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Briefe neumodischer Menschen
Mein Herr!
Ich vermute, daß Sie selbst nicht recht wissen, warum Sie Ihre merkwürdige Anzeige ins Blatt setzen ließen; und da ich gleichfalls mir gar nicht klar darüber bin, warum ich Ihnen schreibe – nun, eben darum schreibe ich Ihnen. Ich gestehe, der Anfang läßt sich nicht sonderlich logisch an, aber vielleicht erwarten Sie auch von einer Frau, die sich Ihnen unter der von Ihnen gewünschten Devise naht, etwas ganz anderes als Verstand.
Nun also – was wünschen Sie? Ihrer Hauptbedingung entspreche ich; ich bin verheiratet. Denn ich verstehe den Sinn doch richtig? Wenn Sie aber doch, allem Vermuten zuwider, zu heiraten wünschen und weiter nichts, dann wissen Sie jetzt, daß mein Brief nicht für Sie bestimmt ist.
Ich setze auch voraus, daß Sie sich nicht einen schlechten Witz erlauben, etwa um einige interessante Briefe zu ergattern. Kurzum, ich nehme Sie ernsthaft.
Wollen Sie mir gleich zu Beginn ein freies Wort gestatten? Sie müssen Seltsames, Ungewöhnliches hinter sich haben, denn ich kann mir nicht denken, wieso ein Mann mit gewöhnlichem Erleben auf eine so – wenn Sie erlauben! – auf eine so häßliche Idee kommt. Ich kenne das Leben ja freilich nur aus meinem Geträume und aus den Büchern der Kundigen und der Phantasten, denn was ich bisher geführt habe, kann ich wahrhaftig nicht Leben nennen; aber so viel ist mir doch einleuchtend, daß ein Mann der Natur nach mehr Angriffslust und Eroberungskunst besitzen sollte, als Ihnen eigen zu sein scheint.
Jedenfalls, glaube ich, haben Sie die Liebe bisher noch nicht kennengelernt; aber vielleicht glauben Sie wenigstens an Liebe. Vielleicht sind Sie ein Mann, voll von unerfüllter Sehnsucht, der seine Arme winkend und begehrend ausstreckt nach einem bekannten Wesen, das sich hinaussehnt aus grauenvoller Verlassenheit, das voll ist vom Glauben an Liebe, an ein Glück, das irgendwo doch noch seiner warten muß. Vielleicht – mit einem Worte, vielleicht sind Sie der, den ich suche.
Ich bin ein armes Weib, das in seines Herzens Unverstand als kindisches Mädchen sich von einem häßlichen Kerl hat heiraten lassen; ich lebe auf dem Lande und habe keinen Menschen auf der Welt, der mir nahe steht; ich halte es so nicht länger aus; und ich werde von heute ab jeden noch so ungewöhnlichen Weg einschlagen, der irgendwie mich von hier wegführen könnte.
– – – Der Brief fällt mir doch schwerer, als ich anfangs gedacht habe, und ich will mich kurz fassen. Ich könnte fortfahren mit geheimnisvoller Sprache und könnte damit mein ungewöhnliches, jede Moral verletzendes Tun verschleiern. Aber ich will nicht; ich glaube keineswegs an eine verborgen wartende Vorsehung; nicht einmal der blinde Zufall hat es bisher freundlich mit mir gemeint. Im Grunde genommen, was habe ich mir vorzuwerfen? Die Menschen, zwischen denen sich die Liebe oder sonst ein inniges Verhältnis festsetzt, sie haben sich getroffen, ebenso gut, wie sie sich hätten nicht treffen können. Was hat sie zusammengeführt? Warum gerade die beiden? Sie waren nicht von Ewigkeit füreinander bestimmt, wohl aber waren sie beide in den Stunden, die für sie entscheidend waren, zur Liebe gestimmt. Wohl den Menschen, die beim Ungefähr gut angeschrieben waren! Wir haben alle dem Zufall, der von außen wirkt, mehr zu danken und mehr zu fluchen, als den Kräften, die in unserm eigenen Innern wohnen. Wenn es nun so bestellt ist, warum sollte ich nicht selbst, so gut es einem dilettantischen Weib eben geraten will, an den äußeren Verhältnissen der Geschehnisse, die mich treffen, mitarbeiten?
Was ich damit sagen will? Ich will mir, ehrlich gesprochen, mit diesen Betrachtungen die Scham ausreden, daß ich diesen Brief schreibe, aber es gelingt mir nicht recht. Nun, denken Sie von mir, was Sie wollen. Sie kennen mich ja nicht. Daß ich meinen Namen nicht nenne, wird ihnen selbstverständlich sein. Sind Sie eine verwandte Seele, und will der Zufall, daß ein von einer andern geschriebener Brief Sie nicht näher trifft als der meine, so werden Sie wohl antworten. Ich sehne mich fort aus meiner dumpfen Umgebung und blicke voll heißer Sehnsucht zum Fenster hinaus. Vielleicht trifft unterwegs ein Blick auf ein gleichgestimmtes Gemüt.
Bitte, wollen Sie, falls Sie mir schreiben, den Brief postlagernd hierher nach Schöneck senden und auf die Adresse den hier folgenden Namen setzen, der auf meine Existenz keinen Bezug hat.
Ida.
Verehrte Dame!
Nicht leicht hätte mich etwas so beschämen können, wie Ihr Brief. Man sagt ja sonst, es töne aus dem Walde wieder, wie man in ihn hineinrufe; gewiß war ich nicht auf das stolze Echo gefaßt, das meinen kläglichen Ruf erwidert hat. Sie haben recht, jetzt wenigstens, ihnen gegenüber, weiß ich durchaus nicht, was ich mir bei dieser Anzeige gedacht habe. Ich weiß nur, daß ich eine unglückliche Natur bin, verdorbenes Blut oder was weiß ich; vielleicht ist auch mein Sinn zu stolz, nicht leichtflüssig genug für unsere Zeit. So ging ich denn mit melancholischem Mut und trüben Blickes durch die Welt; mir war alles verleidet, ich wußte nach keiner Richtung, was ich mit mir anfangen sollte. Und vor mir, als mahnendes Vorbild, habe ich immer, seit Jahren schon eine prächtige Menschengestalt, ein alter Mann ist es jetzt schon, der durch alle Poren Leben saugt und Glück ausatmet und ausstrahlt, daß es gefährlich ist, in seine feurige Nähe zu kommen. Mir wenigstens hat er Gefahr gebracht; seine Reden haben mich plötzlich aus meiner Verdüsterung in den Leichtsinn geworfen; und in einer raschen Stunde, war ich so weit, daß ich »eine Frau suchte« – um allgemeine Sinnenglut zu löschen – oder was weiß ich. Verzeihen Sie mir. Ich bitte Sie, mir zu erlauben, davon zu schweigen.
Mir ist das Herz sehr, sehr schwer. Draußen, über den Gärten, die eben zu knospen beginnen, und über der Stadt und den Bergen liegt ein wunderbarer Frühlingsabend, der Himmel schwelgt in flammender Glut, unten am plätschernden Brunnen höre ich lachende, so recht kindische Mädchenstimmen, von weiter her läuten die Kirchenglocken, es ist Samstag abend, und morgen ist Palmsonntag, und durch die Straßen laufen die Kinder und bieten Palmkätzchen aus. Mir aber ist, als dürfte ich nicht hinaus zu den fröhlichen Menschen, als trennte mich von ihnen eine unübersteigbare Schranke, als säße ich im Gefängnis. Wissen Sie, was ich glaube, daß das für ein Gefängnis ist? Es ist das Gefängnis der Freiheit. Lassen Sie mich erklären, was ich sagen will. Wir modernen Menschen – ja ja, ich gehöre eben auch dazu – wir sind eine versprengte Schar von armseligen Schluckern, die aus freiem Willen ausgeschlossen sind von ihrer Umgebung und darum vom Glück. Was Moral! Wir pfeifen auf die Moral, wir sind zu ehrlich, um uns länger an sie zu halten. Aber wir machen uns elend mit unserer Ehrlichkeit. Wir sind zu wenige, als daß wir aneinander genug haben könnten, und wenn wir zahlreich genug wären, wir finden uns nicht und scheuen uns ja auch vor einem festen Band, das uns zusammenhalten könnte – wieder aus Ehrlichkeit. Draußen in der alten Welt, da gibt es Gemeinschaften; diese Kirchenglocken – ich kann ihre Klänge auch nicht mehr ästhetisch genießen, seit es mir schmerzvoll zum Bewußtsein gekommen, daß sie etwas bedeuten – für eine unendliche Menschenschar, die zusammengehören, die einander verstehen. Wir aber sind ausgeschlossen. Und macht uns denn unser Wahrheitsdrang selig? Mich nicht. Ich wage ja doch nicht, die Konsequenz meines Denkens zu ziehen; ich bin zu sehr verbunden mit dieser Welt; ich brauche Menschen, mit denen ich verkehren kann. Und kaum bin ich zu ihnen zurückgekehrt, so hält es mein freier Sinn wiederum nicht bei ihnen aus – und ich fliehe zurück in die Einsamkeit, ins Gefängnis der Freiheit.
Manchmal drückt es mir so furchtbar lastend auf die Hirnschale, daß ich mit dem Gedanken spiele, recht bald verrückt zu werden; das wäre doch ein Abschluß dieser qualvollen Ungewißheit; dann hätte ich doch eine Gemeinschaft gefunden, und vielleicht, im Narrenhaus, wäre ich dann bei Menschen, die mich verstehen wie ich sie. Aber ich glaube, das ist nur eine Einbildung meiner Wünsche; der Mensch ist ein gar zu zähes Tier. Aber ganz normal bin ich nicht; das ist mir nunmehr deutlicher als je. Es ist geradezu komisch, wie ich davor bange, irgend etwas zu tun und eine Gelegenheit beim Schopfe zu nehmen. Glauben Sie mir, verehrte Unbekannte, daß ich eine ordentliche Scheu vor Ihnen habe? Merkwürdig – Sie sind nun in kurzer Zeit die zweite wertvolle Frau, der ich begegne. Die erste ist ein liebes, vortreffliches, schönes Mädchen, das ich lange kenne, aber nie gekannt habe, kaum recht beachtet. Wir verkehrten viel zusammen, und eine wunderliche Fügung, die mir selbst nicht klar ist, hat mir den Gedanken, mich liebend an sie zu klammern, verführerisch nah gelegt. Nie ist mir ein Mensch lieber gewesen als dieses Mädchen; wie oft frage ich mich: regt sich denn nun wirklich gar nichts in mir? Aber trotz der unbestimmten Sehnsucht in all meinen Gliedern – ich kann auch nicht eine Spur von dem, was Liebe ist, in mir finden. Ich gebe ihr die Hand wie einem andern Freunde, weder lockt es mich zu körperlicher Berührung, noch scheue ich davor zurück. Was ist das nur mit mir? Und nun Sie, meine Dame – – sollte ich nicht lieber ins Kloster gehen oder mich aufhängen, als bei meinem trüben Wesen in dieser verwirrten Welt auf Abenteuer ausziehen? Oh, ich begreife sehr, sehr wohl, wie man katholisch werden kann. Die alten Mächte sind in Wahrheit noch von einer imposanten, wuchtigen Stärke, und wir sogenannten freien Menschen sind leider fast allesamt Schwächlinge.
Ich hätte vielleicht lieber schweigen sollen als in dieser unangenehmen Stimmung an Sie schreiben. Und doch zieht es mich wieder zu Ihnen, so daß ich eigentlich an den Schreibtisch gegangen bin in der Absicht, Sie zu ersuchen, eine Zusammenkunft zu ermöglichen, damit wir uns persönlich kennenlernen. Aber jetzt traue ich mich kaum, diese Bitte zu stellen. Sie werden den Eindruck bekommen, daß ich nichts für Sie tauge und Ihnen in Ihrer entsetzlichen Lage nicht helfen kann. Aber doch, Werteste, möchte ich Sie bitten: geben Sie mich nicht auf! Ein wunderliches Geschick war es doch, das uns einander genähert hat. So ganz katzenjämmerlich wie heute ist mir auch nicht immer zumute. Vielleicht wird doch noch etwas Rechtes aus mir. Freilich warte ich schon lange darauf. Jedenfalls – wenn es ernstlich so weit ist, daß Sie mir sagen ich könne das geringste dazu tun, einen Menschen wie sie aus dem Elend zu befreien, ich stehe ganz und gar, in jeder Weise, zur Verfügung – selbst wenn Sie einen Ritterdienst in Kleistscher Art von mir heischten. Bitte seien Sie davon jetzt schon überzeugt. Ich habe wenig Hoffnung, ganz ehrlich gesagt, daß diese Sache mit meinem Glücke irgend zusammenhängt – aber gerade darum. Mein Glück oder Unglück kommt gar nicht in Betracht. Und immerhin wäre es mir eine wohltuende Erleichterung, wenn ich mich dazu brächte, etwas, was meiner Natur entspricht, zu tun. ich wollte, ich könnte mich so recht aufraffen, etwas Befreiendes zu leisten. Also – verfügen Sie über mich.
Jedenfalls seien Sie von meiner aufrichtigen Hochachtung überzeugt. Ich darf doch eine Antwort erwarten? Unter der alten Chiffre, bitte.
Ludwig.
Werter Herr!
Sie haben wohl, und mit Recht, eine unmittelbare Antwort auf Ihren Brief erwartet; aber mein Mann, der sonst um diese Zeit meistens weg ist, war einige Tage länger hier als gewöhnlich, und so fand ich nicht so rasch die richtige Stimmung.
Ich habe bisher Menschen Ihres Schlages nur in meinen Büchern angetroffen, und zwar meist in solchen, die heute nur noch wenige lesen; an die wirkliche Existenz solcher Unseliger habe ich aber nie recht geglaubt, und ehrlich gesprochen, glaube ich auch jetzt noch nicht recht an sie – und an Sie. Oder solltet ihr draußen wirklich schon so weit vorgeschritten sein, daß ihr schon wieder daran seid, rückwärts zu gehen, während ich Ärmste kaum schon von einem Hauch des Fortschritts gestreift bin? Nehmen Sie mir's nicht übel, daß ich so geradeheraus meine Meinung sage, aber wenn Sie wüßten, wie wohl und leicht mir ist, seit Ihr Brief gekommen ist! Können Sie das begreifen? Vielleicht ja, wenn Sie daran denken, daß mir zum erstenmal in meinem Leben ein Mensch meinesgleichen nahe gekommen ist. Der allererste! ohne die Spur einer Übertreibung. Und dann habe ich das Gefühl, ganz gleich, was nun auch werden mag, ich bin doch etwas; es wird! Sie haben mein unklares Geschreibsel verstanden, so wie ich es meinte; Sie haben mir Ihr Wesen erschlossen, ich habe Sie angeregt; ich freue mich sehr.
Sie müssen wahrhaftig viel Glück gehabt haben in Ihrem jungen Leben (ich stelle Sie mir nämlich ganz jung vor; habe ich recht?), sonst wären Sie nicht so übermütig, Ihres freien jugendlichen Denkens überdrüssig zu sein. Und Sie haben auch wirklich Grund dazu! Schämen Sie sich ein bißchen; Sie selbst teilen mir mit, daß Sie schon zwei ebenbürtige Menschen gefunden haben, einen alten Mann und ein weibliches Wesen (als ob man derlei alle Tage fände!). Und Sie wollen vereinsamt sein, ausgeschlossen, verlassen oder was weiß ich? Was soll dann ich sagen? Sie sehnen sich nach der Gemeinschaft der Gewöhnlichen? Kommen Sie nur hierher und leben Sie in meiner Umgebung dann vergehen Ihnen aber ganz gewiß die frevelhaften Wünsche.
Wenn ich nur erst hier aus diesem jammervollen Nest heraus wäre und befreit von diesem Mann, ich wollte mir's schon wohl sein lassen. Glauben Sie nicht, daß ich in weichlichem Luderleben aufgehen will. Aber mir würde nicht einsam zumut sein. Ich hoffe, mir, wenn ich einen festen Halt hätte (den freilich glaube ich kaum entbehren zu können), schon eine Umgebung, oder wenn die nicht, doch eine Art Tätigkeit schaffen zu können. Warum drängt es uns, auch wenn uns leider die Möglichkeit fehlt, die neuen Ideen unermüdlich mit solchem Eifer, und wenn's nur in der träumenden Phantasie wäre, weiter zu verbreiten und neue Anhänger zu werben? Ich denke doch, eben weil wir nicht allein sein wollen. Weil wir unseresgleichen um uns scharen wollen. Und dann auch um recht zu haben. Ich denke nur, es kann gar nichts Köstlicheres geben als weiche, bildsame Köpfe unter die Hände zu bekommen. Nichts Befriedigenderes, als aus sich herausgehen, sich äußern können und ein Stückchen Welt, und wenn es das kleinste Zipfelchen wäre, umzugestalten nach seinen Ideen. Und gar nicht um der Ewigkeit willen, nicht um etwas Unvergängliches zu schaffen, so hoch hinaus braucht es noch gar nicht zu reichen; wenn auch nichts von mir in der Welt bleibt, ich werde mich trösten können. Aber solange ich da bin und zusehe, etwas schaffen, einen Kreis um mich sammeln, auf Menschen wirken, damit das wird, was ich will, damit das vorhanden ist, was ich vorhabe, damit das geschieht, was ich sehe, und damit das schließlich dann getan ist was ich gedacht habe – das ist schön und das lockt mich. Sie nicht auch?
Wir haben hier, es ist nur ein Viertelstündchen zu gehen, ein ganz kleines Tannenwäldchen; ich bin gern da und bin erst gestern nachmittag wieder droben gewesen. Es muß da, wer weiß woher, ein besonderer Boden sein, denn ringsum ist es von Laubwald eingeschlossen, vielleicht Meilen weit. Aber die paar Tannen, die da beisammen stehen, gedeihen ganz prächtig. Denen ist's ganz wohl in ihrer Vereinsamung, und manchmal bringt ihnen vielleicht ein freier Windstoß einen frischen Gruß von ihren fernen Brüdern draußen, hinten im andern Land, und dann fühlen sie vielleicht, daß sie doch nicht einzig in der Welt sind, und daß sie allüberall ihresgleichen haben, Gleichgestaltete, von selbem Wuchs, der nämlichen Triebkraft, die gerade wie sie Jahr um Jahr ihre Ringe ansetzen. So sollte uns, meine ich, auch zumute sein. Und dann da liegen in meinem Wäldchen eine Menge großer und kleiner Steine umher; ganz weicher, mürber Kalkstein, den man fast mit den Fingern zerbröckeln kann. Da sitze ich oft und klopfe zum Vergnügen Steine, und sie lösen sich in wagrechten Schichten auseinander, und fast in jedem finde ich den deutlichen Abdruck von Schnecken und Muscheln, die vor Jahrtausenden einmal lebendige Geschöpfe gewesen sind. Es waren ganz gewöhnliche, unbedeutende Tiere, die von der launischen Welle des breiten Gewässers verewigt worden sind. Ich habe dann meine besonderen Grillen dabei, die im Grase um mich herumhüpfen. Wesen von ganz besonderer Art – die kündet vielleicht kein Stein, die sind lautlos und ohne Abbild im Zeitenmeer versunken. Was tut's ihnen? Gar nichts. Das was nachher ist, nach uns, ich denke oft, es sei ganz und gar Nebensache, gleichgültig. Jetzt aber, jetzt leben wir, jetzt wollen wir leben. Ob wir viel sind oder wenig, oder fast ein Nichts – gleichviel, wir sind. Die Gemeinschaft, der Zusammenhang mit dem Ewigen, das Einsfühlen mit dem All –, es ist mir manchmal, als ob das auch nur eine trockene Phantasie sei. Daß ich mich herausheben kann –, aus dem wäßrigen Brei, daß ich mich für mich als etwas Besonderes fühle, das ist mir viel mehr wert. Mir schaudert gar nicht vor der Vereinzelung. ich will eine Einzelne sein. Den Anschluß an die Meinigen, den Umgang schließe ich damit nicht aus. Im Gegenteil, der gehört zu mir, ich brauche ihn, ich sehne mich nach ihm. Aber all das übrige Zeug – vielleicht ist das nur jetzt so meine Stimmung, vielleicht denke ich auch wieder einmal anders darüber, aber jetzt brauche ich es nicht. Ich verzichte völlig auf die Welt, auf den Anschluß an das Vergangene und schließlich auch auf meinen Wert für das, was kommt. Von meinen lieben Mitmenschen, wie sie gemeiniglich sind, brauche ich es erst gar nicht zu versichern.
Ach wahrhaftig, ich fühle mich! Lang Unterdrücktes will heraus aus mir. Mir ist frei und heiter, und ich könnte nur immer hier sitzen und zu Ihnen reden. Ich danke Ihnen; so wie ich bisher gewesen bin, so bleibe ich nicht mehr. Das war einmal und wird nicht wieder. Ihre Klagen über Ihre Verlassenheit, die kann ich Ihnen kaum nachfühlen, gewiß mache ich nicht mit. Meine Vereinsamung, die ist etwas sehr Wirkliches – die besteht in den Menschen, die um mich sind und auf meine Sinne eindringen. Bin ich die erst los, und wenn ich ganz allein wäre – ich würde mich, glaube ich, nicht mehr einsam fühlen. Aber ich glaube, wenn man nicht will, dann ist man auch nicht allein. Freilich – zu recht gewalttätigen Mitteln muß man oft greifen – wie unser Beispiel lehrt.
Gewiß wollen wir uns persönlich kennenlernen; aber meinen Sie nicht auch, wir sollten noch ein wenig warten? Es kann uns beiden nicht schaden, den unangenehmen Eindruck des Beginnes unserer Bekanntschaft zu verwischen. Und dann – ich denke, wir beide gehen schriftlich eher aus uns heraus, als wenn wir uns gegenüberstehen. Sie scheinen mir auch ein bißchen ein Hasenfuß – wie ich.
Glauben Sie nicht, daß ich immer so trocken bin im Gegenteil, ich leide oft an einer sehr ausschweifenden Phantasie. Wollen Sie mir nicht ein wenig von Ihrem Leben erzählen; vielleicht auch Ihren Namen nennen? Das wird gut sein gegen meine Träume, die nicht mehr ruhen wollen, seit ich den Namen »Ludwig« gelesen habe. Aber Sie können ja nicht mein Ludwig sein; Sie schreiben ja so jünglingsmäßig, und der, den ich meine – von allem andern abgesehen – müßte noch älter sein als ich, und ich bin nun schon fünfundzwanzig. Also bitte, vertreiben Sie mir bald meine Grillen und erfreuen mich mit einem recht großen Brief. Adressieren Sie ihn in das benachbarte Dorf Kondersingen. Die ich mich nenne Ihre ergebene
Ida.
Sehr werte Frau!
Alles dringt auf mich ein, um mich in eine Region der Heiterkeit zu verpflanzen; aber mir wird fast bange davor, ich möchte mich manchmal allen Einflüssen entziehen und allem Fremden davonlaufen. Wundern Sie sich nicht, daß ich Sie eine Fremde nenne; mein Herz ist ein empfindliches Ding, und wer mir daran rühren will, den schaut es groß an, wie einen Eindringling.
Mein Freund freilich läßt nicht ab, mit einem unsagbaren, ein bißchen verachtungsvollen Lächeln und scharfglänzenden Augen mich emporreißen zu wollen, der Frühling lockt mich mit seinen sonnigen Tagen und den kleinen zarten Blumen und streichelt mich mit milden Winden, und meine Freundin, die leider von einer schlimmen Krankheit verzehrt wird, blüht auf wie eine Magnolie. Und zu dem allem kam nun noch Ihr, ja ich muß ihn so nennen, Ihr lieber Brief. Noch ein bißchen Sonnenschein und laue Lüfte vom Süden her – vielleicht werfe ich scheuer Mensch mich dann auch in den Strom und schwimme mit.
Sie wollen nun gar etwas von meinem Leben hören; weil ich Ludwig heiße. Fürchten Sie nicht, mich gekannt zu haben; ich wüßte nicht wieso. Ich habe zufällig von den Verhältnissen Ihres Dorfes vor kurzem sprechen hören, und ich glaube nicht, daß ich mich irre, wenn ich annehme, daß Sie im Schloß daselbst wohnen und die Frau Baronin sind. Ich wüßte nicht, woher sonst nach Schöneck eine Dame Ihrer Bildung kommen sollte; da das Dorf katholisch ist, können Sie auch nicht die Frau Pfarrerin sein. Fassen Sie das nicht als Zudringlichkeit auf: nun, so weit sind wir ja wohl schon vertraut mit unserem Wesen, daß wir über die ängstliche Wahrung der Anonymität hinaus sind. Auch fragten Sie mich nach meinen Umständen und nach meinem Namen; ich heiße Ludwig Prinz und bin seit ganz kurzer Zeit hier praktischer Arzt – aber leider so ziemlich ohne Praxis bisher.
Das Alter freilich würde gut stimmen; denn Sie irren sich, wenn Sie mich der Zahl der Jahre nach für einen Jüngling halten; ich bin ein Jahr älter als Sie. Sonst freilich können Sie recht haben; ich empfinde mich selbst als einen Spätling, und mein Leben ist auch so merkwürdig verlaufen, daß ich zweimal geboren wurde, einmal als lebendes Wesen, als ein Stück wilde Natur, und später noch als Mensch, als Mitglied der großen Gemeinschaft der Kultur. Lassen Sie sich meine Geschichte erzählen, vielleicht schöpfen Sie daraus mehr als aus theoretischen Erörterungen die Erkenntnis, daß es doch eine ungeheure Gemeinschaft der Überlieferung und der Sitte gibt, in die einzutreten etwas unendlich Bedeutungsvolles und aus der auszutreten ein Wagestück ist, zu dem viel Mut gehört – oder viel Oberfläche.
Vielleicht berührt es Sie trotz aller Vorurteilslosigkeit doch etwas peinlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich ein Dorfbankert bin. In Breitenau bin ich zur Welt gekommen, meine Mutter habe ich nicht gekannt, sie starb bei der Geburt. Sie war die Tochter eines Tagelöhners; ich habe nichts über sie vernommen, als daß sie nicht sonderlich hübsch war. Ich wurde auf Gemeindekosten – nein, erzogen kann man es nicht nennen; sagen wir: gefüttert. Mein Großvater muß wohl ziemlich bald nach meiner Geburt auch gestorben sein, und die andern »Angehörigen« kümmerten sich nicht um mich. Und nach dem Vater dürfen Sie mich nicht fragen; er muß wohl nicht aus dem Dorfe gewesen sein. Ich schlief in einem Winkel beim Schafhirten, der wohl ein ganz braver Mann gewesen sein wird; ich glaube aber nicht, daß er während all der Jahre mehr als zehn Worte mit mir geredet hat. Ich half ihm und seinem Wolf – so hieß der Hund – die Schafe hüten, bis man mir dann später den Posten des Gänsehirten übertrug. Es war, wenn ich's jetzt ehrlich sagen soll, ein herrliches Leben. Freilich hatte ich leider oft Hunger, denn richtig regelmäßig zu essen hat mir kein Mensch gegeben; ich wandelte so die einzelnen Höfe und Bauernhäuser ab, und gewöhnlich wurde ich bei den Ärmsten noch am ehesten satt. Aber schön war's doch. Wenn die andern in der Schule sitzen mußten und buchstabieren und kopfrechnen und sich beim Lehrer Schläge holen, da lag ich friedlich bei meinen Gänsen und schnitzelte mir eine Pfeife, und wenn sie fertig war, blies ich auf ihr, stundenlang eine eintönige Leier, und ich kam mir vor, wie ein König auf seinem Thron. Ich hatte mein Leben für mich und glauben Sie mir, trotz aller Unbildung, ich hatte auch meinen Verstand für mich. Und nun erst die Phantasie! Die bunten Steine, und die Käfer, und die Blumen, alle der Farbe nach geordnet und mit meiner hellen Kommandostimme beherrscht – heute noch könnte ich mich sehnen nach den Gesichten, die ich damals schaute, und nach den Geschichten, die ich ganz still für mich erlebte. Es ist wunderbar, aber ich weiß es bestimmt: es war auch nicht eine Spur von Roheit in mir; ich war ein ganz stiller verträumter Bube. Freilich – es war lange Zeit ein ewiger Stillstand, einen Fortschritt gab's nicht, und wenn nicht eine gewaltige Erschütterung dazwischen gekommen wäre, hätte ich ohne Zweifel den Dorfsimpel abgegeben, der verkümmerte, weil er keinen Anstoß hatte, über das Erleben des Zehnjährigen hinauszuwachsen. Nun, etwas zurückgeblieben bin ich ja um die Zeit herum, als ich sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt war, den Dorfbewohnern schon vorgekommen; für voll hat mich damals kein Mensch angesehen. Aber was machte ich mir daraus? Wenn sie mich nur in Ruhe ließen. Ich hatte meine Welt für mich. Ich sah ordentlich, wie die Blumen im Grase um mich herumwuchsen und sich um mich gruppierten, wie die Halme sich vor mir neigten, ich hörte die Vögel, die traulich an meinen Futterplatz heranflogen, mir ihre Lieder singen. Und hoch oben in den abenteuerlichen Wolken, da waren meine Königreiche, für die ich eigne Namen hatte. Daher war ich gekommen, und es stand ganz und gar in meinem Belieben, wann ich die Rückreise antreten sollte. Wäre damals ein harter strenger Mann gekommen, der keinen Spaß verstanden hätte, und hätte der mich barsch gefragt, ob ich denn all dies Geträume selber glaube, ich hätte ihm und mir wohl eingestanden, daß es nur Erfindungen zu meiner Freude seien, aber die Welt wäre mir dann leer gewesen und ich ganz hilflos und verlassen, und ich hätte, glaube ich, bitterlich geweint, daß er mir mein Reich zerstört. Aber der rauhe Mann kam nicht mich zu fragen – und statt seiner gesellte sich mir ein wunderliebliches Mädchen, das willig mit mir in meinen Märchen lebte, obwohl sie mit souveränem Bewußtsein nur ihr Spiel trieb mit meinen Phantasien, denn sie war in die Schule gegangen und war damals schon ein Backfisch. Aber, Sie dürfen nicht lächeln, niemals habe ich wieder ein so schönes Mädchen gesehen, wie meine Judith; es war ein Judenmädchen. Ich hatte sie natürlich immer gekannt, im Dorfe ist das ja nicht anders. Aber sie hatte wohl nie ein Wort an mich gerichtet. Eines Tages aber lag ich auf einer Wiese auf einer Bergterrasse und flocht Blumenkränze, und da kam sie des Weges, und ich sah zum erstenmal, wie schön das Kind war, und ich streckte ihr einen Kranz hin. Sie schrak aus ihren Träumen auf und starrte mich großäugig an, und ich sagte zu ihr: »Da, Judith, nimm deinen Kranz, der ist für dich!« Ich weiß noch, was sie erwiderte; sie lachte schließlich und sprach: »Du bist ja ordentlich galant, Ludwig – hier kann ich ihn ja nehmen« – sie meinte, weil es niemand sah, denn sie war ein gar hochmütiges Wesen. Aber wir kamen ins Gespräch und wurden vertraut, und schließlich, schon nach ein paar Tagen, ließen wir nicht mehr voneinander. Wann sie nur konnte, schlich sie sich zu mir, und am Bachufer und am Waldrand und bei den Felsen – da gab es so viele verborgene Winkel. Denn sehen durfte uns niemand zusammen, und im Dorf durfte ich kein Wörtlein zu ihr sprechen. Das machte mir nichts aus, wenn sie nur oft zu mir in die Blumen und Steine kam, und das tat sie. Sie erzählen in Ihrem Briefe von Ihrer vergnüglichen Liebhaberei, Steine zu klopfen – wissen Sie, das tat auch meine Judith gar zu gern, oft stundenlang, und auch sie schlug Muscheln und Schnecken wie Funken aus dem Gestein.
Schließlich, ohne daß wir ein Wort darüber redeten, liebten wir uns, und ich glaube jetzt, es war eine glühende Leidenschaft, die zwischen uns wob. So daliegen im Grünen, nebeneinander, sie mit ihrer linden, molligen Hand auf meinem verbrannten Nacken, manchmal auch auf der Wange – stundenlang, nichts weiter; aber wir wagten kein Wort, keine Regung, wir starrten nur in die untergehende Sonne oder in meine zerrissenen Wolkenkönigreiche. Und dazu sangen die Nachtigallen aus dem Ufergebüsch – es war ein ganzer Chor, und die Gänse drängten sich um uns herum und schnatterten, die Heuschrecken hüpften, und die Grillen zirpten immer und wieder in Wiesen und Ried, und rings unaufhörlich ein Gesumme und Gewirre der Mücken, die Amseln flöteten, und aus den Äckern jubilierten die Lerchen tief in den Himmel hinein, das Eidechschen kroch aus dem Ginster hervor und drehte sein elegantes Köpfchen und wärmte sich in der Sonne, im Wald lachte und hämmerte der Specht, und wir folgten dem Eichhörnchen von Zweig zu Zweig, die Libellen tanzten im flimmernden Sonnenschein, der goldige Pirol pfiff mit lockendem Ruf, und von ferneher rief immerfort geheimnisvoll der Kuckuck, und ich hörte nur: Judith! Judith! und sie einzig und allein: Ludwig! Ludwig! – Meine Freundin, wahrhaftig! es war schön!
Und eines Tages hatten wir Mut gefunden, und wir küßten uns zum erstenmal, in stiller, seliger Feierlichkeit. Gemein machte sich unsere Liebe nicht, und es war immer etwas Besonderes, wenn unsere heißen, jungen Lippen sich langsam aufeinanderlegten; die glänzenden Tränen standen uns dabei in den Augen, und mir durchschütterte und durchrieselte es meinen ganzen Leib! Oh, diese Erinnerungen – ich sehe Judith noch neben mir, wie sie an meinem Halse lag – und dann, wie sie rasend sich losriß, jenes fürchterliche, gräßliche letzte Mal!
Warum? Das stand ganz außer dem Zusammenhang unseres Liebesbundes. Ich glaube, auch sie hat leidenschaftlich an mir gehangen, aber es war ihr ein Traum, der für nichts Wirkliches galt. Denn dann – es ist lächerlich zu erzählen, aber so war es: dann verlobte sie sich regelrecht mit einem fremden Juden, ich weiß nicht, woher er auf einmal aufgetaucht war – obwohl ich ihr lieb war, wie sonst kein Mensch in der Welt! Wie wir da zusammenlagen, bis sie aufsprang, als ob sie mich verachtete und mich ob ihrer Schande zerreißen könnte, wie sie dann, ohne umzublicken, den Berg hinunterlief, nie habe ich einen so entsetzlichen Schauder gefühlt wie da – es war mehr als Betäubung, alles drehte sich um mich und in mir.
Ein paar Tage vorher – vielleicht auch ein paar Wochen, das weiß ich nicht mehr – war im Dorfe ein großes Gerede darüber gewesen, daß sich der junge Schafhirt eines Nachbardorfes gehängt hatte, weil er von seiner Liebsten verraten war. Ich weiß noch, in der Erzählung wurde immer besonders betont, daß er einen Zettel hinterlassen hatte, in dem er der Geliebten alles, was sie ihm angetan, verzieh und ihr viel Glück im Leben wünschte. Das hatte mich gleich sehr gerührt, und jetzt, in meiner jammervollen Verzweiflung stand es mir hell als Vorbild vor Sinnen. Adieu, Welt! ade, schlimme Vielgeliebte! Es war mir sicher, ich konnte nicht mehr leben. Aber auch ich wollte nicht ohne ein Abschiedswort gehen. Sie sollte durchdrungen werden, sie sollte alles vernehmen, und sie sollte ewig in Liebe an den verstorbenen Ludwig denken, der ihr selbst das hatte vergeben können, daß sie ihn aus dem Leben getrieben. – Aber da kam mir's, wieviel mir fehlte! Ich hatte kein Mittel, um über den Tod hinaus zu sprechen. Ich konnte nicht schreiben. Im Dorfe konnte ich mich keinem Menschen anvertrauen. Immer ging mir das im Kopfe herum, ich schlief keine Minute. Endlich faßte ich den Plan, ich müsse das Schreiben lernen, um den Zettel hinterlassen zu können. Es waren vielleicht drei Tage vergangen nach jenem Abschied – da brannte ich durch, der Stadt zu. Ich war niemals da gewesen, und mit wirrem Kopf schlich ich durch die Straßen und blickte ratlos an den hohen Häusern hinauf. Ab und zu fragte mich ein Vorübergehender, was ich suche. Meine stetige Antwort war: Wo wohnt der Lehrer? Die Leute hatten keine Zeit für mich und ließen mich stehen. Da endlich traf ich einen Menschen, der immer Zeit gehabt hat für alles Ungewöhnliche und Absonderliche – ich kann ihn Ihnen beschreiben, wie er heute noch ist, denn er hat sich nicht verändert, mein Freund, von dem ich Ihnen schon gesprochen habe, mein Nähr- und Lehrvater Arnold Himmelheber: ein mächtiger, breitschultriger Mann hielt mich an, mit graumeliertem Vollbart, eine gesunde Röte um die Backenknochen und mit Glanzaugen unter der Stirn, wie ich sie sonst noch bei keinem Menschen gesehen habe, höchstens annähernd so bei Tizian in seinem Selbstbildnis, dem er auch sonst ein wenig gleicht. Der verstand es, mich zum Reden zu bringen, bis er endlich wußte, daß ich einen Zettel schreiben wolle, aber nicht könne. Und sowie er vernahm, daß ich keinem Menschen angehöre, nahm er mich mit nach Hause, um mich das Schreiben zu lehren. Nun – von der ersten Stunde an, mit dem ersten Federstrich, den er mich aufs Papier malen ließ, hat er mich auch in aller Weisheit der Welt unterrichtet, ich konnte noch kein Wort zusammenhängend lesen, da wußte ich schon von der Gestalt unserer Erde und vom Sonnensystem, und woher man das wisse und was man früher davon geglaubt.
Er hatte eine eigene Weise, er, verstand es, meine Märchen aus mir herauszuschöpfen, und auf die ging er ein und weitete sie aus und schließlich, kaum daß ich merkte wieso, war meine bunte Geschichte anders geworden und nur noch ein Symbol für eine Lehre der Wissenschaft. Und so hat er mich weiter erzogen, und wir haben miteinander meinen Verstand neu entdeckt. Was gingen mir da für Welten auf! Sie werden mir's glauben, daß ich die nächsten Monate mit keinem Gedanken mehr daran dachte, daß ich mich eigentlich töten wollte, und daß ich jetzt den Zettel schreiben konnte. Später dann freilich, als mir die herrliche Kulturwelt, in die ich hineingewachsen war, schon wieder fragwürdig zu werden begann, da habe ich oft meines Dorfes und meiner Blumen und Tiere und Wolken gedacht, und nun erst das Bild meiner Judith hat sich sehr, sehr oft vor mir aufgestellt. Und auch der Gedanke mich zu hängen ist mir, wie Sie wissen, wieder etwas vertrauter geworden.
Aber immerhin, trotz alledem! Ich habe zwei Leben erlebt, ein drittes möchte ich nicht noch einmal neu zu beginnen wagen. Ich bin mit allen Fasern hineingewachsen in die gebildete europäische Welt, und glauben Sie mir, wenn man wie ich aus der natürlichen Wildheit kommt, da weiß man: es gibt ein tausendjähriges Reich, das Macht über uns hat; mir ist die Vergangenheit nichts Totes; mir ist sie eine Welt, in die ich spät eingetreten bin, eine sehr lebendige, eine uralte Macht, von der ich ein winziges Teilchen bin. Ich glaube, mir ist das alles, Sitte, Überlieferung, Zusammenhang, viel neuer, mehr persönlich gegenüberstehend als euch, die ihr drin aufgewachsen seid. Kurz, ich bin feig, und trotz aller Erkenntnis und Sehnsucht mag ich mich gegen die neue Pflegemutter nicht aufbäumen; mag mich nicht recht der neuen Wildheit, die aus der Zukunft herüberwinkt, anvertrauen. Es müßte, glaube ich, schon etwas ganz Gewaltiges kommen, auf daß ich den Mut fände zu ungewöhnlicher Tat. Den Mut, irgend etwas ganz, ganz Besonderes zu tun und dann zu sterben – den habe ich immer noch, dazu gehört aber leider auch nicht viel; aber das Weiterleben gegen die Welt – ich traue mir's nicht zu. Vielleicht unterschätze ich mich, ich fürchte aber, es ist schon so. Hoffentlich verachten Sie mich nicht.
Der Schreibebrief ist Ihnen wohl lang genug, und ich glaube, die Geister meiner Jugend, die Sie wieder geweckt haben, werden mich in den nächsten Stunden noch nicht verlassen.
Ich würde mich freuen, wenn recht bald wieder ein ermutigender Brief von Ihnen käme. Ich bitte Sie darum.
Seien Sie gegrüßt von Ihrem
Ludwig.
Ich darf doch auch weiterhin einfach Ludwig für Sie sein, obwohl Sie jetzt meinen vollen Namen kennen? Wir haben's nun schon eingeführt. Wollen Sie immer noch »Ida« bleiben? oder vertrauen Sie mir?
Mein Freund!
Haben Sie Dank für Ihren Brief; aber lassen Sie mich ganz kurz sein. Ich bin so gar nicht gestimmt, ruhig zu schreiben. Nun also – haben Sie noch Lust, mich kennenzulernen? Eine Stunde von hier und etwa drei Stunden von Ihnen ist der Eisenhammer; Sie kennen den Wald wohl. Wenn Sie sich da nach links wenden, komme. Sie zur sogenannten Kanzel, ein bequem zugänglicher, breiter Felsen, von Buchen umrauscht. Dort werde ich übermorgen nachmittag gegen vier Uhr sitzen und lesen.
Also – auf Wiedersehen! Bitte, lassen Sie auch diesmal mich noch sein Ihre
treulich ergebene
Ida.