnen haben, kommt ihr mit falschen Sentiments und schreit: Halt! Aber wir denken gar nicht daran, auf halbem Wege stehen zu bleiben! Wir gehen jetzt bis zu Ende!«
»Bravo!« rief Moll.
»Ich will euch nicht halten,« erwiderte der Justizrat, »und ich gebe auch zu, dass, wenn durchaus ein Ende gefunden werden muss – und das ist ja wohl der Fall – dass es dann ohne Schrecken nicht abgehen wird. Ihr als Schwäger habt ein vitaleres Interesse an der Lösung als wir. Ich ziehe mich zurück.«
Er gab seinem Bruder ein Zeichen. Beide standen auf.
»Schade!« rief Zobel.
»Was nicht geht, geht nicht!« meinte Moll; und der Medizinalrat, der noch immer einen ganz roten Kopf hatte, erklärte:
»Alle Verantwortung auf euch.«
Sie verbeugten sich und gingen, ohne dass sie einem von uns die Hand reichten, hinaus. Als sie draussen waren, sagte Zobel:
»Hasenfüsse!«
Und Moll ging noch einen Schritt weiter und fletschte:
»Waschlappen!« Und beide liefen, die Hände in den Hosentaschen, erregt im Zimmer umher. Der Protest der Onkel ärgerte sie doch.
»Ich kann nun wohl in meinem Bericht fortfahren?«
»Los!« sagte Zobel.
Und ich referierte:
»Die alte Hoffmann ist inzwischen verantwortlich vernommen worden. Sie ist arg herunter. Ihr Herz revoltierte so stark, dass ein Arzt hinzugezogen wurde, der ihren Gesundheitszustand sehr skeptisch beurteilt. Auf den Richter hat sie, was ich von Anfang an befürchtete, einen vorzüglichen Eindruck gemacht. Wenn ich nicht ihr Geständnis hätte, mit dem ich natürlich bis zuletzt zurückhalte, und auf das hin man sie ja verurteilen muss, – ich glaube, das Gericht würde das Verfahren einstellen.
Da die Nachricht von der Stellungslosigkeit ihrer Tochter, die ich ihr gestern übermitteln liess, sonderbarerweise weit stärker auf sie wirkte, als seinerzeit die Zustellung des Gerichts, so glaube ich, dass man die stark erschütterte Widerstandsfähigkeit der alten Frau aus Furcht vor einer Katastrophe, die uns in diesem Augenblicke sehr ungelegen käme, eine Zeitlang schonen muss.«
»Ausgeschlossen!« rief Moll. »Ewig diese Schonerei!«
»Doch, doch!« widersprach Zobel. »In dem Falle hat Seifert recht. Wenn wir so weit sind, um zu dem entscheidenden Schlage auszuholen …«
»Wir sind so weit!« sagte ich.
Sie sahen mich an.
»Jetzt, wo es kein anderes Mittel mehr gibt, die Mutter zu retten, ist es Zeit, an die Tochter heranzutreten. Die Konstellation lässt ihr gar keine Wahl. Wenn ich jetzt auf sie einstürme – bedenkt doch, sie weiss von nichts, ist völlig ahnungslos und sieht nun plötzlich die Gefahr, in der ihre Mutter schwebt. Und nun komme ich und ich sage ihr: es gibt ein Mittel, Sie können sie retten! – Nun, ich verbürge mich dafür – morgen abend habe ich ihren Abschiedsbrief an Peter in Händen.«
»Wir wollen's hoffen,« sagte Zobel.
Das Telephon knatterte, wohl zum zehnten Male in dieser Stunde.
»So geh schon ran!« sagte Moll.
Zobel ging an den Apparat.
»Halloh!« rief er. »Was? Wen? – Herrn Seifert? … Ja, den können Se haben!«
Ich nahm den Hörer.
»Was ist?« fragte ich. – »Ah so! Greif! Na, hab'n Se was Neues?«
»Leider!«
»Wie? Hat sie etwa eine Stellung?«
»Nein. – Aber sie war bei ihrem Vater.«
»Wann?«
»Heute mittag – eine Stunde lang.«
»Weiter!« drängte ich.
»Sie lief von da aus nach Hause, und es dauerte nicht lange, da kam sie, mit der Mutter am Arm, wieder herunter.«
»Weiter!«
»Sie hob sie in einen Wagen und fuhr mit ihr wieder zum Vater.«
»Weiter!«
»Der junge Pedell erwartete sie an der Tür; der alte kam hinzu, hob sie aus dem Wagen und trug sie hinauf. Aenne folgte.«
»Weiter!« drängte ich.
»Kurz und gut – der Schluss ist – ich erfahre es eben –«
»Was, was?« rief ich kurz.
» Die Alte ist tot.«
»Verflucht!«
»Ob sie sich nun selbst, oder ob der Alte, oder ein Herzschlag, das alles konnte ich noch nicht erfahren.«
Ich schmiss den Hörer hin.
»Die Alte ist tot!« wiederholte ich.
» Die Alte?« fauchte Moll wütend.
Ich nickte nur.
»Schlehmil!« sagte Zobel, klopfte mir auf die Schulter und zündete sich eine Zigarette an.
Wir sprachen nichts mehr.
Aber alle drei dachten wir: warum nicht lieber die Junge!
*
So! Da steht es nun, was Du von der »Tätigkeit Deiner Familie« – so heisst es mehrfach in den Protokollen – gegen mich wissen sollst und wissen musst, um zu verstehen, was nun folgt: worüber ich mir selbst noch im unklaren bin.
Wenn mich bisher trotz allem, was geschah, immer der Gedanke an Dich erfüllte und aufrecht hielt, so ist mir jetzt, wenn ich meine Gedanken von dem, was ich leide, fort und Dir zu dränge, als wenn irgend was in mir nicht mehr reagiere wie früher.
Wie soll ich nur sagen? Wenn ich sonst an Dich dachte, jauchzte meine Seele; alles strahlte in mir und schien mir hell und heiter.
Jetzt ist mir, als hätte ein dumpfer Schlag meine Seele gelähmt, als stände sie still – siehst Du, das ist es! Sie bebt und schwingt nicht mehr! Wenn die Liebe auch blieb, das Glück ist tot.
Möglich, Peter, möglich, dass die Zeit das ändert; dass das Gefühl zurückkehrt. Ich stehe noch zu sehr unter dem Druck der Erlebnisse, als dass ich frei atmen könnte.
Als ich heute abend nach Hause kam, stand dieser Seifert in meinem Zimmer.
Ich blieb in der Tür stehen.
»Das ist schon Wahnsinn!« schrie ich ihn an. »Wenn ich etwas in der Hand hätte, ich würde auf Sie losschlagen, ich würde Sie in Stücke reissen, Sie Hund! Sie Mörder Sie!«
Seifert rührte sich nicht. Er verzog keine Miene.
»Und ich würde mich schlagen lassen und mir sagen, mir geschieht recht,« sagte er und stand wieder so jämmerlich da wie gestern abend.
»Wie sind Sie hier hereingekommen?« fragte ich.
»Ich sagte der Wirtin, ich wäre ein Verwandter.«
»Wie kommen Sie dazu?«
»Da ich Peters Vetter bin, so ist das nicht einmal eine Lüge.«
»Und was wollen Sie?«
»Ihnen helfen.«
Ich sah ihn verächtlich an und lachte.
»Sie mir? Wenn ich bis dahin im Schmutz sässe und nur nach Ihrer Hand zu greifen brauchte, um herauszukommen, ich würde mich noch tiefer hineinbohren; so viel schmieriger als der ärgste Schmutz sind Sie und Ihre Hand und alles, was mit Ihnen zusammenhängt.«
»Sie haben recht!« sagte er und schien förmlich in sich zusammenzusinken …»Ich bin die miserabelste Kreatur.«
»Und Sie werden begreifen, dass ich mit der nichts zu tun haben will.«
»Sie sind der einzige Mensch, der mir helfen kann.«
»Und Sie der einzige, den ich umkommen liesse – lächelnd und teilnahmslos – und wenn ich im Ueberfluss sässe.«
»Sie können mich bessern.«
»Ich fühle nicht das Bedürfnis.«
»Sie können einen anständigen Menschen aus mir machen.«
»Ich würde jede gute Tat an Ihnen als eine Sünde empfinden.«
»Vergessen Sie nicht, es lag keine Not vor, ich habe mich Ihnen freiwillig zu erkennen gegeben.«
»Der Himmel weiss, was Sie damit bezwecken.«
»Ich sagte es ja – um mir zu helfen.«
»Wodurch?«
»Indem ich Ihnen half, indem ich gutmachte, ein anderer wurde –«
»Ich glaube nicht an diese Wandlung.«
»Wenn es mir nicht Ernst wäre, warum hätte ich Ihnen dann«, er wies auf den Tisch, auf dem die Protokolle lagen, »die Waffen gegen mich in die Hand gegeben? Ich wusste, Sie würden mich hassen – aber ich wollte, dass Sie alles wissen – denn nur, wenn Sie alles wussten, gab es eine Sühne für mich.«
»Sie wollten sich in mein Vertrauen schmuggeln, wahrscheinlich um irgendeine neue Gemeinheit zu begehen. Aber ich brauche keine Hilfe! Jetzt nicht mehr! Ich helfe mir selbst!«
Die Hilflosigkeit, mit der er jetzt dastand, verwirrte mich einen Augenblick. Seine Reue schien echt, aber sie rührte mich nicht. Er zitterte, sah weiss wie Linnen aus, Tränen traten ihm in die fahlen Augen, die, an sich schon glasig, jetzt wie blind aussahen.
»Wenn Sie mich abweisen, wenn Sie mir die Möglichkeit nehmen,« er schluchzte laut, »dann ist es aus, dann bleibt mir nur übrig, mich aufzuhängen.«
Er sah grässlich aus, so grässlich, dass es mich kalt überlief. Ich sah ihn in Gedanken schon vor mir hängen. Als wenn kein Tropfen Blut mehr in seinem Körper wäre; um den verzerrten Mund zuckte es unaufhörlich, man sah förmlich, wie ihn die Kraft verliess, wie er immer mehr in sich zusammensank.
Da war ich unschlüssig! »Er bereut!« sagte ich mir immer wieder und suchte gegen meinen Hass anzukämpfen.
Eben wollte ich auf ihn zu gehen, da fiel mein Blick auf Mutters leeren Sessel, auf den er eben niedergleiten wollte. Mit einem Ruck stand ich schirmend davor und riss ihn zurück. Er taumelte gegen die Wand. Und an die Wand gelehnt, machte er nun noch mehr den Eindruck eines Erhängten.
»Ich will ihm helfen,« sagte ich mir. »Mutter hätte ihm auch geholfen. Trotz allem.«
Ich sah ihn an. Anfangs rührte er sich nicht. Aber allmählich schienen sich seine Züge zu verändern. Er zitterte am ganzen Körper, seine Spinnenfinger krampften sich zusammen; der Schleier über seinen Augen wich, die Pupillen stachen scharf hervor, die Nüstern gerieten in zuckende Bewegung, der ganze Körper, der vorhin einen hängend schlappen Eindruck machte, spannte sich jetzt wie ein Draht, ein harter Griff schob rechts, dann links schnell die Haare zur Seite, dann trat er auf mich zu und zischte:
»Also gut! Dann nicht!«
Ich riss den Mund auf und starrte ihn an.
Es war, als wenn jetzt ein anderer sprach; seine Stimme klang heiser, er schluchzte nicht mehr.
»Ich habe mir eingeredet, je rückhaltloser ich mich Ihnen offenbare, um so eher würden Sie mir vertrauen. Ich habe gedacht, je grösser meine Schuld ist, um so eher würde man mir meine Reue glauben. Ich habe bei einer Frau mit Logik gerechnet. Es war, wie immer, verkehrt. Der Instinkt war schärfer. Also gut, ich gebe zu, es war Bluff. Ich wollte Ihr Vertrauen – wozu, ist gleichgültig.«
Ich musste mich an der Lehne von Mutters Sessel halten, so war mir das Entsetzen in die Glieder gefahren.
»Das …gibt …es!« stiess ich hervor und staunte dies Ungeheuer von Menschen an.
Er verzog den Mund:
»Wenn ich bitten darf, kein Theater. Ich bekenne mich für geschlagen. Ich weiss jetzt, dass Ihnen hinten herum nicht beizukommen ist. Das ist immerhin was. Hätte ich das von Anfang an gewusst: Der Nervenverbrauch auf beiden Seiten wäre geringer.«
»Wollen Sie mich …nun endlich allein lassen?« fragte ich.
Er tat, als wenn er es überhörte, und fuhr fort:
»Ich ändere also meine Taktik.«
»Es ist mir ganz gleichgültig, was Sie tun,« sagte ich, »gehen Sie!«
»Nein! Erst hören Sie mich an.«
»Ich will nicht!«
»Sie werden es trotzdem tun!«
Er richtete seinen Blick auf mich, und mir fehlte die Kraft, das Zimmer zu verlassen.
»Ich kann, da uns niemand hört, ganz offen mit Ihnen sprechen. Was wir wollen, wissen Sie! Dass wir unseren Willen durchsetzen, über Leichen gehen, haben Sie gesehen. Und dass wir die Stärkeren sind, werden Sie inzwischen auch gemerkt haben. Wir werden Sie von Peter losbekommen, verlassen Sie sich darauf. Dass Sie sich an den Jungen klammern, begreif ich. Jede kluge Frau an Ihrer Stelle täte das! Und für die Chance, statt eines kleinen Beamten, wie er Ihnen zukommt, sich einen Jungen wie diesen Peter zu erobern, opfert man viel, wenn es sein muss, die eigene Mutter!«
Ich wollte erwidern.
»Lassen Sie nur!« sagte er mit einer Miene, als wären das ganz selbstverständliche Dinge, die er da vorbrachte. »Ich weiss auch: Peter ist ein Imponderabile; richtig beeinflusst, wird er zu Ihnen halten.«
Ich suchte zu widersprechen.
Er wehrte ab.
»Ich weiss schon, was Sie sagen wollen. Aber glauben Sie mir: Ihrem Einflüsse entzogen, flaut die Sache bei ihm ab. Wir werden ihm eine Frau nach der anderen in die Hände spielen, eine immer reizvoller als die andere. Wir werden ihn bestimmen, falls ein Jahr nicht ausreicht, um sich zu emanzipieren, ein zweites Jahr zu bleiben. Wir werden ihm mit Entmündigung und Ausschluss aus der Familie drohen. Seine Mutter wird sich von ihm lossagen und ihn enterben – kurz, Sie sehen, die Mittel und Wege sind unerschöpflich. Da sie aber langwierig sind, so haben wir nicht bei ihm, sondern bei Ihnen begonnen. Wir haben Sie ausgehungert, es nützte nichts; wir haben Ihrer Mutter einen Prozess an den Hals gehängt, sie ist darüber hinweggestorben; anderenfalls wäre der Feldzug heute beendet. Ich will Ihnen auch unser nächstes Mittel verraten: wir wollen Sie auf Männer und Männer auf Sie hetzen. Man braucht nur Ihren Gang zu sehen, um zu wissen, dass es leichter ist, Ihr Blut in Wallung zu bringen, als Sie auszuhungern. Eines Tages würden Sie der Versuchung erliegen, verlassen Sie sich darauf, bewusst oder unbewusst; der Erfolg bleibt derselbe. Und schon am nächsten Morgen wäre ein Brief an Peter unterwegs, der ihm den Vorgang, mit den schönsten Details geschmückt, übermittelt!«
»Sie sind wahnsinnig!« rief ich, »hören Sie auf!«
»Sie sehen, ich halte meine Trümpfe nicht geheim. Ich bin meiner Sache sicher. Auch wenn Sie meine Karten kennen.«
Du kannst Dir denken, Peter, wie empört ich war. Aber er liess mich nicht zu Worte kommen. So oft ich etwas erwidern wollte, wehrte er ab:
»Lassen Sie nur! Ich weiss genau, was Sie sagen wollen. Aber sparen Sie sich das. Ich will Ihnen nämlich etwas verraten: alle diese Mittel werden nicht in Anwendung kommen.«
Ich sah ihn erstaunt an – und er fuhr fort:
»… da ich entschlossen bin, heute noch die Entscheidung herbeizuführen.«
Das verwirrte mich, und ich fragte:
»Was haben Sie vor?«
»Nicht mehr von Ihrer Seite zu gehen.«
»Was heisst das?«
»Dass diese Kampagne damit enden wird, dass Sie mein Verhältnis und – falls Sie es verstehen, meine Leidenschaft zu vertiefen – später vielleicht einmal meine Frau werden.«
»Sind Sie verrückt!« schrie ich ihn an.
Er lächelte und verriet nicht die geringste Erregung.
»Sie haben mir gleich am ersten Tage gefallen,« sagte er mit einer selbstverständlichen Ruhe, als wenn eine lange Bekanntschaft zwischen uns zur Aussprache drängte. »Ich habe Sie oft verfolgt und mich an Ihrem Gang erregt.«
»Hören Sie auf!« brüllte ich. »Machen Sie, dass Sie fortkommen!«
»Der Entschluss, Sie zu meinem Verhältnis zu machen und damit allen zu dienen, nicht zuletzt Ihnen, denn ich werde natürlich dafür sorgen, dass Sie glänzend abgefunden werden, dieser geniale Gedanke kam mir, als Sie vorhin an dem Sessel lehnten. Da war etwas an Ihnen, was mich masslos erregt hat, da hab ich mir gesagt: die Frau musst du besitzen, ohne daran zu denken, dass ja damit der Fall Peters erledigt …«
»Den Namen nicht!« schrie ich.
»Da – da!« sagte er strahlend und wies auf mich mit dem Finger, »eben war es wieder da, bleib so stehn! prachtvoll! prachtvoll!!« rief er; ich führte die Hände vors Gesicht. – »Herunter mit den Händen!« rief er. Ich wollte zur Tür. – Ich suchte die Füsse zu setzen – es gelang mir nicht. – Ich sah, wie er die Hände hob und auf mich losstürzte. – Ich riss den Mund auf, um zu schreien – kein Ton kam heraus. – Ich sah, wie er vor mir stand, und spürte seinen Atem. – Er packte mich wie ein Tier und riss mich an sich. – Ich schlug meine Nägel in seinen Nacken und biss wie rasend in sein Gesicht. – Er taumelte und schlug an den Sessel, der krachend zusammenbrach. Er schrie laut auf, als er mit dem Kopf zu Boden schlug, und riss mich mit sich. Ich machte mich frei und stürzte zur Tür – sie war verschlossen!
Er lag noch immer am Boden und blutete aus vielen Wunden.
»Den Schlüssel!« schrie ich.
Ueber sein schmerzverzerrtes Gesicht ging ein Lächeln – er mühte sich auf – ich schlug an die Tür.
»Das nützt nichts!« sagte er stöhnend.
Ich wollte ans Fenster. Er verstellte mir den Weg.
»Setz dich ruhig hin!« sagte er, »ich tue dir nichts.«
Er wankte zur Waschtoilette, wusch sich und brachte seine Kleider in Ordnung. Ich lehnte zitternd an einen Schrank. Dann nahm er von Mutters Tischchen meine Photographie und steckte sie ein. Dabei grinste er mir zu – »Dank schön!« sagte er. »Nächstens da schreibst du mir eine Widmung rauf, eine zärtliche! Wie's sich schickt, nun, wo du mein warst!«
Mir war, als bliebe mir der Verstand stehen.
»Wa …a …s?« rief ich.
Er lachte laut auf.
»Leugne es nur! Man glaubt dir doch nicht. Da!« – Und er zog einen Ring aus der Tasche – ich traute meinen Augen nicht! – Dein Ring, Peter, den ich – Gott weiss, mit was für Tränen! – aufs Leihamt getragen hatte. Er muss mir den Schein entwendet und ihn dann eingelöst haben.
Er zog den Ring auf den kleinen Finger.
»Wie reich du mich beschenkst!« sagte er. »Nun, ich lasse mich auch nicht lumpen. Da!« – Er legte ein geschlossenes Kuvert auf den Tisch. »Und nun will ich die fröhliche Botschaft der Familie melden. Die wird eine Freude haben!«
Er ging langsam zur Tür, zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Dann wandte er sich zu mir und rief:
»Auf Wiedersehen, Aenne!« und ging.
Ich hörte noch, wie er die Treppe hinabging; dann verliess mich das Bewusstsein, ich brach an dem Schrank zusammen.
*
Des Nachts schrieb ich Dir einen langen Brief, Peter! Da er mich ruhiger machte, so hat er seinen Zweck erfüllt – und geht nicht ab.
Indessen war ich mir klar: irgend etwas musste geschehen. Ich war heut morgen ausserstande, etwas zu tun, und bat Frau Lehmann um Dispens. Sie sah es nicht gern. Sagte aber nicht nein. Sie stellte einen Ersatz ein und belastete mich mit fünf Mark. Ich ging erst ohne Ziel durch die Strassen, stieg dann in eine elektrische Bahn und fuhr nach dem Westen. Es war noch nicht elf, als ich vor der Haustür des Medizinalrats stand.
»Warum grade er?« fragte ich, als ich das Schild sah. Nun, die Protokolle gaben die Antwort. Mehr noch als beim Justizrat, dem die Form wohl über das Gefühl ging, konnte ich bei ihm auf Verständnis rechnen. Es fiel mir schwer. Einen Augenblick überlegte ich sogar, ob ich die Vorder- oder Hintertreppe benutzen sollte. Vorn schien mir noch aufdringlicher. Aber hinten – nein! Das ging nicht. Ich läutete also, ein alter Portier öffnete und führte mich eine halbe Treppe hinauf zu einer Diele, wo er mich Platz nehmen hiess.
Ich blieb stehen und sah, wie er eine Glastür öffnete und in einen Wintergarten trat. Die Tür blieb offen. Er ging auf einen alten Herrn zu, der eine Giesskanne in der Hand hielt und den Blumen Wasser gab. Ohne ihn zu erkennen, ahnte ich, dass es der Medizinalrat war. Ein deutscher Schäferhund, der neben einer Riesenpalme lag, bellte, sprang auf und kam auf mich zu. Er beschnupperte mich, liess sich von mir streicheln und ging an mir hoch. Ein Prachtkerl, Peter! Aber Du kennst ihn ja.
Ich sah, wie der alte Herr, in dem ich jetzt genau Deinen Onkel erkannte, erstaunt aufsah, die Kanne zur Seite stellte und durch eine Tür verschwand. Der Diener kam zurück und führte mich den Flur entlang in ein grosses und helles Zimmer, in dem altdeutsche Möbel, breite Schränke, schwere Sessel, Jagdtrophäen und alte Trinkgefässe standen. Ein paar Augenblicke später öffnete sich die Tür, und Dein Onkel trat ins Zimmer.
»Dacht ich's mir doch!« sagte er, schritt auf mich zu und gab mir die Hand. »Bitte nehmen Sie Platz!«
»Sie haben mich erwartet?« fragte ich ganz erstaunt.
»Ja und nein! – Und ich glaube fast, wenn Sie nicht zu mir gekommen wären – wahrhaftigen Gott, ich hätte Sie aufgesucht.«
Er setzte sich mir gegenüber, sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Nicht wiedererkannt hätte ich Sie! So haben Sie sich verändert!«
»Ich glaub's!« sagte ich.
»Ja, ja, was so 'n paar Wochen nicht aus einem Menschen machen können!« – Dann rückte er seinen Sessel näher an den Tisch heran und sagte:
»Also, zunächst mal, ich bin orientiert. Meine drei Neffen waren gestern abend spät noch bei mir – Sie können sich denken: in hoher Stimmung! – und haben es mir erzählt.«
»Was haben sie erzählt?« fragte ich hastig.
»Ich für meine Person kann in die Jubelhymne der Familie nicht einstimmen. Das liegt mir nicht.«
Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen.
»So willkommen mir die Lösung an sich natürlich ist – schon meiner Schwester wegen – mir missfallen die Mittel, durch die man Sie schliesslich dahin gebracht hat.«
»Ja …aber …«
»Ich kann Ihnen mein Mitgefühl nicht versagen – leicht wird es Ihnen ja nicht geworden sein – und dann vor allem: dieser Seifert, der nun Ihr – na, wie sage ich gleich – Ihr Herz wird er ja wohl nicht erobert haben – jedenfalls: es ist ihm gelungen! – Wie, das will ich nicht wissen – also vor diesem Seifert, obgleich er mein Neffe ist, so sag ich es doch – vor dem hüten Sie sich – das ist kein Mensch wie der Peter – das überlegen Sie sich trotz allem, was zwischen Ihnen vorgefallen ist, noch sehr, hören Sie!«
Er wollte noch mehr sagen. Aber ich konnte nicht länger an mich halten und erzählte ihm nun in aller Ausführlichkeit die Vorgänge des gestrigen Abends.
Während er anfangs von einem Staunen ins andere fiel, alle paar Minuten mit der Faust auf den Tisch schlug und empört »Donnerwetter!« rief, wurde er, je weiter ich in meiner Erzählung kam, immer schweigsamer.
Als ich zu Ende war – ich war ganz erschöpft, denn die Erinnerung an alle Einzelheiten erregte mich sehr – da schwieg er noch immer. Erst nach einer ganzen Weile sagte er:
»Ich schäme mich sehr.«
»Aber Sie glauben mir?«
»Jedes Wort!«
»Und Sie werden nicht dulden?«
»Gewiss nicht!« Er stand auf und lief im Zimmer umher: »Das ist ja das reinste Verbrechen! – Ungeheuerlich ist das ja! – Und wenn einen die Sache gar nichts anginge – und wenn es sich um wildfremde Menschen handelte – in einem Falle wie dem, da hat man als Mensch einfach die Pflicht« – Er blieb stehen und sann nach. – »Auch wenn man, wie ich, ausdrücklich erklärt hat, sich um nichts mehr kümmern zu wollen – in einem solchen Falle …« – Er stürzte ans Telephon und liess sich mit dem Justizrat verbinden. In grosser Erregung erzählte er ihm alles. Und das Resultat war, dass er wütend den Hörer hinschmiss und mir zurief:
»Was sagen Sie dazu? Wissen Sie, was mein Bruder erklärt? – Es ist nicht zu glauben! – Ob ich von Sinnen war, fragt er mich. Statt froh zu sein, dass ich da raus bin. Er rührt keinen Finger! sagt er. Sich da wieder hineinmischen, das käme ihm vor, als wenn er sich den Blinddarm hätte herausnehmen lassen und ihn hinterher, statt froh zu sein, dass er ihn los ist, wieder einsetzen liesse. – Was sagen Sie dazu? Das antwortet mir mein Bruder.«
In diesem Augenblicke klingelt das Telephon.
»Aha! Er hat es sich doch wohl anders überlegt.« – »Wer ist da?« rief er in den Apparat. »Wer? Landrat Moll?«
Er gab mir ein Zeichen und wies mich an einen Tischapparat, der im Nebenzimmer stand. Ich ging hinein, nahm den Hörer auf und verstand jedes Wort:
»Was ist denn?« fragte der Geheimrat.
»Wir feiern heute abend bei Hiller« – ich erkannte deutlich Molls Stimme – »und wollten dich bitten, unser Gast zu sein. Seifert, das liess sich natürlich nicht vermeiden, kommt auch; daher Separé.«
»Was feiert ihr denn?« fragte der Geheimrat.
»Frage! Unsern Sieg! Was 'n sonst?«
»Ueber wen?«
»Seid ihr so stolz darauf?«
»Ob stolz oder nicht! Jedenfalls war's 'ne windige Sache. Und hätt noch doller kommen können. Ein Outsider in der Familie ist jrade jenug – also du kommst doch?«
»Einen Augenblick!«
»Bitte!«
»Sag mal, habt ihr denn Seiferts Angaben auch schon nachgeprüft?«
»Waa …?«
»Ich meine, ihr wisst doch, wes Geistes Kind er ist.«
»Ja, und …?«
»Vielleicht, dass das Ganze ein grosser Schwindel ist.«
»Du meinst, dass …er«
»… das Mädel am Ende gar nicht gehabt hat.«
»Erlaub mal, das is ja ausjeschlossen.«
»Und warum ist das ausgeschlossen?«
»Ebensogut, wie sich das Mädel mit Peter eingelassen hat, kann se sich doch auch mit ihm eingelassen haben.«
»Das ist eine Vermutung, aber kein Beweis.«
»Eine Vermutung, die durch Seiferts Behauptung bewiesen wird.«
»Die Vermutung, nicht aber die Behauptung.«
»Also ich bitte dich, das ist ja doch Unsinn! einen überhaupt auf so 'ne Idee zu bringen.«
»Ihr hättet, da ihr Seifert kanntet, eigentlich selbst darauf kommen können.«
»Dazu sind wir durchaus nicht verpflichtet. Im Gegenteil: An sich ist es auch ganz wurscht.«
»Soo?« fragte der Geheimrat.
»Natürlich! Du scheinst zu vergessen, um was es sich handelt.«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Nu also! Es geht um Peter und nich um das Mädchen, das dabei janz Nebensache is.«
»Was willst du damit sagen?«
»Na, über sie brauchen wir uns doch nich klar zu werden; was mit ihr los is, wissen wir. Aber Peter, siehst de, das war der Zweck, darauf kam es an, dem mussten wir endlich den Star stechen – na, und ich meine, wie das geschieht, ist am Ende Nebensache.«
»Gewiss! Nur muss das, was man ihm mitteilt, wahr sein.«
»Ich will dir mal was sagen, Onkel, du verstehst mich scheinbar noch immer nicht. Dass das Mädel keine Ehrenjungfer ist, das gibst du hoffentlich zu?«
»Meinetwegen!«
»Steht das aber fest, so kommt es lediglich darauf an, was Seifert behauptet.«
»Wieso?«
»Das will ich dir sagen. Nimm an, Seifert läge jede Nacht mit dem Mädel zusammen und würde das bestreiten – beistehn können wer nich – so liesse sich mit der unbeweisbaren Tatsache für uns überhaupt nichts anfangen.«
»Das gebe ich zu.«
»Wenn er aber auch nur einmal bei dem Mädel auf 'm Zimmer war und behauptet, er sei mit ihr zusammen gewesen, so ist – sofern er bei seiner Behauptung bleibt – überhaupt nur ein Gegenbeweis möglich.«
»Nämlich?«
»Ihre Unberührtheit! – Na, und dafür, dass Seifert seine Behauptung aufrecht erhält, is jesorgt.«
»Und wenn nun Fräulein Hoffmann käme …«
»Denn wird se einfach nich vorjelassen.«
»Und behauptete, Seifert sei ein Schwindler?«
»So werden wir ihr erwidern: mein Fräulein, das mag sein – in diesem Falle aber schenken wir ihm Glauben.«
»Wenn sie nun aber durch ihr Auftreten und ihre Darstellung bewiese …«
»Lieber Onkel, gib dir keine Mühe; keine Macht der Welt kann uns zwingen, uns in unserm Glauben erschüttern zu lassen.«
»Vielleicht doch!« rief der Geheimrat in einem Tone, der nicht gerade freundlich war.
»Ich glaube nicht.«
»Nun, dann will ich dir verraten, dass das Ganze tatsächlich ein plump angelegter Schwindel ist.«
»Beweis?«
»Fräulein Hoffmann.«
»Jrossartig! – Und sie, ein Frauenzimmer, das der eigene Vater ihres unsittlichen Lebenswandels wegen an die Luft jesetzt hat, hältst de für beweiskräftiger als Seiferts janz bestimmte und – ich versichre dir – durch nichts zu erschütternde Behauptung?«
»Willst du mir noch eine Frage erlauben?« fragte der Geheimrat.
»Bitte!«
»Ich frage dich als ein Ehrenmann den andern …«
»… ä …ich muss dich doch bitten, lieber Onkel, bei so schmierigen Jeschichten de Ehre aus dem Spiele zu lassen.«
»Weich mir nicht aus!«
»Ich bedaure, aber ich gebe in der Sache keine Erklärungen ab. Die Anjelegenheit is für mich erledigt – Gott sei Dank! – und bleibt's!«
»So! – Nun, dann will ich dir sagen, dass sie das nicht ist! Dass die unwürdige Art, in der du …«
»Halt!« schrie Moll durch den Apparat. »Keine Beleidigung. Wir werden es so 'ner Sache wegen doch nicht zum Eklat kommen lassen. Du warst doch aus der janzen Sache überhaupt raus! Ich bejreife jar nicht, wozu de dich von dem Mädel erst wieder hast reindrängen lassen. – Kommst de also zu Hiller oder nich?«
»Nein!« brüllte er durch den Apparat und schmiss den Hörer hin. Und zu mir gewandt, sagte er:
»Da haben Sie das Gesindel in Rein-Kultur!«
Er schenkte sich ein Glas Portwein ein und goss es hinter, als wenn er den Schmutz hinunterspülen wollte.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen die Ungelegenheiten mache,« sagte ich und wollte aufstehen.
»Sie kennen nun diese Leute! Und wissen, sie werden nicht Ruhe geben. Wenn das jetzt missglückt, so werden sie Neues ersinnen. Sie sind erfinderisch und haben die Macht. Und eines Tages, das sehe ich kommen, da werden Sie auf der Strecke bleiben.«
»Das fürchte ich auch.«
»Ueberlegen Sie also, ob es nicht klüger ist, zu verzichten. Ich will Ihre hilflose Lage natürlich nicht ausnutzen. – Aber nach allem, was Sie erlebt haben und was Ihnen noch bevorsteht, kann man Ihnen als Freund nur raten, Ihr Leben auf eine andre Basis zu stellen.«
Ich wollte aufstehn.
»Bleiben Sie sitzen,« sagte er, »Sie sind im Recht! Und wenn Sie nicht freiwillig verzichten – auf die Art nicht!«
Er setzte sich mir gegenüber und dachte nach. Dann sagte er:
»Ich will Ihnen was sagen: über diese Geschichte helfe ich Ihnen hinweg – das ist selbstverständlich. Aber darüber hinaus, da kann ich Ihnen nicht helfen. Schon meiner Schwester wegen. Die sieht kein Glück in Ihrer Verbindung mit meinem Neffen – und ich muss bekennen – wenn man von Ihrer Person ganz absieht – von ihrem Standpunkt aus hat meine Schwester nicht unrecht. Aber selbst, wenn ich das nicht fände – ich dürfte ihr nicht entgegenarbeiten.«
»Ich sehe das ein,« sagte ich, »und ich verstehe auch Ihre Frau Schwester. Ich weiss auch, dass Sie es gut meinen, und ich würde Ihnen auch folgen – wenn ich es könnte. – Ich glaube ja auch, es ist ein Unglück, dass es so ist.«
»Nun also!«
»Aber ich komme gegen mein Gefühl nicht an – es ist mir nicht möglich – ich kann mein Leben einfach nicht mehr von ihm trennen!«
Der Geheimrat gab mir die Hand.
»Armes Kind!« sagte er. »Dann freilich müssen Sie durchhalten. – Und die Sache hier, die bring ich ins reine, mein Wort drauf.«
Ich war so gerührt, Peter, dass ich kein Wort fand, ihm zu danken. Endlich wieder einem Menschen gegenüber!
Er sah meine Rührung und nickte mir zu.
»Ich weiss, Sie gehen ruhiger fort, als Sie gekommen sind!« sagte er. »Und denken Sie daran: so oft Ihnen Unrecht geschieht, bin ich da! …Aber nur dann. In allen andern Fällen müssen Sie sich schon selbst helfen.«
Er drückte auf den Knopf der Klingel.
»Verbinden Sie mich mit Frau Geheimrat Reinhart!« sagte er dem Diener, der ins Zimmer trat.
Ich verstand – reichte ihm die Hand und ging.
*