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Über verfilzten, hartschaligen Boden stapft Alexand hin. Ein ausgetretener Pfad, kaum zwei Fuß breit, läuft schnurgrade ins Venn. Es ist der Pfad der Mäher, jetzt schon mit blaßgrünem Moosflaum überwachsen. Ein scharfer Morgenwind jagt über die Moorfelder, peitscht eine Staubwolke auf und zerknittert sie über den Torfhügeln. Staubkörner rinnen und rieseln auf das harte Gestengel des Heidekrauts und nesteln sich in die Blütenhäkchen des Wollgrases. In ungeheuren Ballen wälzen sich die Moornebel heran, bald wie eine aus weißem, federndem Wasserdampf aufgebaute Wand, bald in flatternden Fetzen, die in der weichen, müden Stille des Venn wie Geisterschatten umherirren. Und hinter dem Nebelgeriesel ein Prickeln und Brennen und Flimmern der aufgehenden Herbstsonne! Ein fahler Schein, der transparent durchleuchtet und das ganze Venn in die lehmig gelbe Sonnenfarbe taucht! Und mitten darin der Umriß eines steilen Daches, ein Moorgehöft, einsam, verträumt, weltfern. Keine Stimmen fernher, kein Ochsengebrüll, nicht einmal das Gegörle der Hühner.
Da wohnt der Torfbauer, unter dem Spitznamen Tadelle bekannt.
Alexand geht hinein, kein Mensch in Haus und Hof, der Stall leer, Türen und Schränke offen! Er beschattet die Augen und späht durch den weiten Umkreis des Venn. Überall die dunstige Hochfläche und rundum die eintönige Grenzlinie am Horizonte! Zwei gebückte Gestalten auf den Vennwiesen. Denen pfeift er auf den Fingern. Der Pfiff gellt ins Moor. Die Köpfe heben sich – ein Pfiff zurück, der Mann winkt mit der Heidehaue und dann wieder gebückt zur Arbeit! Mochte wer immer da sein. Das Haus stand gastfreundlich offen, und sonst suchte man nichts weiter im Venn. Am Brunnen nimmt Alexand einen frischen Trunk und wäscht sich. Brot und Speck findet er im Schrank. Das steckt er zu sich, sucht in der Scheuer nach einer Heidehaue und geht tiefer ins Venn.
Die Sonne hat sich durch die Nebelwand gebrannt. Sonnenstäubchen wirbeln schräg über die hochgestapelten Torfhaufen und die Zielsteine neben dem Pfad. Ab und zu taucht eine durchfaulte Signalstange zwischen den weißen Steinen auf. Daran hingen zu früheren Zeiten die Laternen, die in Sturmnächten die Wegrichtung andeuteten. Und nun verliert sich der Pfad in der Wildnis des Torfmooses. Ein weicher, molliger Untergrund schwappt unter Alexands schweren Tritten. Der weite, flache Rasen saugt wie ein Riesenschwamm das rötliche Wasser ein und quirlt und sickert und plustert, sowie die Fußspur sich eindrückt. Die Luft wird enger, stickiger. Der Geruch von faulendem Moor und dürrgebranntem Heidekraut drängt auf feuchten Luftwellen heran. In die tiefe Stille hinein ein leises Fluttern des Windes, und in dem mattgelben Schein starrt leblos und verstorben das Moor!
Alexand fühlt, wie ihm von der Brust herunter die Last abbröckelt. Die Einsamkeit drinnen und draußen versöhnt ihn. Hier will er bleiben bis es von innen heraus verheilt und vernarbt ist; er weiß selbst noch nicht, wie er seine Zukunft gestalten will. Erst zu sich selber kommen, sich wiederfinden und für seinen ferneren Lebensweg die Zielrichtung suchen. Das kann er im Venn, wo er heimisch ist, nicht draußen, wo er fremd ist.
Er schlägt die Hacke in den Boden ein, dicht neben der Torfhütte. Sie ist zerfallen und der Wind zaust an dem mit Heidesoden verklebten First. Er muß sich bücken, als er hineintritt. Auf dem festgestampften Lehmboden klatscht sein Fuß auf. Im Venn verursacht das geringste Geräusch einen Schall, stumpf und stoßweise, als höre man ferne Menschenschritte über seinem Grab. Ein hemmendes Gefühl zwickt ihm die Brust. Es ist ihm, als müsse er die Arme dehnen und recken und die armselige Vennhütte höher rücken, aus den schwanken Grundpfeilern herauswachsen lassen, damit ihm Raum werde zur inneren Befreiung. Sich selbst erlösen muß er. Das ist der starre Wille, der ihn zur Arbeit, zu fieberhafter Tätigkeit zurückreißt. Die großen Gedanken und Pläne, die er von der Welt draußen heimgebracht, drängen wieder in seinen Lebenskreis. Sie werden ihn vor der Versumpfung retten. Er denkt nach. An etwas Großem, Gewaltigem sich emporranken – das wär' es!
An der Feuerstelle, wo verkohlte Holzstücke in dem Aschehaufen liegen, läuft ein langer, aus Torfkuchen aufgemauerter Sitz hin. Dahin setzt er sich, zündet ein Feuer an und legt Torf darauf. Es ist ein lautloses Glimmen ohne Funken und Licht. Ein feiner Rauchfaden schlängelt heraus, immer höher hinauf, drängt zu dichtem Knäuel um die Dachpfähle und in sanfter Bläue durch die Luke hinaus. Alexands fernblickende Augen folgen ihm; und leise verrinnen die Stunden.
Über der Vennhütte steht die blanke Sonnenkugel ohne Strahlen, ohne Wärme. In den Wolkenfetzen schimmert ein Stück blauen Himmels. Da steht er auf, wirft die Jacke ab und geht hinaus. Eine Reihe verkrüppelter Moorkiefer laufen auf der Windseite längs der Hütte hin; die muß er verdichten, um geschützt zu sein. Zwei Steinwurf weiter wächst der Ginster mannshoch. Den sichelt er mit dem Taschenmesser ab und trägt die Bündel vor die Hütte. Ein Moorhuhn schlupft in dem Dickicht. Das begrüßt er wie eine Menschenstimme, die in seine Einsamkeit hinein eine leise Klage schickt. Zwischen die Kiefernstämme flechtet er die Ginsterruten, bis die hohe Wand an den Dachfrist hinaufreicht. Dann macht er sich daran, den abgebröckelten Lehm aus der gezäunten Giebelwand neu zu schmieren. Sein Klopfen und Hämmern hallt in die lautlose Stille hinein und verliert sich wie ein harter, knarrender Schall in einem unendlich weiten Raum.
Am Lukloch qualmt der Torfbrand heraus. Die Hütte ist mit stickigem Rauch angefüllt; da sucht Alexand im Moorried nach flachen Steinen, um die Feuerstelle aufzumauern. Wo der Rasen feucht wird und aus dem sumpfigen Untergrund die Schachtelhalme herausstehen, sondiert er den Boden mit der Hacke und legt sich flach über die verräterische Moosdecke. So schiebt er langsam mit vorgestreckten Armen über die versumpfte Fläche hin, schält die brauchbaren Steine aus dem Schlamm los und wirft sie in weitem Bogen hinter sich. Dann will er auf demselben Wege zurück; das ist schwieriger. Die Schwere seines Körpers hat eine lange, tiefe Rinne gezogen; in diese hinein sickert und brodelt das humussaure Wasser und füllt sie bis zum Rand. Er will sich aufrichten, stützt die Hände auf und bricht bis zum Ellbogen ein. Warmer, zäher Klipp ballt sich um seine Arme und erschwert jede Bewegung. Da wälzt er sich bedächtig aus der Rinne heraus, in langsamen, abgemessenen Windungen bis zu dem Weidengebüsch. Ein häßlicher Wassermolch glotzt zwischen dem Gestengel heraus ihn an, und wo der den Plantschfuß in den Schlamm setzt, zieht das Sumpfwasser einen kleinen Kreis – ein Aufschnappen nach Luft, und fort ist er in der dunklen Pfütze.
An den dicken Weidenruten hält sich Alexand und wendet sich. Sein wuchtiger Körper knirscht in dem Schlamm. Die Hacke schlägt er vor sich in den Boden ein und zieht sich an ihr aus der Sumpfstelle heraus. Die Gefahr stählt ihn; sie spannt seine Muskeln. Im Kampfe muß er leben, weil in ihm kein Friede ist.
Eine trostlose Müdigkeit lauert in seinen Augen, als er in die Vennhütte zurückkehrt und die Glut an der Feuerstelle zusammenscharrt. Der Hunger nagt in ihm. Da knotet er den Speck an das Gestänge und räuchert ihn in dem Rauch des Torffeuers. Die Sonne hängt schon wieder im Dunst. Durch die Luke sieht der Vennabend mit grämlichem Gesicht herein. Wenn der Nebel den Ausblick nicht versperrte, könnte man den Rauch aus den Dorfhäusern aufsteigen sehen. Und mitten unter ihnen der Gièthof ...
Da hat er einmal in hellem Glück gewohnt. Es friert ihn leise ins Herz. Und jetzt wohnt er in lautlosem Schweigen, lautlos fallen die Nebel – lautlos weht der Rauch aus der qualmenden Glut – lautlos spinnen sich seine Gedanken.
Und draußen stellen die Riesenschatten sich als stumme Wächter um das einsame Haus im Moor! –
Aus den romantischen Tälern der Wallonie herauf steigt der Altweibersommer auf die unwirtliche Hochfläche und leuchtet mit fahlen Lichtern in die Oktobertage hinein. In dem blaßgrünen Moos steht das Wollgras noch in voller Blüte. Im Ried, in den Binsen und sogar zwischen den Torfhaufen heraus zwängen sich die rosa Blüten. Schneeweiße Nebelschleppen streifen darüber hin und sprenkeln blanke Tautröpfchen auf das braune Land.
Sobald die Nebel sich verteilen, tritt Alexand vor die Hütte und hält Umschau über die kümmerlichen Vennwiesen. Der Boden saugt eine dunkle Feuchtigkeit ein. Er schleudert einen Stein hinüber und bemerkt, daß er tief in den schwammigen Untergrund hineinplantscht. Da beschließt er, das Wasser abzuleiten, und zieht einen Graben durch das Gelände. Aber schon rinnselt und sickert es in die Vertiefung hinein, und immer mehr füllt sich der Graben; zwischen den Füßen durch rauscht ihm das Wasser und schießt der Rinne nach. Bis über die Knie steht er in dem Graben, und tiefer spatet er hinein. Seine Brust dehnt sich, aus seinem Gesicht weicht für Augenblicke die schlaffe Müdigkeit. Ein blendendes Licht zuckt in das Dunkel, das er seine Zukunft nennt, – ein Blick, ein Erwachen, vorüber!
Aus dem Graben springt er heraus und sieht dem davonschießenden Wasser nach. In leichten Wellen purzelt's die Rinne hinunter. Schaumkrönchen auf seinem Rücken und hie und da ein welkes tänzelndes Blatt. Und wo die Rinne weiter unten im Grund verläuft, plantscht der Wasserstrom den Abhang hinunter den Dorffeldern zu. Da liegen auch die Giètäcker; und sie trinken das Wasser auf, das der Einsame im Venn hinunterleitet.
Heiß stößt es ihm zum Herzen. Die Einsamkeit ängstigt ihn schon. Eine brennende Unruhe treibt ihn zu den Menschen. Er fühlt es, das ist die Sehnsucht nach dem lebendigem Leben, eine heiße, verzehrende Sehnsucht, und die drängt kein Groll zurück, weil sie Liebe heißt. Mit einem öden Blick schaut er um sich. Er erschrickt vor seiner Einsamkeit. Mit weit ausholenden Schritten eilt er den Pfad hinab – fort zu Menschen! Menschen!
Beim Torfbauer sitzen sie am Mittagstisch. Nur ein leises Klappern der Teller und Löffel. Diese Menschen achten die lautlose Stille. Das lärmende Geräusch könnte ihnen physische Schmerzen verursachen.
Als der junge Hofbauer hereintritt, rücken sie zusammen, und die Vennfrau legt für ihn einen Löffel hin. Ohne Aufforderung, weil sie es für selbstverständlich erachten, laden sie zur Gastfreundschaft ein. Mechanisch taucht Alexand den Löffel in den Brei. Gesprochen wird nichts über Tisch. Das eintönige Auslöffeln, das in abgezirkelten Bewegungen vor sich geht, legt sich auf seinen inneren Sturm wie ein beruhigendes Wort. Er schaut in das Alltagsgesicht, das so herb und entnüchternd in eines Menschen Kummer hineinblickt. An den durchfurchten Stirnen steht eine krause Hieroglyphenschrift: Das Leben ist tiefer als das Leid, und schwer ist der Gang der Zeit. Wenn der Arbeitstag vorüber ist, sind wir der zeitlichen Vollendung wieder näher!
In die geleerte Schüssel fallen die Löffel zurück. Die Köpfe neigen sich über die gefalteten Hände. Ein leises Murmeln, verstümmelte Gebetsworte in rauher Einfalt, grob und kindlich; aber in ihrer rührenden Bedürfnislosigkeit voll stolzer Zufriedenheit.
Die Vennfrau sitzt zwischen den beiden Männern. Der eine ist ihr Halbbruder, dem der Rücken nach dem Torfstechen steht. Der andere ihr Mann, klein, hager, das Gesicht von der Sonne ausgedörrt, von Wind und wechselndem Unwetter kupferrot zerblasen. Unzähliges Gefältel um Augen, Mund und Stirne, und in den Falten die kurzen, rauhborstigen Bartstoppeln; zwei grelle, öde Blicke zum Spähen in die nebligen Weiten der Hochfläche.
»Wenn Ihr trinken wollt,« sagt er zu Alexand, »hinterm Haus ist der Brunnen.«
»Ich hab' mir Eure Heidehaue mitgenommen,« erwidert statt dessen der Giètsohn, »wenn Ihr sie braucht, sagt's nur.«
»Ich und der Qwèrin haben eine. Die von der Mam' könnt Ihr behalten. Braucht Ihr sonst noch 'was?«
»Ich brauch' nicht viel, merci.«
Nun schweigen sie beide. Qwèrin streckt sich auf die Bank und schläft. Die Vennfrau spült die Geschirre.
»Die Hütte ist brüchig geworden,« beginnt Alexand wieder, »ob die dem Winter stand hält?«
»Ihr müßt die Wänd' mit Torfkuchen einmauern, das tut's schon.«
Dann steht Tatalle auf und geht hinaus. Draußen pfeift er.
»Geht 'naus, Giètbauer,« sagt die Vennfrau, »er hat 'was für Euch.«
Über den Hof schrammt Tatalle einen langen Futtertrog, der halb aus den Fugen reißt.
»Zimmert Euch den zum Bettkasten zurecht. Das tut's auch schon.«
»Stroh habt Ihr?«
»Im Heustock unter'm Dach. Was Ihr sonst noch braucht, sucht Euch hier 'rum zusammen.«
Er geht zum Stall, der unter einem Dache liegt, bleibt dann plötzlich unter der Tür stehen und sagt, ohne sich umzudrehen:
»Wenn Ihr das Wasser ableitet, seht darauf, daß der Graben nicht in meine Wiesen läuft.«
»Kommt bei der Trockenlegung 'was heraus, Torfbauer?«
»Für zwei Kühe und ein Rind grad' viel genug.«
»Torfbauer! Warum nicht auch 'mal 'n Acker auf'm Venn?«
»Gibt's nicht, nonna (nein)!«
»Kartoffeln, Torfbauer!«
» Nonna ciette!«
»Sand müßte in den Moorboden. Wenn dann der Frost hineinfriert, erhalten wir das Land mürbe.«
»Wir haben keinen Sand.«
»Schickt den Qwèrin mit'm Karren nach Flußsand.«
»Im Hohlweg bleibt er stecken, va!« (gebräuchlich für »nicht wahr«).
»Wird er nicht. Wir helfen; laß den Qwèrin ausfahren – vom Gièthof kann er sich Vorspann holen.«
» Abin!«
Er geht in den Stall. Alexand hämmert an dem Bettkasten. Als er auf den Heustock hinaufsteigt, sieht er die Torfleute wieder ins Venn ausziehen. Die Mam' trägt den bauchigen Kaffeekessel in ein buntes Tuch eingeknotet.
Mit einem Ruck lädt er sich den mit Stroh gefüllten Bettkasten auf und steigt wieder zu der Vennhütte hinüber. Eine Schar Krähen lärmt vor seiner Türe um die Brotkrumen, die da umherliegen. Bei seinem Herankommen gibt es ein wirres Flügelschlagen – stelzbeinig über die Dachpfähle hin und fort gegen die graue Wolkendecke hinauf.
Er stellt den Bettkasten in die entgegengesetzte Ecke zur Feuerstelle, errichtet in der andern Ecke eine Hürde für ein paar Hühner und baut an die Hütte ein Dächlein, das auf vier Pfählen ruht und gegen die Wetterseite durch eine Torfmauer geschützt ist. Da wird er eine Ziege einstellen, und so ist für seinen Lebensunterhalt das Nötigste getan.
Die Sonne steht jetzt über seiner Hütte. Eine schneeweiße Nebelfläche spannt sich über das Venn, und blitzende Lichtfunken rinnen hinein. Über den Sümpfen brennen die Gasbläschen lichterloh in glühenden Farben. Kreuz und quer schießen die Sonnenlichter hinein. Die bunten Reflexe springen in die weißen Dämpfe, und dann fließen die flimmernden Lichtströme breit und wuchtig in das nebelhafte All der Hochfläche.
Alexand lehnt an den Kiefern und sieht in eine Wunderwelt hinein. In dieser leuchtenden Pracht kennt er das Venn nicht, aber hat es auch nie so gesehen – mit dem Blick nämlich, der nach innen geht. Das Leid macht innerlich und sieht mit großen, weitgeöffneten Augen aus seiner Stille, jetzt, weiß er, warum am Venn seine Liebe hängt, seine zertretene Liebe, die nur da ausheilen kann, wo er noch lieben darf. Die brachliegende Kraft wühlt in ihm. Das Edle und Große schwillt aus ihm heraus. Der einfache Bauer empfindet die Urkraft, die ihn seiner Bestimmung entgegenführt: der erste Kulturträger im Venn zu werden!
Von Belgien herüber drängen graue Wolkenballen und ziehen einen weiten Halbkreis um das Moor. Er denkt, ein Landregen könne sich einstellen und sichelt eine Strecke weit das Heidekraut dicht über dem Boden ab. So legt er ein kleines Stück, Ackerland bloß, stürzt es um und mischt den Sand hinein. Der Karren blieb richtig im Hohlweg fest; so mußten sie den Sand in Säcken herauftragen.
Die Heidekrauthaufen um die Hütte wuchsen über das Dach hinaus. Da kam der Torfbauer und fragte:
»Was stapelt Ihr das Unkraut auf? Verbrennt es, dann ist's aus dem Wege.«
Das war die erste neugierige Frage. Die Vennleute kümmern sich nicht um des Andern Tun und Treiben. Jeder muß wissen, was er will; aber sie helfen, wo's Not tut auch ohne Warum und Woher. Alexand führt ihn zu dem Acker. Der läuft in langer Linie einen sanften Abhang hinunter.
»Zur Hälfte setz' ich Kartoffeln ein, zur andern Hälfte möcht' ich Weizen säen.«
»Im Venn – Weizen? Hört, Giètbauer, die Sumpfluft macht Euch wirr.«
Nun führt Alexand ihn wieder zu den Heidekrauthaufen.
»Seht Euch die an. Im Frühjahr will ich ein Stück Moor brennen und säe in die Asche Buchweizen. Vielleicht ist's nur eine Dummheit, die ich mir in 'n Kopf setze –«
» Aie, Giètbauer, 's ist 'n Dummheit.«
»Man kann's abwarten.«
» Aie, man kann's abwarten, adjüs.«
Mit dem Verlauf des Oktober ging die Sonne hinter die Nebelwand und kam nicht wieder. Erdgraue Wolken spannen über die Heide und schoben ein Regendach über die Vennhütte, so nahe, daß die spitzen Pfähle hineinstachen. Alexand hat ein weiteres Quadrat abgesteckt, legt ein haltbares Fundament an und baut die Hütte breiter. Dann denkt er daran, sich einige Maurer heraufzuholen und schickt den Qwèrin aus.
Dünne Regenfäden schneiden in den nebelgrauen Novembertag. An dem Dach herunter klatschen die Regentropfen, rispeln in das Ginstergeflecht und laufen in langen Rinnen um die einsame Hütte. Die Hühner drängen unters Dach und ziehen das Bein ein. Tief im Ried klagt das Moorhuhn.
Allerseelen im Venn!
Todeinsamkeit! und die Nebel wallen gespensterhaft.
Alexand schiebt mit einem Torfstück die Glut auf den Herdsteinen zusammen und wirft neues Brennzeug bei. Seine Kleider sind feucht. Um sich zu erwärmen, wühlt er sich in das Stroh der Bettstatt ein und hört dem Niederrauschen des Regens zu. Die Kastenwände ragen wie Sargbretter auf. Wenn ihm einmal etwas zustößt, werden sie es drunten im Dorf nicht wissen. Der Schnee wird seine Hütte decken und durch die Türspalte hereinwirbeln. Die Glut wird ein paar Tage weiter qualmen, bis auch sie erstarrt und verkohlt. Und dann ist der Tod gekommen, leise über die weißen Felder, auf weichen Teppichen führen alle Wege – zum Tode! Und schattenhaft leise ist auch der Gang der Zeit. Als die Regentropfen auf das Dach trippeln, scheint es ihm, es könnten die fallenden Sekunden der großen Zeitenuhr sein.
Immer einen Atemzug weiter in das dunkle Ungewisse hinein!
Er steht auf, schüttelt das Stroh ab und führt die Ziege herein an die Feuerstelle. Das weiße Fell trieft vor Nässe. Langsam streicht er darüber hin und reicht dem Tier ein Maul voll Gras.
Da trägt der Wind ein Stimmengewirr zu ihm her. Abgerissene Laute und ein Ächzen. Er glaubt, es käme weit her aus dem Venn, da hört er es schon vor der Hütte. Er tritt hinaus, – ein flatterndes Plaid, ein Mann, der beide Arme über den Kopf wirft und seinen Hut schützt und drüben im Pfad, der zum Gehöfte des Bauern Tatalle führt, Qwèrin!
»Na, das muß man sagen, Sourbrodter, Sie haben sich ein Winterasyl gewählt, das sehr nach einem Spleen aussieht.«
Der Irländer schält sich aus dem durchnäßten Überrock und hängt das Plaid zum Trocknen aus.
»Eine schauderhafte Gegend! Hier regnet es in Kübeln – und in Engelsdorf sandtrocken! Wenn dieser brave Vennbauer mich nicht aufgegriffen hätte, wäre mit mir etwas Grausiges geschehen. Ich kann Sie versichern, es ist viel von Ihren Freunden verlangt, Ihnen einen Sonntagsbesuch abzustatten.«
»Ich will Ihnen nix Unangenehmes sagen, aber es ist mir lieber, wenn meine Freunde mir keine Sonntagsbesuche machen. Setzen sie sich auf die Torfbank, Herr Irländer, einen andern Sitz' hab' ich nicht.«
»Ja, mein Lieber, Sie leben primitiv. Als mein Kompagnon müßten Sie sich mehr Luxus gönnen. Sie übernehmen jetzt eine gewisse Verpflichtung, die man unter dem Begriff Geschäftsehre zusammenfaßt, verstehen Sie.«
Alexand geht langsam auf dem lehmharten Hüttenboden auf und ab. Dann bleibt er vor dem Irländer stehen und fragt.
»Wollen Sie mir 'n Gefallen tun?«
»Ein Gefallen ist's schon, daß ich bei solchem Unwetter zu Ihnen in die Wildnis heraufklettere. Einen größeren Gefallen kann ich Ihnen gar nicht mehr erweisen.«
»Nun, Herr Irländer, sprechen wir heut' nicht von Geschäften. Auf dem Venn klingt so 'was nicht gut. Zum Sonntag komm' ich zu Ihnen 'runter, und wir bringen die Sach' in Ordnung.«
»Gut, Sie kommen, und hoffentlich bleiben Sie. Meine Daisy hat Ihnen eine Stube eingerichtet, die gegen dieses Loch da ein Prinzengemach ist. Aus unserem Schlafzimmer hat sie den schönsten Kupferstich herausgenommen, fünf Fuß breit, ein prächtiges Jagdstück. – Ja, da fällt mir ein. Man will ein paar amtliche Saujagden in der Eifel abhalten. Das abscheuliche Vieh soll geradezu vandalische Greuel der Verwüstung in der Eifelgegend anrichten. Bisher gebrauchten die Bauern Selbsthilfe, sind nachts mit alten Gewehren ausgezogen und haben Radau in den Feldern gemacht, um die Saue fernzuhalten, und dergleichen altväterliche Faxen.«
»Das hab' auch ich mitgemacht. Jede Nacht mußte ein anderes Dorf die Feldwächter stellen. Wenn jetzt der Staat eingreifen will – desto besser.«
»Der Staat und andere Nimrode; auch ein Herr aus Magdeburg, ein Kanonenfabrikant. Den hat ein gewisser Oberst Giese ins Schlepptau genommen.«
Alexand horcht auf.
»Ein Oberst Giese, sagen Sie?«
»Ja, derselbe Oberst, der an dem Dickkopf Ihres Vaters abgeprallt ist. Da er jetzt wieder in der Eifel auftaucht, scheint er seine Pläne noch nicht aufgegeben zu haben. Jedenfalls ist er gut orientiert.
»Sie haben ihn also gesprochen?«
»Er blieb zwei Tage in Engelsdorf. Da fand er alles sehr hübsch, sehr idyllisch, kurz, wie zu einer romantischen Sommerfrische geschaffen. – O!« Er fährt mit einem Schreckensruf auf. Der Wind wirft die Tür zurück und faucht über das qualmende Feuer hin.
»Sie vergessen, daß Sie auf dem Venn sind,« sagt Alexand. »Wenn das Unwetter weiter so anhält, werden Sie die Nacht hier oben bleiben müssen.«
»Nicht um die Welt! Meine arme Daisy wird Ihnen die Polizei heraufschicken. Übrigens ist es unverantwortlich von Ihnen, die Leute so in Schrecken zu setzen.«
»Hab' ich irgendwen in Schrecken gesetzt?«
»Sprechen Sie nicht so. Tauen Sie auf. Sie sind nicht von Eis. Das können Sie mir nicht verbergen. Ihnen steht trotz Ihrer Selbstbeherrschung allerlei im Gesicht geschrieben. Meine Daisy hat recht. Die sagte: Lieber John, und wenn Dich die Wölfe droben fressen, Du mußt zu ihm und ihm ins Herz reden! – Na, und nun bin ich da, aber Sie sehen aus wie einer, der zu Stein geworden ist.«
»Herr Irländer, wollen Sie mir wieder einen Gefallen tun?«
»Ich weiß schon, auch davon soll ich schweigen. Aber das geht nicht. Sie haben mich auf den Gièthof geschickt, und nun rapportiere ich Ihnen, ob sie wollen oder nicht.«
»Ich hab' mich anders besonnen. Vorläufig verzichte ich auf jeden Anteil am Gièthofe. Ich gedenke mir hier ein Anwesen zu schaffen – mit diesen zwei Händen, verstehen Sie mich, Herr Irländer? Arbeiten will ich wie ein Tagelöhner. Und wenn Sie drunten Gold suchen, suche ich's hier oben.«
»Also eine Plantage in Sibirien! Derzeit wird Ihnen drunten ein blühender Hof zu Schanden.«
Das Wort fährt wie ein Messerstich in ihn hinein. Der Gièthof! Sein Blut, das all die einsame Zeit so träge durch die Adern schlich, pulst ihm in die Schläfe hinein. Er tritt unter die Türe. Der Regen schlägt ihm ins Gesicht.
»Nein!« sagt er über die Schulter zurück, »ich kann's nicht! Sprechen Sie nichts weiter darüber. Die Tür zum Gièthof ist mir zugeschlossen für alle Zeit.«
»Sie stimmen da wunderbar mit einer andern überein, – Sie kennen sie. Die hat dasselbe gesagt.«
Alexand sieht starr über den Sprecher weg. Es widersteht ihm, davon zu reden. Der Irländer streckt die Füße nach der Feuerstelle und spricht mit Ernst und Nachdruck, sogar mit Mitgefühl:
»Treten Sie nur aus Ihrer Reserve heraus. Sie sitzen hier auf dem Venn und meinen, weil Sie nichts hören, spricht man nicht. Da sind Sie im Irrtum. Soweit die wallonische Zunge klingt, würfelt sie den Giètnamen mit den abenteuerlichsten Wendungen im Munde herum. Was daran Wahrheit ist, weiß ich bis heute noch nicht, will's auch nicht wissen. Geheimnisse achte ich, vielmehr noch, wenn sie diskreter Natur sind. Sehen Sie, Sourbrodter, Sie lassen alles hinter sich und flüchten aufs Venn. Da haben Sie den leichteren Teil erwählt – ob den besseren, weiß ich nicht. Jedenfalls haben Sie wenig daran gedacht, wie ein hilfloser Mann und ein noch hilfloseres Mädchen zurückbleibt.«
»Die Hilflosen haben sich ihr Geschick zurechtgelegt, ohne mich,« erwidert er unversöhnlich, »nun können Sie auch ohne mich damit fertig werden.«
»Nichts da, Sourbrodter! Wenn bei Ihnen daheim etwas nicht in Ordnung ist, haben Sie den Augiasstall zu reinigen, Sie, der Sohn!«
»Ich besudele meinen Namen nicht!«
Sein Atem pfeift stoßweise heraus. Er tritt in den Regen hinaus. Der Irländer folgt ihm bis an die Türe.
»Sie können aber doch Ihren Vater nicht fremden Händen überlassen, Sie starrsinniger Sourbrodter!«
» Fremde Hände pflegen ihn nicht. – Ich kann Ihnen darüber nichts Weiteres sagen.«
Der Irländer streckt seinen Stock in den Regen hinaus und stößt dem jungen Hofbauer an die Schulter.
»Die Urgroßmutter, die auf dem Gièthofe herumschleicht, kann man gemächlich umblasen. Soll die ihn pflegen?«
»Es gibt noch andere Leute auf dem Gièthof,« sagt er hart.
»Na – andere Leut'! Warum laufen Sie denn um die heiße Kohle herum? Frei heraus spricht sich so etwas leichter. Das Mädchen ist jung und verteufelt hübsch; so etwas Wildes, Unberechenbares, allzeit zum Kratzen aufgelegt, aber jetzt kratzt sie nicht mehr. – Na, wohin laufen Sie denn?«
Fort stürmt einer ins Venn hinaus. Die Nebel schließen sich hinter ihm, und eintönig rauscht der Regen nieder.
»Meine arme Daisy!« denkt der Irländer, »was mit mir geschehen wird, weiß ich noch nicht.«
Ein leises Meckern ruft ihn in die Hütte zurück. Er schiebt der Ziege mit dem Fuße das Gras bei und zündet sich eine Zigarre an. Die blauen Wölkchen ringeln in den Qualm, und beide zusammen räuchern den Speck. Der feine Duft der Havanna irrt durch den stickigen Raum und fühlt sich so wenig da zu Hause wie sein Erzeuger auf der Torfbank. Der denkt, was er dem Giètsohn alles hatte sagen wollen, daß Gètrou sich geweigert hatte, auf den Gièthof zurückzukehren, und dann die Wut des Krebsenmattesvaters, diese seelische Mißhandlung an seiner Tochter! Und dann warf der Schrecken und die Aufregung den alten Giètmeister von neuem aufs Krankenbett. Jetzt ging der Doktor wieder da ein und aus, und ein junges Mädchen, das alt aussah, saß im Krankenzimmer und blickte die Menschen die hereinkamen, wirr und ängstlich an, und die Leute sagten: die geht um die Ecke. Die hat Unheil genug gestiftet.
Und das alles müßte der Sourbrodter nun wissen. Aber der irrt jetzt durchs Venn, und der Herrgott sei ihm gnädig.
Die Nebelwand rückt bis zur Hütte heran. Ein scharfer Geruch dringt durch die halboffene Tür. Da knarrt diese; und wie der Irländer erschrocken auffährt, keucht Qwèrin mit einer Truhe auf der Schulter herein. Die stellt er neben den Bettkasten, zieht den Kartoffelsack, den er zum Schutz gegen den Regen kapuzenartig über Kopf und Schultern geworfen, fester um sich, sagt: » A r'vey (Auf Wiedersehen)!« und will gehen.
»Halt!« ruft der Irländer, springt auf und wickelt sich in sein Plaid. »Ihr habt mir hier herauf geholfen, wackerer Qwèrin, helft mir auch wieder herunter. Einmal und nie wieder, das könnt Ihr Euch merken. Eine Menschenfalle ist das. Sagt das dem Don Quijote, wenn er überhaupt noch heil aus den Sümpfen herauskommt.«
So schimpft er und trabt neben dem arbeitskrummen Vennbauer her und schwört heilige Eide, daß keine Daisy der Welt, und sei sie auch seine Frau, ihn wieder aufs Venn treibe.
»Ich autorisiere Euch,« er tippt dem Qwèrin, der verständnislos weiter trampft, gegen die Schulter, »ich autorisiere Euch, ihm das haarklein wiederzusagen.«
» A r'vey!« nickt Qwèrin und zweigt aus dem Pfad ab. Der Irländer in heller Empörung ihm nach.
»Glaubt Ihr etwa, ich soll mich zwischen die Sümpfe stellen und verdunsten? Habt Ihr denn kein Anstandsgefühl, Ihr Buschmänner? Da läuft einer beim ersten besten unbequemen Gedanken ins Venn hinein und setzt mich den Wölfen und Gott weiß welchem Vieh aus –«
Qwèrin streckt den Arm aus und rücksichtslos dem Irländer am Kinn vorbei:
»Da kommt er! A r'vey!« und fort.
In dem grauen Nebelgerinsel sieht er schattenhaft eine Gestalt sprungweise näher kommen. Die Weiden rascheln, der lange Springstock taucht in den qualligen Boden ein, und nun ein weiter Sprung – dicht vor dem Irländer steht Alexand.
»Den Qwèrin hätten Sie nicht zu rufen brauchen. Ich weiß doch, was ich Ihnen schuldig bin.«
»Ja, und derweil bis Ihnen wieder die Erinnerung an mich kommt, könnte ich droben bis zum jüngsten Tag sitzen. Ich habe eine Frau, die in Angst und Sorge um mich ist. Nicht jeder bringt es, wie Sie, über sich, alle Rücksichten auf andere in den Wind zu schlagen.«
Alexand geht neben ihm her. Ein schwerer Atemzug löst sich aus ihm.
»Wenn Sie einmal so viel gelitten haben wie ich durch diese andern, dann werden Sie mich begreifen.«
Die Zähne schlagen ihm aufeinander. Es könnte auch der Frost sein, der an ihm hinaufschleicht.
»Ich sehe nicht klar in dieser Sache. Bisher glaubte ich, die einzige, die Ursache habe, ihr Geschick zu beklagen, sei dieses Krebsenmattesmädchen mit den blanken Augen. Die reagiert auf keine Lebenslust mehr.«
»Sie sind die einzige Stimme, die für sie spricht.«
»Na, Sourbrodter, das ist wieder Ihr Eigendünkel. Meine Daisy hat ein mutiges Wort gesagt – laut genug, daß sie es alle hören konnten. Am Sourbrodter Bahnhof war es. Und wissen Sie, was da einer sagte? Ich glaube, man nennt ihn Speckschwarte, ein rauhborstiger Mensch, aber ehrlich. Also merken Sie gut auf, was der sagte: Wenn man den Marnette zum Reden bringen wollte, würde man vielleicht nicht so viele Steine auf Gètrou werfen, aber der Marnette redet nicht. – Sehen Sie, Sourbrodter, das ist ein schöner Gedanke im Menschenleben: Wo viele Lästerzungen reden, braucht nur eine versöhnend zu klingen, und dann läuft allmählich und ganz heimlich die Rechtfertigung von Haus zu Haus.«
Alexand stößt den Springstock in den Boden und bleibt stehen.
»Für mich müssen das alles leere Worte in den Wind gesprochen sein. Wenn sie sich selber anschuldigt, muß ich's ja wohl glauben. Das bleibt für mich bestehen für alle Zeit. – Drüben liegt der Hohlweg. Da können Sie nicht mehr irren.«
»Na denn in Gottes Namen, bleiben Sie droben in Ihrem Sibirien hocken, bis Ihnen die Bude zufriert. Und dann wollte ich Ihnen noch sagen, daß ich dem wackeren Qwèrin die Truhe nicht aufgeladen habe; ein Giètknecht hatte sie auf dem Gehöft abgegeben. Sie sehen, man denkt doch noch an Sie, obschon Sie es nicht verdienen. Wenn man mich jetzt auf dem Gièthof fragt, sage ich: Er ist droben zu Stein geworden! Aber ich denke, man wird mich überhaupt nicht fragen, man ist auch drunten zu Stein geworden. Sie wissen, wer hinter dem »man« steckt. Gott befohlen! Wenn Sie nicht einmal zu uns nach Engelsdorf kommen, haben Sie mich heute zum letzten Mal gesehen. So leichtsinnig werde ich nicht wieder mein Leben riskieren. Ich habe eine Frau, die mich aus Liebe geheiratet hat. Darauf muß ich Rücksicht nehmen.«
Alexand steht und sieht ihm nach, bis er zwischen den Hecken des Hohlweges verschwindet. Langsam wendet er sich und steigt den Pfad hinauf. Zurück in seine Einsamkeit! Hier bluten die Wunden von neuem. Er darf so nahe nicht wohnen, daß er den Rauch aufsteigen sieht vom Gièthof.
Der Regen schneidet ihm ins Gesicht. Es ist ein unaufhörliches Tröpfeln vom Winde gepeitscht. Je tiefer er ins Moor kommt, desto dichter rücken die Nebelwolken zusammen. Als er die Vennhütte erreicht, ist es völlig dunkel. In der glimmenden Glut zündet er einen eingefetteten Span an und stellt ihn in die Ecke. Das trübe Licht flammt über den Estricht und über das weiße Fell der Ziege und weiterhin in die Ecke, wo die Hühner in der Hürde sitzen. Die Truhe starrt er finster an und öffnet sie nicht. Er bangt, daß er ein Zeichen der Fürsorge entdecke, daß das Heimweh ihn packt. Er preßt die Hände gegen die Schläfe. Seine Einsamkeit war nicht tief genug, denn noch erreichen ihn die Erinnerungen, die er niederzwingen will. – Nach dem Regenwetter stoben die eisigen Winde übers Venn und der Frost fror in die Spätherbsttage hinein. Ein feinkörniger Schnee ging nieder und trieb die feinen Eisspitzen durch die Türritzen herein. Der Frost knarrte in den Hüttenwänden. Da war kein Bleiben mehr im Moorhause. Der Einsame im Venn ummauerte die Hütte mit Torfziegeln; so stand sie gegen die Winterstürme geschützt. Dann band er die Ziege los, setzte die Hühner in den Korb und stieg zum Gehöfte des Torfbauers hinunter. Dort war die Winterarbeit schon im vollen Gange. Zu dreien standen sie zum Dreschen in der Scheuer. Der vierte war Alexand. Die Flegel klatschten nieder im Viertakte. Die Körner spritzten an den Lehmwänden hinauf, und im Hintergrunde das eintönige Geräusch der Handwanne. Am Abend lag Qwèrin am Boden bei dem Ofen und rauchte Heidekraut. Der Torfbauer flickte das Ledergeschirr, und die Mam' erzählte alte Märlein von dem Regime des Fürstabts bis auf die preußische Zeit. Ein Name klang darin immer wieder: Marie Anne Libert, die berühmte Eifelbotanistin, die in Malmedy wohnte.
»Wie die im Venn 'rumgestiegen ist!« Und nun springt ein Lächeln in die tiefen Gesichtsfalten. »Eine so gelehrte Frau soll sie gewesen sein, 's Lateinische sprach sie wie 'n Pastor, und 'n Blume haben sie nach ihrem Namen Libertiana getauft. Und was für feine Herren sind zu ihr gekommen! Sogar 'n Bischof. Da wollt' sie vor ihm knien und sich segnen lassen. Und was sagt der Bischof? »Ich,« sagt er, »ich müßt' vor der berühmten Botanistin knien!« Binamé! Habt Ihr so was schon 'mal gehört? Aber wenn Ihr die gelehrte Frau so gesehen habt, so im kurzen Bauernrock und genagelten Schuhen, wie sie ihre Pflanzen suchen ging – grad' sah sie aus wie unsereins! Und weißt, alter Magen,« ein Blick zu dem Torfbauer hinüber, »einmal habt Ihr Burschen sie 'runterholen müssen aus den Bergen. Da war sie verlaufen. Jetzt weiß keiner mehr von ihr.«
»Die ist auch schon über zwanzig Jahr' gestorben,« sagt Tatalle, und reißt den Mund zur Seite, weil er den Riemen nicht durch die Jochschleife bringt.
»Die feinen Leut' sterben ebenso wie unsereins. Das ist nur recht und billig,« sagt Qwèrin und wirft sich auf die andere Seite.
Die Mam' zieht die dicken, blauen Wollfäden durch die Strumpflöcher und spinnt die freundlichen Erinnerungen weiter.
»Weißt noch, Alter, wie sie gar viel 'rüberging nach Engelsdorf zum Herrn de Hawarden. Sie war auch bei seinem Tode dabei, und das mag ihr in die Glieder gefahren sein, hai? Ihr wißt doch, Giètbauer, 's war 'n Frau.«
»Ja,« fährt er aus schwerem Nachsinnen auf. »Miß Gillibrand. Der Irländer drüben in Engelsdorf kennt ihr Geheimnis.«
»Ob das noch 'n Geheimnis ist? Dazumal sind sie von allen wallonischen Dörfern her an ihr Grab gegangen und hätten sich gern die arme Miß Gillibrand noch 'mal im Tode angesehen. Da sind gar viele Geheimnisse erzählt worden. Die Marie Anne Libert soll ihr Tagebuch geerbt haben, und sie sagte, man könne der armen Miß Gillibrand die ewige Ruhe wohl gönnen.«
Alexand löst sich aus seiner Versunkenheit.
»Was wißt Ihr denn von der Engländerin?«
Die Mam' rückt den Schemel an die Wand, legt sich zurück und die Hand, die noch im Strumpf steckt, in den Schoß.
Draußen heulen die Winterstürme ums Haus, die großen Schneeflocken gleiten leise an den Scheiben herunter, am Herd tickt der Holzwurm eintönig weiter.
Und die Mam' Tatalle erzählt die Geschichte der armen Miß Gillibrand.
»Da in England 'rum wohnte ihr Vater, 'n reicher Mann, der sogar mit'm König auf die Fuchsjagd ging; 'n Mutter hatte sie nicht mehr, da war so 'n junge Miß sich selbst überlassen. Einer hat ihr dann von der Lieb' gesprochen, und wie der Vater nicht gleich »Ja« und »Amen« sagt, sind sie auf und davongegangen und haben sich irgendwo in England trauen lassen, wo man nichts weiter braucht als den Taufschein – wo, das weiß ich grad' nicht mehr.«
»Ich weiß es aber – Gretna Green,« sagt der Torfbauer, und sein rotgebranntes Gesicht zuckt lebhaft in den Falten.
»So 'was weiß der noch!« lächelt die Mam' stolz, »der hat's vom Dr. Roset, der die Miß Gillibrand pflegte. Also kurz und gut, sie heiraten, und so kommen sie heim als Mann und Frau. Der alte Engländer versteht aber so 'n Spaß nicht. Der spricht von Enterbung und auf die Straße 'naussetzen mit Sack und Pack. Da gibt die arme Miß nach und trennt sich für eine Zeit von ihrem Manne. Dem sagt man, die Ehe sei ungültig, und der alte Engländer sorgt, daß der in 'n indisches Regiment versetzt wird, und fort muß er ohne Abschied. Da verzweifelt er an der Lieb' und Treu' seiner jungen Frau und schießt sich 'n Kugel durch den Kopf. Nun konnt' die arme Miß 's nicht mehr bei ihrem Vater aushalten, geht aus England 'raus und grad' hierher zu den Wallonen. Da war sie am End' der Welt, aber Engelsdorf ist wie 'n großer, schöner Garten, und die kleinen Bauern, die da wohnen, haben nicht nach Herkunft und Namen gefragt. Und weil sie nicht Frau von Hawarden sein durfte, hat sie sich zum Herrn Hawarden gemacht. So war sie sicher, daß keiner auf ihre Spur kam. Sie hat da sehr einsam gelebt, stiller wie hier oben auf'm Venn. Mag die ihr Leben lang 's Herz schwer gehabt haben, grad' weil er sie schuldig gemeint und darum sich's Leben genommen hat.«
Sie ist zu Ende. Die Männer schweigen. Die Uhr im Kasten tickt einförmig weiter. Da nickt die Mam' und sagt ihren Schlußsatz:
» Vola! So geht's, wenn zwischen zwei Menschen, die für einander sind, 'n dritter kommt, der nichts dabei zu tun hat.«
Alexand steht auf und stellt sich ans Fenster.
»Wenn zwei für einander sind,« wiederholt er und stockt und sieht in den Schnee hinaus. Weiß und weit dehnen sich die Flächen bis ins Meer hinein. Von dem First bröckelt der körnige Schnee herunter. Bis zum Fenster herauf hat er sich angehäuft. Zur Nacht können sie eingeschneit sein, und dann ging mit unhörbaren Schritten die trostlose Einsamkeit über das gestorbene Land. Eine Türe knarrt. Qwèrin steigt zum Heustock unters Dach. Eine Vennnacht ist lang, aber sein gesunder Schlaf überdauert sie. Alexand wendet sich ins Zimmer zurück.
»Glaubt Ihr, Mam', daß – der dritte immer die Schuld dran trägt, wenn zwei für einander sind?«
»Ja, wißt Ihr,« sie sieht nachdenklich in ihren Schoß, »wenn zwei einig, sollen sie dem dritten nix glauben. Sie müssen sich allein glauben.«
»Gu'n Nacht, Mam',« nickt er und geht in die Kammer unter die Treppe. Er hat ihr geglaubt. Warum will er denn eine andere Wahrheit wissen, als die sie ihm sagte?
Hatte sie ihm Aufschluß gegeben?
Ein Ruck läuft ihm durch seinen Körper. Jetzt steht er kerzengrade und spürt, wie ihm ein eisiges Empfinden ins Blut läuft.
Vor seinem Blick lichtet sich die Nacht. Er sieht genau alles, wie es an jenem Abend gewesen war. Durch den geschlossenen Laden hört er den Schrei: »Jetzt will ich dir alles sagen!«
Was konnte sie ihm noch sagen?
Die Dunkelheit treibt ihm eine große, nie gekannte Furcht ein. Er reißt das Fenster auf. Das hat nur eine bleigefaßte Scheibe. Das Schneegestöber klirrt dagegen an. Die Eisspitzen treiben ihm ins Gesicht. Das kühlt und beruhigt. Sein Denken erstarrt in der einen immer wiederkehrenden Frage: Was hatte sie ihm noch zu sagen?
Ein ungeheurer Schneerücken wölbt sich zu dem Fenster herauf. Und immer höher wächst er. Große Flocken ballen sich zusammen, und weiße Schneehände fächeln durch die eisige Luft und stäuben die feinen Körper herein. Eine Ritze noch, dann ist das Fensterchen verschneit. Bis ans Dach hinauf eine weiche, warme Schneewand.
Und über die weißen Hügel huschen die Schatten der Moornacht. Auf dem Dach ein Trippeln und Scharren! Den spitzen Kopf bohrt es in den Schnee, schaufend und leckend am First, grimmig wimmernd an der Stalluke – und ein heiseres, wehleidiges Gebell in das Sausen und Pfeifen des Windes.
»Der Vennwolf!« sagt die Mam' und spritzt mit dem Palmzweig Weihwasser gegen das Dach. »Gott behüt' uns!«
Vom Heustock steigt Qwèrin und leuchtet mit dem brennenden Span in die Stube.
»'s könnt, nach meiner Rechnung Tag sein. Wir müssen sehen, was zu machen ist.«
Alexand kriecht aus der niederen Kammertür und sieht in dem trüben Licht auf seine Uhr.
»Zehn ist's. Wenn wir länger warten, sitzen wir auf Wochen hinaus fest.«
Am First brechen sie das Dach durch und beginnen mit dem Schaufeln. Am Mittag liegt das Haus frei, und um dasselbe zwei hohe Schneeberge. Zu Vieren schiffeln sie einen Pfad bis zum Hohlweg und begrenzen ihn mit langen Pfählen. Da geht es schon zum Nachmittag, und der Dämmer steigt aus den Wolken. Im halben Hohlweg arbeiten ihnen Bauern aus dem Dorf entgegen. Frè Thoumas an der Spitze, hinter ihm J'han Marnette und die andern. Sie rufen sich an und schwenken die Schippen.
» Hai là!« An der Hühnerfurte treffen sie zusammen. Die Sourbrodter lärmen ihre Begrüßung heraus und knoten die Eßbündel auf.
» Aie, aie, da hätten wir Euch 'rausgehauen. Habt was droben erlebt, hai?«
Die Vennbauern wissen nichts zu erzählen.
»So wie immer, hm.« Aber sie trinken mit.
J'han Marnette stapft zu Alexand hinüber.
»Die wilden Säu' zeigen sich schon. Das ganze Feld hier herum ist aufgewühlt, und unsere Äcker haben am meisten gelitten. Von Gemeinde wegen sind wir aufgefordert worden, Frondienste zu leisten und abwechselnd die Nacht im Felde zu wachen. Heut' sind's die Sourbrodter, morgen die aus der Gemarkung von Robertville. Du wirst wohl mit müssen – weil's nämlich von Gemeinde wegen ist.«
»Ja, das mach' ich mit, natürlich, – auch wenn's nicht von Gemeinde wegen wär'. Wo versammelt Ihr Euch?«
»An der Kirch'. Beim Krebsenmattes füllen wir zunächst die Flaschen. Man könnt' sonst vor Kält' krepieren. Es wird Dir lieb sein, zu wissen, daß der Krebsenmattes heut' nicht dabei ist.«
»Wenn's dem Krebsenmattes lieb ist, kann er mir aus dem Weg laufen, nicht ich ihm. Behalt' Dir das. Und bring' mir die Jagdflinte mit. In der guten Stub' hängt sie. Ihr hättet sie mir gleich mitschicken sollen, so 'was braucht man im Venn.«
Ein böses Lächeln zerrt über Marnettes Gesicht.
»Das hab' ich gleich gesagt, aber die Gètrou ließ keinen an die Flinte 'ran. Was die dabei hat, daß sie Dir keine Flinte in die Hand geben will! Und als ich nicht viel Federlesens machte und auf Deinem Recht bestand, da hat mich der Meister Gièt fast 'rausgeschmissen. Der Meister Gièt tut jetzt alles, was die Gètrou will, seit er wieder kränker geworden ist. Tin! So ist's!«
Die Vennfrau stapft durch den Schnee heran und steckt Alexand Brot mit kaltem Speck zu. Frè Thoumas geht mit der Pékètflasche die Runde ab und läßt jeden einen Schluck nehmen. Als Alexand dem Marnette die Flasche reicht, sagt er ihm:
»Die Flinte bleibt natürlich, wo sie ist. Ich hab' kein Recht drauf.«
Die Dunkelheit kriecht über die weißen Schneefelder. Im Kirchturm läutet die Betglocke. Hie und da im Dorfe ein stilles Licht hinter den Scheiben. Das flimmert in den langen Eiszapfen an den Dächern.
Ein paar Burschen sammeln sich an der Pfarrecke, die Mützen über die Ohren geklappt, dickwollene, bunte Halstücher mit wehenden Enden umgeknotet. Frè Thoumas und Sohn tragen Mistgabeln zur Wehr. Die anderen Knüttel und Strohbündel; einer auch eine Flinte alten Kalibers. Das ist der Speckschwarte. Vom Dorfe her dumpfe, melancholische Signaltöne aus einem Kuhhorn. Da rüsten sich die übrigen Burschen zum nächtlichen Auszug, rauchen die kurze Pfeife an und treffen an der Pfarrecke mit den andern zusammen.
An die Hecke tritt der Pfarrer und sagt:
»Gott behüt'! Und daß mir keiner von Euch davonläuft, wenn Ihr Grunzen hört!«
Vom Krebsenmattes herunter kommt der Letzte gelaufen und steckt die Flasche ein. Und dann warten sie noch auf den J'han Marnette. Der bringt die sämtlichen Hofhunde an der Leine und hat seine liebe Not, Zucht und Ordnung unter dem aufgeregten Vieh zu halten. Die Dorfkinder drängen zwischen den Großen durch, glotzen in das laute Treiben hinein und necken die Hunde.
Da verscheucht sie ein Fußtritt Marnettes.
»Gleich verrecken sollt Ihr, Rotzbuben.«
Frè Thoumas stößt dem Abdecker den Stiel seiner Mistgabel in die Seite:
»Blas' jetzt noch 'n Signal, und dann marschieren wir los.«
Der Abdecker bläht die Backen auf und mit der Kraft der Verzweiflung in das Horn hinein. Die Adern schwellen auf, als müßten sie nur so herausspritzen. Pfff! Pfff! Er zieht die Schultern herauf und krümmt und windet sich. Pfff! Pfff! und dann schnellt der Kopf zurück. Die Brust dehnt sich heraus und der Leib herein. Die Stirnhaut rutscht ihm fast über die Augen.
Turatata! Tura!
Ein dumpfer herausgequälter Ton! Der Schneewind reißt ihn vom Horn weg und summt ihn in den Winterabend. Die Hunde heulen hinein. Stimmenlärm und Gebell – weit drüben schon in den Feldern, im Dunkel, an der Schattenlinie des Moor! Feuer flackern auf. Ab und zu ein blinder Schuß. Ferne Geräusche. Im Dorfe verlöschen die Lichter. Nur im Gièthofe brennt eines die Nächte hindurch.
Alexand trifft mit den Fronmännern am Hohlweg zusammen. Dort verteilen sie sich auf einzelne Strecken, zu zweien in gewissen Abständen. Marnette gesellt man dem Giètsohn zu. Man denkt, da brauche der sich nicht zu »genieren«, und wenn Alexand nicht über dies oder das reden wolle, habe ein Torfstecher, der in Giètdiensten sei, sich danach zu richten.
Marnette stellt sich mit dem Rücken gegen die Windseite und brennt das Feuer an. Den Hund hält er an der Leine, die er an dem Ledergurt befestigt. Von den verschiedenen »Stationen« her bellen die Spitze sich zu. Wo ein Schatten über die Schneedecke huscht, bricht der Lärm los. Ehe die Nacht vollends niedergeht, hat man schon verschiedene Saue – gesehen.
Alexand breitet einen Sack aus und setzt sich darauf, stopft die Pfeife und scharrt aus dem Feuer eine glühende Kohle heraus. J'han Marnette zieht die dicken Fäustlinge über die starren Finger und klopft den Schnee, der sich an seine Transtiefel festkittet, ab.
»Weißt Du, was der alte Speckschwarte von Dir sagt?« fragt Alexand unvermittelt, zieht die Moorstiefel über's Knie herauf und legt sich auf den Sack zurück. »Er sagt: Wenn der Marnette reden wollte –«
»Dem Speckschwarte schlag' ich sein Lästermaul wund!« fällt ihm Marnette grob ins Wort.
»Du weißt also, was ich sagen will?«
»Nix weiß ich. Ich war längst nicht mehr im Venn, als das vorkam. Séze bin (Weißt wohl)!«
Alexand nimmt einen langen Zug aus seiner Pfeife. Die weißen Dampfwölkchen ringeln in die kalte, klare Luft. Denen sieht er nach, bis der rote Feuerschein sie einschluckt.
»Im Venn ist einer tot gefunden worden, J'han,« sagt er langsam.
»Im Venn ist einer in 'n Tümpel gefallen, s'if plait (wenn ich bitten darf)!« schnarrt der mißmutig heraus.
»Nahe beim Torfstich, ist's nicht so?«
»Keine hundert Schritt davon, das weißt doch.«
Jetzt steht Alexand auf, faßt Marnette an beiden Schultern und stellt ihn mitten in den Feuerschein.
»Wenn ich jetzt zum Gericht ging und sagte: Untersucht die Sach'. Der J'han Marnette könnt' vielleicht den Italiener in 'n Tümpel geworfen haben; – was dann?«
»Den Italiener – ich? Bist verrückt, Alexand? Gleich sag' ich Dir 'was anders!«
»Gleich mußt 'was anders sagen, J'han Marnette.« Er drückt ihm fast die Knochen ein. »Was weißt Du, was der – Krebsenmattestochter zu gut' kommen könnt'? Wenn so viel Schlechtes gesagt ist, kann man auch 'mal was Gutes hören.«
Da klappt Marnette die Lippen zusammen, zieht die Mundwinkel herunter und gröhlt ein Lachen heraus.
» Luk volà! Das willst wissen? Ich weiß nix. Und wenn Du mir die Schulter entzweidrückst – ich weiß nix!«
»Pfui dä, Marnette, Du lügst!«
»Ich weiß nix!«
Da schleudert er ihn zurück und stapft in den Schnee hinein und weiter in die verschneiten Felder; und wenn er bis zu den Hüften einbricht, ist's ihm am liebsten. Droben im Venn verheilte sein Leid in der Stille. Hier brennt's ihm innen und außen, und die Angst treibt ihn, und ein Ungewisses quält ihn. Am Krankenbett sitzt sie und härmt sich die Nächte. Kränker war der alte Gièt geworden; – und wenn der ihm auch Leben und Glück zertrümmert hat, er war doch sein Vater.
Nun steht er schon am Ende des Hohlweges und denkt, der hohe Schatten drüben könnte die Hainbuchenhecke am Gièthofe sein. Zwischendurch blitzt ein Licht. Darauf geht er zu. Der Atem jagt ihm aus der Brust. Vor ihm der Hof! Ein schmaler Lichtkreis auf der Schneedecke. Sanft wirbeln die Flocken nieder. Seine Schritte dämpft der Schnee. Nun steht er im Lichtkreis, drückt sich an die Wand, streckt den Kopf vor und sieht zwischen dem Fuchsienstöckchen hindurch. Die Scheiben sind angelaufen. Die Schneesterne gleiten daran herunter und ziehen nasse Furchen. Er legt die Hand auf das Fensterbrett in den Schnee. Er muß sich stützen, um den schweren Atem ohne Stöhnen herauszupressen. In den Kissen ein zerfallenes Gesicht, ein roter, glänzender Punkt auf den herausstehenden Backenknochen. In sein Herz rinnt erschütternd die Rührung. Hinein möchte er und dem kranken Manne ein gutes Wort sagen, ein versöhnendes vielleicht, wenn nur sein Weg nicht vorbeiführte an dem Lehnstuhl, der neben dem Bette steht und das in dem Lederpolster kauernde Mädchen trägt. Wenn er da vorübergeht, fallen die Blutstropfen aus seinem Herzen. Und nun weiß er's: Die wird er bis in Ewigkeit lieb haben! Sein Blick flackert um die Schlafende. Er sieht nichts, als die auf der Sessellehne ruhenden Arme und die gesenkte Stirn. Zwischen dem schwarzen Lederpolster leuchtet diese erschreckend weiß heraus. Langsam gleiten ihre Arme herunter. Ihr Gesicht biegt aus den Sesselklappen. Sie muß ein Geräusch gehört haben. Mit weiten, erschreckten Augen stiert sie nach dem Fenster. Große Flockensterne tanzen in dem Lichtkreise – nichts weiter! Draußen knirscht der Schnee. Da horcht sie. Stille wie zuvor! Sie sinkt in den Lehnstuhl zurück und schließt die Augen. Ein Gesicht tritt vor sie mit überraschender Deutlichkeit. Hat sie das im Traume gesehen? Am Fenster huscht es vorüber – so deutlich träumte sie's! Und der Traum quälte sie. Er läßt ihr keine Ruhe die ganze lange Nacht. Als der erste graue Schimmer durch die Nachtwolken rinnt, geht sie hinaus und vor das Fenster. Dort führen Spuren im Schnee hin. Auf dem Fensterbrett eine deutlich abgezeichnete Hand. Auf diese starrt sie entgeistert. Wer stand da diese Nacht?
Und weiter führen die Fußspuren aus dem Hofe hinaus, quer in die Felder und weiterhin ins Venn – unendlich weit von ihr weg.
Und dort ist seine Hand!
Warm und fiebernd hat sie auf dem Schnee gelegen.
Eine heftige Sehnsucht packt sie und peitscht ihr die Träume herauf. Das Gesicht drückt sie in den Schnee und weint die heißen Tropfen in seine Hand und kann ihr Herz nicht mehr zur Ruhe bringen.
Von drinnen her eine matte heisere Stimme.
»Gètrou!«
Seine Arme suchen nach ihr. Da spricht sie ihm zu, begütigend wie einem Kinde.
»Ist er noch nicht gekommen?«
»Laßt ihm Zeit, Meister Gièt.«
»Gètrou!«
»Ja.«
»Warum willst keine Giètbäuerin mehr werden?«
»Ich kann's nicht. Denkt darüber nicht weiter nach.«
Aber er denkt doch mit starr geöffneten Augen.
»Wie kann ich's denn sonst gut machen an Dir?«
»Ich weiß es nicht, ich bin zu müd' zum Nachdenken. Am besten wär's, wir könnten mit einander sterben, aber ich bin noch jung.«
»Du meinst, ich könnt' jetzt sterben.«
»Nehmt mir's nicht übel, Meister Gièt. Mir ist's auch manchmal, als müßt' mir der Verstand drüber gehen. Dann weiß ich nicht, was ich zusammenschwätze.«
Sie schüttelt die Medizinflasche und gibt ihm die Tropfen. Da fällt ihr auf, daß in seinen Augen ein schweres Nachsinnen liegt, ein Blick, der nach innen geht und die Welt vergessen hat.
Sie löscht das Licht. Ein fahler Schein fällt durch die Scheiben. Ein Sperling flattert auf das Fensterbrett und pickt in die verschneite Hand.
*
»Heda! Wieviel Saue habt Ihr festgemacht?«
Der Förster Klein stellt sich den Fronmännern entgegen und streicht lachend den gelbsträhnigen Schnurrbart. Die murren und gehen weiter. Die Glieder sind ihnen steif gefroren. Der Pékèt ging aus, einige zwanzig »Schatten« gesehen und keine einzige Sau – zum Teufel mit den Heldentaten in den Fronnächten! Dem Förster hält keiner mehr stand. Da nimmt er mit dem Giètsohn einen Weg und erzählt ihm seine Neuigkeit.
»Haben Sie davon gehört? In der Eifel wird demnächst eine amtliche Saujagd stattfinden. Der ganze Forstinspektionsbezirk soll durchstreift werden. Bei mir sind schon ein paar Hunde eingestellt. Die gesamte Saumeute hat zirka dreißig solcher Fixköter, ruppige Kerle, aber famose Finder. Sehen Sie den da,« er pfeift einem Hunde, »ein verbummelter Hühnerhund! Aber eine feine Nase hat der! Donner! Den sollten Sie in ein Rudel dreinfahren sehen! Sie müssen wissen, die Finder sind die Teufelskerle in der Meute. Die schnüffeln die Spur auf und schlagen an, und dann rasen die anderen Köter wie Satane ins Treiben hinein. Ein Jagdherr, der Oberst Giese, soll ein wahres Wundertier mit herüber bringen, sagt mir eben ein Forstgehülfe. Wenn die Heldengeschichten, die der Oberst von seinem Köter erzählt hat, kein Jägerlatein sind, dann ist das ein Prachtkerl, ein Rasseteufel! Na, wir werden sehen. Übrigens machen Sie wohl die Jagd mit.«
»Was geht mich die amtliche Saujagd an?«
»Na, das wäre jedenfalls eine Ehre für Sie.«
»Als Treiber! Ich danke für die Ehr'.«
»Sassa! Sie wissen ebenso gut wie ich, daß ein Giètbauer nicht als Treiber mitgeht. Ihr Vater war zur Zeit immer mit dabei. Der kennt die Eifel bis an die Maare hinauf. Und in Engelsdorf sitzt ein guter Freund von ihnen, der ist ein Jagdfex bis zur Zehe herunter. Natürlich macht der die Saujagd auch mit, und der kennt die Herren alle. Na, ich versichere Sie, die ganze Eifel wird vom Weidmannsheil widerhallen. Gehen Sie nicht einmal zu Ihrem Irländer? Den haben Sie schön auf dem Venn 'reingelegt.«
Alexand überlegte.
»Morgen können wir droben wieder eingeschneit sein, also geh' ich heute.«
»Schön, so haben wir denselben Weg. Frau Daisy backt wunderbar schmackhaften Kuchen.«
*
Mitten im verschneiten Feld ein Gewühl von Menschen und Hunden! Grünröcke mit Pelzen, vereiste Bärte, bäuerische Jagdprotzen mit Transtiefeln, Lärm, Hundegebelfer, Fußtritte, breites Lachen, Stampfen im Schnee – auf zum Saujagen! Die Jagdlust springt in Mensch und Vieh. Zu dreien und vieren sind die Hunde zusammengekoppelt, eine gemischte Gesellschaft. Hundsgemeine Fixköter mit plebejischen Dickköpfen, daneben ein dummtäppischer »Scherenschleifer«, Dorfspitze mit frechem Gebelfer, und in diesem Gewimmel des dritten und vierten Hundestandes hochnasige Bracken mit hohen Läufen. Die Schnauzen schnappen aufeinander – ein Biß, Geheul! Unbändig springen sie übereinander, ineinander, mit den Läufen in die Ketten hinein, toll um den Koppelführer herum, Köpfe, Schwänze, wimmelnde Rücken – ein benagelter Jagdschuh saust hinein – – Aufheulen! Wapp! und im Banne der Disziplin erstarren die Köpfe, die Schwänze und die Rücken.
Und einer sieht souverän mit zwei pitschenden Hundeaugen in das unbändige Fußvolk. Der liegt auf einem pelzbesetzten Arm und ist ein kahlköpfiges Scheusal. Aber sein Herr fährt mit ringbesetzter Hand über das rotbraune Haargestrüpp und trägt ihn behutsam über die Schneefelder. Sein Blick hängt am Boden. In dem frischen Schnee laufen die Spuren des Schwarzwildes kreuz und quer in den Wald.
»Herr Oberst!« ruft ihn der Oberförster an, »zählen Sie die Spuren, die hineinführen. Ihr Revier ist noch nicht umkreist!«
»Der Tausend!« lacht der Oberst, »da hat eine ganze Rotte ihre Hieroglyphen in den Schnee geschrieben!«
»Es führen mehr Spuren hinein als heraus,« sagt neben ihm einer, »also steht das Schwarzwild am günstigsten in diesem Revier.«
Und gebückt geht jener weiter den Spuren nach. Der Oberst sieht auf, sein Soldatenblick findet in diesem Körpermaß den »Gardekerl« heraus.
»Sie da! In Berlin bei der Garde gewesen?«
»Jawohl.«
»Und jetzt bei Kraut und Rüben?«
»Nicht einmal – nirgendwo! Höchstens im Venn!«
»Im Venn? Sie sind doch nicht –? Heda, Freund Irländer! Ist das Ihr Kultivator im Moor?«
»Natürlich; Sie sollen ihn selbst herausfinden, und da haben Sie ihn schon. Prächtiger Mensch, was?«
Der Irländer platscht Alexand auf die Schulter.
»Herr Gièt – Ihre Hand!« sagt der Oberst lebhaft. »Wissen Sie, daß Sie für mich eine interessante Persönlichkeit sind? Wann darf ich Sie einmal besuchen?«
»Wenn Sie Lust haben, auf's Venn zu steigen?«
»Ei was, Faxen!« Der Irländer schiebt sich zwischen beide, »in meinem Hause hat er ein Prinzengemach; mein bester Kupferstich, fünf Fuß Länge, hängt darin; bequemer können wir es nicht haben, also kommen Sie nur zu mir nach Engelsdorf. Und daß Sie es schon wissen, Sourbrodter, der Herr Oberst hält noch immer an dem Torfwerk.«
»Das machen Sie am besten mit meinem Vater ab,« wehrt Alexand.
Da streicht der Oberst seinen Bart und lacht.
»Ohne Ihre Unterstützung werde ich das nicht wieder wagen.«
»Herr Oberst, Sie werden den Meister Gièt nicht mehr so wiederfinden, wie Sie von ihm gegangen sind. Es dürfte auch jetzt die geeignete Zeit nicht sein. Mein Vater hat einen Rückfall bekommen.«
»Vorläufig ist auch noch nicht beabsichtigt, die Verbindungen mit ihm wieder anzuknüpfen. Sehen Sie den Herrn mit der Brille? Das ist mein Finanzmann, der Geheime Kommerzienrat Gruson aus Magdeburg. Dieser Herr unterstützt meine Pläne mit den selbstlosesten Absichten. Augenblicklich ist er aber in andere Unternehmungen verwickelt, und so könnten wir denn erst im Frühjahr wieder in Verhandlungen mit Ihnen treten. Dürfen wir auf Ihr Entgegenkommen rechnen?«
»Wenn Sie aus unserem Torfstich etwas Rentables machen, wird er Ihnen auf alle Fälle zugesprochen. Wir können für unseren Bedarf immer noch anderswo torfen.«
»Brav gesprochen; ich danke Ihnen. Wir müssen zusammenarbeiten, um die wirtschaftlichen Interessen der Eifel zu fördern, schlagen Sie ein!« Er reicht ihm die Hand hin.
Über das Gesicht des jungen Hofbauern geht ein trübes Lächeln.
»Sie schätzen mich zu hoch ein. Ich will das Venn bebauen aus dem einfachen Grunde, weil ich nirgendwo anders sein kann.«
»Vielleicht ist trotz alledem dieser Grund noch der weniger selbstsüchtige. Wirtschaftliche Spekulanten können und wollen wir nicht sein, schon aus dem Grunde, weil für die Spekulation auf dem hohen Venn kein geeignetes Terrain ist. Die Witterungs- und Transportverhältnisse sind zu ungünstig; von hohen Dividenden kann da keine Rede sein. Einzig eine noch zu gründende Genossenschaft für »Wohltätigkeit und Nächstenlieben, wie wir sie planen, könnte im Interesse der ärmeren Bewohner dieser Umgegend dergleichen unternehmen. Der Spekulant kommt nicht zu einem Reingewinn. Das klingt wie Selbstlob, aber es soll nur eine Rechtfertigung sein. Ich weiß, wir werden dermaleinst mit unserem Unternehmen mißverstanden, und schwer wird sich nur bei Fernstehenden der Glaube durchringen, daß wir nur um Gottes Lohn und im Drange der Nächstenliebe arbeiten wollen. – Doch davon sprechen wir nicht. Bitte geben Sie mir Ihre Hand. Ich will mir nicht versagen, sie dem ersten Eifelkultivator zu drücken.«
»Und den Irländer vergißt man – versteht sich!« Der hagere Mann reibt sich die Hände, »aber der wird Euch alle überdauern, wenn,« er tippt Alexand an den Arm, »wenn wir erst die Goldader finden!«
»Wissen Sie,« lacht der Oberst, »daß ich Ihrem Neu-Kalifornien etwas mißtrauisch gegenüber stehe?«
»Ich willen Ihnen auch sagen, warum. Den Irländer nehmen Sie als komische Figur; aber wenn der auch einen Spleen hat, verrückt ist der doch nicht. Wissen Sie, die Gillibrands hatten alle einen Spleen, und meine Daisy ist eine geborene Gillibrand. Übrigens bin ich Ihnen noch die Geschichte der Miß Gillibrand schuldig, Sourbrodter.«
Ein junger, schmalbrüstiger Forstgehülfe tritt in strammer Haltung zu einer andern unweit stehenden Jagdgruppe und meldet:
»Im Jagen sechzehn sind elf Sauen fest!«
»Donnerwetter!« ruft der Oberförster und reißt Mantel und Büchse an sich, »wo bleiben die anderen Herren?«
»Die stehen wie drei Geheimräte in scharfer Reichstagsdebatte beisammen,« scherzt ein junger Offizier.
Da streckt der bebrillte Herr den Arm mit dem Jagdstock aus.
»Wenn Sie sich die Herren genau ansehen wollen – drei Kulturträger der Eifel!«
Auch bei diesen macht der Forstgehülfe seine dienstliche Meldung. In den Oberst fließt es wie ein elektrischer Strom, der sich seinem ruppigen Rotbraunen mitteilt. Mit federnder Elastizität schnellt das Tier von seinem Arm herunter und fort mit zwei anderen Findern den Spuren nach in den Wald.
In atemlosem Schweigen stehen die Schützen dicht am Treiben, schon halb zum Schuß die Büchsen gerichtet. Eine schmale Schneise vor ihnen im Dickicht! Wie weiße Fangarme recken die verschneiten Zweige hinein. Ein Windstoß fluttert darüber und stäubt den Schnee auf. Dahin richten sich die spähenden Gesichter. Das Jagdfieber glüht in ihnen, ein Hinhorchen ist es in die lautlose Stille, eine starre, atemlose, von innen heraus vibrierende Spannung! In Abständen von 30 Schritten blitzen die schußbereiten Büchsen, stehen gebückte Männer im Schnee, grün auf weiß – und der Atem fliegt lautlos, der Schnee körnt lautlos – und lautlos die weiße, verschneite Flur!
Da – – aus dem weißen Wald ein gedämpftes, spitzes Kläffen. Das kleine kahlköpfige Scheusal wittert die Fährte. Die kauernden Hunde schnellen auf, winseln, – und mit gestreckten Ohren, dahinrasenden Läufen den Jägern vorauf ins Treiben, schnaubend ins Dickicht, mit tollem Gekläff quer durch die Schneise! Im Walde ein Knacken und Stampfen; Jagdgeschrei hierher, dorther, Läuten und Klappern, und mitten in den Hexensabbat hinein ein scharfer Knall ohne Echo, kurz und knapp – und ein zweiter und dritter – fortlaufend die weite Runde durch! Ein Schütteln und Wogen in den Zweigen! Schneewolken fliegen auf. Halloh!
Ein dunkler Schatten rast über die Schneise. Dicht vor Alexand gibt der Hühnerhund Laut. – Ganz in seiner Nähe ein metallscharfes Knattern.
»Machen Sie krumm!« ruft ihm der Oberst zu, da knallt auch schon sein Schuß. Im Gebüsch ein Brechen und Kollern, dann streckt der Oberst die Hand herüber.
»Den haben Sie großartig zur Strecke gebracht!«
Alexand kommt zu ihm mit der Büchse im Arm.
»Ich glaub' eher, wir haben uns in den Sieg zu teilen. Die Besetzung war zu dicht.«
»Nun gut, jedem das Seine. Das Jagdglück hat uns gepaart, das nehme ich als günstiges Omen für unser Zusammenwirken im Venn. Wir werden auch da den Erfolg teilen müssen.«
Alexand wehrt heftig ab.
»Von mir werden Sie einmal bitter enttäuscht werden. Wenn ich für mich im Venn ein paar Äcker angelegt habe, geb' ich mich zufrieden. Ein Haus im Moor und weiter nichts!«
»Machen Sie nur erst den Versuch. Schaffen Sie die Grundlage. Dann kommen wir und ziehen Ihren engen Kreis weiter. Sie wollen die Pionierarbeit leisten, das ist die schwerere und auch undankbarere. Wenn wir Ihren Spatenspuren folgen, haben wir doch immer nur das Verdienst der Nachahmung.«
»Sie können überzeugen,« lächelt Alexand.
»Sehen Sie, nun haben Sie schon ein wenig Freude an ihrem Werke.«
»Die Freude daran hat mir selbst einmal fast die Brust gesprengt,« sagt er herb, »jetzt ist das anders.«
»Vielleicht aber auch nachhaltiger und dauerhafter als ein Strohfeuer augenblicklicher Begeisterung. Ich liebe durch solchen Brand geschürte Taten nicht. Das ist herausgekochter Schaum, den ein Kinderatem hinwegblasen kann. Ernste, schwere Kulturarbeit ist die beste Verwertung des Menschenlebens, auch wenn nicht die höchste. Darin kann der einfachste Mann es dem gelehrtesten gleichtun; der eine kraft seines Geistes, der andere mit Schwert oder Kelle – Sie mit dem Spaten in der Hand. Und an dem einen Ziel treffen sie alle zusammen!« Sein Blick schweift über die eisigen Weiten hinüber zu den grauen Moorlinien. Er redet in sich hinein, es könnte ein Gebet sein, aber es ist ein Faustisches Wort:
»Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm!«
Er reißt die Jagdmütze ab und streicht sich durch das gelichtete Haar. »Die Ewigkeitswerte, mein Lieber, die Ewigkeitswerte müssen wir aus unserer Kulturarbeit schlagen. Ich kann mir nicht helfen, aber wenn ich mir aus der Kulturarbeit das höchste Sittlichkeitsideal zurechtlegen will, höhnt mir dieser beißende, giftige Mephisto den ganzen Krempel von Menschheitsidealen zusammen. »Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen, die dir das Höchste dünken, bereitest du in Wahrheit nur Neptunen, dem Wasserteufel einen Schmaus!« Sehen Sie, ich habe meinen Faust noch binnen. Sie wissen nichts von Faust und dem Phantom des Nachruhms. Vielleicht empfinden Sie auch nichts von Menschheitsidealen und der ganzen Kulturkomödie. Der eine Wegweiser zeigt nur immer in Ihren Lebenskreis hinein. Der hat drei Arme: Treue, Redlichkeit, Pflicht! Und außerdem nichts, und außerdem nur das eine, das Sie hier in der armen Eifel so zufrieden, genügsam und bedürfnislos macht: das Jenseitsstreben! Es ist also höchst überflüssig, daß ich hier im Schnee stehe, mir kalte Füße hole und Ihnen etwas vorschwätze, das Ihnen dumm dünkt, weil's eben – zu gescheit ist. Kommen Sie, das Treiben ist zu Ende. Man pfeift die Hunde zusammen.«
Alexand regt sich nicht, steht auf seine Flinte gestützt und wendet den Blick nicht von dem Oberst.
»Ich verstehe Sie ja nicht,« sagt er halblaut, »aber ich empfinde es. Sie meinen, wir Bauern seien nicht viel gescheiter als unser Vieh und wenn wir für Futter gesorgt haben, legen wir die Hände in den Schoß und überlassen das weitere dem Himmel. In einem Bauerngehirn liegt doch mehr als Sie glauben. Aber die gelehrten Leute gehen so viele Wege, daß sie sich verirren können. Wir Bauern kennen nur einen, den gehen wir alle, und manche, weil sie keinen andern wissen, aber verirren können wir uns nicht, und darum sind wir genügsam und glücklich und stolz. Stolz sind wir, Herr Oberst! Die Irrläufer sind nicht von der Bauernart. Im Frühjahr lege ich das Vennland trocken und pflanze Kartoffeln, brenne das Moor und säe Buchweizen in die Asche. Und wenn ich 'was Brauchbares aus dem versumpften Land herausbringe, verschlägt's mir weiter nichts, wenn ich auch unserm Herrgott einen Anteil daran zugebe.«
»Mir scheint,« erwiderte der Oberst nachdenklich, »man kann nie zu viel Weisheit zu Euch Bauern mitbringen. Ihr schlagt sie mit Euren derben Fäusten all zu Schanden.« Gellende Pfiffe schwirren herüber. Der Oberst wirft den Büchsenriemen über die Schulter. »Vergessen Sie nicht, dieser Tage noch zu unserem Irländer zu kommen. Wir müssen weiter über die Angelegenheit sprechen.«
Da schüttelt Alexand den Kopf.
»Im Sprechen werde ich immer hinter Ihnen allen zurückstehen. Lassen Sie mich eine Zeit im Venn droben allein. Sie werden's schon wissen, wenn Sie kommen müssen.«
»Und welches ist das Signal für Ihre Sprechstunde?«
» Wenn Sie das Moor brennen sehen!«
Er grüßt und stapft zu dem Koppelführer hinüber, der die Hunde anleint.
»Wenn Sie das Moor brennen sehen!« wiederholt der Oberst leise. »Ein großartiger Gedanke in einem Bauernkopf. Ich glaube, Sie haben auch das vor uns voraus: Sie denken gewaltiger, weil sie die Naturweiten vor sich in die Unendlichkeit hinausdehnen sehen. Wir Kulturmenschen müssen unseren Blick erst über vier oder fünf Stockwerke hinausklettern lassen, ehe wir eine Fernsicht haben. Aber die Gewalt seiner Gedanken erkennt der Bauer eben nicht; sie leuchten ruhig-fröhlich über ihm wie der Abendstern; wir erkennen sie in uns, wir sind wie stolze Schönheiten, die Tribut verlangen. Aber, wenn man weiß, daß man schön ist – ist man's nicht mehr.«
»Mit wem sprechen Sie?« fragt der Irländer, nimmt dem Oberst den Hut ab und befestigt eine Jagdtrophäe daran.
»Kommen Sie,« erwidert der Oberst und schiebt seinen Arm auf den des Irländers, »meine besten Gedanken sage ich mir allein, aber Sie sollen Sie heute auch wissen.«