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Einige Wochen waren ins Land gegangen, der Frühling hatte schon spärliche laue, regnerische, stürmische Grüße gesandt, da saß oder lag eines Nachmittags in seinem Schaukelstuhl im Studierzimmer Arnold Himmelheber rauchend und langsam-nachdenklich in einem dicken Buche lesend. Um den Leib hatte er einen Schlafrock, auf dem Kopfe ein rundes Käppchen aus hellgrünem Samt und an den Füßen leichte Pantoffeln aus grellrotem, sehr dünnem Schafleder.
Da trat Lysa ins Zimmer, geräuschlos, denn sie vermutete ihn schlafend.
»Väterchen,« flüsterte sie, ohne sich ihm zu nähern.
»Mein Kind, mein liebes, gutes Kind, warum läßt du uns beide so lange allein?« sprach er ebenso mit mehr gedämpfter Stimme, als gelte es, auch sie nicht zu erwecken. Doch war sie gerade dadurch leicht zusammengefahren.
Sie sprang mit zwei Sprüngen zu ihm hin, kniete und kuschelte sich an ihn.
»Rasch, rasch, wir haben keine Zeit. Ich komme – es ist nämlich jemand draußen, ein Fremder, der dich sprechen will.«
Die Hand auf ihr braunes, schlichtes Haar gelegt und sie sanft streichelnd, fragte er etwas erstaunt:
»Mich? Sprechen? Was will er denn?«
»Weiß nicht. Sieht aus wie ein Jude vom Land.«
»Hm, so – da hat sich wieder einmal einer verirrt, der nicht weiß, daß ich nicht mehr praktiziere. Merkwürdig, diese Dorfjuden hängen mit einer seltsamen Zähigkeit an mir. – Na, so laß ihn eben eintreten.«
Lysa schaute noch rasch von unten zärtlich zu ihm auf, dann ging sie den Fremden hineinschicken, während sie in ihr Zimmer schritt.
Der Mann, der nun näher trat, war in der Tat gekommen, um »den Herrn Doktor« als Patient zu konsultieren. Auch war es richtig ein Jude aus Schöneck, einem Dorfe, das nur etwa zwei Stunden entfernt war. Himmelheber war ihm nicht unfreundlich zu Diensten und klärte ihn auch über die Natur und die Aussichten seines Leidens bereitwillig auf.
Der Patient war schon dabei, sich zu verabschieden, da sagte Arnold:
»Warten Sie doch mal« und sann nach. »Sag, Sie sind aus Schöneck?«
»Jawohl, Herr Medizinalrat, ich bin da ansässig.«
»Hm – lebt der Alte noch, wie heißt er nur – den ich einmal vor Jahren in der Kur hatte – hm, ja – Kalme Tilsiter – lebt der noch?«
»Ach nein, jetzt ist er doch schon ein paar Jährchen tot. Kein Mensch hatte ja geglaubt, daß Sie ihn noch einmal so in die Höhe bringen.«
»Hm ja, das ewige Leben hab' ich ihm ja nicht garantiert. Weiß kaum, ob ich mir's selber leisten kann. Hatte er nicht auch einen Sohn dort in Schöneck?«
»Zwei Söhne, Herr Doktor, der Isaak und der Wolf.«
»Richtig – Wolf – Wolf Tilsiter, den mein' ich. Wie geht's denn dem?«
»Oh, sehr gut, Herr Doktor. Daß er verheiratet ist, wissen Sie wohl?«
»Verheiratet? Hab' ich nicht gewußt. Seit wann denn schon? Es ist freilich schon lange, daß er zu mir kam –«
»Das muß nun wohl an acht Jahre sein, daß er Hochzeit hatte.«
»So lange schon? Aber Kinder hat er doch gewiß keine.«
»Das haben Sie wirklich geraten, Herr Medizinalrat. Es macht ihm wahrhaftig viel Kummer.«
»So? hm,« brümmelte der Alte und schmunzelte ganz wenig in seinen Bart. »Was hat er denn für eine Frau? Ist sie hübsch?«
»Hübsch, Herr Doktor?! Eine großartig schöne Frau. Sie haben noch keine so gesehen.«
»So, Seht einmal den Racker. – Schön? und keine Kinder? Na, ihm würd' ich schon welche gönnen. Geschäh' ihm schon recht. – Nun, danke schön für die Auskunft. Man hört immer gern, was alte Bekannte machen.«
»Ich muß danken, Herr Medizinalrat. Was hab' ich zu –?«
Arnold schüttelte den Kopf, und mit nochmaligem wortreichen Dank entfernte sich der Fremde.
Der Alte schaute eine Zeitlang, ohne viel zu denken, vor sich hin, dann blies er die Luft von sich und murrte widerwillig: »Schweine!«
Er wartete eine Weile, dann aber hob er den Kopf und machte erstaunt: »Na!«
Er machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen.
»Wo bleibt sie denn nur?« Nun rief er, daß es laut durch die Wohnung schallte: »Ly–sa!«
Sie steckte den Kopf zur Türe herein.
»Vater, willst du nicht zu uns herüberkommen? Es ist so mollig bei mir. Prinz ist gekommen.«
»So? Ist er da? Drum läßt du mich warten, böser Mensch. Na ja, so muß ich eben auswandern.«
Und er warf einen Blick voll Erbarmen auf seinen Schaukelstuhl. Dann legte er leicht seinen Arm in den ihren, und sie gingen hinüber.
Prinz saß auf dem Sofa und aß ein Stück Apfelkuchen. Auf einem kleinen Tischchen vor ihm stand eine geleerte, zierliche Kaffeetasse.
»Natürlich, wir kommen ins Weibliche,« lachte Arnold, indem er Ludwig die Hand drückte. »Die reine Konditorei. Komm, meine Lysa, gib mir auch so ein Stück Kuchen.«
Im ersten Moment wurde sie glühend rot. Dann lachte sie verlegen. »Ach, Väterchen, Herr Prinz hat ihn aufgegessen.«
Arnold lachte laut auf. »Macht nichts, Kind. Aber beichten, Junge, wieviel Stück?«
»Viere, Alter!«
»Brav, mein Sohn!«
Lysa hatte sich rasch wieder erholt. »Warte, ich hole etwas.«
Sie brachte ein kleines, schwarzes Holzkästchen mit Zigaretten. »Um dir eine Freude zu machen,« sagte sie zu Arnold und zündete sich eine an. »Ich mache mir eigentlich nicht mehr viel daraus,« fügte sie, zu Ludwig gewandt, hinzu, »aber Vater findet es so schrecklich ungemütlich, wenn ich ihn allein rauchen lasse.«
Unterdessen schenkte sie dem Vater seinen Kaffee ein und steckte auch ihm eine Zigarette an. Er ließ ihr die frische und bat sich die ihrige aus. »Schmeckt besser,« sagte er entschuldigend.
Dann ließ er seine Augen funkelnd über den kleinen Kreis und das Erkerzimmer schweifen, durch dessen Fenster man einen weiten Ausblick ins Tal hatte, das jetzt ganz vom Schnee befreit war. Nur vereinzelt glänzten noch auf den Bergen weiße Flecke. Arnold nickte vor sich hin und schnalzte vor Vergnügen mit der Zunge. »Schön, schön!« sagte er dann, »ich bin nun zweiundsechzig Jahre alt, aber nie hab ich mich wohler gefühlt als jetzt. Ach, Kinder, wären wir nicht dumm, o wie dumm, wenn wir am Leben nippen wollten, da wir's in vollen Zügen trinken können? Ah, wahrhaftig, ich bin kein Kostverächter! Lysa, mein Kind, ich möcht's hinausschreien in alle Welt!«
»Vater, tu's nicht,« bat Lysa leise und innig, aber doch wohlig berührt von seiner Kraft. »Ich – du weißt, dein Kind ist nur ein schwacher Mensch.«
Er nickte ihr nur leicht zu und blickte in die Welt hinaus. Dann rieb er sich seine Schenkel. »Frühjahr wird's! Mich brennt's und juckt's und bitzelt's auf meiner Haut, und die Knochen dehnen sich ordentlich.«
»Leimsieder!« schrie er auf einmal Ludwig an, der geträumt hatte und ein wenig zusammenfuhr.
»Was ist, Alter?«
Der lachte in sich hinein. »Wenn ich damals, in Eurem Alter, wenn ich da gewesen wäre, wie jetzt, ich meine, so entsprechend, also: noch anders... so, so... na, das läßt sich nicht sagen. Und Euch, Prinz, ist Euch nicht auch so zum Zugreifen zumut? Zum Stürmen und Jubeln?«
Der machte zu alledem ein recht zweifelhaftes, verdächtiges, Gesicht.
»Könnt's nicht sagen, Gevatter,« antwortete er nun und schüttelte sich, als ob ihn fröstle. »Theoretisch, ja, und wenn ich Sie ansehe, Alter, da lacht mir's Herz freilich – aber für mich selbst – ich hab' nichts, ich bin nichts. Wir, wir – ja! jawohl! wir sind dazu da, zum Freuen und Genießen! Es läg' schon in uns... aber wo ist die Welt, die sich von uns verzehren läßt? Wo Ihr sie hernehmt, das weiß ich nicht, es ist mir ein Rätsel. Aber ich sehe sie nicht, ich habe sie nicht. Ihr seht Täler und Höhen und Dickichte. Wo denn, Alter? Ich sehe nur breite, gepflasterte, fade Landstraßen – und lehmige, schmutzige Holzwege! Ich möchte so sein können, wie Ihr's schildert, aber – äh! Ekel! Diese Welt – das Elend und die Not, und all dies Häßliche. Und, Alter, das Entbehren, kennt ihr das? Ich kann... nein, ich kann es nicht aus der Tiefe des Gemüts schöpfen, das Glück, wenn mir die Welt statt Feuertrank nur schale Suppen anbietet!«
Arnold kraute nachdenklich und zutulich in Lysas Haar. Dann deutete er mit einer hinweisenden Kopfbewegung zu Ludwig hinüber und fragte sie: »Verstehst du, war er meint, Lysa?«
Sie nickte ernsthaft.
»O ja, Vater. Er ist unglücklich. Da ist ihm wohl nicht zu raten. Sein Glück, das muß einer abwarten, ganz geduldig, manchmal kommt's über Nacht. Und, Herr Ludwig, schon in diesem Warten, da steckt viel Glück. Nur das Gefühl gehört dazu, das gewisse, daß es doch noch kommt, daß es kommen muß.«
»Schön gepredigt, mein weises Mädel, aber auf das Laster versteh' ich mich besser. Hab' ich recht, Junge?«
Und dabei blickte er ihn sehr scharf an und strich seinen Bart. Ludwig verstand ihn und antwortete mit nur geringer Verlegenheit:
»Sie sind ein ganz gemeiner Satan, Alter. Aber das, was Sie meinen – o ja, es ist vorhanden, ab und zu, aber das wär's nicht. Das ist nur unbedeutend. So jung bin ich ja nicht mehr. Aber kennen Sie nur den einen Holzweg? Sind die andern Pfade vielleicht appetitlicher? Und wissen Sie auch, daß ich sechsundzwanzig Jahre alt bin? Sechsundzwanzig?«
Lysa stand auf, um hinauszugehen. Sehr erstaunt blickte Ludwig sie an.
»Fräulein Himmelheber,« sagte er in besonderem Tone, »Sie haben mich verwöhnt und werden begreifen, daß ich derb frage: Sie sind doch nicht dämlich? Können Sie dies Gespräch nicht hören?«
Der Alte aber hatte schon seinen Arm um Lysa gelegt. Jetzt warf er Ludwig einen zornigen Blick zu. »Dummkopf! Sind Sie nicht Arzt? Sehen Sie nicht, daß das Mädchen krank ist? Ist wieder blaß geworden bis in die Ohren.«
Er legte seine Hand auf ihr Herz. »Komm, armes Kind,« sagte er traurig, »es wird bald besser.«
Er führte sie in das Nebengemach, das ihr Schlafzimmer war. Auf der Schwelle warf sie dem bestürzten Ludwig noch trübselig lächelnd einen Blick zu, der ihn aufmuntern sollte.
Nach wenigen Minuten kam der Alte wieder herein.
»Lysa,« sprach er noch ins Zimmer zurück, »du weißt, nicht hinlegen. Stell' dich ein wenig ans Fenster, und dann zerstreuen, lesen. Am besten ist dein Singen, wenn du kannst. Komm dann wieder, mein armes, krankes Herz, nicht wahr?« Das sagte er in innig bittendem, weichem Tone.
Ludwig trat verstört auf ihn zu und fragte hastig:
»Aber, lieber Vater, was ist mit Lysa? Ich – es war ja schrecklich – und durch mich!«
Der Alte war unsäglich traurig, wie hilflos schaute er auf seinen jungen Freund. »Ist es nicht ein Jammer?« sprach er leise. »Das süße Wesen so – so vergehen zu sehen – und nicht helfen können – Schuld? Lassen Sie nur. Nicht einmal ich trage da eine Schuld. Ich könnte es gewöhnt sein, und doch, jedesmal wieder – als ob mir das Herz bräche – mit dem ihren.« Das letzte flüsterte er nur ganz leise.
»Aber Alter, es ist doch keine Gefahr?«
»Gefahr?«
Im höchsten Schmerze zucken des Menschen Lippen in einem krampfhaften Lächeln. Der Alte lächelte »Nein, Gefahr hat es keine. Aber Rettung – auch nicht.«
»Sie weiß es?«
Der Alte nickte nur.
»Keine Möglichkeit?«
Arnold brachte ein heiseres »Nein!« hervor.
Nach einer Pause fing Ludwig an. »Darum! darum! nun verstehe ich dieses Sonderbare –«
»Nein, nein,« unterbrach Arnold sein Selbstgespräch. »Im Gegenteil. So ist Lysa nicht. Sie verstehen es nicht. Gar nicht. – Ja so. Nämlich, Geheimnis, das kann nicht sein zwischen ihr und mir. Sie hat mir das wunderliche Gespräch mit Ihnen berichtet; keine drei Tage waren vergangen. Junge, ich spräche wahrhaftig gerne mit Ihnen darüber, aber ihr fehlt noch die Kraft. Ich glaube, bald – bald ist sie so stark, daß sie das nicht mehr scheut. Ernsthaft. Sie wird nicht schwächer, sie wird stärker – ah, es ist ja furchtbar.« Er seufzte tief auf.
Nach einer Weile, in der sie beide vor sich hinsahen, begann Ludwig: »Aber Vater, Sie werden doch nicht – um meinetwillen hier außen sein? Gehn Sie doch hinein zu ihr.«
»Nein, Ludwig, jetzt muß sie ganz allein sein. Aber ich habe noch einen kranken Mann im Haus, noch ein krankes Kind, und mein' ich, dem kann ich helfen.«
Ludwig sah ihn etwas verwirrt an.
»Ja, ja, mein Junge, eben Sie. Sechsundzwanzig, sagen Sie? Ein hübsches Alter für so blühenden Unverstand. Also heraus mit der Sprache. Ich hab nichts, sagt Ihr. Aber das Geld meint Ihr doch nicht damit, hm?«
»Nein, wahrhaftig.«
»Die Weiber auch nicht?« fragte der Alte nun, indem er ihn von der Seite anblickte.
»Das wäre – – schon eher möglich.«
»Nun also, Kind, beichten Sie. Wie stehen Sie mit den Frauen?«
»Gar nicht.«
»Gar nicht wäre sehr dumm. Aber ich glaub's nicht.«
»Aber Alter, stellen Sie sich doch nicht wie eine Nonne an. Auch wissen Sie ja doch schon einiges. Ich war ein paarmal verliebt – in Damen. Nun, bei denen ist Liebe ein Wechsel auf die Zukunft und kranke, hilflose Geilheit in der Gegenwart; von wegen der Sitte. Dann rechtschaffene Leidenschaft – schön war's, solange es war, aber dann stellte sich doch heraus, daß sie ein verhältnismäßig gemeines Lebewesen war. Und seitdem und in der Zwischenzeit – es sehnt sich in mir, aber ich finde nichts. Sie lassen mich alle kalt. Und das übrige – gemeine Notdurft und Leibesdrang. Der Überschuß schlägt sich wohl ins Hirn und macht verrückte Gedanken – und ab und zu tolle Verse. Da habt Ihr das Ganze. Glücklich – o ja, schöner Gedanke. – Nur bin ich's eben nicht. Nun will ich doch sehen, ob Ihr mir was anderes wisset als: warten. Das weiß ich selber. Und Lysas zartes Glück: wohl huscht es manchmal verstohlen vorbei: aber nur sehr manchmal. Nun, Beichtvater, jetzt Euer Zaubertrank!«
Der Alte hatte öfters ins Nebenzimmer hinübergehorcht, wo alles still blieb, aber doch gut zugehört und einige Male wie zu einer altbekannten Geschichte genickt. Nun pfiff er leise vor sich hin.
»Nun, ist das Eure ganze Antwort, Meister Arnold?«
»Wenn Ihr Rat wollt, junger Mann, dürft Ihr mich vor allen Dingen nicht anlügen. Wenn Ihr die Hauptsache weglasset –«
»Vater, ich verstehe diesmal wirklich nicht –«
»Das sollte Eure ganze Liebesgeschichte sein? Denkt einmal nach.«
Ludwig wurde rot.
»Nun, Sie werden doch nicht gar an die Kindereien eines Bauerntrottels denken?«
»Lieber Freund, wohl werd' ich. Ich kenne Sie, seit ich Sie vor acht Jahren aus dem Bauernteich gefischt habe, und im Grunde sind Sie derselbe. Es spukt nicht noch, das glaub' ich nicht – aber es spukt wohl wieder – wieder einmal, das Bildnis der Dorfschönen!
Ludwig blieb rot.
»Was soll ich's leugnen, daß ich Vergleiche anstelle, und daß sie mir zum – nun ja, zum Idealbild geworden ist? Wenn ich die Rechte – na, das ist wohl Unsinn, sagen wir: eine Rechte, wenn ich die fände, da würde das Bild aus der Jugendzeit schon verblassen. Glaubt Ihr das nicht?«
Sie blieben beide ein wenig still. Von drinnen drangen nun leise, melodische Töne heraus. Ludwig sah den Alten fragend an.
»Lysa phantasiert,« antwortete er gedämpft. »Das ist ihre Medizin. Wir müssen weiter sprechen. Unser Stummsein würde sie stören. Wir dürfen sie nicht herausreißen. – Also wo hielten wir? Richtig, am Idealbild – Hm, hm – schwierige Sache. Und die Holzwege – die sind Euch natürlich ganz und gar verleidet?«
Der Junge zog eine Grimasse. »Ist ja ein Ekel und ein Jammer dazu.«
»Kann's Euch nachfühlen, mein Sohn. – Und wie ist's mit den Schleichwegen?«
Ludwig fragte nur durch einen Blick, was er meine.
»Nun seht einmal – nein –« Der Alte unterbrach sich und schaute mit einem Blick inniger Sympathie auf Ludwig. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sieh nun einmal an, mein lieber Sohn, daß diese Weit, wie sie heute ist, ganz einfach eine Sauerei – das ist mir so sicher, daß ich bei dem Gedanken kaum mehr feierlich werden kann.«
»Und Ihr meint,« unterbrach ihn der Jüngere empört, »daß man einfach mitschweinen müsse? Für den Essig danke ich.«
Arnold Himmelheber richtete sich auf und schaute ein klein wenig verächtlich auf den jungen Mann herunter.
»Kind, Kind! Kennst du mich nicht oder kannst du nicht denken, oder woran liegt es? Sei doch kein Tropf! Jetzt, das steht fest, und du weißt es wohl, jetzt bist du unreinlich genug. Ich aber sage: Krieg mit dieser Zeit und ihren Menschen und ihren Satzungen; nicht, was, die Kreaturen, die sich im Staub der Zeitungen ernähren, Krieg nennen, Federkrieg, Wortgeprassel; ich rede vom Kampf für die Person, vom Kampf ums Glück! Wo willst du dir die Stätte der Freiheit schaffen für die Gestaltungen deines Geistes, wenn du dem höchsten und natürlichsten Drängen deines Menschenleibes nicht schön Genüge tun kannst? Was soll mir all euer Phantasieren und Forschen von schönerer Zukunft und idealen Gestaltungen, wenn eure Phantasie unrein ist und euer Denken verstümmelt, verschroben und abhängig von den Launen eurer Eingeweide? Glaube mir, mein Lieber, was wir in der Zukunft wollen, was wir ihr überlassen müssen, das ist das Glück und das äußere Behaben unserer Umgebung weil wir die nicht so rasch ummodeln können nach unserem Willen. Aber unser eigenes Glück, das Höchste, woran unser Herz hängt, wie könnten wir das aufschieben – um es unsern Nachkommen zu überlassen? Nein, unser Glück, das schaffen wir uns jetzt, und den Krieg, den führen wir, oft ganz geräuschlos, aber aus eigener Kraft. Was soll ich mit Menschen anfangen, die großartig freie Liebe im Munde führen, die von den oder jenen Wirtschaftsbedingungen abhängen soll? Ihr lieben jungen Leute, ich bin wahrhaftig gerne feurig und jung mit euch; aber wenn ich ein Buch lese, es mag von lauter ganz abstrakten Dingen reden, wenn ich sehe, es ist alles nur verhaltene Geilheit oder eine Verstopfung der Gedärme und der Gedanken, da kommt mir bei meinem Meister, dem Satanas, das Fluchen an, und ich muß rufen: »Hol's der Teufel, haltet mir euren Leib offen, sonst sind wir in euren Büchern beschissen!« Ich mag keine unreinlichen Lüste, und wenn sie sich hundertmal hinter geistigen und reingeistigen Gewändern verstecken, gerade wie sich die Mönche hinter den geistlichen Habitus verzogen; ich mag keine Jünglinge, ich will junge Männer! – In diesem Krieg mit der Welt, da gibt's viele Wege, aber überall heißt es; durchgeschlagen! Und wenn du sie nicht hast, die große, hinreißende Leidenschaft – – still!!«
»Lala – lala – lala, lalala, la – la – la!«
Langsam und klar phrasiert klangen die Töne aus dem Nebenzimmer. Es war nicht Trauer, nicht Freude, nicht melancholische Resigniertheit und nicht Jubel, aber von alledem etwas: ein schwelgendes Hingerissensein in der Erhobenheit.
Die beiden lauschten. In des Alten wunderbarem Augenpaar schimmerte es feucht, und er hub wieder an, die ersten Worte leise, aber es lag eine mächtige Glut in ihnen.
»Mein Sohn! die große Leidenschaft – sie ist nicht wild, sie kann zart und milde sein – hörst du? Aber sie stemmt sich der ganzen Welt, der Welt entgegen und raubt sich ihre Liebe. Nun, die kennst du jetzt nicht. Wenn du sie kenntest, Junge! da würdest du nicht mehr töricht fragen, wo hernehmen, auf daß du genießen kannst. Im Warten schon liegt Glück, sagt Lysa. Sie meint etwas Ähnliches wie ich, wenn ich sage: ihr jungen Menschen, ihr müßt das Glück wollen, dann habt ihr es. Weihen müßt ihr euch der Leidenschaft, andächtig sein, indem ihr ihrer gedenket, alle Kräfte hinspannen nach diesem Ziele – glaubt mir, Männlein und Weiblein, ihr findet euch dann, so wie ihr euch begehret und brauchet, und ihr fragt nicht mehr unruhig tastend gleich den Blinden: wo nehme ich meine Nahrung her? – ›Wo hernehmen und nicht stehlen?‹ Du kennst wohl die Redensart. Nun, da hast du fürs erste für dich eine Antwort. Die große Leidenschaft fehlt dir – zunächst kannst du dir die kleine schaffen. Wo hernehmen? Eben – stehlen! Auf Schleichwegen!«
»Vater, wollen Sie nicht deutlicher –«
»Sag du, mein Sohn! Wir sind jetzt ganz nahe dem höchsten Vertrauen, wir dürfen schon traulich zueinander reden. – Du willst noch nicht verstehen? Nun: ich weiß geheime Wege, die zwar auch schon ein andrer betrat – – ganz sauber sind sie nicht; aber recht schmuck und appetitlich können sie sein. Und so verlassen und oft so voll zitterndem Sehnen, betreten zu werden. Du lächelst? Schön von dir. Ist das, was in den Häusern sitzt, gefesselt an einen Klotz, der sie vernachlässigt und mißhandelt, ist das nicht besser und reiner, als was sich auf den Straßen herumtreibt? Wenn man die Liebe vermißt – und ein Liebchen braucht – dann ist das ein reizvolles Spiel – für ihn und sie – niemand wird hintergangen; denn vom Ehemann lohnt sich's ja nicht zu reden. Und auch sonst – man spricht nicht gern von diesen Dingen – aber gerade dieses Beiwerk, diese Zurüstungen und Ängstlichkeiten, die sind auf euren Jünglingspfaden das besonders Widerliche. Hier findest du nur eine kleine, süße, herzwärmende Heimlichkeit – und wenn schließlich etwas eintritt, was dich besonders herzlich lachen macht – ich sage dir, über so einen kleinen Rebellen, der unsere Ordnung der Dinge besser erschüttert als all unser Geschwätz, nämlich durch sein Dasein, da lachen auch die Engel im Himmel nicht schlecht. Also, du trüber, plumper Deutscher, das ist mein Rezept: Leichtsinn, Keckheit, drauf! Vielleicht meinst du, du verplemperst damit dein Bestes. Bildest du dir aber ein, die Leidenschaft, die käme dir in der Nacht beim Traume angeflogen? Plötzlich, unvermutet wirft sie sich oft auf dich, aber nur, wenn du reif bist für sie, und wenn du sie gerufen hast. Glaube mir, ich bin jetzt zweiundsechzig und kann mitreden, jetzt erst recht, die Leidenschaft, die kann geübt werden. Wenn du so weiter machst wie jetzt, dann verkommst du mir ganz und gar und bist zu nichts mehr imstande, zu nichts Großem und zu nichts Schönem; und zum Herrlichen erst recht nicht. Ich habe manchen gekannt; er war wie die Seifenblase. Wenn die Sonne drauf schien, lieblich zum Ansehen, und man meinte, er wolle wie ein kühner Ballon hinauf zu Wolken sich schwingen. Aber dann, wenn er einen kleinen Anlauf genommen hatte – da platzte er, und man merkte betrübt, es steckte nichts in ihm; und wenn er einem auf die Zunge kam, da hatte er einen verflucht bitteren Geschmack, und war nicht hinunterzukriegen. Sieh' mein lieber Junge, laß dich nicht von einem Strohhalm in die Luft blasen und laß dich nicht einseifen mit der Schwermut der Jünglinge. Drauf, sage ich, drauf! Dann bist du ein Mann. Wenn du rauben lernen willst, dann rat' ich dir ehrlich: beginne mit Stehlen!«
Ludwig wußte nicht, wo er hinhören sollte. Drinnen sang jetzt Lysa mit voller Stimme, und hier die Weise, in der Arnold Himmelheber zu ihm sprach –
»Alter,« begann er mit einem leichten, ungewissen Beben in der Stimme, »du hast wahrhaftig einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Dein Zauberlied lockert mir jetzt schon halb die Glieder«.
»Das macht die Frühjahrsluft,« erwiderte Arnold und trat ans Fenster und öffnete es. »Wir wollen sie ganz hereinlassen.«
Draußen tobte ein warmer Sturm. Der Himmel war von gelben Wolken bedeckt; das Licht war eigentümlich, die Berge und alles ganz nah, und doch keine grellen Farben. Sie standen beide am Fenster, ohne zu reden. Ihnen war heiß, und die Luft tat ihnen wohl, und es war schön, das Ächzen der alten Bäume im Garten zu hören und das ferne Brüllen des Windes.
Drinnen war Lysa still geworden.
»Wir sollten reden, wir haben sie gestört,« flüsterte Ludwig dem Alten zu.
»Vielleicht,« gab er leise zurück, »kann sein, sie sammelt sich auch.«
Sie blickten wieder stumm hinaus, der Alte leicht an Ludwig angelehnt. Auf einmal fing Lysa wieder an, erst leise präludierend, dann hörte man vernehmlich in schlichter, kräftiger Weise mit ruhiger Heiterkeit die Worte singen:
»Vater und Freund, Laßt mich es sagen: Heut bei Gelagen, Morgen im Schragen – – Nicht, mein Geliebter, geweint! Heut nur – sind wir vereint! Heut noch – sind wir vereint!« |
Dem Alten liefen ein paar Tränen die Backen hinunter. Sie drückten einander, ohne ein Wort zu sagen, stark die Hände.
Nach einer geraumen Weile, als eben der Alte anfangen wollte: »Das kommt ihr nur so im Moment, immer in solcher Weise« – da trat Lysa unbefangen in die Tür; ihr Gesicht war von einer sanften Röte angehaucht; sie strich mit beiden Händen leicht und ohne Nervosität über ihr glattes Haar.
»Es ist nun alles ganz gut,« sprach sie, und die kranke Klarheit lag wieder in ihrem Ton. »Die Störung hat nichts weiter zu sagen, nicht wahr, Freund Ludwig? Der Kaffee war etwas zu stark, und das ungewohnte Rauchen – das war hauptsächlich schuld.«
Arnold trat auf sie zu und küßte sie. »Mein kleiner Doktor, du sollst ja deinen Willen haben. Das soll schuld sein. Komm, sei jetzt wieder gesund und stark, mein Mädchen. Ja?«
Sie nickte nur lächelnd. »Nun – und Sie, Prinz Ludwig? Vater hat Ihnen ja wohl eine Rede gehalten? Hat's gewirkt?«
»Es wäre wahrhaftig möglich, liebe Freundin. Er ist ein Teufelskünstler.«
Der Alte aber hatte mittlerweile aus Lysas Schreibmappe ein Blatt Papier genommen und hastig einen Zettel davon gerissen. Nunmehr schrieb er rasch wenige Worte und reichte das Blatt seinem jungen Freund hinüber. Ludwig und Lysa lasen und lächelten, und der alte Doktor rückte sein grünes Käppchen zurecht und lächelte gleichfalls.
Auf dem Zettel stand zu lesen:
Rec. Jugend, Leichtsinn (viel). Kraft. Durst, Schönheit Aqu. vitae destillat. Morgens und abends einen Löffel voll, Dr. Himmelheber |
(Ende des Vorspiels)