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An Herrn Haller,
Professor der Medizin zu Göttingen.


Keine Widmung soll das folgende sein; Sie sind weit erhaben über alle Elogen, die ich Ihnen machen könnte; und ich kenne nichts so Unnützes und so Fades wie einen akademischen Diskurs. Auch keine Auseinandersetzung der neuen Methode soll es sein, die ich befolgt habe, um einen abgebrauchten und oft wiedergekäuten Gegenstand von neuem zu behandeln. Wenigstens diesen Vorzug werden Sie der Abhandlung zuschreiben; und schließlich werden Sie es ja zu beurteilen haben, ob Ihr Schüler und Freund sein Ziel erreicht hat. Von dem Vergnügen, das ich bei der Abfassung dieses Werkes hatte, will ich sprechen; nicht mein Buch, ich selbst bitte Sie um Aufklärung über die Natur des erhabenen Vergnügens am Studium. Das ist der Inhalt dieser Abhandlung. Denn ich wäre nicht der erste Schriftsteller, der, wo er nichts zu sagen hat, um die Unfruchtbarkeit seiner Phantasie auszugleichen, sich einen Gegenstand gewählt hätte, der keine Phantasie nötig hat. Sagen Sie mir also, Sie zwiefaches Kind des Apoll, berühmter Schweizer, moderner Fracastor Fracastor heißt nicht Zertrümmerer, wie Ritter (S. 9) übersetzt. Fracastor ist, wie Haller, Arzt und Poet zugleich, der um 1530 ein vielgelesenes und noch im 18. Jahrhundert mehrfach aufgelegtes Epos über die Syphilis schrieb., Sie, der Sie es verstehen, zu gleicher Zeit die Natur zu erkennen, sie zu messen, was mehr heißen will, sie zu empfinden, was noch mehr heißen will, sie auszudrücken: gelehrter Arzt, noch größerer Poet, sagen Sie mir, durch welche Reize das Studium Stunden in Augenblicke verwandeln kann, welches die Natur dieser geistigen Vergnügungen ist, die von den gewöhnlichen so verschieden sind. … Aber die Lektüre Ihrer reizvollen Gedichte ist mir zu sehr zu Herzen gegangen, als daß ich nicht versuchte, auszu [2]drücken, wozu sie mich begeistert haben. Der Mensch, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, liegt meinem Gegenstande durchaus nicht fern.

Das sinnliche Vergnügen, so angenehm und gesucht es ist, so großes Lob ihm auch die offenbar ebenso dankbare wie feinsinnige Dieser junge französische Arzt ist Lamettrie selbst, der in jüngeren Jahren ein Werk la volupté schrieb. Daraus hat sich später die berüchtigte »art de jouir« entwickelt. Feder eines jungen französischen Arztes gespendet hat, gewährt nur einen einzigen Genuß, der sich sein eigenes Grab gräbt. Wenn das vollkommene Vergnügen ihn auch nicht für immer abtötet, so braucht er doch eine gewisse Zeit, bis er wieder erneuert werden kann. Wie ganz anders geartet sind die Quellen des geistigen Vergnügens! Je näher man der Wahrheit kommt, um so reizvoller findet man sie. Nicht allein erhöht ihr Genuß die Begierde, nein, hier genießt man, sobald man versucht, zu genießen. Man genießt lange und dabei schneller als der Blitz zuckt. Wenn das geistige Vergnügen so viel höher steht als das der Sinne, darf man sich dann wundern, daß der Geist höher steht als der Körper? Ist der Geist nicht der oberste der Sinne und gleichsam ein Treffpunkt aller Sinneseindrücke? Laufen sie nicht, vielen Strahlen vergleichbar, zu ihm, dem Zentrum, das sie hervorbringt, zurück? Fragen wir also nicht weiter, durch welche unbezwinglichen Zaubermittel ein Herz, das von der Liebe zur Wahrheit entflammt ist, sich mit einem Schlage gleichsam in eine schönere Welt versetzt fühlt, in der es göttliche Freuden genießt. Von allen Reizen der Natur ist wenigstens für mich und für Sie, teurer Haller, die Philosophie der stärkste. In ihren Tempel durch Vernunft und Weisheit geführt zu werden: gibt es einen schöneren Ruhm? Gibt es eine schmeichelhaftere Eroberung für uns, als die Unterwerfung der Geister?

Betrachten wir alle Gegenstände jener Genüsse, die niedrigen Seelen unbekannt bleiben. Wie schön und zahlreich sind sie doch! Zeit, Raum, Unendlichkeit, Erde, Meer, Firmament, die Elemente, die Wissenschaften, die Künste, alles gehört zu den Genüssen dieser Art. Ihnen sind sogar die Grenzen dieser Welt zu beengend, und so ersinnen sie sich eine Million neuer Welten. Die gesamte Natur ist ihre Nahrung, die Phantasie ihre Krönung. Gehen wir zu einigen Einzelheiten über.

[3] Bald erfreuen Poesie oder Malerei, bald Musik oder Architektur, Gesang oder Tanz die Kenner durch herrliche Genüsse. Sehen Sie die Delbar Marie-Thérése de Bar, die Frau Pirons, war eine ebenso geistreiche wie kunstbegeisterte Frau. Rebel war »battre de mesure« an der Oper, der heutige Kapellmeister. (Frau des Piron) in einer Loge der Oper an; abwechselnd bleich und rot schlägt sie mit Rebel den Takt, wird mit Iphigenie sanft und mit Roland rasend. Alle Eindrücke des Orchesters malen sich auf ihrem Gesicht wie auf Leinwand ab. Ihre Augen besänftigen sich, ermatten, lachen oder wappnen sich mit kriegerischem Mut. Man hält sie für eine Närrin, sie ist es durchaus nicht, wenn es nicht gerade Narrheit ist, Genuß zu empfinden. Sie ist nur durchdrungen von tausend Schönheiten, die mir entgehen.

Voltaire kann seiner Mérope die Tränen nicht versagen; denn er fühlt sowohl den Wert des Werkes wie den der Schauspielerin. Sie haben seine Schriften gelesen; und zu seinem Unglück ist er nicht imstande, die Ihrigen zu lesen. In wessen Händen, in wessen Gedächtnis sind sie nicht? Und wessen Herz ist so hart, daß es nicht von ihnen besänftigt würde? Wie wäre es möglich, daß ihr Geschmack sich nicht allgemein verbreitete? Er spricht mit Begeisterung davon.

Wenn ein großer Maler von der Malerei spricht – ich habe es vor kurzem mit Vergnügen bei der Lektüre der Vorrede des Richardson gesehen –, was für Lobeserhebungen erteilt er ihr nicht! Er betet seine Kunst an, er erhebt sie über alles, er zweifelt beinahe, daß man glücklich sein könne, ohne Maler zu sein. So entzückt ist er von seinem Beruf.

Wer hat nicht dieselbe Begeisterung wie Skaliger oder P. Malebranche gefühlt, wenn er schöne Stellen aus den griechischen, englischen oder französischen Tragödien oder verschiedene philosophische Werke las? Frau Dacier Madame Dacier nahm an allen Übersetzungen und Kommentaren ihres Mannes regen Anteil und fand in diesen Arbeiten ihren Trost, als ihr ein Sohn und eine Tochter im jugendlichen Alter starben. hat niemals auf das gerechnet, was ihr Mann ihr versprochen hatte; und sie fand hundertmal mehr. Wenn man schon einen gewissen Grad von Begeisterung beim Übersetzen und Entfalten der Gedanken anderer zeigt, wie ist es dann erst, wenn man selbst denkt? Was ist denn diese Zeugung, diese Geburt der Gedanken, die von der Liebe zur Natur und dem Suchen nach der Wahrheit hervorgebracht werden? Wie soll man diesen Akt des [4] Willens oder des Gedächtnisses schildern, durch den die Seele sich gewissermaßen fortpflanzt, indem sie eine Idee der Spur einer ihr gleichartigen folgen läßt, so daß aus ihrer Ähnlichkeit und Vereinigung eine dritte hervorgehe. Bewundern Sie also die Schöpfungen der Natur? So groß ist ihre Einheit, daß sie fast alle auf dieselbe Art entstanden sind.

Die Vergnügungen der Sinne verlieren, schlecht geleitet, ihre ganze Lebhaftigkeit und sind keine Vergnügungen mehr. Die des Geistes gleichen ihnen bis zu einem gewissen Grade. Man muß sie zuzeiten ruhen lassen, um sie wieder zu erhöhen. Schließlich hat auch das Studium seine Ekstase wie die Liebe. Es ist, wenn ich so sagen darf, eine Katalepsie oder Unbeweglichkeit des Geistes, der von alledem, was ihn bannt und entzückt, so wundervoll berauscht ist, daß er in völliger Geistesabwesenheit von seinem eigenen Körper und von allem, was ihn umgibt, wie losgerissen erscheint, um ganz bei dem Stoff sein zu können, den er behandelt. Durch völliges Aufgehen im Fühlen, fühlt er nichts anderes. So ist der Genuß beschaffen, den man beim Suchen und beim Finden der Wahrheit auskostet. Messen Sie die Macht solcher Genüsse an der Ekstase des Archimedes; Sie wissen, daß sie ihn das Leben kostete.

Mögen sich andere in die Menge stürzen, um Selbstvergessenheit oder gar Selbsthaß zu ernten; der Weise flieht die große Welt und sucht die Einsamkeit. Warum ist er nur mit sich selbst oder mit seinesgleichen gern zusammen? Weil seine Seele ein treuer Spiegel ist: in ihm sich zu betrachten, befriedigt seine berechtigte Eigenliebe. Wer tugendhaft ist, hat von der Selbsterkenntnis nichts zu fürchten, es sei denn die angenehme Gefahr sich selbst zu lieben.

Wie einem Menschen, der die Erde von der Höhe der Wolken aus betrachtete, alle Größe der übrigen Menschen verschwinden würde, wie sich ihm die stolzesten Paläste in Hütten und die größten Armeen in einen Haufen Ameisen verwandeln würden, der mit lächerlicher Wut um ein Korn kämpft; so erscheinen die Dinge einem Weisen, wie Sie es sind. Er lacht der eitlen Rührigkeit der Menschen, wenn die Menge sich an die Erde klammert [5] und sich um ein Nichts herumstößt, mit dem sicher keiner von ihnen ganz zufrieden werden kann.

Wie erhaben tritt Pope in seinem Essay über den Menschen auf! Wie klein sind die Großen und die Könige vor ihm! O, Sie, weniger mein Lehrer als mein Freund, der Sie von der Natur dieselbe Geisteskraft bekommen haben, wie er, sie aber mißbraucht haben; Sie Undankbarer, der Sie nicht verdienen in den Wissenschaften so hervorragend zu sein; Sie haben mich lachen gelehrt, wie jener große Dichter, oder vielmehr seufzen über das Spielwerk und die Bagatellen, die sogar Monarchen ernsthaft beschäftigen. Ihnen verdanke ich all mein Glück. Nein, die ganze Welt wiegt nicht das Vergnügen auf, das der Philosoph in seinem Studierzimmer genießt, umgeben von stummen Freunden, die ihm während dieser Muße alles das sagen, was er zu hören wünscht. Möge mir Gott das Unentbehrliche und die Gesundheit nicht nehmen, das ist alles, worum ich ihn bitte. Mit der Gesundheit wird mein Herz ohne Überdruß das Leben lieben. Mit dem Unentbehrlichen wird mein befriedigter Geist immer die Weisheit pflegen.

Ja das Studium ist eine Freude für jedes Alter, jeden Ort, jede Jahreszeit, jeden Moment. Wem hätte Cicero nicht Lust gemacht, auch für sich diese beglückende Erfahrung zu machen? Ein Vergnügen ist es in der Jugend, deren flüchtige Leidenschaften es mäßigt; um es recht zu genießen war ich einige Male gezwungen, mich der Liebe hinzugeben. Die Liebe macht dem Weisen keine Furcht: er weiß alles zu verbinden und das eine durch das andere zu höherer Geltung zu bringen. Die Wolken, die seinen Verstand umnebeln, machen ihn nicht faul; sie zeigen ihm nur an, welches Gegenmittel sie leicht verscheucht. Sicherlich verscheucht die Sonne die Wolken am Himmel nicht schneller.

Gibt es im Alter, jener eisigen Zeit, da man andere Vergnügen weder zu bereiten noch zu genießen imstande ist, eine bessere Genußquelle als Lesen und Nachdenken? Welch Vergnügen, wenn man sieht, wie unter den eigenen Augen und durch die eigenen Hände von Tag zu Tag ein Werk heranwächst und sich bildet, das spätere Jahrhunderte und vielleicht sogar die Zeitgenossen entzücken wird! [6] Ein junger Mensch, dessen Eitelkeit ihn eben verstehen lehrte, welches Vergnügen es ist, ein Autor zu sein, sagte eines Tags zu mir: »Ich möchte mein Leben damit zubringen, zwischen meiner Wohnung und der meines Druckers hin und her zu gehen.« Hatte er unrecht? Und wenn man Beifall hat, könnte dann eine zärtliche Mutter glücklicher sein, ein liebenswürdiges Kind zur Welt gebracht zu haben?

Wozu soviel Rühmens von den Freuden des Studiums machen! Wer wüßte nicht, daß es ein Gut ist, das weder Überdruß noch die Unruhe mit sich führt, die alle anderen Güter begleiten; ein unerschöpflicher Schatz, der furchtbaren Langweile sicherstes Gegengift; ein Begleiter, der mit uns geht und steht, kurz, uns nie im Stiche läßt? Glücklich, wer die Kette seiner Vorurteile gebrochen hat! Er allein wird dieses Vergnügen in voller Reinheit genießen; er allein wird jene sanfte Ruhe des Geistes genießen, jene vollkommene Zufriedenheit einer Seele, erfüllt von Stärke und frei von Ehrgeiz, die das Glück erzeugt, wenn sie nicht das Glück selbst ist.

Halten wir einen Augenblick an, um Blumen auf den Weg der großen Männer zu streuen, die Minerva, wie Sie, mit unsterblichem Efeu gekrönt hat. Hier ist es Flora, die Sie mit Linaeus einladet, auf neuen Pfaden den vereisten Alpengipfel zu besteigen, und dort unter einem anderen Schneeberg einen Garten zu bewundern, den die Natur selbst gepflanzt hat: einen Garten, der einst das ganze Erbe des berühmten schwedischen Professors war. Von da steigen Sie mit ihm in die Prärien hinab, deren Blumen ihn erwarten, um sich in Ordnungen zu fügen, die sie bis dahin verschmäht zu haben scheinen. Dort sehe ich Maupertuis, die Ehre der französischen Nation, deren sich zu erfreuen eine andere mehr verdient hätte. Er erhebt sich von der Tafel eines Freundes, der zugleich der größte der Könige ist. Wohin geht er? In den Rat der Natur, wo Newton ihn erwartet.

Was soll ich über den Chemiker, den Geometer, den Physiker und den Anatomen sagen? Der letztere hat fast das gleiche Vergnügen beim Studium eines Leichnams, das man hatte, als man diesem das Leben gab.

Alles das steht aber weit zurück hinter der großen [7] Kunst zu heilen. Der Arzt ist, wie man lange vor mir gesagt hat, der einzige Philosoph, der Verdienste um sein Vaterland hat; er erscheint wie die Brüder der Helena Die Alten nannten das Elmsfeuer, die merkwürdige elektrische Entladung erhabener, spitziger Gegenstände bei tiefgehenden Gewitterwolken, »Castor und Pollux«, Brüder der Helena. in den Stürmen des Lebens. Welcher Zauber, welches Entzücken, wenn schon sein Erscheinen das Blut beruhigt, einer erregten Seele Frieden gibt und im Herzen unglücklicher Sterblicher süße Hoffnung wieder aufleben läßt. Er sagt Leben und Tod voraus, wie der Astronom eine Sonnenfinsternis vorhersagt. Ein jeder hat die Fackel, die ihn erleuchtet. Aber wenn der Geist das Glück gehabt hat, die Regeln, die ihn leiten, zu finden, so ist das ein Triumph, dessen beglückende Erfahrung Sie täglich machen, welch Triumph aber gar, wenn das eintretende Ereignis die Kühnheit rechtfertigt!

Der größte Nutzen der Wissenschaften war es also, sich ihnen zu ergeben; schon dieser ist wahr und dauerhaft. Glücklich, wer Geschmack an den Studien findet! Glücklicher, wer es fertig bringt, durch sie den Geist von Einbildungen und das Herz von Eitelkeit frei zu machen: ein erwünschtes Ziel, dem Sie in frühem Alter schon an der Hand der Weisheit zugeführt worden sind; während viele Pedanten nach einem halben Jahrhundert von Nachtwachen und Arbeit, mehr noch von der Last der Vorurteile als von der des Alters beschwert, alles andere gelernt zu haben scheinen, nur das Denken nicht! Solche Erkenntnis ist selten, zumal bei Gelehrten, und sollte doch eigentlich die Frucht aller anderen sein. Nur solcher Erkenntnis habe ich mich von früher Jugend an ergeben. Beurteilen Sie, verehrter Herr, ob ich sie erreicht habe, und möge diese Huldigung, die meine Freundschaft Ihnen darbringt, ewig von der Ihrigen geschätzt werden!


Es genügt nicht, daß ein Weiser die Natur und die Wahrheit erforscht; er muß auch wagen, sie zugunsten der kleinen Zahl derer, die denken wollen und können, zu sagen. Denen, die freiwillig Sklaven der Vorurteile sind, ist es ebensowenig möglich, die Wahrheit zu erreichen, wie den Fröschen, zu fliegen.

Ich führe die Systeme der Philosophen über die menschliche Seele auf zwei zurück: das erste und älteste ist das System des Materialismus; das zweite ist das des Spiritualismus.

Die Metaphysiker, die gelehrt haben, die Materie könne sehr wohl befähigt sein, zu denken, haben ihrer Vernunft keine Unehre gemacht. Warum? Weil sie für sich den Vorteil in Anspruch nehmen können (denn hier ist es einer), sich falsch ausgedrückt zu haben. In der Tat, zu fragen, ob die Materie denken kann, ohne sie anders als an sich selbst zu betrachten, heißt fragen, ob die Materie die Stunden angeben kann. Man sieht von vornherein, daß wir diese Klippe vermeiden werden, an der zu scheitern Locke das Unglück hatte. Die Materie an sich selbst betrachten, heißt, sie von der Kraft loslösen, mit der sie stets verknüpft ist. An sich, d. h. ohne Kraft, hat sie natürlich kein Vermögen, Stunden zu zeigen, in der besonderen Form und bestimmten Struktur der Uhr dagegen vermag sie es. So wäre es denkbar, daß eine besondere Konstruktion der Materie (unser Nervensystem) notwendig dächte, so daß man von ihr das Denken nur abstrakt isolieren, nicht aber im realen Geschehen abtrennen könnte. Locke hat diese Frage nie so scharf gestellt wie Lamettrie. (Siehe auch Lange, Gesch. des Mater. S. 419.)

Die Leibnizianer mit ihren Monaden haben eine unverständliche Hypothese aufgestellt. Sie haben die Materie mehr vergeistigt, als sie die Seele materialisiert haben. Wie kann man ein Wesen definieren, dessen Natur uns absolut unbekannt ist?

Descartes und alle Cartesianer, unter die man früher auch die Malebranchisten gezählt hat, haben denselben Fehler gemacht. Sie haben zwei bestimmte Substanzen im Menschen angenommen, als ob sie dieselben gesehen und genau gezählt hätten.

Die Weisesten haben gesagt, daß man die Seele nur durch das Licht des Glaubens erkennen könne; indessen glaubten sie, in ihrer Eigenschaft als Vernunftswesen könnten sie sich das Recht vorbehalten, zu prüfen, was die Schrift mit dem Worte »Geist« hat sagen wollen, [9] dessen sie sich bedient, so oft sie von der menschlichen Seele spricht. Und wenn sie in diesen Untersuchungen nicht mit den Theologen einig sind, sind denn diese unter sich in allen anderen Dingen einiger?

Dieses ist, in wenigen Worten, das Resultat aller ihrer Erwägungen.

Wenn es einen Gott gibt, so ist er der Schöpfer der Natur wie der Offenbarung; er hat uns die eine gegeben, um die andere zu erklären; und die Vernunft, um sie miteinander in Einklang zu bringen.

Den Kenntnissen mißtrauen, die man den lebendigen Körpern entnehmen kann, heißt die Natur und die Offenbarung wie zwei Gegensätze betrachten, die einander zerstören; dann müßte man wagen, den Widersinn anzunehmen, daß Gott sich in seinen verschiedenen Werken widerspricht und uns täuscht.

Wenn es eine Offenbarung gibt, so kann diese die Natur nicht Lügen strafen. Durch die Natur allein kann man den Sinn der Worte des Evangeliums aufdecken, dessen wahre Auslegerin die Erfahrung ist. In der Tat haben die anderen Erklärer bis jetzt die Wahrheit nur umnebelt. Wir wollen hierüber durch den Verfasser des »Schauspiels der Natur« Pluche, der Verfasser des »spectacle de la nature« ist ein populärer Schriftsteller, ein schlechter Vorläufer moderner popularisierender Literatur auf dem Gebiete der Naturbeschreibung und Erklärung: Lamettrie nennt den Pluche in seinen »Essais sur l'esprit et les beaux esprits« einen oberflächlichen, geist- und geschmacklosen Menschen. urteilen: »Es ist erstaunlich,« sagt er in bezug auf Locke, »daß ein Mensch, der unsere Seele bis zu der Anschauung herabwürdigt, daß sie eine Seele von Schmutz sei, es wagt, die Vernunft zum Beurteiler und souveränen Schiedsrichter der Mysterien des Glaubens einzusetzen; denn,« fügt er hinzu, »welche erstaunliche Idee vom Christentum müßte man haben, wenn man der Vernunft folgen wollte?«

Abgesehen davon, daß diese Erwägungen in bezug auf den Glauben nichts aufklären, bilden sie so frivole Entgegnungen gegen diejenigen, welche glauben, die heiligen Bücher auslegen zu können, daß ich mich beinahe schäme Zeit zu verlieren, um sie zu widerlegen.

Erstens: Die Vortrefflichkeit der Vernunft hängt nicht von einem großen, inhaltslosen Worte (der Unkörperlichkeit) ab, sondern von ihrer Stärke, ihrer Weite, oder ihrem Scharfblick. So wäre denn eine »Seele von Schmutz«, welche wie mit einem Blick die schwer begreiflichen Zusammenhänge und Folgen einer Unend [10]lichkeit von Ideen aufdeckte, offenbar einer dummen, einfältigen Seele vorzuziehen, die aus den kostbarsten Elementen gemacht wäre. Mit Plinius über die Erbärmlichkeit unseres Ursprungs erröten, das heißt kein Philosoph sein. Das, was gemein scheint, ist hier die kostbarste Sache, und zugleich diejenige, welche die Natur mit der meisten Kunst und dem größten Aufwand geschaffen hat. Aber wie der Mensch, selbst wenn er aus einer scheinbar noch gemeineren Quelle käme, darum nicht minder das vollkommenste aller Wesen wäre, was auch immer der Ursprung seiner Seele sei; wenn sie rein, edel, erhaben ist, so ist sie eine schöne Seele, die den verehrungswürdig macht, der sie besitzt.

Die zweite Art des Herrn Pluche, Schlüsse zu ziehen, erscheint mir sogar in seinem System fehlerhaft, das einigen Fanatismus enthält; denn wenn wir einen Begriff vom Glauben haben, der zu den klarsten Prinzipien, zu den unstreitigsten Wahrheiten im Gegensatz steht, so müssen wir zu Ehren der Offenbarung und ihres Schöpfers annehmen, daß dieser Begriff falsch ist, und daß wir den Sinn der Worte des Evangeliums noch nicht kennen.

Eines von beiden: entweder alles ist Täuschung, sowohl die Natur, wie die Offenbarung; oder die Erfahrung allein kann über den Glauben Richter sein. Aber was ist lächerlicher als die Meinung unseres Autors? Ich bilde mir ein, einen Peripatetiker zu hören, der sagen würde: »Man darf nicht an die Erfahrungen des Toricelli glauben; denn würden wir sie glauben, würden wir den ›horror vacui‹ verbannen, welche erstaunliche Philosophie würden wir bekommen?«

Ich habe gezeigt, wie fehlerhaft der Schluß des Herrn Pluche ist Er sündigt offenbar durch eine Petitio principii. ( Anm.d.Verf.), erstens, um zu beweisen, daß, wenn es eine Offenbarung gibt, sie durch die alleinige Autorität der Kirche und ohne irgend eine Prüfung von seiten der Vernunft nicht genügend erwiesen wird, wenn es auch alle behaupten, die sich vor der Vernunft fürchten. Zweitens um die Methode derjenigen vor Angriffen zu sichern, die den Weg, den ich ihnen bahne, verfolgen wollen, indem sie die übernatürlichen, an sich unbegreiflichen [11] Dinge durch die Erleuchtung erklären, die jeder von der Natur bekommen hat.

Die Erfahrung und die Beobachtung dürfen uns hier allein führen. Sie finden sich ohne Zahl in den Annalen der Mediziner, die Philosophen gewesen sind, und nirgends bei den Philosophen, die nicht Mediziner gewesen sind.

Diese allein haben das Labyrinth des Menschen durchschritten und erleuchtet; sie allein haben uns seine Triebfedern aufgedeckt, deren äußere Hüllen unseren Augen so viele Wunder verdecken. Sie allein, in leidenschaftsloser Betrachtung unserer Seele, haben diese tausendmal überrascht, sowohl in ihrer Jämmerlichkeit wie in ihrer Größe, ohne sie weder in dem einen dieser Zustände zu verachten, noch in dem anderen zu bewundern. Noch einmal: es sind nur die Naturkundigen, die hier das Recht haben zu sprechen. Was sollen uns die anderen, und was besonders die Theologen zu sagen haben? Ist es nicht lächerlich, sie ohne Scham über einen Gegenstand entscheiden zu hören, den zu kennen sie keineswegs imstande sind; im Gegenteil: sie sind vollständig von ihm abgewandt durch verdunkelnde Studien, die sie zu tausend Vorurteilen und, kurz gesagt, zum Fanatismus geführt haben, der noch zu ihrer Unwissenheit über den Mechanismus des Körpers hinzukommt.

Aber trotzdem wir die besten Führer gewählt haben, werden wir noch viele Dornen und Hindernisse auf diesem Wege finden.

Der Mensch ist eine derartig zusammengesetzte Maschine, daß es unmöglich ist, sich sofort einen klaren Begriff von ihr zu machen und infolgedessen, sie zu definieren. Deswegen sind alle Untersuchungen vergeblich, die die berühmtesten Philosophen a priori gemacht haben, indem sie sich gewissermaßen der Flügel des Geistes bedienen wollten.

Daher kann man nur a posteriori oder, indem man sucht, die Funktionen der Seele, gleichsam mitten durch den Organismus des Körpers dringend, aufzudecken, ich sage nicht, die innerste Natur des Menschen selbst mit Sicherheit entdecken, aber doch den höchsten Grad der hierbei möglichen Wahrscheinlichkeit erreichen.

Halten wir uns also an die Stütze der Erfahrung und [12] kümmern wir uns nicht um die Geschichte aller inhaltslosen Meinungen der Philosophen. Blind sein und glauben, man könne der Stütze entbehren, ist der Gipfel der Blindheit. Wie recht hat doch ein Moderner, wenn er sagt, daß nur die Einbildung dazu verleitet, aus zweiten Ursachen weniger Nutzen zu ziehen als aus ersten. Man kann und muß sogar alle diese schönen Talente in ihren völlig unnützen Arbeiten bewundern: die Descartes, die Malebranches, die Leibniz, die Wolfs usw.; aber welche Frucht haben in aller Welt ihre tiefen Meditationen und alle ihre Arbeiten getragen? Beginnen wir endlich damit, nicht mehr zu untersuchen, was man gedacht hat, sondern was man denken soll, um sein Leben ruhig zu gestalten.

So viele Temperamente es gibt, so viele geistige und sittliche Verschiedenheiten, so viele Charaktere gibt es. Schon Galenus hat diese Wahrheit erkannt, die Descartes und nicht Hippokrates, wie der Verfasser der »Geschichte der Seele« angibt, so weit trieb, daß er sogar behauptete, nur die Medizin könne den geistigen und sittlichen zugleich mit dem körperlichen Zustand ändern. Denn ganz gewiß machen die Säfte des melancholischen, cholerischen, phlegmatischen oder sanguinischen Temperaments nach der Natur, dem Überwiegen und der verschiedenen Zusammensetzung der Säfte jeden Menschen zu einem anderen. In Krankheiten verdunkelt sich die Seele, und gibt kein Zeichen ihres Daseins, bald ist man geneigt zu glauben, sie habe sich verdoppelt, so reißt die Erregung sie fort; bald wieder verschwindet die geistige Schwäche und die Genesung macht aus einem Dummkopf einen geistvollen Mann. Bald wird der größte Geist stumpf, und kennt sich selbst nicht mehr. Ade dann all ihr schönen Kenntnisse, die ihr mit so großen Kosten, mit so vieler Mühe erworben seid!

Hier ist ein Gelähmter, der fragt, ob er sein Bein noch im Bett hat, dort ein Soldat, der den Arm noch zu haben glaubt, den man ihm abgenommen hat. Die Erinnerung an seine früheren Empfindungen und an den Ort, wohin seine Seele sie versetzte, bewirkt seine Einbildung und die besondere Art seines Wahns. Es genügt schon, mit ihm von dem fehlenden Körperteil zu sprechen, um ihn an alle Bewegungen so stark zu erinnern, daß er [13] sie spürt, und dies geschieht mit einem unerklärlichen Mißvergnügen seiner Phantasie, das man nicht genau auszudrücken vermag.

Der eine weint wie ein Kind beim Nahen des Todes, der andere scherzt ihn herbei. Wie wenig war selbst bei Genus Julius Die erste Ausgabe des l'homme machine druckt richtig Canus Julius, alle späteren Ausgaben und Autoren (selbst Lange, S. 340) Cajus Julius. Das ergibt keinen Sinn. Canus Julius, Seneca, Petronius sind drei Männer‚ die tapfer in den Tod gingen. Canus Julius, von Seneca (de tranquillitate animi, cap. 14) erwähnt, ist ein stoischer Philosoph, der im 18. Jahrhundert in Frankreich viel gelesen wurde. Von Caligula wurde er hingerichtet; er hatte kurz vor dem Tode seinen Freunden versprochen wiederzukehren, um sie vom Zustande nach dem Tode zu unterrichten., bei Seneca, bei Petronius nötig, um ihren Mut in Zagen und Feigheit zu verwandeln? Nur eine Verstopfung in der Milz, in der Leber oder der Pfortader. Und warum? Weil die Geistestätigkeit mit den Eingeweiden zugleich verstopft wird; und daher entspringen alle jene eigenartigen Erscheinungen der Hysterie und Hypochondrie. Was könnte ich Neues sagen von denen, die sich einbilden, in einen Werwolf, einen Hahn, einen Vampyr verwandelt zu sein, die glauben, Tote saugen ihnen das Blut aus. Was soll ich mich bei denen aufhalten, die glauben, ihre Nase oder andere Körperteile aus Glas zu haben, denen man dann raten muß, auf Stroh zu schlafen, weil sie sonst fürchten zu zerbrechen; und um ihnen zum natürlichen Gebrauche ihrer Glieder und zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß sie Fleisch und Blut sind, zündet man dann wohl das Stroh an, damit sie fürchten verbrannt zu werden, und heilt zuweilen durch diesen Schrecken die Lähmung. Ich darf über diese Dinge kurz hinweggehen, sie sind allbekannt.

Ich werde nicht lange bei den Einzelheiten der Wirkungen des Schlafs verweilen. Man sehe jenen müden Soldaten an! Er schnarcht im Graben beim Donner von hundert Kanonen. Sein Geist hört nichts, sein Schlaf ist vollständige Lähmung. Eine Bombe wird ihn sofort zerschmettern; er wird vielleicht weniger davon spüren als ein Insekt, das man zertritt.

Anderseits kann der Mensch, den Eifersucht, Haß, Geiz oder Ehrgeiz foltern, nirgends Ruhe finden. Der stillste Ort, die erfrischendsten und beruhigendsten Getränke sind für denjenigen nutzlos, der sein Herz der Qual der Leidenschaften ausgeliefert hat.

Seele und Körper schlafen zugleich ein. Je nachdem sich die Bewegung des Blutes beruhigt hat, ergießt sich ein sanftes Gefühl von Frieden und Ruhe in die ganze Maschine; die Seele fühlt sich zugleich mit den Augenlidern erschlaffen und mit den Fasern des Gehirns abstumpfen; sie [14] wird allmählich mit allen Muskeln des Körpers gleichsam paralytisch. Diese können das Gewicht des Kopfes nicht mehr tragen; jene kann die Last des Gedankens nicht mehr aushalten. Im Schlaf ist sie wie nicht vorhanden.

Der Blutumlauf geht mit zu großer Schnelligkeit vor sich: auch die Seele kann nicht schlafen. Die Seele ist zu erregt: auch das Blut kann sich nicht beruhigen; es rast mit hörbarem Geräusch in den Adern: das sind die beiden wechselwirkenden Ursachen der Schlaflosigkeit. Ein einziges Erschrecken im Traum läßt das Herz doppelt schnell klopfen und entreißt uns der notwendigen oder angenehmen Ruhe, wie es ein lebhafter Schmerz oder drückende Sorgen täten. Wie endlich das bloße Aufhören der Seelenfunktionen den Schlaf herbeiführt, so gibt es auch während des Wachens (das dann nur ein halbes Wachen ist) sehr häufig eine Art geringen Entschlummerns der Seele, gedankenlosen Hindämmerns, welches beweist, daß die Seele den Schlaf des Körpers nicht immer abwartet; denn schläft sie auch nicht völlig, wie wenig fehlt daran! Ist es ihr doch dann unmöglich, auch nur einen einzigen Gegenstand zu nennen, dem sie irgend welche Aufmerksamkeit zugewendet hat, obgleich eine Unzahl undeutlicher Ideen wie ebenso viele Wolken die Atmosphäre des Gehirns erfüllen.

Das. Opium hat zu viel Einfluß auf den Schlaf, den es herbeiführt, um es hier zu übergehen. Dieses Mittel, ebenso wie Kaffee, Wein usw. berauscht jeden auf seine Weise und je nach der genommenen Dosis. Es macht den Menschen glücklich in einem Zustande, der scheinbar das Grab des Gefühls sein müßte, wie er das Abbild des Todes ist. Welche süße Betäubung! Die Seele mag nie aus ihr hervorgehen. Sie war von den größten Schmerzen gepeinigt; sie fühlt nun nichts als die Wohltat, nicht mehr zu leiden und die herrlichste Ruhe zu genießen. Opium verändert auch den Willen; es zwingt die Seele, die wachen und sich erfreuen wollte, sich gegen ihren Willen zu Bett zu legen. Ich übergehe die Geschichte der Wirkung der Gifte mit Stillschweigen.

Indem er die Einbildungskraft aufpeitscht, zerstreut der Kaffee, dieses Gegengift des Weines, unsere Kopfschmerzen und Kümmernisse, ohne sie uns, wie jenes Getränk, für den nächsten Tag aufzusparen.

[15] Betrachten wir die Seele in ihren anderen Bedürfnissen. Der menschliche Körper ist eine Maschine, die ihre Federn selbst aufzieht, ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung. Die Nahrungsmittel unterhalten die Blutbewegung, die das Fieber in Wallung bringt. Ohne jene siecht die Seele dahin, gerät in Wut, und stirbt endlich entkräftet. Sie ist wie eine Kerze, deren Licht, kurz bevor es erlischt, noch einmal aufflackert. Aber ernährt den Körper, gießt in seine Gefäße kraftvolle Säfte, starke Getränke; alsdann wird die Seele so kräftig wie jene, und wappnet sich mit stolzem Mut; der Soldat, den das Wasser hat fliehen lassen, wird nun wild und läuft beim Schall der Trommeln froh in den Tod. So regt auch das heiße Wasser das Blut auf, das vom kalten beruhigt wird.

Welche Macht übt eine Mahlzeit auf uns! Die Freude erwacht in einem traurigen Herzen; sie geht in die Seele der Tischgenossen über, und wird durch jene reizenden Gesänge ausgedrückt, in denen der Franzose sich auszeichnet. Nur der Melancholiker bleibt niedergeschlagen und ebenso geht es dem Manne des Studiums.

Das rohe Fleisch macht die Tiere wild; die Menschen würden es durch dieselbe Nahrung werden. Wie wahr das ist, sieht man daran, daß die englische Nation, die das Fleisch weniger gekocht wie wir, ganz roh und blutig ißt, eine größere Wildheit zeigt, die zum Teil durch jene Nahrungsmittel hervorgebracht wird, zum Teil freilich auch durch andere Ursachen, welche nur die Erziehung unterdrücken kann. Diese Wildheit bringt in der Seele Hochmut, Haß, Verachtung anderer Nationen, Unlenksamkeit und andere Gefühle hervor, die den Charakter verderben, wie die groben Nahrungsmittel einen schwerfälligen und plumpen Geist erzeugen, dessen Haupteigenschaften Faulheit und Indolenz sind.

Pope hat die ganze Macht der Feinschmeckerei wohl gekannt, wenn er sagt: »Der ernste Catius spricht immer von Tugend und glaubt, daß selbst lasterhaft ist, wer die Lasterhaften leidet. Diese schöne Gesinnung dauert an, bis die Zeit des Mittagessens da ist; dann zieht er einen Bösewicht, der eine auserlesene Tafel führt, einem frugalen Heiligen vor.«

[16] Weiterhin sagt er: »Man sehe sich doch nur denselben Menschen in gesunden oder in kranken Tagen an, im Besitze eines schönen Amtes oder wenn er dieses verloren hat; man sieht ihn dann das Leben zärtlich lieben oder es verfluchen, närrisch versessen auf die Jagd und trunken in einer Provinzversammlung, dagegen artig auf einem Ball, als guten Freund in der Stadt, ohne Treue am Hofe.«

In der Schweiz gab es einen Amtmann namens Steiger von Wittighofen. Nüchtern war er der rechtschaffenste und selbst der nachsichtigste Richter; wehe aber dem Unglücklichen, der vor Gericht stand, wenn jener von einem großen Mittagessen kam. Er war dann der Mann dazu, den Unschuldigen ebenso hängen zu lassen wie den Schuldigen. Steiger von Wittinghofen, einer bekannten Berner Familie ungehörig‚ war Mitglied des höchsten Gerichtshofes und ein höchst angesehener Mann, von dem uns nichts Schlechtes bekannt ist: sonst hätte ihn Lessing nicht im Henzi als Vorbild eines guten Staatsoberhauptes behandelt. Vielleicht hängen Lamettries Angriffe mit der Freundschaft Steigers mit Haller zusammen, der 1733 für ihn ein Hochzeitsgedicht gemacht hatte. (Beim Beilager des hochwohlgeborenen gnädigen Herrn Isaac Steiger.)

Wir denken nur dann wie rechtschaffene Menschen, ja, wir sind überhaupt nur dann rechtschaffene Menschen, wenn wir heiter oder mutig sind. Alles hängt von der Art ab, wie unsere Maschine aufgezogen ist. In manchen Augenblicken könnte man sagen, die Seele wohne im Magen, und van Helmont, der ihren Sitz in die Magenöffnung verlegte, habe sich nur darin geirrt, daß er den Teil für das Ganze nahm.

Zu welchen Ausschreitungen kann grausamer Hunger uns treiben! Die Rücksicht auf diejenigen, denen man das Leben verdankt oder denen man es geschenkt hat, hört auf, man zerfleischt sie ohne Rücksicht und macht sich aus ihnen fürchterliche Gastmähler und im Wahnsinn, von dem man hingerissen ist, wird der Schwächste immer die Beute des Stärksten.

Die Schwangerschaft, dieses erwünschte Abbild der Bleichsucht‚ hat in ihrem Gefolge nicht nur krankhafte Veränderungen des Geschmackes, welche bei beiden Zuständen auftreten, sondern gelegentlich verleitet sie die Seele zur Vollführung der scheußlichsten Verbrechen. Diese sind dann Folgen einer vorübergehenden Geistesstörung, welche sogar Gesetze der Natur ersticken kann. So verändert sich das Gehirn, diese Gebärmutter des Geistes, in seiner Art zugleich mit der des Leibes in krankhafter Weise.

Welche Leidenschaft finden wir bei Männern und Frauen, die gesund und dabei enthaltsam sind! Schüch [17]terne und zurückhaltende Mädchen verlieren dann alle Scham und Scheu. Sie betrachten dann den Inzest nicht anders, wie eine galante Dame den Ehebruch ansieht. Finden ihre Bedürfnisse nicht schnelle Befriedigung, so wird es nicht nur bis zu einfachen Zufällen eines Gebärmutterkrampfes und bis zur Manie kommen, nein, solch eine Unglückliche wird an einer Krankheit sterben, für die es doch so viele Ärzte gibt.

Man braucht nur die Augen aufzumachen, um den naturnotwendigen Einfluß des Alters auf die Vernunft zu sehen. Die Seele folgt den Fortschritten des Körpers, wie denen der Erziehung. Beim schönen Geschlecht wird die Seele noch von der zarten Empfindlichkeit des Temperaments beeinflußt; daher kommen die Zärtlichkeit und Zuneigung und die lebhaften Gefühle dieses Geschlechts, welche vielmehr auf Leidenschaft als auf Vernunft gegründet sind, seine Vorurteile und sein Aberglauben, deren starkes Gepräge sich kaum verwischen läßt und anderes mehr. Dagegen hat der Mann, dessen Gehirn und Nerven fester und solider gebaut sind, einen kräftigeren Geist und energischere Gesichtszüge. Die Erziehung, welche die Frauen nicht haben, verstärkt immer von neuem die Anlagen seines Geistes. Wie sollte da der Mann, ausgestattet mit solchen Hilfsmitteln der Natur und der Kunst, nicht dankbarer und großmütiger, beständiger in der Freundschaft und fester im Unglück sein? Wer aber, um einmal dem Gedankengang des Verfassers der Briefe über die Physiognomien zu folgen Abbé Jacques Pernety (1696-1777) verfaßte »Lettres philosophiques sur les physionomies«, die auch ins Deutsche übersetzt wurden., die Anmut des Geistes und des Körpers mit fast allen den zartesten und feinsten Regungen des Herzens in sich vereinigt, darf uns sicher nicht um die doppelte Stärke beneiden, welche dem Manne nur deshalb gegeben zu sein scheint, damit er einerseits besser fähig sei, die Reize der Schönheit ganz in sich aufzunehmen, anderseits um besser ihrem Vergnügen dienen zu können.

Man braucht gar nicht ein so großer Physiognomienkenner wie dieser Autor zu sein, um die geistigen Eigenschaften aus der Gestalt oder aus der Form der Züge, wenn diese nur bis zu einem gewissen Grade ausgesprochen sind, erraten zu können, ebensowenig wie man ein großer Arzt zu sein braucht, um eine Krankheit zu erkennen, [18] wenn diese alle ihre deutlichen Symptome zeigt. Betrachtet man die Bilder von Locke, Steele, Boerhaave, Maupertuis usw., so wird man nicht erstaunt sein, ausgeprägte Physiognomien mit Adleraugen zu finden. Man sehe sich eine unendliche Anzahl anderer Bilder an und man wird immer die Schönheit des großen Genies und sogar oft den braven Mann vom Schelmen unterscheiden können. Beispielsweise hat man bemerkt, daß ein berühmter Dichter (in seinem Bilde) den Ausdruck eines Filou mit dem Feuer des Prometheus vereinigt. Dieser Ausfall gegen Voltaire ist in der großen Ausgabe der philosophischen Werke Lamettries (London 1751) weggelassen. Im Gespräch dagegen äußerte er, als man ihm erzählte, Voltaire sei über diese Persiflage wütend: er nehme das Gesagte teilweise zurück, nur die eine Hälfte sei richtig.

Die Geschichte liefert uns ein denkwürdiges Beispiel von dem Einfluß des Wetters. Der bekannte Herzog von Guise war so fest überzeugt, daß Heinrich III., welcher ihn schon so oft in seiner Gewalt gehabt hatte, es nie wagen würde ihn zu ermorden, daß er nach Blois reiste. Als der Kanzler Chyverni seine Abreise erfuhr, rief er aus: »Der Mann ist verloren!« Als die verhängnisvolle Voraussage durch den Ausgang sich als richtig erwiesen hatte, wurde er nach ihrem Grund gefragt. Er antwortete: »Ich kenne den König seit zwanzig Jahren; er ist von Natur gut und sogar schwach, doch habe ich bemerkt, daß ein Nichts ihn ungeduldig macht und ihn in Wut bringt, wenn es kalt ist.«

Manches Volk ist schwerfälligen und stupiden Geistes, manches andere von Natur aus lebhaft, leicht und von durchdringendem Verstande. Woher sollte das wohl kommen, wenn nicht zum Teil von der Nahrung, vom Samen der Väter Die Geschichte der Menschen und Tiere beweist den beherrschenden Ein?uß des väterlichen Samens auf Geist und Körper der Kinder. und von dem Chaos der verschiedenen Elemente, die in der unermeßlichen Luft umherschwimmen? Der Geist hat, wie der Körper, seine epidemischen Krankheiten und seinen Skorbut.

Der Einfluß des Klimas ist so groß, daß ein Mensch, welcher es wechselt, diesen Wechsel unwillkürlich innerlich mitmacht. Er ist wie eine wandelnde Pflanze, die sich selbst umgepflanzt hat; wenn das Klima nicht mehr dasselbe ist, so ist es folgerichtig, daß sie entweder degeneriert oder sich verbessert.

Von den Menschen, mit denen man zusammenlebt, [19] nimmt man alles an, ihre Gesten, ihren Ton usw., gleichwie das Augenlid sich senkt, wenn ihm ein Schlag droht, auf den man vorbereitet ist, oder aus demselben Grund, aus dem der Körper eines Zuschauers maschinenmäßig und unwillkürlich alle Bewegungen eines guten Gebärdenspielers nachmacht.

Das eben Gesagte beweist, daß für einen Menschen von Geist die beste Gesellschaft seine eigene ist, falls er nicht seinesgleichen findet. Der Geist rostet in Gesellschaft solcher, die keinen haben, aus Mangel an Übung ein. Beim Ballspiel wirft man den Ball schlecht zurück, wenn er schlecht zugeworfen worden ist. Ich ziehe einen intelligenten Menschen, der gar keine Erziehung genossen hat, vorausgesetzt, daß er noch jung genug ist, einem solchen mit schlechter Erziehung vor. Ein schlecht gewöhnter Geist ist wie ein Schauspieler, den die Provinz verdorben hat.

Die verschiedenen Zustände der Seele stehen also immer in Wechselbeziehung mit denen des Körpers. Um aber diese ganze Abhängigkeit und ihre Ursachen besser darlegen zu können, wollen wir hier die vergleichende Anatomie zu Hilfe nehmen; wir wollen die Eingeweide des Menschen und der Tiere öffnen. Das ist das Mittel, die menschliche Natur kennen zu lernen, wo uns eine richtige Parallele der Struktur beider keine Klarheit gibt.

Im allgemeinen ist die Gestalt und die Zusammensetzung des Gehirns der Vierfüßler fast dieselbe wie beim Menschen. Überall dasselbe Aussehen und dieselbe Anordnung; nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß der Mensch unter allen Tieren dasjenige ist, das im Verhältnis zu der Masse seines Körpers das größte und am meisten gewundene Gehirn hat. Dann kommen der Affe, der Biber, der Elefant, der Hund, der Fuchs, die Katze usw., also die Tiere, die dem Menschen am meisten gleichen. Denn auch bei ihnen bemerkt man in Stufen die gleiche Analogie in bezug auf das Corpus callosum, in welches Lancisi den Sitz der Seele schon vor dem verstorbenen de la Peyronie verlegt hatte, der diese Ansicht durch eine Menge von Erfahrungen erläutert hat. Lancisi (de subitaneis mortibus 1707) untersuchte die Fasern des Balkens, la Peyronie machte pathologisch-anatomische Beobachtungen, beschrieben unter dem bezeichnenden Titel: Observations sur les maladies du cerveau, dans lequel l'âme exerce ses fonctions, 1708. Sie gehörten zu den vielen, die im 18. Jahrhundert bis zu Sömmering hin nach einem bestimmten Seelensitz suchten.

Nach den Vierfüßlern sind es die Vögel, die am meisten Gehirn haben. Die Fische haben einen dicken [20] Kopf, aber er ist leer an Verstand, wie der vieler Menschen. Sie besitzen ein Corpus callosum gar nicht mehr und sehr wenig Gehirn, das auch den Insekten mangelt.

Ich werde mich weder in ein längeres Detail über die Varietäten in der Natur noch in Vermutungen verbreiten, denn der einen wie der andern gibt es unendlich viele, wie man sehen kann, wenn man nur die Abhandlungen von Willis de cerebro und de anima Brutorum liest.

Ich werde nur solche Schlüsse ziehen, die sich aus den unbestreitbaren Beobachtungen klar ergeben; erstens: Je wilder die Tiere sind, desto weniger Gehirn haben sie; zweitens: Dieses Eingeweide scheint sich gewissermaßen im Verhältnis zu ihrer Gelehrigkeit zu vergrößern; drittens: Die Natur hat hier eine eigentümliche, immer geltende Beziehung festgesetzt, die darin besteht, daß man, je mehr man von seiten des Verstandes gewinnt, desto mehr von seiten des Instinkts verliert. Was ist nun von größerer Bedeutung für uns, der Verlust oder der Gewinn?

Man glaube übrigens nicht, daß ich damit behaupten will, man könne allein aus dem Volumen des Gehirns auf den Grad der Gelehrigkeit der Tiere schließen, es ist nötig, daß auch die Qualität der Quantität entspreche, und daß die festen und flüssigen Teile sich in dem Gleichgewicht befinden, das die Gesundheit ausmacht.

Wenn es einem Schwachsinnigen, wie man gewöhnlich beobachten kann, nicht an Gehirn fehlt, so wird die schlechte Beschaffenheit dieses Eingeweides, z. B. seine zu große Weichheit, daran schuld sein. Dasselbe gilt von den Narren; die Fehler ihres Gehirns bleiben unsern Nachforschungen nicht immer verborgen; wenn aber die Ursachen des Schwachsinns und der Narrheit usw. nicht immer erkennbar sind, wo soll man da die Ursachen der Verschiedenheit aller Geister suchen? Sie würden Luchs- und Argusaugen entgehen. Ein Nichts, eine kleine Faser, ein Ding, das auch die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würde aus Erasmus und Fontenelle zwei Toren gemacht haben, eine Bemerkung, die letzterer selbst in einem seiner besten Dialoge macht.

Außer der Weichheit der Hirnmasse bei Kindern, kleinen Hunden und bei Vögeln, hat Willis beobachtet, daß bei allen diesen Tieren die Corps cannelés vernichtet [21] und gleichsam entfärbt sind, und daß ihre Striae so unvollkommen gebildet sind, wie bei den Paralytikern. Er fügt richtig hinzu, daß der Mensch eine sehr große Protuberantia annularis hat, und daß darauf, stufenweise abnehmend, der Affe und die anderen oben genannten Tiere folgen, während das Kalb, der Ochse, der Wolf, das Schaf, das Schwein usw., bei denen dieser Teil von sehr kleinem Umfange ist, sehr große Hinter- und Zeugungsteile haben.

Wenn man auch gut tut, vorsichtig und zurückhaltend in den Schlußfolgerungen zu sein, welche man aus diesen Beobachtungen und vielen andern über die Art der Veränderlichkeit der Gefäße und der Nerven zieht, so können so viele Verschiedenheiten doch nicht zwecklose Spiele der Natur sein. Mindestens beweisen sie die Notwendigkeit einer guten und reichen Organisation, da auf dem ganzen animalischen Gebiet die Seele mit dem Körper kräftiger wird und in dem Maße als dieser an Kräften erstarkt, auch selbst an Scharfsinn zunimmt.

Verweilen wir bei der Betrachtung der verschiedenen Gelehrigkeit der Tiere. Ohne Zweifel führt die Analogie, wenn man sie richtig versteht, zu dem Glauben, daß die erwähnten Ursachen die ganze Verschiedenheit, zwischen jenen und uns hervorbringen; freilich muß man gestehen, daß unser schwaches Begriffsvermögen, das auf die gröbsten Beobachtungen beschränkt ist, das Band nicht sehen kann, das Ursache und Wirkung verknüpft. Es besteht hier eine Art von Harmonie, welche die Philosophen nie erkennen werden.

Unter den Tieren gibt es einige, die sprechen und singen lernen; sie behalten Melodien und fassen alle Töne ebenso genau wie ein Musiker. Andere, welche sonst mehr Verstand verraten wie der Affe, sind dazu nicht imstande. Was kann daran sonst schuld sein, als ein Fehler der Sprachorgane?

Ist aber dieser Fehler so in der Bildung des Tieres begründet, daß man kein Hilfsmittel für ihn finden könnte? Mit einem Worte: Sollte es absolut unmöglich sein, dieses Tier eine Sprache zu lehren? ich glaube nicht.

Ich würde hierzu den großen Affen jedem andern vorziehen, bis der Zufall uns eine der unseren ähnlichere Art ent [22]decken läßt; denn nichts widerstreitet der Annahme, daß es in uns unbekannten Gegenden eine solche gibt. Dieses Tier gleicht uns so sehr, daß die Naturforscher es als wilden Menschen oder als Waldmenschen bezeichnet haben. Ich würde es unter denselben Bedingungen, wie Amman seine Schüler, in die Lehre nehmen; das heißt, ich wünschte, daß es nicht zu jung und nicht zu alt wäre, denn die Tiere, die man uns nach Europa bringt, sind gewöhnlich zu alt. Ich würde mir dasjenige auswählen, das die geistreichste Physiognomie hätte und das in tausend kleinen Verrichtungen mir am besten hielte, was es verspricht. Wenn es dann soweit wäre, daß ich mich nicht mehr für würdig hielte, sein Erzieher zu sein, würde ich es in die Schule des ausgezeichneten Lehrers geben, den ich eben erwähnte, oder zu einem ebenso geschickten, wenn es einen solchen gibt. Ammans Methode beschreibt Lamettrie ausführlich und klar im »Traité de l'âme« (Chap. XV, Histoire IV), wo auch die Forderungen Ammans angegeben sind (une physionomie spirituelle, un âge tendre, les organes de la parole bien conditionnés). Die Möglichkeit‚ Taubstumme sprechen zu lehren und die spielenden, singenden Automaten machten nicht nur auf Lamettrie, sondern auch auf Diderot usw. den größten Eindruck und erweckten die kühnsten Hoffnungen.

Man kennt durch das Buch von Amman und durch alle diejenigen Der Verfasser der Naturgeschichte der Seele u. a. ( Anm.d.Verf.), die seine Methode dargestellt haben, alle die Wunder, die er an von Geburt Tauben zu verrichten wußte, in deren Augen er, wie er es selbst ausdrückt, Ohren gefunden hat; und in wie wenig Zeit lehrte er sie hören, sprechen, lesen und schreiben! Ich behaupte fest, daß die Augen eines Tauben heller sehen und verständnisvoller begreifen, als die eines nicht Tauben, und zwar aus dem Grunde, weil der Verlust eines Gliedes oder eines Sinnes die Kraft oder den Scharfsinn eines andern vergrößern kann. Der Affe aber sieht und hört; er begreift auch das, was er hört und was er sieht; die Zeichen, die man ihm macht, faßt er so vollkommen auf, daß ich gar nicht daran zweifle, daß er bei jedem Spiel und bei jeder Übung über die Schüler Ammans den Sieg davontrüge. Warum sollte also die Erziehung der Affen unmöglich sein? Warum sollten sie, wenn man sich mit ihnen Mühe gibt, nicht die zum Sprechen nötigen Bewegungen nachahmen können? Ich wage nicht zu entscheiden, ob die Sprachorgane des Affen, was man auch tun möge, es fertig brächten, etwas deutlich auszusprechen; die absolute Unmöglichkeit aber würde mich auf Grund der großen Analogie zwischen dem Affen und dem Menschen überraschen, und [23] weil es bis jetzt kein bekanntes Tier gibt, dessen Inneres und Äußeres dem letzteren in so auffallender Weise gleicht. Locke, der sicher niemals im Verdacht der Leichtgläubigkeit gestanden hat, nahm keinen Anstand, die Geschichte zu glauben, die der Chevalier Temple in seinen Memoiren von einem Papageien erzählt, der passend antwortete und gelernt hatte, eine Art von zusammenhängender Unterhaltung zu führen wie wir. Ich weiß, daß man sich über den großen Metaphysiker lustig gemacht hat Der Verfasser der Geschichte der Seele. ( Anm.d.Verf.); aber würde wohl jemand viel Parteigänger gefunden haben, der der Welt angezeigt hätte, daß es Zeugungen ohne Eier und ohne Weibchen gibt? Und doch hat Trembley solche entdeckt, die ohne Paarung und allein durch Teilung vor sich gehen. Trembley beschrieb 1744 einen bis dahin zu den Pflanzen gezählten Süßwasserpolypen, der sich durch Teilung fortpflanzte – ein damals völlig unbekannter Vorgang. Hätte nicht auch Amman für einen Narren gegolten, wenn er sich, bevor er seine glücklich ausgefallenen Versuche gemacht, gerühmt hätte, Schüler wie die seinigen und noch dazu in so kurzer Zeit zu unterrichten? Und doch haben seine Erfolge die Welt in Erstaunen gesetzt, und er ist, wie der Verfasser der Geschichte der Polypen, in vollem Fluge zur Unsterblichkeit gelangt. Wer die Wunder, die er vollbringt, seinem Geiste verdankt, überragt meines Erachtens denjenigen, der sie dem Zufall verdankt. Wer die Kunst erfunden hat, das schönste der Reiche noch mehr zu verschönern und ihm eine Vollendung zu verleihen, die es vorher nicht hatte, muß über den müßigen Stifter leichtfertiger Systeme und über den betriebsamen Autor unfruchtbarer Entdeckungen gestellt werden. Die Entdeckungen Ammans haben wohl einen andern Wert; er hat Menschen von dem Reiche des Instinkts befreit, zu dem allein sie verurteilt schienen; er hat ihnen Ideen und Geist, mit einem Worte eine Seele gegeben, die sie sonst nicht gehabt hätten. Was für eine überaus große Macht!

Die Fähigkeiten der Natur wollen wir nicht einschränken; sie sind unendlich, besonders wenn ihnen eine große Kunst zu Hilfe kommt.

Könnte nicht dieselbe mechanische Kunst, welche die eustachische Röhre bei den Tauben öffnet, sie auch bei den Affen öffnen? Könnte nicht das günstig wirkende [24] Verlangen, die Aussprache des Lehrers nachzuahmen, die Sprachorgane der Tiere befreien, die so viele andere Zeichen mit soviel Gewandheit und Intelligenz nachahmen? Ich habe nicht nur keine Besorgnis, daß man mir irgend eine wirklich schlagende Erfahrung anführen könnte, welche das Gelingen meines Vorschlags als unmöglich und lächerlich erweist, nein, die Ähnlichkeit der Bauart und der Verrichtungen beim Affen ist eine so große, daß ich durchaus nicht daran zweifle, daß man dieses Tier durch große Übung dahin bringen könnte zu sprechen und dann die Sprache zu verstehen. Das würde dann kein wilder Mensch und kein mißglückter Mensch sein, sondern das wäre ein vollkommener Mensch, ein kleiner Stadtmensch, der soviel Material oder soviel Muskulatur besäße wie wir selbst, um zu denken und aus seiner Erziehung Vorteile zu ziehen.

Der Übergang von den Tieren zum Menschen ist kein gewaltsamer; darüber werden sich die wahren Philosophen einig sein. Was war der Mensch vor der Erfindung der Worte und der Kenntnis der Sprachen? Ein Tier seiner Art, mit viel weniger natürlichem Instinkt wie die andern Tiere, deren König er sich damals nicht dünkte, war er vom Affen und von den andern Tieren nur ebenso verschieden, wie der Affe selbst es von ihnen ist – nämlich durch Gesichtszüge, die mehr Unterscheidungsvermögen verrieten. Nur auf die »intuitive Erkenntnis« der Leibnizianer beschränkt, sah er nur Figuren und Farben, ohne zwischen ihnen etwas unterscheiden zu können; alt wie jung, ein Kind in jedem Alter, stammelte er seine Gefühle und Bedürfnisse, wie ein Hund, wenn er ausgehungert, zu essen, und wenn er von der Ruhe gelangweilt ist, herumzulaufen verlangt.

Die Worte, die Sprachen, die Gesetze, die Wissenschaften und schönen Künste kamen; und erst durch sie wurde der rohe Diamant unseres Geistes geschliffen. Man hat einen Menschen abgerichtet wie ein Tier, man ist Erfinder geworden wie Lastträger. Der Geometer hat gelernt, die schwierigsten Beweise und Berechnungen zu machen, wie ein Affe gelernt hat, seinen kleinen Hut abzunehmen und aufzusetzen und auf seinem gelehrigen Hund zu reiten. Alles ist durch Zeichen erreicht worden; jede Art begriff das, was sie begreifen konnte und auf diese Weise [25] erwerben sich die Menschen die »symbolische Erkenntnis«, wie sie von den deutschen Philosophen noch heute genannt wird.

Wie man sieht, ist nichts so einfach wie die Mechanik unserer Erziehung! Alles läßt sich auf Töne oder auf Worte zurückführen, die aus dem Munde des einen durch das Uhr des andern in dessen Gehirn gehen; dieses nimmt gleichzeitig durch die Augen die Gestalt der Körper auf, deren willkürliche Zeichen diese Worte sind.

Wer aber hat als Erster geredet? Wer ist der erste Lehrer des menschlichen Geschlechts gewesen? Wer fand die Mittel, die Gelehrigkeit unserer Organisation zum Vorteil zu gebrauchen? Ich weiß davon nichts; die Namen dieser glücklichen und ersten Genies sind in der Nacht der Zeiten verloren gegangen. Aber die Kunst ist die Tochter der Natur; letztere hat der Kunst lange vorhergehen müssen.

Man muß annehmen, daß die am besten organisierten Menschen, diejenigen, für die Natur ihre Wohltaten erschöpfte, die Lehrer der andern geworden sein werden. Sie werden z. B. ein neues Geräusch nicht haben hören, neue Empfindungen nicht haben erleben können, alle die verschiedenen schönen Dinge, welche das großartige Schauspiel der Natur ausmachen, werden sie nicht haben in Erstaunen setzen können, ohne daß sie sich im Falle jenes Tauben aus Chartres befanden, dessen Lebensbeschreibung uns der große Fontenelle zuerst mitgeteilt hat, eines Menschen, der mit vierzig Jahren zum erstenmal den staunenerregenden Klang der Glocken hörte.

Sollte es nun abgeschmackt sein zu glauben, daß diese ersten Sterblichen nach Art dieses Tauben oder nach Art der Tiere und der Stummen (auch einer Art von Tieren) es versuchen sollten, ihren neuen Empfindungen Ausdruck zu geben, und zwar durch Bewegungen, die von der Ökonomie ihrer Einbildungskraft abhängig waren, folglich also durch spontane Töne, wie sie jedem Tiere eigen als natürlicher Ausdruck seiner Überraschung, seiner Freude, seines Entzückens oder seiner Bedürfnisse? Denn ohne Zweifel haben diejenigen, die von der Natur mit feinerem Empfindungsvermögen ausgestattet wurden, auch die Fähigkeit gehabt, ihre Empfindungen leichter auszudrücken.

[26] So haben, nach meiner Auffassung, die Menschen ihr Gefühl oder ihren Instinkt dazu gebraucht um Geist, und dann ihren Geist um Kenntnisse zu erlangen. Durch diese Mittel hat sich, soweit ich es begreifen kann, das Gehirn mit Ideen gefüllt, zu deren Aufnahme die Natur es gebildet hatte. Einer half dem andern, die kleinen Anfänge wurden allmählich größer, bis schließlich alle Dinge des Weltalls so leicht unterschieden wurden wie ein Kreis.

Wie eine Violinensaite oder eine Klaviertaste erbebt und einen Ton gibt, so sind die Saiten des Gehirns, durch tönende Strahlen getroffen, angeregt worden, die Worte, die sie berührten, wiederzugeben oder zu Wiederholen. Wie aber der Bau dieses Gehirns ein solcher ist, daß es, sobald die Augen einmal der Optik gemäß geformt sind und das Abbild der Gegenstände erhalten haben, diese Bilder und ihre Verschiedenheiten notwendig sehen muß, so hat auch die Seele, sobald die Zeichen dieser Unterschiede im Gehirn festgelegt und ihm eingeprägt worden sind, die Beziehungen derselben notwendigerweise geprüft; eine Prüfung, die ihr ohne die Entdeckung der Zeichen oder die Erfindung der Sprachen unmöglich gewesen wäre. In jenen Zeiten, wo das Weltall noch fast stumm war, war die Seele bezüglich aller Gegenstände wie ein Mensch, der keine Idee von Proportionen hat und dabei ein Bild oder eine Skulptur betrachtet – er kann nichts daran unterscheiden; oder auch wie ein kleines Kind (denn damals war die Seele in ihrer Kindheit), das in seiner Hand eine bestimmte Anzahl Strohhalme oder Holzstückchen hält, und sie im ganzen, zerstreuten und oberflächlichen Blickes betrachtet, ohne die Fähigkeit zu haben, sie zu zählen oder voneinander zu unterscheiden. Setzt man aber irgend eine Flagge oder Fahne an dieses Stück Holz, z. B. an das, welches man Mast nennt, und setzt man an einen andern ähnlichen Gegenstand auch etwas Ähnliches an, bezeichnet dann den ersten Gegenstand durch das Zeichen 1, den zweiten durch das Zeichen oder die Zahl 2, dann wird das Kind sie zählen können und so allmählich die ganze Arithmetik lernen. Sobald ihm die eine Figur einer andern durch ihr Zahlenzeichen als gleich erscheint, wird es mühelos schließen, daß [27] hier zwei verschiedene Körper vorhanden sind, daß 1 + 1 zwei, daß 2 + 2 vier sind usw. Es gibt noch heute Völker, welche aus Mangel an einer größern Anzahl von Zeichen nicht weiter als bis zwanzig zählen können. ( Anm.d.Verf.)

Diese wirkliche oder scheinbare Ähnlichkeit der Gestalten ist die Grundlage aller Wahrheiten und aller unserer Kenntnisse, von denen, wie jetzt leicht einzusehen ist, diejenigen schwerer begriffen werden, deren Zeichen weniger einfach und weniger in die Sinne fallend sind. Ich spreche hier von den Wissenschaften, die viel Geist erfordern, um die sehr große Anzahl von Worten auch fassen und kombinieren zu können, deren sie sich bedienen, um die Wahrheiten ihres Gebietes auszudrücken. Die Wissenschaften dagegen, die sich durch Ziffern oder andere leichte Zeichen ausdrücken lassen, sind leicht erlernbar, und ohne Zweifel ist es diese leichte Erlernbarkeit, welche mehr noch als ihre augenscheinliche Gewißheit die algebraischen Rechnungen so allgemein verbreitet hat.

So ist also das ganze Wissen, das mit seinem Winde den Gehirnballon unserer hochmütigen Pedanten anschwellen macht, doch nichts anderes, als eine ungeheuere Anhäufung von Worten und Figuren, die im Kopfe alle die Spuren hervorbringen, durch die wir die Gegenstände unterscheiden und uns ihrer erinnern. So erwachen alle unsere Ideen, gleichwie sich beim Gärtner, der die Pflanzen kennt, durch ihren Anblick alle ihre Benennungen regen. Die Worte und die Gestalten, welche durch die Worte ausgedrückt werden, sind im Gehirn so aneinander geknüpft, daß man sich nur selten eine Sache ohne ihren Namen oder das Zeichen, welches mit ihr verbunden ist, vorstellt.

Ich gebrauche immer das Wort vorstellen Lamettrie gebraucht hier das Wort imaginer, wie auch Cabanis sagt »l'imagination est la faculté dominante de l'homme«. Das deutsche Wort einbilden, phantasieren hat eine zu spezielle Bedeutung, das Wort vorstellen vielleicht eine zu allgemeine, doch gibt es wohl kein Wort sonst, das die »intellektuellen« Funktionen umfaßte., weil ich glaube, daß man sich alles vorstellt, und daß man mit Recht alle Teile der Seele auf die Vorstellungskraft allein zurückführen kann, welche sie alle formt: so daß das Urteil, der Verstand, das Gedächtnis nur Teile der Seele sind und zwar keineswegs selbständige Teile, sondern eigentlich nur Modifikationen einer Art [28] markartigen Gewebes, auf welches die im Auge gemalten Gegenstände wie von einer Laterna magica zurückgestrahlt werden.

Wenn aber dieses das wunderbare und unbegreifliche Resultat der Gehirnorganisation ist, wenn alles sich durch die Vorstellungskraft begreifen und deutlich erklären läßt, wozu dann das empfindungsfähige Prinzip, welches im Menschen denkt, teilen? Machen sich dadurch die Anhänger der Ansicht, daß der Geist einfach sei, nicht eines offenbaren Widerspruches schuldig? Denn eine Sache, die man teilt, kann ohne Abgeschmacktheit nicht mehr als unteilbar angenommen werden. Hier sieht man, wohin der Mißbrauch der Sprache und der Gebrauch solcher großen Worte, wie Spiritualität, Immaterialität usw. führt, wenn sie nach Belieben angewandt werden, ohne daß selbst Leute von Geist sich etwas dabei denken.

Nichts ist leichter, als ein System als richtig darzulegen, das wie dieses auf die innerste Empfindung und die eigene Erfahrung jedes Individuums gegründet ist. Ist die Vorstellungskraft oder jener phantasierende Teil des Gehirns, dessen Natur uns ebenso unbekannt ist, wie seine Art zu handeln, von Natur klein oder schwach, so wird sie kaum die Kraft haben, die Gleichheit oder Ähnlichkeit ihrer Ideen zu vergleichen; sie wird nur das sehen können, was ihr direkt gegenüber steht, oder was sie am lebhaftesten affiziert; und noch dazu auf welche Weise! Immer aber bleibt es wahr, daß die Vorstellungskraft allein wahrnimmt, daß sie sich alle Gegenstände mit den für sie charakteristischen Zeichen vorstellt, und daß sie also, ich sage es noch einmal, die Seele ist, da sie alle Rollen der Seele spielt. Durch sie, durch ihren schmeichelnden Pinsel, erhält das kalte Skelett der Vernunft lebhaftes und rotes Fleisch, durch sie blühen die Wissenschaften und verschönern sich die Künste, sprechen die Wälder, seufzen die Echos, weinen die Felsen, atmet der Marmor und nehmen alle leblosen Körper Leben an. Sie fügt der Zärtlichkeit eines verliebten Herzens den pikanten Reiz der Wollust hinzu und läßt diese ebenso im Kabinett des Philosophen wie in dem des eingestaubten Pedanten ihre Keime treiben; sie endlich bildet die Gelehrten ebenso wie die Redner und die Poeten. Törichter [29]weise von den einen verschrieen, ohne Not von den andern ausgezeichnet, schlecht gekannt von allen, geht sie nicht nur im Gefolge der Grazien und der schönen Künste einher, malt sie nicht nur die Natur, sondern kann sie auch ihre Verhältnisse abmessen. Sie überlegt, richtet, dringt in die Dinge ein, vergleicht und vertieft. Könnte sie wohl so gut die Schönheit der ihr gezeigten Bilder empfinden, ohne deren Verhältnisse aufgefunden zu haben? Nein; so wie sie sich über die Vergnügungen der Sinne nicht klar werden kann, ohne diese in ihrer ganzen Vollendung oder Wollust ausgekostet zu haben, so kann sie sich das, was sie mechanisch aufgefaßt hat, nicht überlegen, ohne dann auch selbst das Urteil zu sein. – Je mehr man die Vorstellungskraft oder den magersten Geist übt, um so mehr nimmt er, wenn ich mich so ausdrücken darf, an Beleibtheit zu; um so mehr wächst er an, wird sehnig, stark, umfassend und fähig zum Denken. Die beste Organisation bedarf dieser Übung.

Die Organisation ist der größte Vorzug des Menschen; vergebens sprechen alle die Verfasser von Moralsystemen den Eigenschaften, die wir von der Natur erhalten, den Rang als schätzenswerte Eigenschaften ab und erkennen nur die Talente an, die man sich durch Reflexion und Tätigkeit erwirbt; denn woher bekommen wir, frage ich, diese Fähigkeit, das Wissen und die Tugend, wenn nicht schon eine Anlage vorhanden ist, die uns geeignet macht, fähig, gelehrt und tugendhaft zu werden? Und woher sonst kann diese Anlage kommen, als aus der Natur? Nur sie kann uns wertvolle Eigenschaften verleihen, ihr danken wir alles, was wir sind. Warum sollte ich Menschen, welche wertvolle Eigenschaften von der Natur erhalten haben, nicht ebenso hoch schätzen wie solche, welche durch erworbene und gleichsam entliehene Tugenden glänzen? Welches auch das Verdienst sei und woher es stamme, es ist der Achtung würdig; man muß es nur richtig einzuschätzen verstehen. Geist, Schönheit, Reichtum, Adel haben, obwohl Kinder des Zufalls, alle ihren Wert ebensogut wie Geschicklichkeit, Wissen, Tugend usw. Menschen, die die Natur mit ihren kostbarsten und seltensten Gaben überhäuft hat, müssen diejenigen beklagen, denen sie verweigert werden sind; [30] aber sie können ihre Überlegenheit ohne Hochmut und verständig empfinden. Eine schöne Frau, die sich für häßlich hielte, wäre ebenso lächerlich wie ein Mann von Geist, der sich für einen Narren hielte. Übertriebene Bescheidenheit (übrigens in Wahrheit ein seltener Fehler) ist eine Art von Undankbarkeit gegen die Natur. Ein anständiger Stolz dagegen ist das Zeichen einer schönen und großen Seele und wird schon durch männliche Züge verraten, die gleichsam von der Empfindung geformt worden sind.

Wenn die Organisation ein Vorzug ist, und zwar der größte Vorzug und die Quelle aller andern, so ist der Unterricht der zweite. Ohne ihn wäre das bestkonstruierte Gehirn dem sichern Untergang verfallen, so wie der bestausgestattete Mann, der nicht in Gesellschaft käme, nur ein grober Bauer würde. Was aber wäre die Frucht der besten Schule ohne eine Gebärmutter, die dem Eingang oder der Konzeption der Ideen ganz offen steht? Es ist ebenso unmöglich, einem Menschen, der aller Sinne beraubt ist, eine Idee beizubringen, wie es unmöglich ist, mit einer Frau ein Kind zu zeugen, bei der die Natur die Zerstreutheit so weit getrieben hätte, daß sie vergaß, ihr eine Schamöffnung zu geben. Ich sah eine solche Frau, welche weder Schamspalte, noch Scheide und Gebärmutter hatte und aus diesem Grunde nach zehnjähriger Ehe wieder geschieden wurde.

Ist aber das Gehirn zugleich gut organisiert und gut unterrichtet, so ist es ein fruchtbares, vollkommen besätes Land, welches das Hundertfache dessen hervorbringt, was es empfangen hat: oder (um den bildlichen Stil aufzugeben, der oft notwendig ist, um das, was man fühlt, besser auszudrücken und sogar die Wahrheit anmutig zu gestalten) die Vorstellungskraft, wenn sie durch Kunst zu der schönen und seltenen Würde des Genies erhoben wird, faßt die Beziehungen der begriffenen Ideen genau auf und umfaßt dabei mit Leichtigkeit eine erstaunliche Menge von Dingen, um dann daraus eine lange Kette von Schlüssen zu ziehen; diese sind aber zunächst nur neue Beziehungen, die sich aus dem Vergleich der ersten ergaben, zwischen denen die Seele eine vollkommene Ähnlichkeit findet. So geschieht, meiner Meinung nach, die Zeugung des Geistes. [31] Ich sage findet, wie ich vorher auf die Ähnlichkeit der Gegenstände den Ausdruck Augenschein gebraucht habe – nicht weil ich denke, daß unsere Sinne dauernd Lügner sind, wie der Père Malebranche behauptet hat, oder daß unsere Augen von Natur ein wenig trunken sind und deshalb die Gegenstände nicht so sehen, wie sie an sich sind, obgleich das Mikroskop uns das letztere täglich beweist, sondern um mit den Pyrrhoniern, unter denen Bayle sich hervorgetan hat, keinen Streit zu haben.

Ich sage von der Wahrheit im allgemeinen, was Fontenelle von gewissen Wahrheiten im besondern sagt – man müsse sie der gesellschaftlichen Liebenswürdigkeit zum Opfer bringen. Es liegt in der Sanftmut meines Charakters, jedem Disput vorzubeugen, außer wenn durch einen solchen die Konversation belebt werden soll. Die Cartesianer würden hier vergeblich mit ihren »eingeborenen Ideen« kommen; ich würde mir gewiß nicht den vierten Teil der Mühe geben, diese Hirngespinste anzugreifen wie Locke. Welchen Nutzen sollte in der Tat die Abfassung eines großen Buches haben, das die Richtigkeit einer Lehre darzulegen hätte, welche vor 3000 Jahren zum Axiom erhoben worden ist?

Nach den Prinzipien, die ich aufgestellt habe und für wahr halte, muß derjenige, der die meiste Vorstellungskraft hat, als der geistvollste oder genialste betrachtet werden, denn alle diese Worte sind gleichbedeutend und ich wiederhole es noch einmal: es ist ein schändlicher Mißbrauch, wenn man glaubt, verschiedene Dinge zu sagen, wo man doch nur verschiedene Worte oder Laute gebraucht, an welche man keine wirkliche Idee oder keinen Unterschied geknüpft hat.

Die schönste, die größte und die stärkste Vorstellungskraft ist also für die Wissenschaften wie für die Künste die geeignetste. Ich will durchaus nicht entscheiden, ob es mehr Geist bedarf, um sich in der Kunst des Aristoteles oder des Descartes als in der des Euripides und Sophokles auszuzeichnen, und ob die Natur sich in größere Unkosten gestürzt hat um Newton als um Corneille zu schaffen (woran ich sehr zweifle). Sicher aber ist es die Vorstellungskraft allein, welche verschieden angewendet [32] ihren verschiedenartigen Triumph und ihren unsterblichen Ruhm bewirkt hat.

Wenn jemand in dem Rufe steht, wenig Urteil verbunden mit viel Vorstellungskraft zu haben, so will das sagen, daß die Vorstellungskraft zu sehr sich selbst überlassen und fast immer nur damit beschäftigt ist, sich im Spiegel ihrer Empfindungen selbst zu beschauen, so daß sie nicht die Gewohnheit angenommen hat, diese Empfindungen mit Aufmerksamkeit zu prüfen, weil sie in die Eindrücke oder Bilder tiefer eindringt wie in ihre Wahrheit und Ähnlichkeit.

In der Tat ist die lebhafte Beweglichkeit der Quellen der Vorstellungskraft so groß, daß sie sich mit der Aufmerksamkeit, dem Schlüssel oder der Mutter der Wissenschaften, mischen muß, wenn sie die Gegenstände nicht nur schnell durchlaufen und flüchtig streifen soll.

Man betrachte einen Vogel auf einem Zweige, er scheint immer bereit davonzufliegen; ebenso verhält es sich mit der Vorstellungskraft. Immer wird sie vom Wirbel des Blutes und der Gedanken fortgerissen: hinterläßt eine Welle eine Spur, so wird sie von der nächsten wieder vernichtet. Die Seele läuft hinterher und zwar oft vergebens. Sie muß sich darauf gefaßt machen, das, was sie nicht schnell genug ergriffen und fixiert hat, als Verlust zu beklagen. Und so zerstört und erneuert sich die Vorstellungskraft ohne Aufhören, ein treues Bild der Zeit. Lamettrie gibt hier ein Bild der Aktualität, des steten Bewegtseins, Vergehens und Entstehens unserer psychischen Gebilde, das an die neuesten Systeme der Psychologie erinnert – zugleich ein Bild seiner eigenen Phantasie, die rastlos tätig alle Einfälle in die Werke bringt und ihnen dadurch mehr als billig den Charakter des Ungeordneten, ja Wirren verleiht.

So entsteht die Verwirrung und die dauernde und schnelle Folge unserer Ideen; sie jagen sich, wie eine Welle die andere treibt, so daß die Vorstellungskraft nie des schönen Namens der Erkenntnis würdig wäre, wenn sie nicht sozusagen einen Teil ihrer Muskeln dazu gebrauchte, auf den Saiten des Gehirns sich im Gleichgewicht zu halten, um sich so einige Zeit an einem flüchtigen Gegenstand festzuklammern und sich selbst daran zu hindern, auf einen andern zu stürzen, den zu betrachten noch keine Zeit ist. Die Phantasie wird in lebhafter Weise alles ausdrücken, wie sie es empfunden hat, sie wird Redner und Musiker, Maler und Poeten bilden, aber nie auch nur einen Philosophen. Wenn man die Einbildungskraft im Gegenteil daran gewöhnt, sich von Kindheit an [33] selbst einen Zaum anzulegen, sich nicht zu dem ihr eigenen Ungestüm, das nur glänzende Schwärmer erzeugt, fortreißen zu lassen, ihre Ideen fest und beisammen zu halten, sie nach allen Seiten hin und her zu wenden, um einen Gegenstand von allen Gesichtspunkten sehen zu können, alsdann wird sie schnell fähig sein, Urteile zu fällen und durch die Urteilskraft den weitesten Kreis von Gegenständen umspannen; und ihre Lebhaftigkeit, die bei Kindern immer eine gute Vorbedeutung ist, und die man nur durch Studium und Übung zu leiten braucht, wird zu jenem klar sehenden Scharfblick umgebildet, ohne den man wenig Fortschritte in der Wissenschaft macht.

Das sind die einfachen Grundlagen, auf denen das Gebäude der Logik aufgerichtet werden ist. Die Natur hatte sie dem ganzen Menschengeschlecht gegeben; aber die einen haben sie gut benutzt, die andern haben sie mißbraucht.

Trotz dieser Vorzüge des Menschen vor den Tieren, tut man ihm nur Ehre an, wenn man ihn in dieselbe Klasse mit ihnen rechnet. In Wahrheit ist er bis zu einem gewissen Alter mehr Tier als sie, da er bei der Geburt weniger Instinkt mitbringt.

Welches Tier würde mitten in einem Strom von Milch den Hungertod sterben? Nur der Mensch. Jenem alten Kinde ähnlich, von dem ein Neuerer, wie früher schon Arnobius erzählt, kennt er weder die Nahrungsmittel, die sich für ihn eignen, noch das Wasser, das ihn ertränken, noch das Feuer, welches ihn zu Asche machen kann. Läßt man zum erstenmal ein Kerzenlicht vor den Augen eines Kindes leuchten, so wird es unwillkürlich den Finger hineinstecken, als ob es die neue Erscheinung, die es wahrnimmt, kennen lernen wollte. Es wird auf seine Unkosten die Gefahr dabei kennen lernen, aber nie mehr dabei ertappt werden.

Man setze ferner ein Kind mit einem Tier an den Rand eines Abgrunds; das Kind allein wird hineinfallen. Es ertrinkt, wo das Tier sich durch Schwimmen rettet. Mit 14 oder 15 Jahren erkennt es noch undeutlich das große Vergnügen, welches seiner bei Fortpflanzung seiner Rasse harrt; noch der Jüngling versteht sich oft bei einem Spiele nicht richtig zu benehmen, welches die Natur die [34] Tiere so schnell lehrt. Er verbirgt sich, als ob es eine Schande wäre, Vergnügen zu empfinden und zum Glücke geschaffen zu sein, während die Tiere damit prahlen, Cyniker zu sein. Ohne Erziehung, sind sie auch ohne Vorurteile. Sehen wir uns einen Hund und ein Kind an, die beide auf einer großen Straße ihren Herrn verloren haben; das Kind weint und weiß nicht, welchem Heiligen es sich angeloben soll, dem Hund aber leistet sein Geruch bessere Dienste als dem Kinde seine Vernunft, und er findet den Herrn bald.

Die Natur hatte uns also geschaffen, um unter den Tieren zu stehen oder wenigstens, um eben hierdurch die Wunder der Erziehung heller glänzen zu lassen, welche allein uns aus diesem Niveau heraushebt und uns endlich über die Tiere stellt. Wird man aber diesen auszeichnenden Unterschied auch den Tauben, den Blindgeborenen, den Schwachsinnigen, den Narren, den wilden Menschen oder den im Walde mit den Tieren Erzogenen zugestehen wollen? Ferner denen, welchen durch hypochondrisches Leiden ihre Urteilskraft verloren gegangen ist, und endlich allen den Tieren in Menschengestalt, welche nur den gröbsten Instinkt an den Tag legen? Nein, alle diese Menschen, die nur ihrer Körperbeschaffenheit und nicht ihrem Geiste nach Menschen sind, verdienen eine besondere Klasse nicht.

Wir wollen uns nicht verhehlen, daß man zugunsten der Annahme ursprünglicher Unterschiede zwischen dem Menschen und den Tieren Einwände gegen unsere Meinung erheben kann. Es gibt, sagt man, im Menschen ein natürliches Gesetz, eine Kenntnis des Guten und Bösen, welche in das Herz der Tiere nicht eingegraben worden ist.

Ist aber dieser Einwand, oder vielmehr diese Behauptung, auf die Erfahrung gegründet, ohne die ein Philosoph alles verwerfen kann? Besitzen wir irgend eine Erfahrung, die uns davon überzeugt, daß der Mensch allein von einem Strahl erhellt worden ist, der allen andern Tieren verweigert wurde? Wenn es eine solche nicht gibt, können wir auch durch sie nicht erkennen, was in den Tieren, und selbst in anderen Menschen, vorgeht, sondern nur fühlen, was das Innere unseres persönlichen Seins bewegt. Wir wissen, daß wir denken, und daß wir Gewissensbisse [35] haben, ein inneres Gefühl zwingt uns nur gar zu sehr, das einzuräumen; dieses Gefühl in uns ist aber ungenügend, uns über die Gewissensbisse eines andern urteilen zu lassen. Deshalb muß man den andern Menschen in diesem Punkte auf ihr Wort oder auf die sichtbaren oder äußeren Zeichen hin Glauben schenken, die wir an uns selbst bemerkten, als wir dasselbe böse Gewissen hatten und die gleiche Pein erlitten.

Um aber zu entscheiden, ob die Tiere, welche nicht reden, dieses natürliche Sittengesetz auch erhalten haben, muß man sich folgerichtig an die eben besprochenen Zeichen halten, vorausgesetzt, daß es solche gibt. Die Tatsachen scheinen das zu erweisen. Der Hund scheint es schon im nächsten Moment zu bereuen, seinen Herrn gebissen zu haben, der ihn geneckt hat. Er sieht traurig und verdrießlich aus, wagt es nicht, sich zu zeigen und gesteht seine Schuld durch kriechende und demütige Miene ein. Die Geschichte überliefert uns ein berühmtes Beispiel von einem Löwen, der einen seiner Wut überlassenen Menschen nicht zerreißen wollte, weil er in ihm seinen Wohltäter wieder erkannte. Wie wünschenswert wäre es doch, daß der Mensch immer die gleiche Erkenntlichkeit für Wohltaten und die gleiche Achtung vor der Menschlichkeit an den Tag legte! Man hätte dann weder die undankbaren Menschen noch jene Kriege mehr zu fürchten, welche die Geißel des Menschengeschlechts und die wahren Henker des Sittengesetzes sind.

Ein Wesen aber, dem die Natur einen so frühreifen und klaren Instinkt gegeben hat, das urteilt, verknüpft, nachdenkt und überlegt, soweit der Kreis seiner Tätigkeit sich erstreckt und es ihm erlaubt; ein Wesen, das durch Wohltaten sich anschließt, bei schlechter Behandlung sich lossagt und einen bessern Herrn sucht, ein Wesen von einem dem unsern ähnlichen Bau, das dieselben Verrichtungen, dieselben Leidenschaften, dieselben Schmerzen und dieselben Freuden hat, die je nach der Macht der Vorstellungskraft und der Feinheit der Nerven mehr oder minder lebhaft sind: zeigt ein solches Wesen nicht klar, daß es sein und unser Unrecht fühlt, daß es das Gute und das Böse kennt, kurz daß es sich aus seinen Taten ein Gewissen macht? [36] Sollte seine Seele, welche die gleichen Freuden und Leiden und Bestürzungen wie die unsere erkennen läßt, bei dem Anblick des zerfleischten ihm ähnlichen Geschöpfes, oder gar nachdem es dieses ohne Mitleid selbst in Stücke gerissen hat, gar keinen Widerwillen empfinden? Nimmt man das aber an, so wäre die kostbare Gabe, um die es sich hier handelt, den Tieren durchaus nicht verweigert; denn da sie uns deutliche Zeichen ihrer Reue wie ihrer Intelligenz zeigen, weshalb sollte da der Glaube abgeschmackt sein, daß Wesen, die fast so vollendete Maschinen sind wie wir selbst, auch wie wir imstande sind, zu denken und die Natur zu empfinden.

Man werfe mir nur nicht ein, die Tiere seien zum größten Teil wilde Geschöpfe, und nicht fähig, die Leiden, die sie verursachen, zu empfinden; können denn alle Menschen besser zwischen Lastern und Tugenden unterscheiden? In unserer wie in ihrer Art ist Wildheit. Die Menschen, welche aus barbarischer Gewohnheit das Naturgebot übertreten, leiden dabei nicht so große Qual wie die, welche es zum erstenmal tun und von der Macht des Beispiels nicht verhärtet sind. Bei den Tieren ist es wie bei den Menschen; die einen wie die andern können je nach ihrem Temperament mehr oder minder wild sein, und werden es noch mehr in der Gemeinschaft solcher, die es schon sind. Ein sanftes und friedliches Tier aber, welches mit andern ähnlichen Tieren und von milder Nahrung lebt, wird ein Feind von Blut und Blutbad sein; es wird innerlich erröten, es vergessen zu haben. Der Unterschied ist vielleicht vorhanden, daß bei ihm alles den Bedürfnissen, dem Vergnügen und den Bequemlichkeiten des Lebens geopfert wird, deren sie mehr genießen als wir, so daß ihre Gewissensbisse wohl nicht so lebhaft zu sein brauchen wie die unsern, da wir nicht derselben Notwendigkeit unterworfen sind wie sie. Die Gewohnheiten ebenso wie die Vergnügungen stumpfen die Gewissensbisse ab und ersticken sie vielleicht völlig.

Ich will aber einen Augenblick annehmen, daß ich mich täusche und daß es nicht wahr ist, daß fast die ganze Welt in diesem Punkte unrecht hat, ich allein aber recht; ich räume also ein, daß selbst die ausgezeichnetsten Tiere den Unterschied zwischen dem moralisch Guten und [37] Schlechten nicht kennen, und daß sie kein Gedächtnis für erwiesene Aufmerksamkeiten und Wohltaten und auch keine Empfindung ihrer eigenen Tugenden haben: daß also beispielsweise der vorher erwähnte Löwe sich nicht erinnert, daß er jenem Manne, der seiner Wut überliefert wurde – ein Schauspiel übrigens, das unmenschlicher als alle Löwen, Tiger und Bären war –, das Leben nicht habe rauben wollen, und das alles, während unsre Landsleute sich schlagen, Schweizer gegen Schweizer, Brüder gegen Brüder, sich erkennen und doch fesseln und ohne Gewissensbisse töten, weil ein Fürst ihre Mordtaten bezahlt; ich nehme endlich an, daß das Sittengesetz den Tieren nicht verliehen werden ist, welches werden die Folgerungen daraus sein? Der Mensch ist aus keinem kostbareren Ton gebildet; die Natur hat einen und denselben Teig verwandt und nur die Hefe ist verschieden. Wenn das Tier es also nicht bereut, das innere Gefühl, von dem ich spreche, verletzt zu haben oder vielmehr von einem solchen ganz frei ist, so ist der Mensch ganz notwendig in der gleichen Lage. Dann aber ade Sittengesetz und all ihr schönen Abhandlungen, die darüber veröffentlicht worden sind. Dann würde das ganze Reich der Lebewesen durchweg desselben beraubt sein. Wenn aber umgekehrt der Mensch nicht umhin kann zuzugeben, daß er, so lange ihn nur seine Gesundheit seiner selbst mächtig sein läßt, immer die Rechtschaffenen, Menschlichen, Tugendhaften von den Unmenschlichen, Unedeln, Unanständigen unterscheidet; daß es leicht ist, Tugend und Laster schon durch das Vergnügen oder das eigenartige Widerstreben allein, die deren natürliche Wirkungen sind, zu unterscheiden, so folgt daraus, daß die Tiere, welche aus demselben Stoffe gebildet sind, dem vielleicht nur ein Grad von Gärung gefehlt hat, um dem Menschen in allem zu gleichen, an den gleichen Vorrechten des animalischen Wesens teilnehmen müssen. Dann gibt es keine Seele oder empfindende Substanz ohne Gewissensbisse. Die folgende Erwägung mag das Gesagte noch bestärken.

Man kann das Sittengesetz nicht zerstören. Es ist allen Tieren so stark eingeprägt, daß ich gar nicht daran zweifle, daß auch die wildesten und grausamsten Augen [38]blicke der Reue haben. Ich glaube, daß das wilde Mädchen aus Chalons Man beobachtete im 18. Jahrhundert mit besonderer Aufmerksamkeit Menschen, die in der Wildnis aufgewachsen waren, teils um den Einfluß der Erziehung kennen zu lernen, teils weil man hoffte, von da aus die Grundfragen der Moral zu entscheiden. Das wilde Mädchen aus der Champagne spielte eine große Rolle, am eindringlichsten beschreibt sie, soweit mir bekannt, Herder (im VI. Kapitel des III. Buchs der »Ideen zur Philosophie der Geschichte«): sie »hatte ein schwarzes Ansehen, starke Finger, lange Nägel; und besonders waren die Daumen so stark und verlängert, daß sie sich damit wie ein Eichhörnchen von Baum zu Baum schwang. Ihr schneller Lauf war kein Gehen, sondern ein fliegendes Trippeln und Fortgleiten, wobei an den Füßen fast gar keine Bewegung zu unterscheiden war. Der Ton ihrer Stimme war fein und schwach, ihr Geschrei durchdringend und erschrecklich. Sie hatte ungewöhnliche Leichtigkeit und Stärke und war von ihrer vorigen Nahrung, des blutigen und rohen Fleisches, der Fische, der Blätter und Wurzeln, so schwer zu entwöhnen. daß sie nicht nur zu entfliehen suchte, sondern auch in eine tödliche Krankheit fiel, aus der sie nur durch Saugen des warmen Bluts, das sie wie ein Balsam durchdrang, zurückgebracht werden konnte. Ihre Zähne und Nägel fielen aus, da sie sich zu unseren Speisen gewöhnen sollte.« in der Champagne die Strafe für ihr Verbrechen in sich getragen haben wird, wenn es wahr ist, daß sie ihre Schwester aufgegessen hat. Dasselbe glaube ich von allen denen, welche Verbrechen, selbst ohne ihren Willen oder durch eigentümliche Säftemischung begehen, von Gaston von Orleans, der es nicht lassen konnte zu stehlen‚ von einer gewissen Frau, die während ihrer Schwangerschaft demselben Laster unterworfen war, das sich auf ihre Kinder vererbte, von der Frau, die in demselben Zustande ihren Mann auffraß, von jener andern, welche die Kinder erwürgte, ihre Körper einsalzte und täglich davon wie von jungem Pökelfleisch aß, von jener Tochter eines Diebes, welche mit 12 Jahren zur Menschenfresserin wurde, obwohl sie, da sie Vater und Mutter im Alter von einem Jahre verloren hatte, von anständigen Leuten aufgezogen worden war, von so vielen andern Beispielen zu schweigen, die von Beobachtern berichtet werden und die alle beweisen, daß es tausend erbliche Laster und Tugenden gibt, welche von den Eltern auf die Kinder übergehen wie von den Ammen auf ihre Säuglinge. Ich sage also und gebe zu, daß diese Unglücklichen in den meisten Fällen die Ungeheuerlichkeit ihrer Handlungen nicht auf der Stelle fühlen. Die Freßsucht z. B., oder der Heißhunger, können jedes Gefühl vernichten; es ist dies eine Manie des Magens, die man zu befriedigen gezwungen ist. Wenn aber diese Frauen wieder zu sich selbst gekommen und gleichsam wieder nüchtern geworden sind, welche Gewissensbisse müssen sie empfinden, wenn sie sich erinnern, diejenigen ermordet zu haben, die sie am liebsten hatten! Welche Strafe für eine ohne freien Willen ausgeführte Übeltat, der sie nicht widerstehen konnten und bei der keine Spur von Bewußtsein vorhanden war! Doch ist das den Richtern noch nicht klar. Von den genannten Frauen wurde eine gerädert und verbrannt, eine andere lebendig begraben. Ich begreife wohl, was das Interesse der Gesellschaft erfordert. Aber es wäre zweifellos wünschenswert, daß nur ausgezeichnete Ärzte als Richter tätig wären. Sie allein könnten den unschuldigen Verbrecher vom schuldhaften unterscheiden. Wenn die Vernunft die [39] Sklavin eines verderbten oder in Wut befindlichen Sinnes ist, wie soll sie sein Herr sein können?

Wenn aber das Verbrechen seine mehr oder minder grausame Strafe in sich selbst trägt, wenn eine noch so lange und barbarische Gewöhnung die Reue aus den unmenschlichsten Herzen nicht ganz herausreißen kann, wenn diese vielmehr durch die Erinnerung an ihre Handlungen zerfleischt werden, wozu schreckt man dann die Einbildungskraft schwacher Geister mit der Hölle, mit Gespenstern und Feuerabgründen, die noch weniger real sind, als die von Pascal? In Gesellschaft oder bei Tische brauchte er immer einen Wall von Stühlen oder eine Person zu seiner linken Seite, um nicht fürchterliche Abgründe zu sehen, in die er manchmal hineinzufallen fürchtete, so genau er auch erkannte, daß es Illusionen seien. Welche furchtbare Wirkung einer Einbildung oder eines sonderbaren Blutumlaufs in einem Gehirnlappen! Einerseits ein großer Mann‚ war er anderseits zur Hälfte ein Narr. Narrheit und Weisheit hatten jede ihr Departement inne, oder ihren durch die Sichel getrennten Lappen. Weshalb hielt er soviel auf die Männer von Port-Royal? Ich habe diese Tatsache in einem Auszug der Abhandlung la Mettries über den Schwindel gelesen. ( Anm.d.Verf.) Was braucht man denn, wie ein rechtgläubiger Papst selbst gesagt hat, seine Zuflucht zu Fabeln zu nehmen, um diese Unglücklichen, die man töten will, auch noch zu quälen, weil man sie durch ihr eigenes Gewissen, das ihr erster Henker ist, für nicht genügend gestraft hält? Damit will ich nicht etwa sagen, daß alle Verbrecher ungerechter Weise bestraft werden; ich behaupte nur, daß diejenigen, deren Wille verderbt und deren Gewissen erloschen ist, wenn sie zu sich kommen, durch ihre Gewissensbisse bestraft genug sind. Von diesen Gewissensbissen aber, ich wage es zu wiederholen, hätte die Natur unglückliche Menschen, die von einer schicksalsschweren Notwendigkeit fortgerissen werden, befreien müssen.

Mögen Verbrecher, boshafte und undankbare Menschen, kurz solche ohne Gefühl für das natürliche Sittengesetz, unglückliche und der Sonne, die sie bescheint, unwürdige Tyrannen, sich aus ihrer Barbarei ein grausames Vergnügen machen: auch für sie gibt es Augenblicke der Ruhe und Überlegung, wo das rächende Gewissen sich erhebt, gegen sie zeugt und sie verurteilt, sich fast unaufhörlich mit [40] eigenen Händen zu zerfleischen. Wer die Menschen quält, wird durch sich selbst gequält, und die Leiden, die er empfindet, werden im rechten Verhältnis zu den begangenen Taten stehen.

Anderseits macht es so großes Vergnügen, Gutes zu tun und das empfangene Gute zu empfinden und dankbar anzuerkennen: die Ausübung der Tugend, der Milde‚ der Menschlichkeit, Zärtlichkeit, Nächstenliebe, des Mitleids und der Großmut (dies eine Wort schließt alle Tugenden in sich ein) gewährt eine solche Befriedigung, daß ich jeden, der das Unglück hat nicht tugendhaft geboren zu sein, für bestraft genug halte.

Wir sind ursprünglich nicht geschaffen, um Gelehrte zu werden; daß wir es geworden sind, ist vielleicht eine Art von Mißbrauch unserer organischen Fähigkeiten, und das belastet den Staat, der eine Menge von Müßiggängern ernährt, welche die Eitelkeit mit dem Namen Philosophen geschmückt hat. Die Natur hat uns alle einzig dazu erschaffen glücklich zu sein: ja alle, vom Wurm, der im Staube kriecht, bis zum Adler, der sich in den Wolken verliert. Deshalb hat sie auch allen Tieren irgend einen Anteil am sittlichen Naturgebot gegeben, einen mehr oder minder ausgezeichneten Anteil, je nachdem die normale Beschaffenheit der Organe eines jeden Tieres es gestattet.

Wie werden wir nun das Naturgebot definieren? Es ist ein Gefühl, das uns lehrt, was wir nicht tun dürfen, weil wir nicht wollen, daß man es uns tue. Ich darf wohl dieser allgemeinen Idee hinzufügen, daß es mir scheint, als sei dieses Gefühl nur eine Art von Furcht oder Schrecken, das ebenso heilsam für die Gattung wie für den Einzelnen ist; denn vielleicht respektieren wir die Börse und das Leben der andern nur deshalb, um unser Eigentum, unsere Ehre und uns selbst zu erhalten; und sind darin jenen Ixions des Christentums ähnlich, welche nur deshalb Gott lieben und so vielen eingebildeten Tugenden innig nachhängen, weil sie die Hölle fürchten.

Man sieht, daß das Sittengesetz nur ein inneres Gefühl ist, welches durchaus in das Bereich der Vorstellungskraft gehört, wie alle andern Gefühle, zu denen man den Gedanken zu zählen hat, auch. Folglich setzt es sicherlich [41] weder Erziehung noch Offenbarung, noch einen Gesetzgeber voraus, wenigstens wenn man es nicht nach der lächerlichen Art der Theologen mit den bürgerlichen Gesetzen vermengen will.

Die Waffen des Fanatismus können wohl diejenigen vernichten, die diese Wahrheiten behaupten, niemals aber diese Wahrheiten selbst.

Damit ziehe ich die Existenz eines höchsten Wesens nicht in Zweifel, es scheint mir im Gegenteil der höchste Grad von Wahrscheinlichkeit für ein solches zu sprechen. Da aber diese Existenz die Notwendigkeit einer Verehrung nicht mehr beweist als jede andere, so ist das eine theoretische Wahrheit, welche in der Praxis durchaus keine Anwendung finden kann. Man wird also, nachdem viele Erfahrungen gezeigt haben, daß die Religion eine vollkommene Rechtschaffenheit nicht garantiert, aus denselben Gründen zu der Ansicht berechtigt sein, daß der Atheismus eine solche nicht ausschließt.

Wer weiß übrigens, ob der Grund der Existenz des Menschen nicht in seiner Existenz selbst liegt. Vielleicht ist er auf einem Punkt der Erdoberfläche dem Zufall hingeworfen worden, ohne daß man das Wie oder das Warum wissen kann: man weiß nur daß er leben und sterben muß gleich jenen Pilzen, welche von einem Tag zum andern kommen und gehen, oder gleich jenen Blumen, die die Gräben begrenzen und die Mauern bedecken.

Verlieren wir uns nicht ins Unendliche, wir sind nicht dazu gemacht, davon nur die geringste Idee zu haben und es ist uns ganz unmöglich, auf den Ursprung der Dinge zurückzugehen. Übrigens ist es für unsere Ruhe gleichgültig, ob die Materie ewig ist, oder ob sie geschaffen werden ist, ob es einen Gott gibt, oder ob es keinen gibt. Welche Narrheit, sich mit Dingen so zu quälen, die man unmöglich erkennen kann und die uns nicht glücklicher machen würden, wenn wir mit ihnen zustande kämen.

Aber, sagt man, lest doch die Werke eines Fénelon, Nieuwentit‚ Abadie, Derham, Raïs usw. Lamettrie meint hier die verschiedenen naturwissenschaftlichen Schriftsteller, die in streng deistischem Sinne schrieben. Z. B. sagt Rousseau von Nieuwentit einmal (Projet pour l'éducation de M. de Sainte-Blade, am Schluß), dessen »spectacle de la nature« führe »le plus naturellement de l'admiration des ouvrages à l'amour de l'ouvrier«. Nun gut! Was werden sie mich lehren? Oder vielmehr, was haben sie mich gelehrt! Das sind nur langweilige Wiederholungen eifervoller Schriftsteller, von denen der eine dem andern nur einen Wortschwall hinzufügt, der geeigneter ist, die [42] Fundamente des Atheismus zu stärken als sie zu untergraben. Der Umfang der Beweise, die man aus dem Anblick des Welttheaters schöpft, gibt ihnen nicht größere Wucht. Schon der Bau eines Fingers, eines Ohres, eines Auges, eine Beobachtung von Malpighi beweisen alles und ohne Zweifel viel besser als Descartes und Malebranche; oder vielmehr alles übrige beweist nichts. Die Deisten und selbst die Christen müssen sich also mit der Beobachtung begnügen, daß im ganzen Tierreich dieselben Absichten durch unendlich viele, verschiedene Mittel, die indessen alle mit mathematischer Strenge bestimmt sind, ausgeführt werden. Denn mit welchen stärkeren Waffen könnte man die Atheisten niederschmettern? Wenn mich meine Vernunft nicht täuscht, so ist es eine Wahrheit, daß der Mensch und das ganze Universum zu dieser Einheit der Zwecke bestimmt zu sein scheint. Die Sonne, die Luft, das Wasser, die Organisation, die Form der Körper, alles das ist im Auge wie in einem Spiegel angeordnet, welcher der Vorstellungskraft getreu die dort gemalten Gegenstände nach den Gesetzen darstellt, wie sie die unendliche Verschiedenheit der sich dem Gesicht darbietenden Körper erfordert. Im Ohr finden wir überall eine auffallende Verschiedenheit, ohne daß diese verschiedene Anlage beim Menschen‚ bei den Tieren, den Vögeln und Fischen verschiedene Gebrauchsweisen mit sich brächte. Alle Ohren sind so mathematisch genau gebildet, daß sie in gleicher Weise nach einem und demselben Zweck, nämlich zu hören, hinzielen. Sollte der Zufall, so fragt der Deist, ein so großer Meßkünstler sein, daß er die Werke, für deren Urheber man ihn hält, so nach seinem Belieben ändern kann, ohne daß so viele Verschiedenheiten die Erreichung desselben Zweckes hindern? Als Einwurf wird er dann noch die in einem Tier augenscheinlich für seinen zukünftigen Gebrauch enthaltenen Teile erwähnen, den Schmetterling in der Raupe, den Menschen im Samentierchen, einen ganzen Polypen in jedem seiner Teile, die Klappe des ovalen Loches, die Lunge im Fötus, die Zähne in ihren Höhlen, die Knochen in ihren Flüssigkeiten, die sich von ihnen absondern und auf unbegreifliche Weise erhärten. Und da die Anhänger dieses Systems nichts außer acht lassen, um seine Richtigkeit zu [43] zeigen und Beweise auf Beweise häufen, wollen sie aus allem Nutzen ziehen, in gewissen Fällen sogar aus der Geistesschwäche. Seht euch doch, sagen sie, Leute wie Spinoza, Vanini, Desbarreaux, Boindin, diese Apostel an, die dem Deismus mehr Ehre als Unrecht antun. Die Dauer ihrer Gesundheit ist das Maß ihrer Ungläubigkeit gewesen, und, fügen sie hinzu, es ist in der Tat selten, daß man nicht den Atheismus abschwört, sobald die Leidenschaften zugleich mit dem Körper, der ihr Instrument ist, schwächer geworden sind.

Das ist gewiß alles, was man zugunsten der Existenz Gottes sagen kann, obgleich der letzte Beweis insofern frivol ist, als diese Bekehrungen kurz sind, der Geist fast immer seine alten Meinungen wieder aufnimmt und sich nach ihnen richtet, sobald er seine Kräfte durch die des Körpers wiedererlangt, oder vielmehr wiedergefunden hat. Wenigstens ist das viel häufiger der Fall, als der Arzt Diderot in seinen »philosophischen Gedanken«, einem hervorragenden Werke, zugibt, welches keinen Atheisten überzeugen wird. Was würde man einem Menschen antworten, welcher sagt: »Wir kennen die Natur durchaus nicht; in ihrem Schoße verborgene Ursachen können alles hervorgebracht haben. Sehet doch nur den Polypen von Trembley an! Enthält er nicht die Ursachen in sich, die seine Erneuerung veranlassen? Weshalb sollte dann die Ansicht absurd sein, daß es physische Ursachen sind, durch die alles geschaffen worden und an welche die ganze Kette des weiten Universums so notwendig geknüpft und fest gebunden ist, daß nichts von dem, was geschieht, nicht auch nicht geschehen könnte; Ursachen, deren ganz unüberwindliche Unkenntnis uns zu Gott unsere Zuflucht nehmen ließ, der nach der Ansicht gewisser Leute, nicht einmal ein ens rationis ist? Den Zufall ausschalten, heißt aber noch nicht, die Existenz eines höchsten Wesens beweisen, da es ja etwas anderes geben kann, was weder Zufall noch Gott ist, sagen wir die Natur, deren Studium demgemäß nur Ungläubige heranbilden kann, wie es die Denkart aller ihrer tüchtigsten Forscher beweist.« Hier setzt sich Lamettrie mit den neuesten Werken seiner Zeit auseinander, die er alle, philosophische und medizinische, sehr genau verfolgte. Trembleys Werke über die Regeneration zerschnittener Polypen fallen in die Jahre 1744-47, Diderots »pensées philosophiques« erschienen 1746. Wie Lange zeigt (a. a. O. S. 419) haben weder Lamettrie noch Rosenkranz (Diderots Leben und Werke I. S. 38-41) gesehen, daß Diderot im 20. Kapitel sagt, die Naturforscher selbst haben dem Materialismus die stärksten Schläge versetzt, das Auge einer Mücke, der Flügel eines Schmetterlings reiche hin, den Atheisten zu zermalmen: daß er aber im folgenden Kapitel zeigt, daß ein besonderer Fall an sich zweckloser Kombinationen auch einmal das Zweckgemäße sein könne. Kurz, Diderot ist entweder selbst in einer Periode stärksten Zweifels, oder er will den Schein des Deismus erwecken, um ihn für den einsichtigen Leser zu zerstören. Mir scheint es wahrscheinlicher (im Gegensatz zu Lange), daß er selbst in skeptischer Verfassung ist, denn im weiteren Verlauf der Schrift ist der wahre Skeptiker, der »die Gründe gezählt und gewogen hat« ihm der höchste Typus. Man kann, sagt er, das Suchen aber nicht das Finden der Wahrheit fordern. Er meint im Grunde auch von der Natur und von der Naturwissenschaft, was er von den heiligen Schriften sagt, daß er in ihnen neben den Gründen des Glaubens auch die des Unglaubens finde. Daß es der Skeptiker Diderot und noch nicht der Diderot der Enzyklopädie ist, der hier spricht, läßt sich aus seiner weiteren philosophischen Entwicklung erweisen. Übrigens hat er sich für Lamettries Angriffe in dem »Essai sur les régnes de Claude et de Néron« gerächt.

Das »Gewicht des Universums« wird also einen wirklichen Atheisten nicht erschüttern, geschweige denn ihn vernichten; und alle diese tausend und tausend Mal [44] widerlegten Beweise für einen Schöpfer, Beweisarten‚ die man unserer sonstigen Art zu denken vorzieht, leuchten, soweit man diese Schlußfolgerungen auch treibe, nur den Antipyrrhoniern ein oder denjenigen, welche zu ihrer Vernunft genügend Vertrauen haben, um auf gewisse Wahrscheinlichkeiten hin ein Urteil zu fällen. Denn diesen stellen die Atheisten, wie wir gesehen haben, andere, vielleicht ebenso starke und völlig entgegengesetzte Wahrscheinlichkeiten gegenüber. Denn wenn wir auch auf die Naturforscher hören, so werden sie uns sagen, daß dieselben Ursachen, die in den Händen eines Chemikers oder durch den Zufall verschiedener Mischungen den ersten Spiegel hervorgebracht haben, in den Händen der Natur das reine Wasser gebildet haben, das der einfachen Schäferin zu gleichem Zwecke dient; daß die Bewegung, welche die Welt erhält, sie auch hat schaffen können; daß jeder Körper den Platz eingenommen hat, den seine Natur ihm anwies; daß die Luft aus demselben Grunde die Erde umgeben mußte, aus dem das Eisen und die andern Metalle ein Produkt der Eingeweide der Erde sind; daß die Sonne ebenso ein Erzeugnis der gleichen Natur ist wie die Elektrizität; daß sie nicht mehr zum Zwecke der Erwärmung der Erde und aller ihrer Bewohner, die sie manchmal auch verbrennt, geschaffen worden ist, als der Regen, um die Körner hervorzutreiben, welche er oft auch vernichtet; daß der Spiegel und das Wasser nicht mehr dazu geschaffen worden sind, daß man sich in ihnen betrachten könne, als alle anderen glatten Körper, welche dieselbe Eigenschaft haben; daß unser Auge in der Tat eine Art von Spiegel ist, in dem die Seele das Bild der Gegenstände, so wie sie ihm von den Körpern gezeigt werden, betrachten kann, daß aber nicht bewiesen ist, daß dieses Organ in Wirklichkeit ausdrücklich zu dieser Betrachtung geschaffen und in die Augenhöhle gesetzt worden ist; daß es endlich wohl möglich sei, daß Lucrez‚ der Arzt Lamy und alle die alten und neuen Epikuräer recht haben, wenn sie behaupten, daß das Auge nur dadurch sieht, daß es eben so organisiert und gestellt ist, wie es in der Tat der Fall ist, und daß dieses wunderbare Organ unmöglich anders organisiert und gestellt werden konnte, wenn man einmal dieselben Regeln der Bewegung [45] als allgemein gültig voraussetzt, welche die Natur bei der Erzeugung und Entwicklung der Körper sonst befolgt.

Das ist das Für und das Wider und das sind im Abriß die wichtigen Gründe, welche die Philosophen ewig in zwei Parteien spalten werden. Ich ergreife keine Partei.

Non nostrum inter vos tantas componere lites.
(Nicht unsere Sache ist es, so große Streitigkeiten zwischen euch beizulegen.)

Dies sagte ich einem mir befreundeten Franzosen, der ein ebenso freier Skeptiker ist wie ich, einem Manne von vielen Verdiensten, der eines besseren Loses würdig wäre. Er gab mir darauf folgende sonderbare Antwort: Es ist wahr, sagte er mir, daß das Für und das Wider die Seele eines Philosophen nicht beunruhigen soll, der da einsieht, daß nichts mit genügender Klarheit bewiesen ist, um seine Zustimmung zu erzwingen, und daß beweisende Ideen der einen Seite, bald von entgegensetzten der andern Seite aufgehoben werden. Doch, meinte er, würde die Welt niemals glücklich sein, wenn sie nicht atheistisch sei. Die Gründe dieses abscheulichen Menschen waren folgende: Wenn der Atheismus allgemein verbreitet wäre, sagte er, würden alle Zweige der Religion vernichtet und mit der Wurzel ausgerottet sein. Dann gäbe es keine Religionskriege und keine Religionssoldaten mehr, diese furchtbare Art von Soldaten! Die von einem heiligen Gifte infizierte Natur würde ihre Rechte und ihre Reinheit wiedererlangen. Taub für jede andere Stimme, würden die Sterblichen ruhig nur den zwanglosen Ratschlägen ihrer eigenen Individualität Folge leisten; diese sind die einzigen, die man nicht ungestraft mißachtet und die uns auf den angenehmen Pfaden der Tugend zum Glücke führen können.

Mit dem Sittengesetze steht es also so, daß wer es streng beachtet, ein ehrenwerter Mensch ist, der das Vertrauen des ganzen Menschengeschlechts verdient. Wer ihm aber nicht gewissenhaft Folge leistet, ist ein Betrüger oder ein Scheinheiliger, dem ich nicht traue, wenn er auch noch so auffallend den äußerlichen Schein einer Religion zur Schau trägt.

[46] Möge nach alledem eine bedeutungslose Masse anders denken, möge sie zu behaupten wagen, daß es ohne den Glauben an eine Offenbarung keine Rechtschaffenheit geben könne, kurz, daß irgend eine andere Religion als die Naturreligion vorhanden sein müsse, welche sie auch sei! Welch ein Jammer! Und die gute Meinung, die jeder uns von der Religion beibringen will, die er verehrt! Wir buhlen hier nicht um die Zustimmung des Pöbels. Wer in seinem Herzen dem Aberglauben Altäre errichtet, ist zur Anbetung der Götzen geboren, aber nicht, wahre Tugend zu empfinden.

Wenn nun aber alle Eigenschaften der Seele von der eigentümlichen Organisation des Gehirns und des ganzen Körpers so sehr abhängen, daß sie sichtlich eben nur diese Organisation selbst sind, so liegt uns hier eine sehr aufgeklärte Maschine vor. Denn selbst wenn dem Menschen allein das Sittengesetz zuteil geworden wäre, würde er deshalb weniger eine Maschine sein? Einige Räder und Federn mehr, als bei den vollkommensten Tieren, das Gehirn dem Herzen verhältnismäßig näher und bei gleichen Verhältnissen auch ein größerer Blutzufluß zu ihm, was wüßte ich sonst noch? Unbekannte Ursachen würden immer das zarte, leicht verletzliche Gewissen, die Gewissensbisse, welche der Materie ebensowenig fremd sind wie die Gedanken, kurz diesen ganzen hier vorausgesetzten Unterschied hervorbringen. Und würde die Organisation zur Erklärung von alledem genügen? Ja, und noch einmal ja. Da die Gedanken sich sichtlich mit den Organen entwickeln, warum sollte der Stoff, aus dem sie bestehen, nicht auch für Gewissensbisse empfänglich sein, wenn er einmal mit der Zeit die Fähigkeit zu fühlen erlangt hat?

Die Seele ist also nur ein nichtssagender Ausdruck, von dem man gar keine Vorstellung hat und den ein scharfer Kopf nur gebrauchen darf, um damit den Teil, der in uns denkt, zu benennen. Nimmt man auch nur das einfachste Prinzip der Bewegung in ihnen an, so haben die beseelten Körper alles, was sie brauchen, um sich zu bewegen, zu empfinden, zu denken, zu bereuen, kurz um im Physischen und im Moralischen, welches davon abhängt, ihren Weg zu finden.

[47] Wir machen keine Hypothesen, wer etwa glaubt, es seien noch nicht alle Schwierigkeiten behoben, soll jetzt Erfahrungen mitgeteilt bekommen, die ihn vollends zufrieden stellen werden.

  1. Alles Fleisch der Tiere zuckt noch nach dem Tode, und zwar um so länger, je kaltblütiger das Tier ist und je weniger es ausdünstet. Die Schildkröten, die Eidechsen, die Schlangen beweisen es.
  2. Vom Körper getrennte Muskeln ziehen sich zusammen, wenn man sie reizt.
  3. Die Eingeweide behalten ihre peristaltische oder wurmförmige Bewegung lange bei.
  4. Eine einfache Einspritzung von warmem Wasser belebt, nach Cowper, das Herz und die Muskeln neu.
  5. Das Froschherz bewegt sich, besonders wenn es der Sonne ausgesetzt wird oder noch besser auf einem warmen Tische oder Teller während einer Stunde und noch länger, nachdem man es aus dem Körper herausgenommen hat. Ist die Bewegung dann wohl rettungslos verschwunden? Man braucht nur das Herz zu reizen, um diesen hohlen Muskel noch zum Schlagen zu bringen. Harvey hat dieselbe Beobachtung an Kröten gemacht.
  6. Baco von Verulam erzählt in seiner Abhandlung Silva-Silvarum von einem des Verrates überführten Mann, den man lebend öffnete, und dessen Herz, in warmes Wasser geworfen, mehrere Male und zwar immer weniger hoch bis zur senkrechten Höhe von zwei Fuß sprang.
  7. Nimmt man einem kleinen Hühnchen noch im Ei das Herz heraus, so wird man dieselben Erscheinungen unter beinahe gleichen Umständen beobachten. Die Wärme des Atems allein belebt ein Tier, welches unter der Luftpumpe dem Tode nahe ist, von neuem.
    Dieselben Erfahrungen, die wir Bayle und Stenon verdanken, macht man bei Tauben, Hunden und Kaninchen, bei denen Stücke des Herzens sich ebenso wie das ganze Herz bewegen. Eine gleiche Bewegung sieht man an den vom Körper getrennten Pfoten des Maulwurfs
  8. Bei Raupen, Würmern, Spinnen, Fliegen und Aalen kann man dasselbe beobachten, und zwar nimmt die Bewegung in warmem Wasser infolge der darin enthaltenen Hitze noch zu.
  9. Ein betrunkener Soldat schlug einem Truthahn mit einem Säbelhieb den Kopf ab. Das Tier blieb stehen, dann ging und schließlich lief es vorwärts. Als es gegen eine Mauer stieß, wandte es sich um, schlug mit den Flügeln, fuhr fort zu laufen und fiel endlich hin. Als der Hahn auf dem Boden lag, bewegten sich noch alle seine Muskeln. Das habe ich gesehen, auch ist es leicht, fast dieselben Erscheinungen bei kleinen Katzen oder Hunden zu sehen, denen man den Kopf abgeschlagen hat.
  10. Die Polypen machen, nachdem man sie zerschnitten hat, nicht nur Bewegungen, sondern in acht Tagen ergänzen sie sich zu soviel Tieren, wie man Teile aus ihnen geschnitten hat. Ich ärgere mich darüber, weil es gegen das System der Naturforscher von der Zeugung spricht, oder vielmehr, ich freue mich darüber, weil diese Entdeckung uns eindringlich lehrt, niemals einen allgemein gültigen Schluß zu ziehen, selbst nicht aus den bekanntesten und entscheidendsten Beobachtungen. Alle diese Beobachtungen waren damals ganz neu, wahrend sie heut zum alten Bestand jeder Physiologie gehören. Sie weisen alle auf den Begriff der »Irritabilität« hin, die eben das Prinzip ist, aus dem sich jeder organische Körper bewegt. Hallers Theorie der Irritabilität erschien erst 1752, Lamettrie kennt sie im Prinzip schon 1748.

So habe ich hier viel mehr Tatsachen angeführt als nötig sind, um unwiderleglich zu beweisen, daß jede kleine Faser oder jeder kleine Teil organisierter Körper sich durch ein Prinzip bewegt, das ihm eigentümlich ist, und dessen Tätigkeit nicht von Nerven abhängt, wie das bei den unwillkürlichen Bewegungen der Fall ist: die hier in Frage kommenden Bewegungen gehen vor sich, ohne daß die ausführenden Teile in irgend welcher Verbindung mit der Blutzirkulation ständen. Wenn also diese Kraft sich sogar in Faserstücken bemerkbar macht, so muß das Herz, welches nur aus eigentümlich verflochtenen Fasern zusammengesetzt ist, dieselbe Eigenschaft haben. Die Erzählung Bacons wäre nicht nötig gewesen, um mich davon zu überzeugen. Ich hätte mir darüber leicht ein Urteil bilden können, sowohl aus der völligen Analogie im Bau von Menschen- und Tierherz wie auch aus der Masse des Menschenherzens selbst, dessen Bewegung sich dem Auge nur deshalb nicht zeigt, weil sie unterdrückt ist und weil bei den Leichen alles schon kalt und erschlafft ist. Wenn man hingerichtete Verbrecher, deren Körper noch warm sind, sezieren würde, würde man an ihren Herzen dieselben Bewegungen sehen, die man an den Gesichtsmuskeln Enthaupteter beobachtet.

[49] Das Bewegungsprinzip ganzer Körper oder in Stücke geschnittener Teile ist so beschaffen, daß es nicht, wie man glaubte, ungeregelte Bewegungen, sondern sehr geordnete hervorbringt, und zwar sowohl bei den warmen und vollkommenen, wie bei den kalten und unvollkommenen Tieren. Es bleibt also unsern Gegnern nichts anderes übrig, als tausend und abermals tausend Tatsachen, die jedermann leicht prüfen kann, zu leugnen.

Wenn man mich jetzt fragt, wo eigentlich der Sitz dieser angeborenen Kraft in unsern Körpern ist, so antworte ich, daß sie offenbar in dem Teile, den die Alten Parenchym nannten, ihren Sitz hat; das heißt in der spezifischen Substanz der Teile, nach Abzug der Venen, Arterien und Nerven, kurz, der Organisation des ganzen Körpers, und daß folglich jeder Teil je nach seinem Bedürfnis in sich mehr oder minder kräftige Triebfedern enthält. Lamettrie verlegt hier die Reizbarkeit des Muskels in diesen selbst, d. h. nach heutigem Ausdruck in das spezifische Eiweiß des Muskels und sondert diese Kraft des Muskels von dem Einfluß der Nerven völlig ab. Auch hierin nimmt seine Phantasie die Ergebnisse richtig vorweg, die nachher Haller auf dem Wege des Experiments und der logischen Erwägung sicher stellen wollte (z. B. Haller, Grundriß der Physiologie, 1788, § 400-408, wo die Nervenkraft von der angeborenen des Muskels scharf getrennt wird, »sie kömmt von außen in den Muskel, in dessen Innerem die andere wohnt«).

Betrachten wir jetzt einmal diese Triebfedern der menschlichen Maschine etwas genauer. Durch ihre Tätigkeit entstehen alle vitalen, animalischen, natürlichen und automatischen Bewegungen. Der Körper fährt beim Erschrecken über den unerwarteten Anblick eines Abgrunds maschinenmäßig zurück. Die Augenlider schließen sich, wie man sagt, wenn ihnen ein Schlag droht. Am hellen Tageslicht verengt sich die Pupille, um die Retina zu schonen und sie erweitert sich, damit man die Gegenstände im Dunkeln sehen kann. Die Foren der Haut schließen sich im Winter maschinenmäßig, um die Kälte nicht in das Innere der Gefäße eindringen zu lassen. Der Magen erhebt sich, vom Gift gereizt, bei einer gewissen Menge Opium und bei allen Brechmitteln usw. Das Herz, die Arterien und die Muskeln ziehen sich während des Schlafes ebenso zusammen wie im Wachen. Die Lunge tut ihren Dienst wie ein beständig neu aufgetriebener Blasebalg. Alle Schließmuskeln der Blase und des Mastdarmes usw. funktionieren maschinenmäßig. Das Herz zieht sich stärker zusammen als jeder andere Muskel. Die Erektionsmuskeln richten das Glied beim Menschen wie bei den Tieren, welche sich damit auf den Leib schlagen, auf, ja selbst beim Kinde ist dieser Teil, wenn er auch nur wenig gereizt wird, in späteren Jahren der Erektion fähig. Das beweist, nebenbei gesagt, eine eigentümliche, noch wenig [50] bekannte Spannkraft dieses Gliedes, welche Wirkungen hervorbringt‚ die man trotz aller anatomischer Erkenntnis noch nicht recht erklärt hat.

Ich will mich nicht weiter über all die kleinen, unwichtigeren, von jedermann gekannten Triebkräfte verbreiten. Es gibt aber eine andere feinere und wunderbarere Kraft, welche alle anderen belebt; sie ist die Quelle aller unserer Empfindungen, aller unserer Freuden und Leidenschaften und aller unserer Gedanken; denn das Gehirn hat seine Denkmuskeln, wie das Bein seine Gehmuskeln. Ich spreche von jenem anregenden und antreibenden Prinzip, das Hippokrates νορμων (die Seele) nennt. Dieses Prinzip ist vorhanden und hat seinen Sitz im Gehirn am Ursprung der Nerven, durch die es seine Herrschaft auf den ganzen übrigen Körper ausübt. Dadurch erklärt sich alles, was überhaupt erklärt werden kann, sogar die überraschenden Wirkungen der Krankheiten der Einbildungskraft. Hier unterliegt Lamettrie der Neigung seines Jahrhunderts, eine bestimmte Stelle im Gehirn (»einen Denkmuskel«) anzunehmen, von der allein die wichtigsten geistigen Funktionen ausgehen. Bei Lamettrie scheint es weniger ein sensorium commune, ein Einmündungsort der niederen Funktionen, als wesentlicher Ausgangsort aller Funktionen zu sein. Es ist bei ihm ein unklarer Rest eines aktiven Prinzips, zugleich eine Materialisierung einer psychologischen Abstraktion. Er hat übrigens seine Kenntnis des ?íïñìùí wohl nicht aus den sog. hippokratischen Schriften, sondern von Abraham Kaau-Boerhaave, einem Neffen seines berühmten Lehrers Boerhaave. Von diesem Abr. K.-B. war 1745 eine Schrift erschienen »Impetum faciens dictum Hippocrati. Lugd. Bat. 1745.« Die Träger aller körperlichen und geistigen Vorgänge sind nach ihm die anatomisch voneinander verschiedenen Bewegungs- und Empfindungsnerven (actionem motus et sensus fieri per diverses nervos, distinctos plane neque unquam aut usquam confundendos). Aber weder Körper noch Seele seien die Träger des Lebens, sondern ein drittes aktiv vermittelndes Element, das impetum faciens, des Hippocrates νορμων.

Um aber nicht durch schlecht angebrachte Breite und Fülle zu ermüden, will ich mich auf eine kleine Anzahl von Fragen und Überlegungen beschränken.

Warum verursacht der Anblick oder auch nur die Vorstellung einer schönen Frau eigentümliche Regungen und Wünsche in uns? Geht das, was dann in gewissen Organen vor sich geht, aus der Natur dieser Organe hervor? Durchaus nicht; wohl aber aus dem Zusammenhang und der Wechselbeziehung dieser Muskeln mit der Einbildungskraft. Hier wird nur eine erste Sprungfeder durch das bene placitum der Alten, oder durch das Bild der Schönheit angeregt, die wieder eine andere anregt, welche ruhte, bis die Einbildungskraft sie in Bewegung setzte. Wie sollte dies aber anders vor sich gehen, als durch die Unruhe und den Tumult des Blutes und der Geister, die mit außerordentlicher Schnelligkeit galoppieren und die kavernösen Körper zum Schwellen bringen?

Da es deutliche Verbindungswege zwischen Mutter und Kind gibt Mindestens durch die Gefäße. Ist es sicher, daß es keine durch die Nerven gibt? ( Anm.d.Verf.), und da es übertrieben streng wäre, die von Tulpius und anderen ebenso vertrauenswürdigen [51] Schriftstellern (vertrauenswürdigere gibt es überhaupt nicht) berichteten Tatsachen zu leugnen, so werden wir glauben müssen, daß der Fötus auf demselben Wege die Einwirkung der mütterlichen Geisteserregungen empfängt, wie ein weiches Stück Wachs aller Art Eindrücke erhält, und daß Merk- und Muttermale von der Mutter dem Fötus aufgeprägt werden können, so unbegreiflich das trotz Blondel und seinen Anhängern auch ist. Das ist eine Ehrenrettung für Malebranche, der von Schriftstellern, welche die Natur nicht genau genug beobachtet haben und ihn zu ihrer Ansicht nötigen wollten, wegen seiner Leichtgläubigkeit viel zu sehr verspottet wurde.

Sehen wir uns einmal das Bild des berühmten Pope näher an, der der Voltaire der Engländer war. Die Anstrengungen, die Nerven seines Genies malen sich in seinen Gesichtszügen, sie sind ganz in Zuckungen, die Augen treten aus den Augenhöhlen heraus, die Augenbrauen erheben sich mit den Stirnmuskeln. Warum das? Weil der Ursprung der Nerven in Tätigkeit ist und der ganze Körper das wie eine Art von schwerer Entbindung mitempfinden muß. Gäbe es nicht im Innern eine Saite, welche so die äußern Saiten anschlüge, woher kommen dann alle diese Erscheinungen? Die Saite ist eben das ?íïñìùí; die Vorstellung lehnt an Descartes an. Bei ihm war die Zirbeldrüse der Sitz der Seele, die von ihr ausgehenden Fasermassen (die Teile des epithalamus etwa, die heut habenula heißen) galten ihm als die Seile, mit denen die Seele den Körper bewegt. Zu ihrer Erklärung eine Seele annehmen, das hieße seine Zuflucht zur Tätigkeit des heiligen Geistes nehmen.

Wenn das, was in meinem Gehirn denkt, nicht ein Teil dieses Eingeweides und folglich des ganzen Körpers ist, warum erhitzt sich dann mein Blut, wenn ich ruhig in meinem Bett den Plan zu einem Werke mache oder einen abstrakten Gedankengang verfolge? Warum geht das Fieber meines Geistes in meine Venen über? Fragt nur die Männer mit großer Phantasie, die Dichter, diejenigen, welche ein gut wiedergegebenes Gefühl entzückt, die Männer, die ein auserlesener Geschmack, die Reize der Natur, der Wahrheit oder der Tugend begeistern. Laßt sie euch schildern, was sie in ihrem Enthusiasmus erfahren haben, und ihr werdet aus den Wirkungen die Ursachen erkennen. Aus jener Harmonie, die Borelli, die ein bloßer Anatom besser kannte als alle Leibnizianer, werdet ihr die materielle Einheit des Menschen erkennen. Denn wenn die Spannung der Nerven, welche den Schmerz [52] erzeugt, auch das Fieber verursacht, welches dann wieder den Geist verwirrt und willenlos macht, und wenn umgekehrt der Geist bei Überanstrengung den Körper in Unordnung bringt und jenes verzehrende Feuer in ihm entzündet, das Bayle so jung dahingerafft hat; wenn ein Kitzel mich wollen macht, mich zwingt, das hitzig zu begehren, worum ich mich im Augenblick vorher noch gar nicht kümmerte und wenn dann gewisse Gehirneindrücke dasselbe Jucken und dieselben Wünsche erzeugen – warum dann zwei Dinge annehmen, wo offensichtlich nur eins vorhanden ist? Man beruft sich vergeblich auf die Herrschaft des Willens. Für einen Befehl, den er erteilt, unterwirft er sich hundertmal dem Joch. Und was ist es für ein Wunder, daß der Körper in gesundem Zustand gehorcht, wenn ein Strom von Blut und Geistern ihn dazu zwingt: der Wille hat dann eine unsichtbare Legion von flüssigen Elementen zu Dienern, die schneller wie der Blitz und immer zum Dienste bereit sind! Da aber seine Macht durch die Nerven ausgeübt wird, wird sie auch durch diese gehemmt. Wird der beste Wille eines erschöpften Liebhabers, werden die heftigsten Wünsche ihm seine verlorene Kraft wiedergeben? Leider nicht! Und er wird zunächst dadurch bestraft werden, daß es unter gewissen Umständen nicht in seiner Macht liegt, das Vergnügen nicht zu wünschen. Was ich von der Lähmung usw. gesagt habe, gilt auch hier wieder.

Die Wirkung der Gelbsucht setzt euch in Erstaunen? Wißt ihr nicht, das die Farbe der Körper von der der Gläser abhängt, durch die man sie betrachtet? Wißt ihr nicht, daß die Farbe der Gegenstände so ist, wie die der Augen-Flüssigkeiten,wenigstens für uns, die wir eitles Spielzeug von tausend Sinnestäuschungen sind? Entfernt diese Farbe der wässerigen Flüssigkeit aus dem Auge, laßt die Galle durch ihr natürliches Sieb fließen, dann wird die Seele andere Augen haben und nicht mehr gelb sehen. Gibt man nicht ferner durch Entfernung des grauen Staars den Blinden das Gesicht, durch Einspritzung in den eustachischen Kanal den Tauben das Gehör wieder? Wie viele Leute, die vielleicht nur geschickte Scharlatane waren, hat man in unwissenden Jahrhunderten für große Wundertäter [53] gehalten! O über die schöne Seele und den mächtigen Willen, die nur soweit handeln können, als die Körperzustände es ihnen gestatten und deren Geschmack sich mit dem Alter und dem Fieber ändert! Darf man sich wundern, daß die Philosophen immer die Gesundheit des Körpers betonten, um die der Seele zu erhalten? Wenn Pythagoras ebenso streng die Diät angeordnet wie Platon den Wein verboten hat? Jeder vernünftige Arzt wird sagen, daß eine Lebensweise, die dem Körper wohltut, vorangehen muß, wenn man den Geist bilden und ihn zur Erkenntnis der Wahrheit und Tugend erheben will, die doch beide in der Krankheit und im Sinnestaumel leere Worte werden! Ohne die Vorschriften der Hygiene predigen Epictet, Sokrates, Platon usw. vergebens. Jede Moral, die die Mäßigkeit nicht lehrt, ist unfruchtbar; sie ist die Quelle aller Tugenden, wie die Unmäßigkeit die aller Laster ist.

Bedarf es noch eines weiteren (und wozu sollte ich mich in die Geschichte der Leidenschaften verlieren, die sich alle aus dem νορμων des Hippokrates erklären lassen), um zu beweisen, daß der Mensch nur ein Tier oder eine Vereinigung von Triebfedern ist, die sich gegenseitig aufziehen, ohne daß man sagen könnte, an welchem Punkte des menschlichen Kreises die Wirksamkeit der Natur begonnen hätte? Wenn diese Triebfedern von einander abweichen, so geschieht das nur durch ihre Lage und durch gewisse Abstufungen ihrer Kräfte und niemals durch ihre innere Verschiedenheit. Folglich ist die Seele nur ein Bewegungsprinzip oder ein empfindlicher materieller Teil des Gehirns, den man, ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, als eine Haupttriebfeder der ganzen Maschine ansehen kann, die einen sichtbaren Einfluß auf alle andern hat und auch zuerst geschaffen zu sein scheint, so daß die andern nur ihre Emanationen wären; man wird das aus einigen, an verschiedenen Embryonen gemachten Beobachtungen folgern können, von denen ich berichten werde.

Diese natürliche, unserer Maschine eigentümliche Schwingung, die eine Eigenschaft einer jeden Faser und sozusagen jedes fibrösem Elements ist, kann, der Schwingung eines Pendels ähnlich, nicht beständig vor sich gehen. Man muß sie in dem Maße, wie sie verloren geht, wieder erneuern, ihr Kräfte zuführen, wenn sie er [54]mattet, sie abschwächen, wenn sie durch ein Übermaß von Kraft und Stärke unterdrückt ist. Hierin allein besteht die wahre Medizin.

Der Körper ist nur eine Uhr, der neue Kräftesaft der Uhrmacher. Tritt er ins Blut ein, so ist die erste Sorge der Natur, dadurch eine Art Fieber zu erregen, das die Chemiker, welche nur von Verbrennungen träumen, als eine Art Gärung auffassen mußten. Dieses Fieber bewirkt eine größere Filtration der Lebensgeister, welche maschinenmäßig Herz und Muskeln beleben, als ob sie auf Befehl des Willens dort hingeschickt worden wären.

Das also sind die Ursachen oder die Kräfte des Lebens, welche so 100 Jahre lang die fortwährende Bewegung der festen und flüssigen Teile unterhalten: denn beide Teile bedürfen der Bewegung. Wer aber kann sagen, ob an diesem Spiel die festen Teile mehr beteiligt sind als die flüssigen oder umgekehrt? Alles was man sagen kann ist, daß die Tätigkeit der festen Teile ohne die Hilfe der flüssigen bald vernichtet sein würde. Die Flüssigkeiten erwecken und erhalten durch ihren Stoß die Elastizität der Gefäße, von der wieder ihre eigene Zirkulation abhängig ist. Daher kommt es, daß nach dem Tode diese natürliche Sprungfeder jeder Substanz noch mehr oder weniger stark den Resten des Lebens, die sie überdauert, nachfolgt und ganz zuletzt ihre Tätigkeit einstellt. So ist es also eine Tatsache, daß die Kraft der animalischen Teile sich zwar durch die der Zirkulation zu erhalten und zu vermehren vermag, daß sie aber nicht von ihr abhängig ist, da sie ja sogar der Unverletztheit eines jeden Gliedes oder Eingeweides, wie wir gesehen haben, nicht bedarf.

Ich weiß sehr wohl, daß diese Meinung nicht von allen Gelehrten anerkannt und besonders von Stahl scharf abgelehnt worden ist. Dieser große Chemiker hat uns überzeugen wollen, daß die Seele die einzige Ursache aller unserer Bewegungen ist. Das heißt aber als Fanatiker und nicht als Philosoph sprechen.

Die Stahlsche Hypothese zu vernichten, bedarf es nicht der vielen Anstrengungen, die man, wie ich sehe, vor mir gemacht hat. Man braucht nur einen Geigenspieler zu beobachten. Welche Gelenkigkeit und Behendig [55]keit in den Fingern! Die Bewegungen sind so schnell, daß ihre Aufeinanderfolge fast nicht sichtbar ist. Da bitte ich doch die Anhänger von Stahl mir zu sagen – obgleich ich ihnen, die doch die Fähigkeiten der Seele so gut kennen, keine Antwort darauf zutraue – wie es möglich ist, daß die Seele so schnell so viele Bewegungen ausführt, die weit von ihr und an ganz verschiedenen Stellen vor sich gehen. Dann könnte man sich auch einen Flötenspieler denken, der auf einer Unmenge von Löchern, die er nicht kennt und auf die er nicht einmal die Finger richtig zu legen versteht, brillante Kadenzen auszuführen vermöchte. Stahls Lehre war die stärkste Reaktion gegen die physikalische und chemische Anschauungsweise in der Medizin. Er glaubte die Verhinderung der Fäulnis im lebenden menschlichen Körper nicht anders erklären zu dürfen, als durch ein schützendes »principium vitae«, als solches galt ihm die anima rationalis seu natura vitaliter et cum intelligentia agens. Der Spott gegen eine so einfache Art, die natürlichen Vorgänge im Körper auf immaterielle Art zu erklären, ist daher ganz verständlich. Weniger berechtigt ist der Kampf gegen Boerhaave, der niemals so primitive Erklärungen heranzog, sondern (in seinen Aphorismi de cognescendis et curandis morbis, 1709) stets nur die letzten, metaphysischen Ursachen für nicht materiell und daher vorläufig nur für psychisch erklärbar ansah.

Wir wollen mit Hecquet sagen, daß es nicht jedermann erlaubt ist, nach Korinth zu gehen. Und warum sollte nicht Stahl als Mensch von der Natur noch mehr begünstigt worden sein denn als Chemiker und praktischer Arzt? Dieser glückliche Sterbliche muß wohl eine andere Seele wie die übrigen Menschen erhalten haben, eine souveräne Seele, die nicht damit zufrieden ist, einige Herrschaft über die willkürlichen Muskeln zu haben, sondern mühelos die Zügel aller Körperbewegungen in der Hand hält und diese nach Belieben aufheben, beruhigen oder hervorrufen kann! Bei einer so despotischen Herrin, in deren Händen gewissermaßen die Herzschläge und die Gesetze der Zirkulation lägen, gäbe es zweifellos kein Fieber mehr, keinen Schmerz, keine Abgespanntheit, keine beschämende Impotenz und keinen unangenehmen Priapismus. Die Seele will, und die Sprungfedern spielen, spannen sich an oder spannen sich ab. Wie konnten die Federn der Stahlschen Maschine so bald in Unordnung geraten? Wer einen so großen Arzt bei sich hat, müßte unsterblich sein.

Stahl ist übrigens nicht der einzige, der das Prinzip der Selbstbewegung der organisierten Körper verworfen hat. Auch größere Geister haben es zur Erklärung der Herztätigkeit, der Erektion des Penis usw. nicht angewandt. Man braucht nur die Institutionen der Medizin von Boerhaave zu lesen, um zu sehen, wie dieser große Mann sein mächtiges Genie dazu zwang, mit vielem Schweiße mühsame und verführerische Systeme zur Welt zu bringen, nur weil er eine in allen Körpern so offenbar wirkende Kraft nicht gelten lassen wollte.

[56] Willis und Perrault, Geister zweiter Ordnung, aber emsige Beobachter der Natur, welche der berühmte Leydener Professor nur durch andere und sozusagen aus zweiter Hand gekannt hat, wollten lieber eine Seele annehmen, die über den ganzen Körper allgemein verbreitet ist, als das besprochene Prinzip. Die Geschichte des Polypen scheint diese Hypothese, die schon Virgil und alle Epikuräer hatten, beim ersten Anblick zu unterstützen, aber nach ihr stammen die Bewegungen, welche das Subjekt, an das sie gebunden sind, überleben, von einem Rest der Seele, den die sich zusammenziehenden Teile behalten, ohne daß sie fernerhin durch das Blut und die Lebensgeister noch gereizt werden. Hieraus sieht man, daß diese Schriftsteller, deren solide Werke leicht alle philosophischen Fabeln in den Schatten stellen, sich nur in der Form dessen getäuscht haben, was der Materie die Fähigkeit zu denken verliehen hat. Damit will ich sagen, daß sie sich in dunkeln und nichtssagenden Worten schlecht ausgedrückt haben. Was ist in der Tat dieser »Seelenrest« anderes, als die bewegende Kraft der Leibnizianer, die nur durch diesen Ausdruck schlecht wiedergegeben wird, die jedoch Perrault besonders genau erkannt hat. (Siehe seine Abhandlung über die Mechanik der Tiere.)

Da nunmehr gegen die Anhänger von Cartesius, Stahl, Malebranche und gegen die Theologen, die wenig würdig sind hier mit genannt zu werden, klar bewiesen ist, daß die Materie sich durch sich selbst bewegt und zwar nicht nur, wenn sie etwa in einem ganzen Herzen organisiert ist, sondern auch dann, wenn diese Organisation zerstört ist: so möchte die menschliche Wißbegierde auch wissen, wie ein Körper dadurch, daß er von seinem Ursprung an mit einem Lebenshauch begabt ist, sich in der Folge als fähig erweist zu empfinden und endlich zu denken. Lieber Gott, welche Anstrengungen haben manche Philosophen gemacht, um damit zu Rande zu kommen, und wie geduldig habe ich so manchen Galimathias über diesen Gegenstand gelesen.

Alles, was die Erfahrung uns lehrt, ist, daß so lange Bewegung besteht – und sei sie in einer oder in mehreren Fasern noch so gering – man diese nur zu [57] reizen braucht, um die fast verschwundene Bewegung wieder zu erwecken und zu beleben. Das sah man ja bei dieser Menge von Erfahrungen, mit denen ich die Systeme erdrücken wollte. Es steht also fest, daß Bewegung und Empfindung sowohl in ganzen Körpern, als auch in den Körpern, deren Struktur zerstört ist, sich wechselseitig erregen. Ich will dabei noch von gewissen Pflanzen absehen, die uns dieselben Erscheinungen der Verknüpfung von Empfindung und Bewegung darzubieten scheinen.

Aber mehr noch; wie viele hervorragende Philosophen haben bewiesen, daß der Gedanke nur eine Fähigkeit zu empfinden, und daß die vernünftige Seele nichts anderes als die empfindende Seele ist, die zum Betrachten von Ideen und zum Urteilen verwandt wird. Das wäre allein durch die Tatsache bewiesen, daß mit der Empfindung auch der Gedanke erlischt, wie bei der Apoplexie, der Lethargie, der Katalepsie usw. Denn diejenigen, die behauptet haben, die Seele könne bei soporösen Krankheiten denken, obwohl sie sich der Vorstellungen nachträglich nicht erinnern könne, haben eine lächerliche Behauptung aufgestellt.

Die mechanischen Grundlagen dieser Entwicklung auffinden zu wollen, wäre eine törichte Zeitverschwendung. Die Natur der Bewegung ist uns ebenso unbekannt wie die der Materie. Ebensowenig haben wir ein Mittel zum Verständnis dafür, wie Bewegung in der Materie entsteht, wofern man nicht mit dem Verfasser der »Geschichte der Seele« die alte, unverständliche Lehre von den »substantiellen Formen« neu erwecken will. Lamettrie polemisiert hier wie so oft gegen seine früheren Schriften, sei es um sich sicherer zu verbergen, sei es aus Selbstironie. Die »alte unverständliche Lehre« von den formae substantiales hat er tatsächlich in seiner »histoire de l'âme« nicht gelehrt, er sah vielmehr in ihnen nur die materiellen Formen der Dinge, wie sie aus deren materiellem Gegeneinanderwirken entstehen. Wie er (§ 7) sagt, hat er diesen seinen Begriff von den substantiellen Formen so klar dargelegt, »daß er es verschmähen darf, durch den Gebrauch geheiligte Worte zu ändern. Wenn sie genau definiert sind, können sie den verständigen Leser nicht in die Irre führen.« – Dasselbe Vorgehen finden wir S. 59, wo Lamettrie sich über Champ ereifert, der er selbst ist; die Histoire de l'âme trug den Titel »traduite de l'Anglais de M. Charp. Oxford 1747.« (Siehe: Poritzky, Lamettrie, S. 350.) Ich bin also darüber, daß ich nicht weiß, wie die träge und einfache Materie zur tätigen und zusammengesetzten der Organe wird, ebenso leicht getröstet wie darüber, daß ich ohne rotes Glas nicht in die Sonne sehen kann. In der gleichen glücklichen Gemütsverfassung befinde ich mich gegenüber den andern unbegreiflichen Wundern der Natur, ich meine die Erzeugung der Empfindung und des Gedankens in einem Wesen, welches einst unsern beschränkten Augen nur als ein wenig Schmutz erschien.

Gibt man mir nur zu, daß die organisierte Materie mit einem Bewegungsprinzip begabt ist, welches allein sie von [58] der nicht organisierten unterscheidet (und wer könnte sich dessen bei so unwiderleglichen Beobachtungen weigern?), und daß bei den Tieren alles von den Verschiedenheiten dieser Organisation abhängt, was ich ja zur Genüge bewiesen habe, so genügt das, um das Rätsel der Substanzen und das des Menschen zu erraten. Man sieht, daß es überhaupt nur eine Substanz auf der Welt gibt, und daß der Mensch ihr vollkommenster Ausdruck ist. Er ist im Vergleich zu den Affen und den klügsten Tieren, was die Planetenuhr von Huyghens im Vergleich zu einer Uhr des Königs Julianus ist. Wenn man mehr Instrumente, mehr Räder und mehr Federn brauchte, um die Bewegungen der Planeten, als um die Stunden anzuzeigen und zu wiederholen, wenn Vaucanson mehr Kunst anwenden mußte, um seinen Flötenspieler, als um seine Ente zu machen, so hätte er noch mehr Kunst anwenden müssen, um einen »Sprecher« herzustellen; eine solche Maschine darf, insbesondere unter den Händen eines solchen neuen Prometheus, nicht mehr als eine Unmöglichkeit angesehen werden. Ebenso war es nötig, daß die Natur mehr Kunst und Technik aufwandte, um eine Maschine herzustellen und zu unterhalten, die ein ganzes Jahrhundert lang alle Bewegungen des Herzens und des Geistes anzeigen sollte; denn wenn man am Puls auch nicht die Stunden abzählen kann, so ist er doch ein Barometer für die Wärme und Lebhaftigkeit, aus der man auf die Natur der Seele schließen kann. Ich täusche mich sicher nicht, der menschliche Körper ist eine Uhr, aber eine erstaunliche und mit soviel Kunst und Geschicklichkeit verfertigte, daß, wenn das Sekundenrad stillsteht, das Minutenrad seinen Gang immer weiter geht, und ebenso das Viertelstundenrad und alle die andern in ihrer Bewegung fortfahren, wenn die ersteren verrostet oder aus irgend einer Ursache verdorben sind und ihren Gang unterbrochen haben. Denn es ist doch so, daß die Verstopfung einiger Gefäße nicht ausreicht, den Stützpunkt aller Bewegungen zu zerstören oder zu unterbrechen, der im Herzen als in dem treibenden Teil der Maschine liegt; im Gegenteil, es haben dann die Flüssigkeiten, deren Volumen vermindert ist, einen kürzeren Weg zu machen und durchlaufen ihn deshalb desto schneller; außerdem werden sie in dem Ver [59]hältnis, in dem die Kraft des Herzens sich durch den Widerstand am Ende der Gefäße vermehrt, wie durch eine neu hinzutretende Strömung fortgerissen. Wenn durch einen bloßen Druck auf den Sehnerven dieser das Bild der Gegenstände nicht mehr durch sich gehen läßt, weshalb sollte da der Verlust des Gesichts den Gebrauch des Gehörs hindern, oder der Verlust dieses Sinnes durch die Aufhebung der Funktionen der Portio mollis auch den des Gesichts zur Voraussetzung haben? Kommt es nicht vor, daß der eine versteht, ohne nachsprechen zu können, was er versteht (wenigstens wenn erst einige Zeit nach einem Schlaganfall vorüber ist), und daß ein anderer, der nichts auffaßt, dessen Zungennerven im Gehirn aber frei sind, maschinenmäßig alle Träume, die ihm durch den Kopf gehen, erzählt? Solche Erscheinungen können aufgeklärte Ärzte durchaus nicht überraschen. Sie wissen, woran sie sich in bezug auf die Natur des Menschen zu halten haben; von zwei Ärzten ist nebenbei bemerkt, meiner Ansicht nach immer derjenige der bessere und vertrauenswürdigere, der in der Physik oder Mechanik des menschlichen Körpers bewanderter ist und die Seele und alle die Besorgnisse, die dieses Hirngespinst den Narren und Nichtswissern einflößt, beiseite liegen läßt und sich nur um die reinen Naturwissenschaften bekümmert.

Lassen wir also einen angeblichen Herrn Charp Siehe Anm. 32. ( D. Hrsg.) sich ruhig über die Philosophen, die die Tiere als Maschinen betrachtet haben, lustig machen. Wie ganz anders denke ich darüber! Ich glaube, daß Descartes ein in jeder Beziehung Achtung verdienender Mann wäre, wenn er nur in einem Jahrhundert geboren wäre, das er nicht erst hätte aufklären müssen: dann hätte er den Wert der Erfahrung und der Beobachtung und die Gefahr, sich von ihnen zu entfernen, gekannt. Es ist aber nicht mehr als gerecht, daß ich diesem großen Manne hier eine authentische Ehrenerklärung ausstelle, schon um aller dieser kleinen Philosophen willen, die über ihn schlechte Witze machen und dumme Affen Lockes sind, und die statt unverschämt Descartes ins Gesicht zu lachen, besser daran täten einzusehen, daß ohne ihn das Feld der Philosophie, wie das der Beobachtung ohne Newton, vielleicht noch brach läge.

Es ist wahr, daß dieser berühmte Philosoph sich [60] oft getäuscht hat und niemand stellt das in Abrede. Aber er hat doch die tierische Natur gekannt und als erster klar bewiesen, daß die Tiere reine Maschinen sind. Muß man ihm nicht nach einer Entdeckung von solcher Wichtigkeit, die soviel Scharfsinn voraussetzt, wenn man nicht undankbar sein will alle Irrtümer zugute halten!

Sie sind in meinen Augen durch dieses große Bekenntnis alle wieder gut gemacht. Und was er uns über die Unterscheidung der beiden Substanzen auftischt, ist sichtlich nur ein Taschenspielerstückchen, eine stilistische List, um die Theologen ein verborgenes Gift schlucken zu lassen, das er unter einer Analogie verbirgt, die der ganzen Welt, nur ihnen nicht auffällt. Denn gerade diese starke Analogie zwingt alle Gelehrten und wahrhaft Urteilsfähigen zu dem Eingeständnis, daß diese stolzen und eiteln Wesen, die sich mehr durch ihren Dünkel, als durch den Namen Mensch unterscheiden, im Grunde nichts anderes als Tiere und senkrecht kriechende Maschinen sind, so gern sie sich auch darüber erheben möchten. Sie haben alle nur einen wunderbaren Instinkt, den Erziehung zum Geist ausbildet und der immer seinen Sitz im Gehirn, oder statt dessen, wenn das Gehirn fehlt oder verknöchert ist, im verlängerten Rückenmark, aber nie im kleinen Gehirn hat. Denn letzteres habe ich beträchtlich verwundet und andere Haller in den Transact. philosoph. ( Anm.d.Verf.) haben es krebsig entartet gesehen, ohne daß die Seele aufgehört hätte ihre Funktionen zu verrichten.

Eine Maschine sein, empfinden, denken, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden wissen, wie das Blaue vom Gelben, kurz mit Intelligenz und einem sichern Moralinstinkt geboren sein – und doch dabei nur ein Tier sein, sind also Dinge, die sich nicht mehr widersprechen, wie ein Affe oder ein Papagei sein und sich doch Lust verschaffen können. Denn – da sich hier die Gelegenheit bietet, es auszusprechen – wer hätte es jemals a priori geahnt, daß ein Tropfen der Flüssigkeit, die sich bei der Begattung ergießt, ein göttliches Vergnügen genießen läßt, und daß daraus ein kleines Geschöpf entsteht, welches eines Tages, gewisse Gesetzmäßig [61]keiten vorausgesetzt, gleiche Genüsse haben kann. Ich halte das Denken so wenig für unvereinbar mit der organisierten Materie, daß es mir vielmehr eine ihrer Eigenschaften, ebensogut wie die Elektrizität, die Bewegungsfähigkeit, die Undurchdringlichkeit, die Ausdehnung usw. zu sein scheint.

Will man neue Beobachtungen haben, so werde ich jetzt solche anführen, gegen die sich nichts einwenden läßt und die alle beweisen, daß der Mensch ebenso in seinem Ursprung völlig dem Tiere gleicht wie in allem, was wir für einen Vergleich beider für wesentlich gehalten haben.

Ich berufe mich dabei auf die Glaubwürdigkeit unserer Beobachter. Sie sollen uns sagen, ob es nicht wahr ist, daß der Mensch in seinem Ursprung nur ein Wurm ist, der zum Menschen wird, wie die Raupe zum Schmetterling. Die bedeutendsten Autoren haben uns gelehrt, wie man es anzufangen hat, um dieses Tierchen zu sehen. Boerhaave, Inst. Med. und viele andere. ( Anm.d.Verf.) Alle Wißbegierigen, wie z. B. Hartsoeker, haben es im Samen des Mannes, nicht in dem der Frau, gesehen, und nur Narren machen sich Skrupeln darüber. Wenn auch jeder Spermatropfen eine unendliche Anzahl dieser kleinen Würmer enthält, so hat doch, nachdem sie in den Eierstock geschleudert sind, nur der geschickteste oder der stärkste die Kraft, in das von der Frau gelieferte Ei, welches ihm die erste Nahrung gibt, einzudringen und sich dort festzusetzen. Dieses Ei, das man manchmal in den Fallopischen Tuben gefunden hat, wird durch diese Kanäle zur Gebärmutter gebracht, wo es Wurzel faßt wie ein Getreidekorn in der Erde. Wenn es dort auch durch sein neunmonatliches Wachstum ungeheuer groß wird, unterscheidet es sich doch von den Eiern anderer Weibchen nur dadurch, daß seine Haut (das Amnion) niemals hart wird und sich gewaltig erweitert. Man kann sich darüber klar werden, wenn man einen Fötus, der im Begriff ist, das Ei zu verlassen, mit andern kleinen ihrer Geburt sehr nahen Embryonen vergleicht (was ich einmal bei einer Frau, die im Augenblick vor ihrer Niederkunft starb, zu beobachten die Freude hatte). Denn dann sucht immer das Ei in seiner Schale und das [62] Tier im Ei, das in seinen Bewegungen gehindert ist, mechanisch ans Tageslicht zu kommen. Um dahin zu gelangen, beginnt es, mit dem Kopfe diese Membran zu zerbrechen und kommt aus ihr heraus, wie das Hühnchen, ein Vogel usw. aus der seinigen. Ich füge hier eine Beobachtung hinzu, die ich nirgends verzeichnet gefunden habe, nämlich, daß das Amnion, trotzdem es sich so riesig ausweitet, darum nicht dünner wird, hierin der Gebärmutter vergleichbar, welche von infiltrierten Säften sogar anschwillt, ganz abgesehen von der Anfüllung und Entfaltung aller ihrer Gefäßbiegungen.

Wir wollen uns jetzt einmal den Menschen innerhalb und außerhalb seiner Umhüllung ansehen und mit einem Mikroskop die jungen Embryonen von 4, 6, 8 und 15 Tagen prüfen, denn nach dieser Zeit genügen unsere Augen. Was sieht man? Den Kopf allein; ein kleines, rundes Ei mit zwei schwarzen Punkten, welche die Augen bezeichnen. Vor dieser Zeit ist alles formloser, so daß man nur einen markartigen Brei, das Gehirn, unterscheidet, in dem sich zuerst der Ursprung der Nerven oder der Anfang der Empfindung und das Herz, welches schon von selbst in diesem Brei die Fähigkeit zu schlagen hat, ausbildet; letzteres ist das Punctum saliens von Malpighi, welches vielleicht schon einen Teil seiner Lebhaftigkeit dem Einfluß der Nerven verdankt. Endlich sieht man, wie sich der Kopf allmählich um den Hals verlängert, der durch seine Erweiterung zunächst den Thorax bildet, in den das Herz schon herabgestiegen ist, um sich dort festzusetzen; nachher kommt der Unterleib, den eine Scheidewand (das Zwerchfell) scheidet. Diese Erweiterungen bilden dann einerseits die Arme, die Hände, die Finger, die Nägel und die Haare aus, anderseits die Schenkel, die Beine, die Füße usw., die als einzige erkennbare Unterschiede solche der Lage zeigen, so daß die einen die Stütze, die andern das Gleichgewicht des Körpers bewirken. Überall fällt die Gleichheit mit der Vegetation auf. Hier sind es die Haare, die den Scheitel unserer Köpfe bedecken, dort sind es Blätter und Blüten. Überall zeigt sich glänzend derselbe Luxus in der Natur; und endlich hat der Spiritus Rector der Pflanzen dort seinen Sitz, wo wir unsere Seele, diese zweite Quintessenz des Menschen‚ haben.

[63] Man beginnt jetzt, die Einheit in der Natur, sowie die Analogie zwischen Tier- und Pflanzenreich, zwischen Mensch und Pflanze zu fühlen. Vielleicht gibt es sogar animalische Pflanzen, das heißt solche, die sich während ihres Wachstums wie die Polypen schlagen oder andere Funktionen verrichten, die sonst den Tieren eigentümlich sind.

Das Gesagte ist fast alles, was man über die Zeugung weiß. Es ist wohl möglich, daß die Teile, welche sich anziehen, und welche gemacht sind, um sich miteinander zu vereinigen und um diesen oder jenen Platz einzunehmen, sich nach einfachen Gesetzen der Natur verbinden, und daß die Augen, das Herz, der Magen, kurz der ganze Körper sich auf solche Weise bilden, eine Ansicht, die große Männer in ihren Schriften vertreten haben. Da uns aber die Erfahrung mitten in diesen Feinheiten im.Stiche läßt, werde ich keinerlei Vermutungen aufstellen, sondern alles das, was meine Sinne nicht erfassen, als ein unergründliches Geheimnis betrachten. Daß Samen beider Art sich bei der Vereinigung treffen, ist so selten, daß ich versucht bin zu glauben, daß der weibliche Samen zur Zeugung unnötig ist.

Wie sollte man aber die Erscheinungen ohne diese bequeme Beziehung der Teile erklären, die so gut Rechenschaft darüber gibt, warum die Kinder bald dem Vater, bald der Mutter ähnlich sind? Darf anderseits die Verlegenheit um eine Erklärung eine Tatsache aufwiegen? Es scheint mir, als ob der Mann alles täte, und als ob es gleichviel sei, ob die Frau dabei schläft oder sehr wollüstig ist. Die Anordnung der Teile wäre dann also von Ewigkeit her im Keime, oder im Wurme des Mannes selbst gegeben. Das alles aber geht weit über den Horizont selbst der besten Beobachter. Da sie hierin nichts greifbar fassen können, kann auch ihr Urteil über die Mechanik der Bildung und Entwicklung des Körpers nicht mehr wert sein, als das eines Maulwurfs über den Weg, den ein Hirsch durchlaufen kann.

Auf dem Gebiete der Natur sind wir wahre Maulwürfe und legen dort Strecken zurück, wie dieses Tier; nur unser Hochmut grenzt das Grenzenlose ab. Wir sind in der Lage einer Uhr, welche sagen würde (ein Fabel [64]dichter würde daraus eine wichtige Person in einem unbedeutenden Stücke machen): »Was! Jener dumme Handwerker soll mich gemacht haben, mich, die ich die Zeit einteile! mich, die ich so genau den Lauf der Sonne anzeige, mich, die ich laut die Stunden wiederhole! Nein, das kann nicht sein!« Ebenso verachten wir, undankbar wie wir sind, die gemeinsame Mutter aller Reiche, wie sie die Chemiker nennen. Wir bilden uns eine höhere Ursache oder vielmehr wir setzen sie höher voraus, als die ist, der wir alles verdanken und die in Wahrheit alles auf unbegreifliche Weise geschaffen hat. Nein, die Materie hat nur für grobe Augen, die sie in ihren glänzendsten Werken verkennen, etwas Niedriges an sich. Die Natur ist nicht jener beschränkte Arbeiter. Sie bringt Millionen von Menschen mit mehr freudiger Leichtigkeit hervor, als ein Uhrmacher bei der zusammengesetztesten Uhr Mühe hat. Ihre Macht offenbart sich ebenso bei der Hervorbringung des niedrigsten Insekts, wie bei der des bedeutendsten Menschen; das Tierreich kostet sie nicht mehr Mühe als das Pflanzenreich, das größte Genie nicht mehr als eine Getreideähre. Wir wollen also nach dem, was wir sehen, über das, was sich der Wißbegierde unserer Augen und unserer Nachforschungen entzieht, urteilen und uns darüber hinaus nichts einbilden. Sehen wir einmal dem Affen, dem Biber, dem Elefanten usw. bei ihren Verrichtungen zu. Wenn es klar ist, daß diese ohne Intelligenz nicht vor sich gehen können, weshalb soll man diesen Tieren die Intelligenz absprechen? Und wenn ihr Fanatiker ihnen erst eine Seele zugesteht, seid ihr verloren; ihr mögt dann ruhig sagen, daß ihr deren Natur gar nicht bestimmen wollt, sprecht ihr aber doch die Unsterblichkeit ab – eure Worte verhallen in der Luft. Wer sieht nicht, daß die Tierseele mit der unsrigen sterblich oder unsterblich sein muß, daß sie mit ihr das gleiche Schicksal, welches es auch sein mag, teilen muß, und daß man auf diesem Wege in die Scylla gerät, wenn man die Charybdis vermeiden will.

Brecht die Kette eurer Vorurteile, bewaffnet euch mit der Fackel der Erfahrung, und ihr werdet der Natur die Ehre erweisen, die sie verdient, statt aus der Unkenntnis, in der sie euch gelassen hat, irgend welche [65] Schlüsse zu ihrem Nachteil zu ziehen. Öffnet nur eure Augen und laßt das, was ihr nicht begreifen könnt, links liegen. Ihr werdet dann sehen, daß der Bauer, dessen Geist und Einsicht sich nicht über die Ränder seiner Ackerfurchen erstrecken, sich im Grunde des Wesens nicht vom größten Genie unterscheidet, was die Sektion der Gehirne von Descartes und Newton bestätigt hätte; ihr werdet euch überzeugen, daß der schwachsinnige und der stumpfsinnige Mensch nur Tiere in Menschengestalt sind, wie ein Affe mit seinem vielen Verstand ein kleiner Mensch in einer andern Gestalt ist; kurz, da alles vollständig von der Verschiedenheit der Organisation abhängt, daß ein gut gebautes Tier, wenn man ihm Astronomie beigebracht hat, eine Finsternis voraussagen kann, ebenso wie die Heilung oder den Tod, wenn es in der Schule des Hippokrates oder am Krankenbett einige Zeitlang Mühe und Scharfblick aufgewandt hat. Durch diese Kette von Beobachtungen und Wahrheiten kommt man dahin, die wunderbare Eigenschaft des Denkens mit der Materie zu verknüpfen, ohne daß man das verknüpfende Band sehen könnte: denn die Grundlage dieser Eigenschaft ist uns in ihrem Wesen unbekannt.

Wir wollen nicht behaupten, daß jede Maschine oder jedes Tier völlig untergeht‚ noch auch, daß sie nach dem Tode eine andre Form annehmen, denn davon wissen wir ganz und gar nichts. Wenn man aber versichert, eine unsterbliche Maschine sei ein Hirngespinst oder sei nur eine Schöpfung unseres Geistes, so sind das ebenso sinnlose Einwendungen, als wenn eine Raupe, welche die abgestreifte Haut anderer Raupen sieht, das Los ihre Gattung bitter beklagen würde, weil ihr diese dem Untergange verfallen scheint. Die Seele dieser Insekten (denn jedes Tier hat die seinige) ist zu beschränkt, als daß sie die Verwandlungen der Natur begreifen könnte. Niemals hätte auch nur eines der schlausten unter ihnen sich vorstellen können, daß es ein Schmetterling werden solle. Ebenso geht es uns. Was wissen wir von unserer Bestimmung mehr wie von unserm Ursprung? Unterwerfen wir uns also einer ewigen Unkenntnis, von der unser Glück abhängig ist.

Wer so denkt, wird weise, gerecht, beruhigt über sein [66] Schicksal und dadurch glücklich sein. Er wird den Tod erwarten, ohne ihn zu fürchten oder ihn herbeizusehnen und da er das Leben liebt, wird er kaum begreifen, wie in dieser Welt voller Freuden Lebensüberdruß ein Herz verderben kann. Für die Natur wird er voller Achtung sein; je nach dem Grade des Gefühls und der Wohltaten, die sie ihm erwiesen hat, glücklich, sie empfinden und bei dem herrlichen Schauspiel der Welt Zuschauer sein zu dürfen, wird er für sie voller Erkenntlichkeit. Anhänglichkeit und Zärtlichkeit sein und sie sicher nie in sich oder in andern zerstören. Was sage ich! Voller Menschlichkeit wird er ihren Charakter sogar in seinen Feinden lieben. Urteilt, wie er demnach die andern behandeln wird. Er wird die Lasterhaften beklagen, ohne sie zu hassen, denn sie werden in seinen Augen nur mißratene Menschen sein. Nachsichtig für die Fehler in der Bildung von Geist und Körper, wird er darum deren Schönheiten und Tugenden nicht weniger bewundern. Die Menschen, welche die Natur begünstigt hat, werden ihm mehr Rücksicht zu verdienen scheinen als die von ihr stiefmütterlich behandelten. So sieht man, daß die natürlichen Gaben, die Quellen alles Erreichbaren, im Munde und Herzen des Materialisten eine Huldigung finden, die jeder andere ihnen ungerechterweise verweigert. Endlich wird der Materialist, da er seiner eigenen Eitelkeit trotzend davon überzeugt ist, daß er nur eine Maschine oder ein Tier ist, seinesgleichen sicher nicht schlecht behandeln. Er weiß zu gut über die Natur solcher Handlungen Bescheid, deren Unmenschlichkeit stets ein Rückfall auf frühere Entwicklungsstufen ist. Kurz, er will, gemäß dem allen Tieren gegebenen Naturgesetz, andern das nicht tun, was er nicht will, daß ihm geschehe.

Folgern wir also kühn, daß der Mensch eine Maschine ist, und daß es auf dem ganzen Weltall nur eine einzige verschieden modifizierte Substanz gibt. Das ist durchaus keine auf Grund von Fragen und Vermutungen aufgestellte Hypothese, es ist nicht das Werk eines Vorurteils, noch etwa meiner Vernunft allein; ich hätte einen Führer, den ich für so wenig sicher halte, verschmäht, wenn nicht meine Sinne gleichsam die Fackel haltend mich veranlaßt hätten, der Vernunft zu folgen, [67] indem sie diese erleuchteten. Die Erfahrung hat also zugunsten meiner Vernunft gesprochen und ich habe sie beide zur Einheit gebracht.

Man hat sicher bemerkt, daß ich mir das sehr energische und unmittelbar aufs Ziel losgehende Urteil nur auf Grund einer Menge von Naturbeobachtungen erlaubt habe, die kein Gelehrter bestreiten wird, und nur Gelehrte allein erkenne ich als Richter über die Folgerungen, die ich gezogen habe, an, und weise jeden Menschen mit Vorurteilen zurück und jeden, der weder Anatom ist, noch die einzige Philosophie, die hier zulässig ist, nämlich die des menschlichen Körpers, kennt. Was vermöchte gegen eine so feste und solide Eiche das schwache Schilfrohr der Theologie, der Metaphysik und der Schulen; kindliche Waffen, die jenen Floretts unserer Fechtsäle gleichen, die wohl das Vergnügen der Fechtkunst gewähren, aber niemals den Gegner verwunden können. Brauche ich noch zu sagen, daß ich von jenen hohlen und trivialen Ideen, von jenen immer wiedergekäuten, Mitleid erregenden Ansichten spreche, die man über die angebliche Unverträglichkeit zweier Substanzen, die einander unaufhörlich berühren und in Bewegung setzen, so lange äußern wird, als ein Schatten von Vorurteil oder Aberglaube auf der Erde weilt? Das ist mein System, oder vielmehr, wenn ich mich nicht sehr irre, die Wahrheit. Sie ist kurz und einfach. Streite jetzt wer will!


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Druck von C. Grumbach in Leipzig.

 


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