Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Zweites Kapitel

Wie der alte Stoelping seinen Sohn in einen wichtigen Prozeß einweiht

Ich habe bisher gegen meine Gewohnheit mit dir gerade über diesen Fall nicht gesprochen,« begann Stoelping, als er an seinem Riesenschreibtisch seinem Sohne gegenübersaß, »da du mit deinen eigenen Arbeiten über und über zu tun hast.«

»Ich finde schon immer Zeit, dir zu helfen,« erwiderte Willi.

»Ich habe einen Prozeß, der unter Umständen politisch belangvoll werden kann. Die Angelegenheit erfordert, daß sich jemand ausschließlich damit beschäftigt. Das kann ich nicht, wie du weißt. Und da du gerade für Fälle, die diplomatische Delikatesse fordern, besondere Begabung mitbringst, so will ich die Führung dieses Prozesses dir übertragen. Also höre: Die russische politische Polizei macht uns auf eine anarchistische Organisation internationalen Charakters aufmerksam, deren Spuren angeblich bis Berlin reichen. Von uns ersucht, die Spur näher zu bezeichnen, wich man einer bestimmten Antwort zunächst aus: ›Man wisse selbst nichts Genaues.‹ – ›Gewisse Anzeichen deuteten darauf hin.‹ – ›Die Ermittlungen an Ort und Stelle seien noch nicht abgeschlossen.‹ – Na, du kennst ja die üblichen Ausflüchte. Erst als wir erklärten: Die Staatsanwaltschaft bedaure, in der fraglichen Angelegenheit den Anregungen der russischen Polizei nicht folgen zu können, verstand man sich, etwas deutlicher zu werden. Der Gewährsmann war ein übel beleumdeter Spitzel, der in den Diensten der russischen Polizei stand. Das war der Grund, aus dem man so lange gezögert hatte. Dieser Spitzel betreibt mit gefälschten Papieren als Perser seit Jahren in Berlin einen Teppichhandel; in Wahrheit treibt er für Rußland Spionage. Wir sind nun nicht mehr so schwerfällig und leichtgläubig wie früher. Wir sehen uns mehr die Menschen, weniger ihre Papiere an. Wir fragen weniger und beobachten um so intensiver. Wir zwingen die Leute nicht mehr durch strenge Kontrolle zu doppelter Vorsicht; wir verleiten sie, indem wir sie möglichst unbehelligt lassen, vielmehr zu Unvorsichtigkeiten. So kennen wir, ohne daß er eine Ahnung hat, seit Jahren das Gewerbe dieses Teppichpersers. Früher hätte man einen solchen Menschen kurzerhand verhaftet, verurteilt und die findige Polizei beglückwünscht. Heute unterstützt man sein Gewerbe, setzt ihm einen zuverlässigen Freund zur Seite, durch den man über seine Tätigkeit jederzeit genau unterrichtet ist und ihre Wirkung durch kluge Maßnahmen ins Gegenteil kehrt. Die Organisation ist lückenlos. Die russische Regierung zahlt nicht nur ihre Beamten, sondern auch unsere, die wir ihretwegen außeretatsmäßig halten müssen. Das alles ist vielleicht nicht gerade moralisch; aber mit Moral erzielt man in der Politik keine Erfolge, man macht sich höchstens lächerlich. Man weiß endlich, daß aus Gefühlsgründen oder aus religiösen Rücksichten heute kein Gewehr mehr losgeht. Auf die Entwicklung des Kapitalismus wirken! Darin erschöpft sich heute alle Diplomatie. ›Dein‹ und ›Mein‹ verknüpfen, das ist aller diplomatischer Weisheit letzter Schluß. Denn wo ein Angriff auf ›Mein‹ auch das ›Dein‹ gefährdet, da besteht Waffenbrüderschaft auch ohne Bündnis und Verträge.«

Stoelping hatte die ganze Zeit über den Stoß von Akten, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, durchsucht. Jetzt endlich hielt er das richtige Aktenstück in Händen.

»Hier,« sagte er, »das sind die bisherigen Ergebnisse. Lediglich der Schriftwechsel zwischen Petersburg und Berlin bis zur Namhaftmachung jenes Teppichpersers, den ich für heute vormittag 11 Uhr nach Moabit zitiert habe. Der Junge ist natürlich von seiten seiner Behörde genau instruiert. Daß wir von seiner politischen Tätigkeit irgendwelche Ahnung haben, darf er unter keinen Umständen herausfühlen. Er muß uns, resp. der russischen Regierung, unbedingt erhalten bleiben. Andererseits muß man natürlich dem anarchistischen Komplott, falls solches wirklich existiert, auf die Spur kommen und alles aus ihm herausbringen, was er darüber weiß. Woher er seine Kenntnisse hat, ist dabei Nebensache. Verheddert er sich, so stell' dich dumm und hilf ihm aus der Schlinge heraus. – Es gibt natürlich auch noch die dritte Möglichkeit, daß er unter dem Deckmantel des politischen Spitzels den Anarchisten verbirgt. Das würde den Fall wesentlich komplizieren. Von Bedeutung wird es dabei sein, den Motiven nachzuspüren, aus denen er die russische Polizei von dem anarchistischen Anschlag in Kenntnis gesetzt hat. Aber auch das wieder mit der nötigen Vorsicht; denn möglicherweise ist das Ganze nur ein Bluff, durch den er sich bei unseren Behörden ins Vertrauen setzen und neue Verbindungen anknüpfen will. – Aber auch wenn es kein Bluff ist, sondern wenn wirklich etwas an der Sache dran ist, kann das immerhin sein Beweggrund zur Erstattung der Anzeige sein. Das alles schwebt, wie gesagt, noch in der Luft. – Geht es, so laß ihn aus den Akten heraus. – Ich brauche nichts weiter zu sagen als: Sei ihm überlegen. Ich kenne deine starke diplomatische Begabung.«

Willi suchte zu widersprechen.

»Laß nur, ich weiß Bescheid,« sagte der Alte. »Wenn einer meiner Herren für die Behandlung dieses Falles, der mehr Instinkt als juristisches Denken erfordert, prädestiniert ist, so bist du's!« – Er reichte ihm das Aktenstück. – »Und nun, rechtfertige mein Vertrauen! Von der ersten Vernehmung wird viel abhängen.«

Willi strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich bin stolz, daß du zu deinem jüngsten Staatsanwalt soviel Zutrauen hast.«

Er gab seinem Vater die Hand und wünschte ihm gute Fahrt.

Eine Viertelstunde später saß er im Moabiter Amtszimmer. Ihm gegenüber saß Teo Vafiadis, der Teppichhändler aus Porozovo.

*

Das Ergebnis dieser Vernehmung war: Irgendwer war bei Vafiadis gewesen und hatte sich Teppiche vorlegen lassen. In seiner Begleitung hatte sich ein älterer Herr befunden, der nicht gesprochen und den Eindruck eines Ausländers gemacht habe. – Von Vafiadis ins Gespräch gezogen, hatte er angegeben, verlobt zu sein und kurz vor seiner Verheiratung zu stehen. Er sei Literarhistoriker und im Begriff, sich mit einer Arbeit über das Lebenswerk der Brüder Hauptmann zu habilitieren. – So sei man von den Teppichen auf die Literatur, von der Literatur schließlich auf die Politik gekommen. – Er, Vafiadis, habe an Gerhart Hauptmann, dem dramatischen Revolutionär, angeknüpft und ganz harmlos gefragt, ob Hauptmann nicht auch im Leben Revolutionär gewesen sei. Die Antwort habe gelautet: Etwas Revolutionäres stecke ja wohl in jedem Intellektuellen. – Das habe Vafiadis verblüfft. Und um den Unbekannten zum Sprechen zu bringen, habe er selbst sich als überzeugten Revolutionär bekannt und, da er immer mehr den Eindruck gewonnen habe, es mit einem Anarchisten zu tun zu haben, schließlich schlank heraus erklärt, daß er gegebenenfalls sogar vor einem Verbrechen aus politischen Motiven nicht zurückschrecken würde. Die Wirkung dieses Bekenntnisses sei überraschend gewesen. Der Fremde sei auf ihn zugestürzt, habe ihn mit einem Blick umfaßt, der ihn förmlich geschmerzt habe und in gebieterischem Tone gerufen: »Beweise!« – Er, Vafiadis, habe natürlich gar nicht verstanden, was gemeint sei, sei sich aber bewußt gewesen, daß diese Probe bestehen, jenen überführen hieß. Urplötzlich sei ihm die Erinnerung an einen politischen Mord der letzten Jahre durch den Kopf gegangen. Er habe, ohne eine Miene zu verziehen, erwidert: »Kowalski.« – Da sei der Fremde entsetzt zurückgefahren, habe gänzlich seine Haltung verloren und ausgerufen: »Das ist unmöglich!« – Dann habe er sich nach seinem Begleiter umgesehen, der totenblaß, am ganzen Körper zitternd, am Fenster gelehnt habe, ihn bei der Hand ergriffen und mit einer Stimme, die klang, als wenn ihm jemand den Hals zuschnürte, gehaucht: »Wir kommen wieder.« Im selben Augenblick seien beide auch schon aus dem Laden gewesen. Er, Vafiadis, habe wie betäubt dagestanden und sich minutenlang nicht von der Stelle rühren können.

Dies das Ergebnis der Vernehmung.

Stoelping fragte dann noch:

»Und Sie haben nicht in Erfahrung gebracht, wer die beiden waren?«

»Ich hielt mich als Fremder nicht für berechtigt, eigenmächtig Nachforschungen anzustellen,« log Vafiadis. »Andererseits schien mir meine Beobachtung zu wichtig, um sie für mich zu behalten.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Stoelping und verneigte sich, so daß Vafiadis merkte, daß er entlassen war und aufstand.

»Falls Sie mich in der Angelegenheit noch weiter benötigen . . .«

». . . werde ich Sie rufen lassen,« beendete Stoelping den Satz.

Vafiadis empfand die Unfreundlichkeit, verbeugte sich und ging.

Als er draußen war, sagte Stoelping zu seinem Referendar:

»Sehr unwahrscheinlich klingt das alles. Die reine Räubergeschichte! Trotzdem müssen wir der Sache nachgehen.«

*

Stoelping hatte die Juristerei von Anfang an nur als Sprungbrett zur diplomatischen Karriere betrachtet. Schon als Student hatte er leidenschaftlich Politik getrieben und war in Versammlungen durch seine Schlagfertigkeit und seine Sachlichkeit, die Schlagworte mied und Tatsachen brachte und eine Folge seines historischen Denkens und seiner positiven Kenntnisse war, aufgefallen. Er besaß das Talent, sich überall da, wo es ihm wertvoll schien, Freunde zu machen. Denn ausschließlich von dem Gesichtspunkte seiner Karriere aus betrachtete er – und zwar nicht immer im Interesse des jeweiligen Gegenstandes – alles, was an ihn herantrat.

Auch jetzt wieder sah er in dem, was Vafiadis enthüllt hatte und was ihm abenteuerlich genug erschien, vor allem die Möglichkeit, das Interesse einflußreicher Regierungskreise auf seine Tätigkeit zu lenken und ihnen Beweise seiner Tüchtigkeit zu geben.

Er verließ das Kriminalgebäude, bestieg sein Auto und fuhr ins Ministerium.

Während der Fahrt ließ er sich mit dem Dekanatssekretär der philosophischen Fakultät an der Universität verbinden, um festzustellen, ob im Germanistischen Seminar augenblicklich jemand mit Studien über die Brüder Hauptmann beschäftigt sei. Er erfuhr, daß die Habilitation des vor zwei Jahren summa cum laude promovierten Doktor Günther Hempel mit einer Schrift über die Brüder Hauptmann für den Beginn des nächsten Semesters bevorstehe. Dr. Hempel arbeite zurzeit im Germanistischen Seminar des Herrn Professor Schott.

Das klingt sehr wenig nach Anarchismus, dachte der junge Stoelping und überlegte, ob er nicht doch den Dingen erst weiter nachgehen sollte, ehe er sich an den Minister wandte.

Aber in dem Augenblick hielt auch schon sein Wagen vor dem Gebäude des Ministers. Wie immer wirkten auch heute das Gebäude, die Nähe des Ministers, kurz die ganze Atmosphäre, in die er sich seit Jahren hineinsehnte, so stark auf ihn, daß er jedes Bedenken vergaß und dem Diener, der ihm entgegeneilte, seine Karte gab mit den Worten:

»Seiner Exzellenz, dem Herrn Staatsminister!«

Unter Umgehung des Empfangszimmers, das voll von Menschen war, wurde Stoelping in das Arbeitszimmer des Ministers geführt.

»Nun, Herr Staatsanwalt,« empfing er ihn, »sind Sie einem politischen Verbrecher auf der Spur, oder was verschafft mir sonst Ihren Besuch?«

»Exzellenz haben erraten.« Und da er wußte, daß hier jedes überflüssige Wort mißfiel, so sagte er nur: »Ich glaube Anhaltspunkte dafür zu haben, daß ein hiesiger Doktor der Philosophie ein politisches Verbrechen begangen hat.«

»Die Nationalität dieses Gelehrten?« fragte der Minister.

»Deutscher. Ein Sohn des verstorbenen Universitätsprofessors Hempel.«

»Ihre Quelle?«

»Ein russischer Spitzel namens Vafiadis hat der russischen Polizei Mitteilung gemacht, auf Grund deren sich diese an uns gewandt hat.«

»Sie wollen, wenn ich Sie recht verstehe, von mir wissen, ob die eventuelle Mittäterschaft eines Deutschen aus politischen Gründen lieber unerörtert bleibt?«

»Ganz recht, Exzellenz. Darum bin ich hier.«

Der Minister überlegte einen Augenblick.

»Da es zweifellos eine Anarchistenangelegenheit russischen Ursprungs ist, und die Nationalität bei derartigen Verbrechen eine untergeordnete Rolle spielt, so sehe ich vorderhand keinerlei Bedenken. Wir können bei umsichtigem Vorgehen bei dieser Gelegenheit unsere Kenntnisse über die anarchistischen Bewegungen erweitern, und wenn Sie diesen Vafiadis richtig anfassen, möglicherweise auch russischen Spionen auf die Spur kommen, die uns bisher noch nicht ins Garn gingen. Sie kennen meine Methode in diesen Dingen?«

»Ich glaube sie zu kennen,« erwiderte Stoelping. »Nicht überführen, sondern in Sicherheit wiegen.«

»Richtig. Aus einem Gehängten ist nichts mehr herauszubringen. Aber ein russischer Spion, der ohne es zu wissen, von uns bedient wird, wiegt im Kriegsfall unter Umständen ein Armeekorps auf. Sie halten mich bitte auf dem laufenden.«

Damit war die Unterredung beendet. Stoelping stand auf, verneigte sich und ging.

 


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