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Julien Offray de la Mettrie gehört zu den am meisten und heftigsten geschmähten Männern der Geschichte der Philosophie. Bis zu der Zeit, da Friedrich Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus eine Ehrenrettung La Mettries durchführte, war es gute Sitte, ihn in Biographien und Philosophiegeschichten mit irgendeinem Scheltwort abzutun, ohne auf seine Philosophie einzugehen. So herrscht erst seit kurzer Zeit einige Klarheit über das Leben, den Charakter und die Bedeutung dieses Mannes. Gerade da er in keiner deutschen Geschichte der Philosophie ausführlicher dargestellt ist, lohnt es, hier über diese drei Punkte ausführlicher zu reden.
La Mettrie ist geboren am 25. Dezember 1709 zu Saint-Malo als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Er genoß eine ausgezeichnete Schulbildung und zeichnete sich, wie mehrfach berichtet wird, schon im Kolleg durch Liebe zu der schönen Literatur und rednerische Fähigkeiten aus. Sein Vater jedoch bestimmte ihn, da er das für einträglich hielt, zum Theologen. Dieses Studium sagte dem Sohne wenig zu und ein Arzt seines Heimatsortes wußte den Vater zu überreden, dem Sohn das Studium der Medizin zu gestatten. Er kehrte als Arzt in seinen Heimatsort zurück, gab jedoch nach einigen Jahren seine Praxis auf, um bei dem berühmtesten Mediziner der damaligen Zeit, bei Boerhaave, in Leyden zu studieren. Man kann den Einfluß dieses Mannes noch in den spätesten Schriften La Mettries deutlich verfolgen; der schroffe Materialismus war nur eine konsequente Weiterführung Boerhaavescher Ideen. Vom Jahre 1734 an beginnt die Schriftstellertätigkeit La Mettries, der zunächst die Werke seines großen Lehrers übersetzte und [IV] dann eigne medizinische Schriften aus seiner Erfahrung herausgab. Er geriet in Streit mit einigen berühmten Medizinern, mit denen er sich in geschickten satirischen Schriften auseinandersetzte. Als im Jahre 1742 sein alter ärztlicher Freund in St. Malo starb, da hielt nichts mehr La Mettrie in seiner Heimat zurück, er zog nach Paris. Auf Empfehlung einiger maßgebender Mediziner nahm sich der Herzog von Grammont seiner an, und ernannte ihn zum Arzt der französischen Garden. Als solcher nahm er an einer Reihe von Feldzügen teil, bis in der Schlacht von Fontenoy der Herzog von Grammont getötet wurde. Bei der Belagerung von Freiburg bekam La Mettrie ein heftiges Fieber; als guter Arzt beobachtete er sich selbst genau und sah, wie die Verfassung seiner geistigen Kräfte ganz genau derjenigen seiner körperlichen entsprach. Das wurde die Anregung für ihn, sich in die Abhängigkeit des Geistes vom Körper zu vertiefen und gab seinem Materialismus Stoff. Im Jahre 1745 veröffentlichte er seine »Naturgeschichte der Seele«, in der sein Standpunkt kaum noch verdeckt, für jeden Einsichtigen vollkommen klar war. Da hatte er nun das ganze Heer der Theologen auf sich gehetzt und die Priester behaupteten, wie Friedrich der Große in seinem Eloge auf La Mettrie sagt, daß ein Arzt, der ein Ketzer ist, die französischen Gardisten nicht heilen könne. So mußte er seine Stellung aufgeben, wurde aber bald entschädigt, indem man ihn zum Chef der Militärkrankenhäuser der Armee machte: ein Zeichen, wie hoch in medizinischen und militärischen Kreisen sein Wissen und seine Persönlichkeit geschätzt wurde. Inzwischen ging aber sein Streit mit den Medizinern um so mehr weiter, als man ihm seine hohen und einträglichen Stellen neidete. In einigen geistvollen aber scharfen Satiren machte sich La Mettries Ärger Luft und eine davon, die den Titel hatte: »die ärztliche Politik des Machiavell« wurde vom Henker in Paris am 9. Juli 1746 verbrannt. La Mettrie begab sich, da er seiner Freiheit nicht mehr sicher war, nach Leyden, wo er sein Hauptwerk »Der Mensch, eine Maschine« veröffentlichte. Nun erreichten die Verfolgungen ihren Höhepunkt und selbst in Holland, dem Lande der Freiheit, war seines Bleibens nicht länger. Bei Nacht und Nebel [V] machte er sich, von aller Nahrung und allen Geldmitteln entblößt, auf und zog einer sehr ungewissen Zukunft entgegen. Seine Verwandten und Freunde sagten sich von ihm los, und da war es wie ein Wunder, daß Friedrich der Große sich gerade in diesem Moment seiner annahm. In einem Briefe an Maupertuis schreibt er: »Ich möchte den La Mettrie hier haben, von dem Sie mir sprachen. Er ist ein Opfer der Pfaffen und der Narren, bei mir könnte er in Freiheit schreiben; ich habe eine mitfühlende Liebe für die verfolgten Philosophen. Ich wäre auch einer, wenn ich kein König wäre.« Gern folgte La Mettrie im Oktober 1746 dem Rufe Friedrichs nach Berlin, er gehörte nach kurzer Zeit unter dem Titel eines Vorlesers des Königs zu seinen Vertrautesten und durfte sich dem König gegenüber jede Freiheit erlauben. Hier verlebte er die einzige ruhige und glückliche Zeit seines Lebens, aber fleißige Arbeit leistete er auch hier. Eine Reihe medizinischer und philosophischer Schriften stammen aus dieser Zeit. Freilich packte den Unruhigen auch hier nach kurzer Zeit die Sehnsucht nach seinem Vaterlande und er suchte durch Voltaire die Erlaubnis zur Rückkehr nach Frankreich zu erhalten. Ehe die Verhandlungen abgeschlossen waren starb aber La Mettrie. Der französische Gesandte in Berlin, den er von einer schweren Krankheit geheilt hatte, ladet ihn zu einem Mittagsmahl, bei dem es eine getrüffelte Pastete von besonderer Güte gibt. Als die Tafel aufgehoben wird, merkt La Mettrie großes Unbehagen und Fieber, so daß er in dem Hause des Gesandten bleiben muß. Den Rat der Ärzte nimmt er nicht an, sondern verordnet sich selbst einen Aderlaß nach dem andern. Am 11. November 1751 stirbt er im Alter von 42 Jahren.
Diese Art des Todes an einer Pastete hat den Gegnern des Materialismus anstatt guter Gründe wenigstens Angriffspunkte geboten. La Mettrie soll durch die dem Materialisten eigentümliche Gier seinen Tod verschuldet haben. Nun steht es ja noch nicht einmal fest, ob die berühmte Pastete wirklich die Ursache seines Todes war; wenn sie es aber gewesen ist, so war sie es durch ihren verdorbenen Zustand und nicht durch die Un [VI]mäßigkeit La Mettries: denn jedem medizinisch Gebildeten ist klar, daß man nicht durch unmäßiges Genießen eines Gerichtes ein augenblickliches heftiges Fieber bekommen kann, das in drei Tagen zum Tode führt, sondern daß dies nur durch irgendein Fleischgift möglich ist. Wäre aber selbst seine Unmäßigkeit schuld – sollte es wirklich noch nie unmäßige und schlemmerhafte Idealisten und Theologen gegeben haben? Ebenso hat sich die Legende mit der Art beschäftigt, wie La Mettrie sich als Sterbender zur Kirche verhielt. Die einen stellten fest, daß er reuig als guter Christ gestorben sei, die andern, daß er bei seiner alten Lehre beharrt habe. La Mettries Charakter ebenso wie die vorhandenen Nachrichten zeigen deutlich genug, daß er mit gutem Humor in seinen Überzeugungen geblieben ist. Nikolai (Anekdoten vom König Friedrich II. von Preußen und von einigen Personen, die um ihn waren), erzählt uns, als eine echt La Mettriesche Anekdote, daß ein Priester an seinem Sterbebette saß, um ihn zu bekehren. La Mettrie in einem seiner schmerzhaften Krampfanfälle schreit »Jesus Maria«. Der Priester ergreift den Augenblick, ihm zu sagen, »ah, so seid Ihr endlich zu diesen beiden Tröstern zurückgekehrt«. »Vater,« antwortet der Sterbende, »das ist nur so eine Redensart«. Maupertuis suchte ihn zu andern philosophischen Prinzipien zu bewegen; er antwortete: »was würde man von mir sagen, wenn ich wieder gesund würde.« Die Wahrheit ist, daß La Mettrie mit Humor, mutig und gelassen starb und seiner ganzen Geistesart gemäß gar nicht tragisch genug gesinnt war, um durch den Anblick des Todes sich zu einer Revision seiner Lehren bewegen zu sehen.
Dieses Leben von 43 Jahren hat etwas Unruhiges, Hastiges, Wunderbares an sich. Es lohnt, sich den Charakter klar zu machen, der ein solches Leben zur Folge hatte. Meistens war La Mettrie, wie Friedrich Albert Lange sich ausdrückt, der Prügeljunge des Materialismus und doch ist es merkwürdig, und müßte schon allein zu ruhiger Betrachtung veranlassen, daß kein geringerer als Friedrich der Große ihm einen ehrenden Nachruf gewidmet hat: und ebenso müßte es zum Nachdenken auffordern, daß alle Vorwürfe gegen La Mettrie sich in den [VII] Regionen der Allgemeinheit bewegen und nicht imstande sind, einen einzelnen begründeten Vorwurf gegen ihn zu erheben – es sei denn seinen Handel mit Haller, über den sofort zu reden sein wird. »Er hat weder seine Kinder ins Findelhaus geschickt, wie Rousseau, noch zwei Bräute betrogen, wie Swift; er ist weder der Bestechung für schuldig erklärt, wie Baco, noch ruht der Verdacht der Urkundenfälschung auf ihm, wie auf Voltaire. In seinen Schriften wird allerdings das Verbrechen wie eine Krankheit entschuldigt, aber nirgendswo wird es, wie in Mandevilles berüchtigter Bienenfabel, empfohlen« sagt Lange. Man mag sein Leben durchgehen, so genau man will, man findet nicht eine ernstliche Handlung, die man ihm zum Vorwurf machen kann. Aus seinen Schriften entnimmt man dann als letzten Schutz den Vorwurf, er sei ein sinnlicher, den Ausschweifungen ergebener Mensch gewesen; aber wiederum weiß man aus seinem Leben in einer für die damalige Zeit sogar auffälligen Weise nichts, gar nichts aufzufinden, was diesen Vorwurf begründet, wenn es für die damalige Zeit überhaupt ein Vorwurf ist.
Objektiv betrachtet stellen sich sein Charakter und seine Geistesart ganz anders dar. Wir sehen einen fleißigen strebsamen, aber gar nicht streberhaften Menschen vor uns, der nach allen Berichten von frühester Jugend an sich teils ganz seinem Beruf mit Erfolg hingibt, teils daneben eifrig literarische Studien treibt. Aus seinen Satiren besonders geht eine genaue Bekanntschaft mit der Belletristik der Zeit ebenso deutlich hervor, wie aus seinen medizinischen und philosophischen Schriften ein sehr fleißiges und genaues Verfolgen der gesamten wissenschaftlichen Fachliteratur. Seine medizinischen Abhandlungen zeigen uns, daß seine Praxis schon in Malo eine große war und daß er mit Eifer und Aufmerksamkeit beobachtete. Mit der ihm eigenen Leidenschaft gibt er sich den Lehren des größten Mediziners der Zeit hin, übersetzt seine Werke, um das in der Medizin zurückgebliebene Frankreich zu fördern und verehrt Boerhaave bis in seine letzten Schritte aufs innigste. Er gibt seine Praxis auf, um in Paris einer innerlich reicheren Tätigkeit sich widmen zu können und erwirbt sich dort in [VIII] kurzer Zeit so viel Vertrauen, daß er zum Arzt der französischen Garde ernannt wird. Er scheut sich nicht, diese glänzende Stellung aufs Spiel zu setzen, um die philosophischen Meinungen zu verbreiten, die seine Krankheit in ihm entwickelt hatte. Er scheut sich ebensowenig, seine medizinischen Fachkollegen anzugreifen, wo er ungenügende Bildung und häßliche Mittel des Gelderwerbes zu sehen glaubt. Er ist aber nicht etwa ein Querulant, der aus angeborner Galligkeit oder in kleinlichem Neide bald diesen, bald jenen angreift. Nein, es geht ein großer Zug durch seine Polemik, immer wieder sind es dieselben zwei Punkte, auf die er in seinen Schriften kämpfend eingeht. Er bekämpft die schlechten ungebildeten Ärzte auf der einen Seite, die Theologen auf der andern. Das Zentrum, aus dem seine beiden Angriffe hervorgehen, ist das Gleiche: Der Glaube an die alleinseligmachende Kraft der Naturwissenschaft, der Medizin.
Seine ersten Erfahrungen, die ihn aus seiner Heimat vertrieben und zu einem unruhigen, unsichern Leben zwangen, vermögen ihn nicht zu brechen. Wieder veröffentlicht er eine Schrift, seine kühnste, von der er weiß, daß sie ihm schlecht bekommen muß. Kaum, daß er seine Freiheit retten kann. Würde er dasselbe im Dienste des Idealismus oder der Religion getan haben, man würde ihn einen Märtyrer nennen, so aber heißt er ein frivoler, unbesonnener, leichtsinniger Mann. Dieselbe Freiheit, die er in seinen Schriften zeigt, bewahrt er sich auch den Menschen gegenüber. Voltaire, der viel gefürchtete, hat von La Mettries Hohn zu leiden wie alle andern und selbst der König muß gutmütig über die Freiheiten in La Mettries Benehmen wegsehen.
Man muß zugeben, daß es seiner Freiheit leicht an Maß fehlte und er selbst wußte, daß er gar zu schnell heraussagte, was ihm gerade einfiel. In einem »Brief an seinen Geist« sagte er einmal zu sich, »mein Freund, du denkst, und du schreibst zu schnell …, warum z. B. hast du dieses Werk geschrieben, der Mensch als Maschine? Sollte das nur geschehen sein aus Eitelkeit, drucken zu lassen, was alle vernünftigen Leute, was alle diejenigen, die sehen, wie es in der Welt zugeht, sich ins Ohr sagen? Oder geschieht es nicht nur, weil deine [IX] Maschine so eingerichtet ist, daß sie nur so und nicht anders denken kann?« So läßt er überall in seinen Schriften, wie in seinem Leben, seinem Affekt, ja seiner Laune frei die Zügel schießen und das macht sich in seinen Schriften oft als Neigung zur Übertreibung und zum Paradoxen geltend. Von dieser Art des Schreibens hätte Goethe sicher nicht sagen können, was er von Holbachs System der Natur sagte, daß sie ihm grau und totenhaft vorkomme. Im Gegenteil, La Mettrie liebt es, die Farben so stark und so glitzernd aufzutragen, daß es einem vor den Augen zu flimmern beginnt. Man kann deshalb nicht jedes seiner Worte genau so wie es dasteht ausdeuten, sondern es heißt immer überlegen, was er an der betreffenden Stelle gerade erreichen will – er behält eben stets etwas Rhetorisches, das auf Wirkung ausgeht. Diese Neigung wird bei ihm durch besondere Klarheit und Schärfe des Denkens nicht in Zaun gehalten. Wahllos, wie sie ihm gerade einfallen, bringt er die Beispiele, bei denen man daher stets sieht, wohin sie hinaus wollen, die aber nicht immer genau das beweisen, was sie beweisen sollen. Sein Stil hat daher leicht etwas Gesuchtes, wird in den späteren Schriften zunehmend salopper und läßt leicht die straffe Gliederung der Gedanken vermissen. Er ist durch und durch, wie das ja bei den Materialisten bis zum heutigen Tage ist, ein Mann des Kampfes, der Wirkung, der Form. Er wird nicht so sehr getrieben von der tiefen Überzeugung der Richtigkeit seiner Anschauungen, obgleich er auch von dieser tief durchdrungen ist, wie von der Überzeugung, daß alle andern Meinungen, daß der Gottesglaube, der Unsterblichkeitsglaube, der Freiheitsglaube falsch, der Menschheit gefährlich und in der Hauptsache ein Unglück für die Menschheit sind. Daher wendet er alle Mittel an, mit denen er zu wirken hofft und Friedrich der Große sagt, mit einem gewissen Behagen in einem Briefe an Maupertuis: »La Mettries kaustische Art wird viel mehr Leute überzeugen als seine Logik.«
Anziehend wirkte bei La Mettrie, wie auf Friedrich den Großen, so auf viele andere eine Eigenschaft, für die wir im Deutschen kein rechtes Wort haben, seine Bonhomie. Ein guter Humor. eine Neigung zu witzeln, [X] tritt uns in allen seinen Schriften entgegen. Im persönlichen Verkehr mag sie besonders stark gewesen sein, denn sie scheint Friedrich, wie aus vielen Briefstellen hervorgeht, ganz besonders an La Mettrie gefesselt zu haben. Diese Neigung bemächtigte sich gern jedes gegebenen Stoffes und machte nur vor den wenigen Grundüberzeugungen halt, die er selbst hatte, vor dem Glauben an die Macht der Beobachtung und Naturwissenschaft und vor dem Glauben an die glückbringende Kraft das Materialismus. Was diesen Witz La Mettries erträglich machte, das war die Gutmütigkeit, die dahintersteckte. Weder aus seinem Leben noch aus seinen Schriften läßt sich nachweisen, daß er irgend jemand mit Bosheit beleidigt hätte, sondern stets sind seine Angriffe so, daß sie bei jedem, vielleicht mit Ausnahme des Angegriffenen, ein freies Lachen auslösen. Er liebt es, Gegner mit Satire zu behandeln, er liebt es aber auch, Bekannte oder Fremde mit Neckerei ohne jede Bosheit anzufassen.
Von diesem Standpunkt aus muß man den Streit mit Haller betrachten, den man La Mettrie am meisten verübelt hat und bei dem man die Stellungnahme fast weniger nach moralischen Prinzipien als nach einem gewissen Sinn für Humor treffen kann. Es lohnt, ausführlicher darauf einzugehen, zumal uns der Streit jetzt in allen Phasen durch Hirzels Werk »Albrecht von Hallers Gedichte (Frauenfeld 1882)« bekannt geworden ist. Albrecht von Haller hatte in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts bereits einen festgegründeten Ruf als Gelehrter, zugleich war er als frommer gläubiger Dichter und Mensch bekannt. Es gab wohl damals niemand, dessen Glauben an Hallers Frömmigkeit, Solidität und Sittenstrenge durch irgend etwas hätte erschüttert werden können. Im Juni 1747 schrieb nun Haller eine Kritik von La Mettries »Geschichte der Seele« in der Göttinger Gelehrten Zeitung, in der er nachweist, was La Mettrie übrigens nie geleugnet hätte, daß dieser von Haller und Boerhaave entlehnt hat, und nennt es eine strafbare Unbilligkeit, den rechtschaffenen Boerhaave zum Deisten und Materialisten zu machen. Er ist wütend, seine Lehre von der Irritabilität zum Beweis materialistischer Gesetze herangezogen zu sehen. Als nun La Mettrie am Ende des [XI] gleichen Jahres das hier vorliegende Werk erscheinen ließ, da suchte er nach einem Namen, dem er das Werk widmen könnte, um sich hinter diesem Namen zu verbergen. Es mußte ein entschiedner Gegner des Materialismus sein, es sollte zugleich ein berühmter Name sein. Vielleicht auch, daß es ihn kitzelte, sich auf diese Weise witzig an Haller zu rächen, kurz, er widmete sein Werk »der Mensch als Maschine« Albrecht von Haller, dem schärfsten Gegner des Inhalts dieses Werkes. Diese einleitende Widmung ist übrigens für Haller durchaus ehrenvoll und enthält nichts weiter als einen Hymnus auf die Freuden des Studiums, einen Hymnus, auf dessen Rhetorik La Mettrie so stolz war, daß er ihn auch später nicht fortlassen wollte. Haller war tief entrüstet. In einem ausführlichen Briefe verwahrt er sich gegen diese Widmung, leugnet er wahrheitsgemäß jede Beziehung zu La Mettrie und beginnt seinen Brief mit den feierlichen Worten: »Da der anonyme Autor des Werkes der Mensch eine Maschine mir dieses ebenso gefährliche wie unbegründete Werk gewidmet hat, so glaube ich, Gott, der Religion und mir selbst folgende Erklärung schuldig zu sein.« In diesem gar zu ernsten Tone geht der ganze Brief weiter. La Mettrie sah, daß er nun die Lacher auf seiner Seite hatte und, über das Maß hinaus schießend, konnte er sich nicht enthalten, eine Antwort zu geben, die der allgemeinen Mißbilligung ebenso sicher war, wie des allgemeinen Lachens. Er erzählte eine Geschichte in einer kleinen Schrift »Le petit homme à longue queue«, wie er mit Haller in Göttingen in Gesellschaft einiger lustiger Dämchen ein übermütiges Gelage mitgemacht habe und wie nun Haller da angefangen habe, zu philosophieren und sich über Gott und die Vorsehung ausgelassen habe. Es wurde viel über diese Schrift gelacht, nur Haller geriet in die höchste Erregung, er schrieb einen wütenden Brief an Maupertuis, den Präsidenten der Akademie zu Berlin, der ihm helfen solle. Er schreibt selbst, daß man dem Werke La Mettries ja ansehe, daß es nur eine Persiflage sei, daß weder der Autor noch der Leser glaube, was darin stehe, aber er sei der Nachwelt schuldig, sich gegen alle solche Angriffe zu verteidigen. Er habe schon aus Prinzip natürlich nie [XII] an solchen Gelagen teilgenommen, aber, schreibt er wörtlich, wenn er selbst gewollt hätte, so wäre seine stets schwache und von Krankheiten heimgesuchte Natur hinreichend gewesen, ihn zu der Solidität zurückzuführen, die an sich der Plan seines Lebens gewesen sei. Es ist grausam, fährt er fort, ihm Soupers mit jungen Mädchen zuzuschreiben, sein Alter, die Zahl seiner Kinder, der Kontrast, den etwas derartiges zu den Sitten und dem Ton der Stadt Göttingen bilden würde, das alles widerspricht der Erzählung des Autors … Sollte es erlaubt sein, mein Herr, fährt er fort, einem Menschen Sitten zuzuschreiben, die den seinigen so entgegengesetzt sind und die heiligen Rechte der Wahrheit so mit Füßen zu treten, und nun verteidigt er sich noch, daß er einmal als junger Mensch ein Liebesgedicht, Doris, gemacht habe, das doch bei einem Menschen von 20 Jahren entschuldbar sei, zumal wenn er 5 Monate vor seiner Hochzeit seine ihm angelobte Braut besinge. Maupertuis antwortete ihm in der einzig vernünftigen Weise, indem er ihn zu beruhigen suchte, indem er ihm sagte, wie La Mettrie nun einmal sei und daß kein Mensch in der Welt darum etwas anderes über Haller glauben würde. Haller aber war mit dieser Antwort sehr unzufrieden und auch Hallers Freunde verziehen es Maupertuis nicht, daß er Haller nicht ganz eindeutig verteidigt habe. Und La Mettrie hatte nicht so unrecht, als er die Vorrede wieder abdruckte »Mit Erlaubnis des sehr berühmten, sehr weisen, aber sehr pedantischen Herrn Haller.« Ich kann nicht finden, daß man La Mettrie hier einen andern Vorwurf machen kann, als den einer zu weitgehenden, fast frechen Art sich Witze zu machen, eine Bosheit aber, die nur darin liegen könnte, daß er jemand schädigen wollte oder geschädigt hat, liegt sicher nicht vor. So bleibt es dabei, daß La Mettries Wesen etwas Unbesonnenes, manchmal fast Kindisches hatte, daß aber seinem Charakter ein wesentlicher Vorwurf nicht zu machen ist. Der Vers Maupertuis: »Ein gutes Herz, verwirrte Phantasie, – das heißt auf Deutsch, ein Narr war La Mettrie«, mag etwas sehr scharf sein, trifft aber doch teilweise zu. Er war sicher keine große, besonders keine vorbildliche Natur. Ihm fehlte das Genie, das die Berechtigung zu [XIII] solcher Einseitigkeit gibt, wie er sie hatte. Ihm fehlte die Vornehmheit‚ die allein moralische Genies erzeugen kann. Aber er war ein ehrlicher, mutiger, überzeugungstreuer Mensch, voller Gutmütigkeit, wenn auch ohne innerste Güte, dem berechtigte, schwere Vorwürfe nicht zu machen sind.
La Mettrie ist vielleicht der entschiedenste Materialist, den die Geschichte der Philosophie kennt, und solche Entschiedenheit gibt schon an sich ein Anrecht auf Interesse an der Lehre. Sein Materialismus ist weniger eine notwendige Folgerung aus dem vorhergehenden Zustande der Philosophie, und alle Hegelschen Geschichtskonstruktionen sind hier ja, wie Friedr. Albert Lange gezeigt hat, gescheitert. Die Entwicklung der Naturwissenschaften ist das Entscheidende für die Entwicklung des La Mettrieschen Materialismus. Das Studium der Medizin ist es von jeher gewesen, das, wenn auch nicht zu so schroffen Formen des Materialismus, so doch zu materialistischen Neigungen gern geführt hat. Der materialistische Mediziner auf der einen Seite, der mystische Mathematiker auf der anderen stehen sich in der Geschichte der Philosophie oft gegenüber, während der Biologe gern eine unklare Mitte einnimmt. Auf La Mettries System trifft ganz genau zu, was Wundt in seiner Metaphysik (Die Kultur der Gegenwart, T. I, Abt. 6, S. 122) sagt: »Doch je mehr hier aus dem freien Bedürfnis des Spekulierens unversehens eine Metaphysik hervorwächst, um so weniger kümmert sich diese in der Regel um die Gedankenarbeit vergangener Zeiten; und auf das Weltbild, das sie entwirft, hat natürlich der zuerst in einem begrenzten Erfahrungskreis erworbene Standpunkt den entscheidenden Einfluß. Anderseits hat aber die Unbefangenheit und nicht selten eine gewisse naive Ursprünglichkeit solcher Systeme ihren eigenen Wert.« Einfach und klar sind die Linien, in denen La Mettries Materialismus verläuft, und im Grunde scheint uns das hier vorliegende Buch, der Mensch eine Maschine, oft etwas lang, weil die einfachen Grundideen sich viel kürzer fassen lassen, und weil wir das Gefühl haben, daß gar zu oft die einfache nüchterne Beweisführung durch unnötigen Bombast unterbrochen wird. Immer wieder betont La Mettrie [XIV] seinen Ausgangspunkt, die Beobachtung des wirklichen Lebens und Daseins, wie es sich dem medizinisch geschulten Blicke bietet. Dessen Wesen besteht ja darin, die äußeren Symptome einer Krankheit einzeln möglichst genau aufzufassen, sie zu Gruppen zusammenzustellen und nun zu erkennen, welche Symptomengruppe die wesentlichste ist und welches einheitliche Krankheitsbild vorliegt. Ganz so stellt La Mettrie der ganzen Welt die Diagnose. Er beobachtet, daß überall, wo er auch hinsieht, die Symptome körperlicher Naturen vorhanden sind, er sieht, daß die Planeten einfache Körper sind, die sich nach festen Gesetzen bewegen. Er schließt gerade aus den Forschungen der damaligen Physiologie, daß das Wesen des Lebens in der Fähigkeit besteht, Bewegungen der einzelnen Zellen zu machen, daß das Wesen etwa der Bewegung des Menschen darin liegt, daß jeder seiner Muskeln reizbar ist, d. h., das Prinzip der Bewegung in sich trägt, er beobachtet schließlich, daß überall, wo man imstande ist die Ursache geistiger Veränderungen oder Störungen nachzuweisen, diese Ursache rein körperlicher Natur, eine Veränderung im Nervensystem oder Gehirn ist. So sieht er, daß alle Reiche der Natur sich diagnostizieren lassen als Erscheinungen, deren sämtliche Symptome körperlicher Art sind, und findet keinen Grund, darüber hinaus irgend etwas Wirkliches anzuerkennen: das Geistige ist nichts weiter, als eine besondere Kraftäußerung der Materie, es haftet ihr gesetzmäßig an und bedarf daher keiner besonderen Erklärung: die Erklärung des körperlichen wäre zugleich die des geistigen.
Für La Mettrie bietet so das Reich der körperlichen und der geistigen Vorgänge prinzipiell keinerlei Rätsel. Aus einfachen blinden Atombewegungen entwickelt sich das Weltall. Die inneren Kräfte der Natur sind so beschaffen, daß sie ohne jede Absicht, aber ganz notwendig nach bestimmten, in ihnen liegenden Gesetzen zunächst einmal die Welt der Planeten und Sterne erschaffen, die sich nach harmonischen Gesetzen bewegen, dann entsteht ebenso notwendig, ebenso absichtslos die Welt des Organischen, die sich von der des Anorganischen nur so unterscheidet, wie sich etwa eine Uhr, die von einem Uhr [XV]macher aufgezogen werden muß, unterscheidet, von einer solchen, die so eingerichtet ist, daß sie sich selbst aufzieht. Organische Körper sind, so können wir heute wohl La Mettries Meinung kurz aussprechen, anorganische, die sich selbst regulieren und instand halten. Freilich hat diese Selbstregulation ihre Grenzen, daher geht das organische Wesen nach einiger Zeit, wenn die Federn der Maschine abgebraucht sind, zugrunde, zerfällt, d. h. stirbt und löst sich damit in seine unorganischen Bestandteile wieder auf. Wie sich aus dem Anorganischen das Organische entwickelt, so aus diesem das Geistige. Einen Sprung vermag hier La Mettrie nicht zu sehen. Die Kontinuität ist auch nicht der Punkt, auf den sein Auge sich einstellt, sondern das, was er sieht, ist ganz im Anschluß an das naturwissenschaftliche Denken die Gesetzlichkeit der Dinge. Und da er findet, daß das geistige Leben ganz genau so gesetzlich vor sich geht, wie das körperliche, da er ferner findet, daß das geistige Leben in absoluter Abhängigkeit vom körperlichen Leben ist, so sieht er in beiden Reichen ein und dieselbe Gesetzlichkeit und findet kein Hindernis, die Gesetze des weiter ausgedehnten und einfacheren Gebietes, also des körperlichen, auf das geistige zu übertragen. Daher verfließen ihm mit ihren gleichen Gesetzen die beiden Reiche vollständig ineinander. Sieht er aber einmal das Geistige als naturgesetzlich bestimmt an, so kann er hier natürlich wieder keine Grenze zwischen Tier und Mensch setzen und er denkt hier nur den Descartes konsequent zu Ende, der die Tiere als die Maschinen bezeichnet hatte und zwischen Tier und Mensch einen Sprung aufstellte. La Mettrie ist daher überzeugt, daß die Züchtung eines begabten Tieres zu einem Menschen nur eine Erziehungsfrage sei. Hier laufen zwei Gedankengänge bei ihm noch ganz ineinander, die beide späterhin von Bedeutung werden sollten. Erstens die Züchtung des Menschen vom Tier herauf, die Ausbildung des Affen zum Sprechen in genau gleicher Weise, wie man damals zum ersten Male Taubstumme zum Sprechen brachte. Zweitens der Glaube, daß es gelingen könnte, einmal rein mechanisch einen ungeheuer komplizierten Apparat zu bauen, der, durch unendlich viele Federn und Maschinen bewegt, imstande sei, alle Be [XVI]wegungen und alle Handlungen des Menschen auf bestimmte äußere Reize hin nachzuahmen. Wie man damals zum ersten Male einen Automaten gebaut hatte, der die Flöte spielte, so glaubte La Mettrie und viele andere mit ihm, daß man nahe daran sei, einen Menschen zu bauen, der auch sprechen könnte. Der Affe auf der einen Seite, die Maschine auf der anderen Seite sollten beide zum Menschen gebildet werden können. Die Idee der sich allmählich belebenden Statue, die einen Sinn nach dem anderen bekommt und so zum Menschen wird, stammt vollständig aus diesem Gedankenkreise.
Wenn sich nun das ganze menschliche Geistesleben nach ganz mechanischen Gesetzen vollzieht, so muß der Mensch diesen Gesetzen einfach gehorchen, und alle Moral kann nur darin bestehen, den Gesetzen des Geistes nachzugeben. Da nun der Mensch von Natur notwendig, gesetzlich und überall nach Vergnügen strebt, so ist es nur konsequent, daß La Mettrie dazu auffordert, das Vergnügen, dem die Natur uns nachzugehen heißt, überall aufzusuchen. Nun sieht er ja alles Vergnügen dem Wesen nach als körperliches Vergnügen an, da die Grundlage auch des Geistes körperlich ist. Die notwendige Folgerung ist daher, daß der Mensch das körperliche Vergnügen aufsuchen soll. Dieses körperliche Vergnügen aber trennt sich für La Mettrie, was man viel zu wenig beachtet, in zwei Formen: das im strengen Sinne körperliche der Sinne und das körperlich-geistige, das sich sich an die Vorstellungen und Begriffe des Menschen knüpft. Körperlich ist es darum, weil nach La Mettrie – und darin ist er von der modernen Psychologie gar nicht so weit entfernt – auch die geistigen Vorgänge im Leben des Körpers ihren Widerhall finden müssen, um auf uns zu wirken. Geistig ist es darum, weil es anknüpft nicht an die natürlichen Bedürfnisse des Körpers, sondern an diejenigen, die durch Kultur und Erziehung im Menschen entstehen. Das sind aber, wie er gerade in der Vorrede zum vorliegenden Werke schreibt, die Vergnügungen der Künste und der Wissenschaften, kurz, die höchsten geistigen Genüsse der Kultur. Von ihnen schreibt er deutlich an vielen Stellen sowohl dieser Schrift als späterer Schriften, daß sie den Vergnügungen [XVII] des Körpers bei weitem vorzuziehen seien, nur darin unterscheidet er sich von denjenigen Moralisten, die den geistigen Werten eine absolut höhere Geltung zuschreiben, daß er ihnen nur eine relativ höhere zusprechen kann. Man soll sie darum wählen, weil sie häufiger und dauernder zu erreichen sind. Aber an keiner Stelle setzt er sie irgendwie herab, sondern er ist ihr begeisterter Lobredner.
Freilich wertet er auch die körperlichen Vergnügen sehr hoch, weil er sie einerseits für natürlich und notwendig hält, und weil er auf der anderen Seite denjenigen, die geistiger Genüsse nicht fähig, oder die nach der Lage der sozialen Verhältnisse nicht imstande sind, sich geistige Genüsse zu verschaffen, wenigstens die körperlichen gönnen will. Was bei ihm unangenehm berührt, das kann nicht diese Grundanschauung sein, die ja im ganzen 18. Jahrhundert mit kleinen Abstufungen bei den meisten französischen Philosophen auftrat, die auch in sich vielleicht nicht unkonsequent abgeleitet ist, das kann nur die Art sein, wie La Mettrie über körperliche, besonders über geschlechtliche Dinge redet. Er tut es oft, wo es gar nicht nötig ist, er sucht seine Beispiele mit besonderer Liebe auf diesem Gebiete und man merkt ihm eine gewisse zynische Freude an, sittenstrenge Gemüter zu verletzen – das gibt in der Tat manchen Teilen seiner Werke einen unerfreulichen Anstrich. Doch kann man bei ihm bemerken, daß auch hier mehr die Lust am Paradoxen, die Neigung, die Frommen zu necken und zu ärgern, Ursache sind, als etwa ein Drang seines Innern, der sich in Worten entlädt.
Da nun ein jeder notwendig den Gesetzen seines Innern gehorcht und auf bestimmte Reize mit bestimmten Handlungen antwortet, so ist auch der Verbrecher zunächst einmal notwendig, seiner Natur nach, Verbrecher. Aber die Gesellschaft hat das Recht, sich zu schützen, und so erklärt sie gewisse Handlungen für unmoralisch, weil sie der Gesellschaft schädlich sind. So entsteht die Moral als ein Produkt der menschlichen Gemeinschaft und die Strafen sind ein Schutz, den die Menschen sich erbauen. Läßt sich der Verbrecher durch die Drohungen der Gesellschaft nicht abhalten, so ist es gerecht, daß ihn Strafe [XVIII] trifft, aber, fügt La Mettrie hinzu, der Verbrecher muß auch geistig normal sein, so daß er imstande ist, den verbrecherischen Impulsen auf die Drohungen des Staates hin zu widerstehen. Ob er dazu imstande ist, das kann nicht der Richter entscheiden, sagt La Mettrie wohl als einer der ersten, sondern nur der Arzt, und daher müßten in jedem Gerichtshofe Ärzte sitzen. Der kranke Verbrecher wird ja schon dadurch genug bestraft, daß er gewöhnlich nach einiger Zeit sich seines Verbrechens bewußt wird und dann Gewissensbisse über seine Tat empfindet, die er doch gar nicht hat unterlassen können. Hier wie überall zeigt sich bei La Mettrie eine schöne Humanität, wie sie dem Materialismus eignet, mag ihm auch die Größe und Tiefe abgehen.
Wie La Mettrie sich der kranken Verbrecher annimmt, so hat er auch für die gesunden Verbrecher noch ein freundliches Wort übrig, das man ihm oft übelgenommen hat. Er verdammt nämlich vollständig jede Art von Reue und jeden Gewissensbiß. Darin hat man oft eine Entschuldigung des Verbrechens sehen wollen und unseren Autor heftig angegriffen. Aber an keiner Stelle findet man bei ihm das Verbrechen empfohlen, wie bei Mandeville nirgends auch nur entschuldigt; sondern er ist überzeugt davon, und darin mag vielleicht ein Irrtum liegen, daß die Reue unwirksam ist und doch den Verbrecher nicht abhält, das nächstemal wieder zu fehlen, und so will er ihm wenigstens den Gewissensbiß nehmen, damit auch der Verbrecher noch so viel des Lebens sich freue, als möglich ist. Diese Art von Glückseligkeitslehre liegt der damaligen französischen Philosophie tief im Blute. Die Reue ist nach ihm eben kein notwendiger Ausfluß unseres Geistes, sondern ein Produkt der Erziehung, und darum kann er sie für unnütz, ja schädlich erklären.
So ist La Mettries System in sich gerundet, soweit es rein metaphysische, nicht moralische Lehren enthält. Jeder Angriff, den man dagegen richten will, muß ein Angriff nicht auf ihn, sondern auf das Wesen des Materialismus sein. Dieser scheint ja heute den meisten tot und eines Angriffs kaum mehr würdig – aber so gründlich widerlegt, wie das allgemeine Gefühl heute annimmt, ist er [XIX] noch nicht. Die Angriffe, die man von seiten der Erkenntnistheorie gegen ihn gerichtet hat und lange Zeit unter dem Einfluß von Kant und Schopenhauer als entscheidend ansah, haben ihre Stoßkraft für uns stark eingebüßt. Daß die Vorstellung der Materie für uns nur möglich ist, wenn es schon ein erkennendes Bewußtsein gibt, das beweist uns noch nicht, daß es noch nichts Seiendes in der Welt geben könne, ehe wir es denkend erfassen und als Materie bezeichnen können. Die idealistische Erkenntnistheorie, vorausgesetzt selbst, daß sie die einzig richtige sei, kann sich mit jeder, auch einer materialistischen Metaphysik vertragen. Über das Wesen des Seienden macht sie überhaupt keine Aussage, sondern nur über seine Erkennbarkeit. Und schließlich kann man keine Metaphysik von der Höhe irgend einer Erkenntnistheorie aus widerlegen, sondern die Metaphysik stets nur immanent daraufhin betrachten, ob sie in sich widerspruchslos ist.
Die normale Verurteilung des Materialismus beruht aber auf ganz anderem Grunde, nämlich auf moralischem. Daß der Materialismus die drei großen Ideen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit zerstöre, das ist der Vorwurf, der gewöhnlich an Stelle eines Beweises tritt. Nun ist die Moral des Materialismus sicherlich nicht besonders tief und begeisternd. Sie ist mehr eine Moral des Alltages und der Ebene, als eine solche des Erhabenen und der Höhe. Aber daß sie irgend etwas nach unseren heutigen Moralbegriffen Unsittliches enthalte, darf man aus den Prinzipien des Materialismus ebensowenig ableiten, wie aus den Schriften seiner besten Vertreter. Auch hier kann man nur aus innerer Logik und Konsequenz des Systems seine kritischen Gründe hernehmen. Und da hat ohne Frage der Materialismus mit dem schwierigsten der Probleme, mit der Freiheit, seine Schwierigkeiten. Aber sind die des Idealismus etwa schon gehoben, sind sie in den Lehren Kants und Schopenhauers etwa geringer, als in denen der materialistischen Denker? Wie dem auch sei, moralische Glaubensgründe sind niemals Erkenntnisgründe gegen ein System, und die einfachste wissenschaftliche Redlichkeit fordert, daß man sich abgewöhne, gegen den Materialismus moralische Gründe anzuführen.
[XX] Schwieriger werden die Bedenken, wenn wir den Materialismus auf seinem eigenen Gebiete durchforschen und zu Ende zu denken versuchen. Da stellt er zunächst in allen seinen strengen Formen die Anforderung an uns, den Übergang aus Reihen körperlicher Bewegungen in geistige Vorgänge an irgendeiner Stelle plötzlich anzunehmen. Man mag nun das Reich des Organischen‚ an welcher Stelle man mag, sich beseelt denken, es wird immer ein ganz bestimmter Punkt anzugeben sein, der, mathematisch ausgedrückt, ein völliger Wendepunkt ist. Alles, was auf der einen Seite des Punktes liegt, ist rein mechanisch, alles, was auf der andern sich befindet, mechanisch und geistig zugleich. Daraus entspringen aber zwei Denkschwierigkeiten, die mir wenigstens unüberwindlich erscheinen. Die eine besteht darin, daß wir auf der einen Seite gerade nach den Lehren des Materialismus eine stetige Entwicklung aller Dinge annehmen und dann doch an einem Punkte den schärfsten plötzlichen Sprung glauben sollen. Eine Ursache, warum an der einen Stelle etwas völlig Neues zu dem rein mechanischen hinzutritt und hinzutreten muß, ist nicht anzugeben. Das Prinzip von der Kontinuität in der Natur wird hier aufs stärkste durchbrochen. Und die zweite wesentliche Schwierigkeit liegt darin, daß das Geistige aus Körperlichem, d. h. aus prinzipiell Andersartigem entstehen soll. Nun ist zugegeben, daß wir auch in dem naturwissenschaftlichen Denken heute gern davon reden, daß Arbeit aus Wärme, Wärme aus Elektrizität, Wärme aus Arbeit entsteht. Wenn das auch Vorgänge sind, die sich auf dem Boden des Körperlichen vollziehen und daher einem einheitlichen Begriffe unterliegen, so scheint es mir, daß auch hier eine Denkschwierigkeit vorliegt, daß wir eben den Übergang eines Dinges in ein anderes nicht denken können. Daher sind auch die Versuche von logischer Notwendigkeit, alle die Formen des physikalischen Geschehens als Unterformen einer Einheit, etwa der Atombewegung, oder einer Energieform aufzufassen. Das ist aber nur möglich, wo man eben Körperliches mit Körperlichem vergleicht. Wie dagegen aus Körperlichem Geistiges entstehen solle, das kann der menschliche Verstand nicht fassen. Neben diesen beiden Schwierigkeiten, die man [XXI] vielleicht als logische bezeichnen könnte, gibt es noch eine dritte, die der Materialismus noch nicht gelöst hat und die gerade aus seiner Domäne, der Naturwissenschaft, sich ergibt. Ist nämlich das Geschehen in der Welt eindeutig durch die physikalischen Gesetze bestimmt, dann ist nicht einzusehen, zu welchem Zwecke die geistige Spiegelung des körperlichen Geschehens vorhanden ist. Während eine jede physikalische Kraftäußerung auf die ganze Zukunft des Weltalls wesentlichen Einfluß nimmt und nur unter dieser Voraussetzung die einheitliche Entwicklungslehre der modernen Naturwissenschaft möglich ist, können wir nicht verstehen, wozu eine Gruppe von Erscheinungen, die geistigen, entstanden sind, die auf die weitere Entwicklung gar keinen Einfluß haben, wir können ein Seiendes nicht in den Strom der Entwicklung einbeziehen. So scheinen mir aus der modernen Entwicklungslehre selbst schwierige Fragen für den Materialismus zu entstehen.
Und schließlich geht eine prinzipielle Schwierigkeit aus der modernen Psychologie hervor. La Mettrie durfte noch naiv annehmen, daß die geistigen Vorgänge rein mechanisch, rein assoziativ verlaufen und daß das geistige Leben im Grunde naturgesetzlich vor sich geht. Geblieben ist, großenteils durch die scharfe Betonung von seiten der Materialisten, in der modernen Psychologie die Lehre von der absoluten Gesetzlichkeit der Dinge – ob aber geistige und körperliche Gesetze derselben Art sind, das steht mindestens sehr im Streite. Sind aber die Gesetze unseres Geistes anderer Art als die der Körper, dann fällt gerade die große Einheit zusammen, auf der La Mettrie in seinem System ruht, die Einheit sämtlicher Gesetze und die daraus abgeleitete Einheit der gesamten Natur, die geistige Natur eingeschlossen.
Schwierigkeiten für den Materialismus liegen also heute noch oder vielleicht heute noch mehr vor, als jemals. Noch scheinen sie uns unüberwindlich – aber sind die des Idealismus geringer? Darüber ist hier aber nicht zu reden. Jedenfalls lohnt es auch heute noch, sich mit dem Materialismus zu beschäftigen und in mancher Beziehung ist er auch heute noch ein notwendiges In [XXII]gredienz der möglichen Weltanschauungen, das man verwerfen, aber nicht verachten darf. Wie in der Politik der Kampf zwischen konservativen und liberalen Elementen ein notwendiger ist, so in der Metaphysik der Kampf zwischen den Neigungen zum Idealismus und Materialismus. Aus einer ruhigen sachlichen Erwägung, aus heftigem, aber ehrlichem Kampfe der Gründe soll in beiden Fällen die Wahrheit allmählich geboren werden, und wenn eine solche nicht gefunden werden kann, dann soll ein jeder nach bester Neigung und bestem Wissen seiner Anschauung leben dürfen.
La Mettries »L'Homme Machine« erschien anonym im Jahre 1748 in Leyden bei Elie Lusae Fils. Es scheint, daß das Werk 1747 mit dem Titel auf das nächste Jahr gedruckt ist. Die vorliegende Übersetzung ist nach der sehr selten gewordenen Originalausgabe angefertigt, die ich besitze. Sie unterscheidet sich durch einzelne schärfere Stellen von der Ausgabe, die späterhin in den Oeuvres philosophiques, Londres (Berlin) 1751, erschienen ist, die Unterschiede sind zum Teil in den Anmerkungen angegeben. Soweit mir bekannt ist, gab es bisher nur eine deutsche Übersetzung, die von Dr. Adolf Ritter aus dem Jahre 1875. Sie ist an einzelnen Stellen unklar, an einigen falsch, außerdem seit langer Zeit vergriffen. In der vorliegenden Übersetzung ist versucht, Ausdrücke, die La Mettrie festhält, auch einheitlich zu übersetzen, das hat an manchen Stellen Schwierigkeiten gegeben, die hoffentlich nicht stören. Ein großer Teil der Übersetzung ist von meiner Frau angefertigt worden. Ich spreche ihr dafür hier meinen Dank aus.
Leipzig, im September 1909.