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Viertes Kapitel.

In Sourbrodt sprang ein Ereignis in den Dorffrieden, es brachte sogar die Erntearbeiten ins Stocken. Das Gericht kam an Ort und Stelle, besichtigte die Unfallstätte, untersuchte die Leiche und ließ sich auf dem Gièthofe zum Mittagessen einladen. Marnette mußte Aussagen über den »Moorgeist« machen, und dann brachte man die Sache zu Protokoll. Es war alles ganz klar. Die Leiche hing mit dem Fuß im Ginster fest, infolgedessen war der Mann vornüber in den Tümpel gestolpert, verlor das Bewußtsein und ertrank. Sein ungeschickter Fall war umsomehr zu erklären, als seine verwundete Hand noch in der Binde hing. Dann wurde noch festgestellt, daß der Italiener ein gewalttätiger Mensch war und jedenfalls auch mit böswilliger Absicht im Venn umherschlich. Mit den übrigen Bahnarbeitern traf er in letzter Zeit wenig zusammen, da er noch arbeitsunfähig war. Einer, ein Kroate, erinnerte sich zwar des Vorfalls auf dem Gièthofe, daß der Italiener zurückkam mit Drohungen gegen den Bauer, aber darüber glaubte man zur Tagesordnung übergehen zu können. Die Herren fuhren beruhigt nach Malmedy zurück und veranlaßten die Eintragung des italienischen Namens in das sogenannte eiserne Buch, das in der Baracke Michel aufliegt und die Namen der Verunglückten und Geretteten aufweist. Jetzt ist das Buch zerstört. Die Verf.

Im Dorfe ging allgemach der Gesprächsstoff aus, und man sprach wieder vom Wetter und der Ernte – nur heimlich, ganz heimlich ging etwas von Ohr zu Ohr; es war ein Fünkchen, das jeder abschüttelte, weitergab, keiner wollte sich daran verbrennen. Da kam über Nacht ein Teufelskerl und zeigte ihnen, wie man ein Fünkchen halten kann, ohne sich daran zu verbrennen, blies es an, bis es zur Flamme wurde und über allen Dorfhütten hinfuhr. Nur der Gièthof blieb verschont, aber die Flammen und Flämmchen zuckten und tanzten um ihn, und es war höllisch schön, daß man mitten im Feuer sitzen konnte, ohne zu verbrennen.

Die alte Anntschenne hatte dem Giètbauer mit ihrem Tee wieder aufgeholfen. Sie wußte alles, hörte alles und sagte nichts; und da sie im Venn keine Arbeit mehr hatte, und im Dorfe die Zungen wie Schemen einen guten Namen zerschnitten, flüchtete sie in die kleine Dorfkirche und betete zuerst an dem weißen Rosenkranz, den sie von den Malmedyer Nonnen geschenkt bekommen hatte, dann an dem grauen aus Jerichoholz und opferte alle ihre Ablässe für die armen Sünder im Dorfe auf, ausgenommen den Gièthof, weil sie den in dem Allsünderdorf für das Haus der Gerechten hielt. Da sie diese Ansicht nicht kundgab, fand sie auch keine Widersacher; und so konnte sie glücklich und mit Gott leben.

Die Luft von Sourbrodt wehte auch nach Malmedy. Die trug den Sourbrodter Staub in das schöne Vennstädtchen – und dann rollte wieder das Korbwägelchen vor den Gièthof. Diesmal nahmen die Herren kein Gastmahl an und waren geschäftlich kurz. Ein Verhör in der guten Stube, ein kurzes Protokoll, verlegenes Räuspern – ab!

Daditte hatte sich das Ohr an der Stubentür wund gedrückt, aber gehört hat sie nur die Stimme Gètrous, die ein festes »Ja« heraussagte. Auf diese Antwort wußte Daditte schon die Frage. Die war niederträchtig, aber die Antwort war noch niederträchtiger. Jetzt war kein Bleibens mehr für sie auf dem Hof. Der gute Ruf konnte zu schänden gehen. Adjüs, Bauer, und dann basta!

Daditte hatte die Kündigungsfrist nicht abgewartet und ging – mitten im Sommer!

Der Bauer wütete nicht, hielt sie auch nicht, hörte ihre lange Standrede ruhig an, sagte kein Wort und stampfte aus dem Hof hinaus ins Feld. Lange blieb er aus, redete keinen, der ihm begegnete, an, ließ den Kopf hängen und kam nicht aus dem Nachdenken heraus. Sein Gesicht sah fahler aus als zur Zeit seiner Krankheit. Es ging etwas in ihm vor, etwas Gewaltiges, etwas, das den ganzen Menschen in ihm umgestaltete, aber es war etwas, das geschehen mußte, das ihn vor sich und der Welt rechtfertigte, das eine Pflicht war gegen sich selbst und gegen sie, eine Pflicht, die seinen Rücken krümmte und seinen Kopf beugte, aber innerlich ihn befreite, den Druck löste.

Die Sonne äugte mit letztem feurigen Blick aus dem Venn heraus, da kam er heim und suchte Gètrou in der Scheuer auf. Sie hatte vom Heustock herunter einige Arm voll Heu in die Tenne geworfen und sprang jetzt mitten in den Heuwulst. Der Bauer stand an der Scheunentür und begann ohne Umstände, als müsse er eilen, um die Last von der Seele zu sprechen:

»Bleib' einmal da stehen, wo Du jetzt bist. Sapristi! sollst mich nicht für närrisch und verrückt halten. Ich habe gemeint, ich könnt' alt und grau werden, ohne dem Hof wieder eine Bäu'rin zu geben. Das ist jetzt anders. Ich muß Dich zur Bäuerin auf'm Gièthof machen, sonst weiß ich keinen Rat. Zwei gesunde Arme hast Du; mit dem Vieh wirst Du auch fertig. In der Haushaltung kann Dir die alte Anntschenne zur Hand gehen. Wenn die Betschwester auf'm Hof ist, wird das Getratsch im Dorf aufhören, und nach der Ernte wirst Du Giètbäuerin,« und nun erst erinnert er sich – »wenn Du willst!« Aber dann geht er schon darüber hinweg, wie über etwas Nebensächliches, »bis zum Herbst braucht's noch keiner zu wissen. Die Ernte muß erst unter Dach. Es wird so viel Verwunderung 'drüber geben, mein' ich, und darum brauchst nichts zu sagen, bis alles fertig ist; hernach geht's ohne Sang und Klang in die Kirch', und dann bist Du Giètbäuerin, und alles hat ein End', das Geschwätz mein' ich, und Deine Reputation ist wieder hergestellt.«

Er sagt nicht: überlege Dir's, ich könnte Dein Vater sein! Kurz dreht er sich um und geht – aufatmend, die Brauen dicht zusammengerückt, wie einer, der etwas ungeheuer Dummes angerichtet hat, aber froh ist, noch eine Galgenfrist zu haben.

Gètrou steht in der Mitte des Haufens, hört das Vieh brüllen und weiß nicht, ob sie noch Atem schöpft. Langsam und ganz allmählich sagt sie sich, da vor ihr habe der Bauer gestanden und etwas Unverständliches, Unglaubliches gesagt. Und dann dreht sie sich scheu nach allen vier Ecken um und meint, es könne eine andere hinter ihr stehen, die er zur Bäuerin wollte. Und dann geht ihr mit einem Male die weite, goldene, unbegrenzte Zukunft auf. Giètbäuerin! Auf dem reichen Hof die Krebsenmattestochter! Sie meint, nun müsse sie aus dem Heuhaufen heraus geradewegs zum Grabe ihrer Mutter laufen und der ein Wort hinunterrufen, das sie sechs Fuß unter der Erde noch hören müsse: Giètbäuerin!

Was die Mutter nicht werden konnte, nun war es die Tochter, die Krebsenmattestochter! Ob der Bauer daran gedacht hatte? Eine wilde unbändige Freude springt in sie hinein, und weil sie es nicht hinausschreien darf, das eine Wort, das wie ein Triumphruf durchs Dorf hallen mußte, wirft sie sich ins Heu, wühlt sich hinein und lacht – und lacht – – und dann kommt eine große Mattigkeit über sie, und ein bohrendes, unendliches Weh drängt zum Weinen. Glück ist das nicht, Trauer auch nicht – was ist's?

So sitzt sie da mit den Händen im Schoß, und das Vieh brüllt. Nun meint sie schon am Ende all' ihrer Wünsche zu stehen. Sie wird Giètbäuerin, sie wird ihnen allen ins Gesicht lachen, sie wird vorn unter der Kanzel sitzen, sie wird sagen: Wir reiche Bauern! sie wird die losen Geldstücke in der Umhängetasche klimpern lassen und zur Kirmes die Stadtleut' empfangen! Das große Kind hatte sein Spielzeug, freute sich und stellte es in die Ecke. Und dann war wieder ein Wunsch da!

Die alte Anntschenne hatte Dadittes Stelle eingenommen. Gètrou blieb tagsüber auf dem Hof und ging abends in das Krebsenmatteshaus heim. Die Dorfmeinung war, daß Gètrou nach der Ernte wohl ganz zu Hause bleiben könne; dabei beruhigten sie sich, und Gètrou hatte wieder ihren guten Ruf, den Ruf der Krebsenmattestochter.

Der Sommer tauchte aus dem Regenloch auf, er kam mit seinem grämlichsten Gesichte, Regentage und kein Ende. Triefende Dächer, überschwemmte Feldwege, Hühner auf einem Bein auf den Trockenplätzen unter der Hecke, vor dem Venn eine Nebelwand, und auf dem Scheunendach der Hahn, der konsequent ins Regenloch guckte.

An dem Bahndamm entlang steckte man Papierfähnchen auf und schmückte eine ganze Strecke mit Guirlanden. Da lachte mit einem Male der Himmel sich blau, und der Sommer blies die warme Luft über die Erde. Die Eisenbahner rüsteten ihren Festtag aus. Die Eifelbahn sollte dem Verkehr übergeben werden, und die feierliche Einweihung ging ihr voraus. Eisenbahnbeamte mit blankknöpfigen Uniformröcken stolzierten durchs Dorf; vor dem kleinen Stationshaus stand einer mit roter Mütze und schnarrte seine Kommandorufe. Grelle Pfiffe, Pusten und Schnaufen – eine Maschine raste vorüber, der Erdboden schwankte, der Bahndamm knarrte, der Dampf flutterte in langen Säulen heraus und brach über dem Gièthofe zusammen. Dichte Wolken von Qualm und Rauch deckten sich über die Saatfelder. Die Halme krümmten sich unter der feuchtschweren Last, und die zarten Keime tranken den Dunst ein. J'han Marnette führte den Bauer die Dampfspuren nach.

»Was glaubt Ihr, Meister, wird da noch ein ordentlicher Halm herauswachsen? Ich habe mir sagen lassen, daß die Kartoffeln nicht mehr gedeihen, wenn tagaus und -ein der Eisenbahnrauch übers Feld streicht. Haben wir nicht schon an dem Moornebel genug, hai, Meister Gièt? Jetzt kommt's von zwei Seiten und quetscht uns zusammen. Nächstes Jahr drangsaliert Euch wieder der deutsche Oberst – unser Herrgott laß ihm Gras im Bart wachsen – wegen des Torfstichs. Und so geht's weiter, bis kein wallonischer Bauer mehr eine Handbreit Land hat, auf dem ihm nicht ein Fremder herumschnüffelt.«

Der Bauer antwortet nichts, bückt sich und streicht die Halme herauf so behutsam, als wären sie einige der Unterdrückten, die zu ihm gehörten. Im Dorfe herrschte eine Stimmung, die halb Neugierde und mißtrauische Erwartung ist. Man sah Gesichter, die nicht in den Rahmen des weltentlegenen Wallonendorfes paßten, Städtergesichter, Beamtenmienen, Uniformknöpfe! In die große, ruhige Bauernfamilie waren die unbequemen lauten Gäste gekommen. Das Dorf schien bei ihrer Anwesenheit noch kleiner und stiller zu werden: es schämte sich seiner Weltabgeschiedenheit, seiner steilen, fast bis zur Erde reichenden Dächer, seines grauen Himmels, seiner Ardennenrasse im Stall und Hof. Alles schien bei dem grellen Gegensatz anders, und die Weltfernen flüchteten vor den »Fremden«.

Der Giètbauer empfand geradezu ein Weh, wenn er auf die Dorfstraße hinausschaute. Dann aber sah er nicht mehr hinaus, ging schweigend in Scheuer und Stall, und überall, wo er hinkam, drang das Neue herein. An der Hintertür stand er und sah den gleißenden Schienenstrang und die flatternden Papierfähnchen. Auf der Fahrstraße gingen singend und lärmend die feiernden Eisenbahnarbeiter vorüber. Von dem Stationshaus her ertönten die Dampfpfeife und vereinzelte Rufe – der Dorffriede raffte sein letztes Gewand zusammen und floh – floh ins Moor zwischen die Sümpfe.

Und der Bauer schwieg. Er ging von einer Arbeit zur andern, fing alles an und ließ alles liegen, kam auch zum Armsünderkreuz, wollte beten, und es wurde ein Fluch.

Dann setzte er sich in der Scheune auf die Handwanne, ließ den Knecht vorübergehen und sagte nichts, ließ die alte Anntschenne vorbeigehen und sagte auch nichts, und dann kam Gètrou und blieb bei ihm stehen und fragte:

»Wollt Ihr nicht verreisen, Meister Gièt? Geht nach Belgien, in Herve ist Viehmarkt.«

Er sieht sie an, nickt mit verzerrtem Lachen, schaut wieder vor sich hin und sagt:

»Das wär's ja! Ich lauf' davon. Derweil kommen sie am hellen Mittag hereingedampft und lachen mir auf den Rücken und freuen sich über den alten Fuchs, der so brav in den Bau 'reinkriecht, wenn sie über sein Terrain stampfen. Nein? Das sollen sie nicht erleben.«

»Was Ihr doch nicht ändern könnt', braucht Ihr auch nicht mit anzusehen, denk' ich.«

Da steht er langsam auf und schlägt mit der Faust auf den Deckel der Handwanne, daß der Kornstaub herauffliegt.

»Nicht ändern? Hai ja, Du kennst mich schlecht. Ich opponiere und treib's so lange, bis sie die Bahn aus meinem Eigentum herausschaffen. Wir haben Gesetze, und das ist mein Recht. Wer in mein Haus hereinkommt und lästig wird, den werf' ich 'naus. Warum sollt ich's hier nicht können? Mein Recht will ich, Gètrou, mein Recht! Und das muß ich ihnen zeigen!«

Er dreht ihr den Rücken und steigt die Leiter hinauf ins Stroh. Von oben herab ruft er dann noch:

»Warum brennt kein Licht am Armsünderkreuz?«

»Ich hab' mir gedacht, es hätt' doch keinen Zweck mehr, jetzt, wo's nicht mehr im Sterbewinkel steht.«

»Ja, Gètrou, es hat keinen Zweck mehr; es hat jetzt alles keinen Zweck mehr. Das Dorf ist wie verkauft, man fühlt sich fremd in seinem eigenen Hause, über ein paar Jahre herrschen hier die Fremden, und wir wallonische Bauern ziehen ins Venn. Wenn Du dann nicht schon Giètbäuerin bist, brauchst sie nicht mehr zu werden. Der Meister Gièt ist dann ein dummer Bauer geworden, und die Städterleut' wissen's besser. Im Namen Gottes! Gètrou, heut' muß Licht brennen am Armsünderkreuz. Unser Herrgott muß ein Strafgericht halten, wenn sie über die arme Seel' meines Vaters fahren.«

Er verschwindet im Stroh, aber das Mädchen hört noch den fürchterlichen Schwur: »Im Namen Gottes!«

Sie geht zur Scheune hinaus und ins Haus zurück.

»Anntschenne!« ruft sie in die Küche und ist ganz verstört, »es gibt ein Unglück, ich fühl's bis in die Knochen. Dem Meister geht's in den Verstand, wenn die Eisenbahner nicht klein beigeben.«

Anntschenne stampft die Kartoffeln für die Schweine in den Eimer ein und zieht ihr gutes, altes Gesicht in weinerliche Falten.

»Der arme kleine Mann!« sagt sie, und damit gibt sie dem wallonischen Mitleid den wärmsten Ausdruck. »Der arme, kleine Mann! Seit seiner Krankheit geht's ihm nicht gut. Er hat kein klares Aug' mehr und lacht nicht mehr und möcht' am liebsten beißen, wenn er 'n Hund wär'. Wir müssen Geduld mit ihm haben und viel für ihn beten, lieb' Mädchen. Vielleicht quält ihn 'was oder im Hof ist 'was nicht zum Rechten. Guter Gott! so'n reicher Mann hat seine Sorgen. Davon weiß unsereins nichts. Wenn der Alexand kommt, wird's besser, verlaß Dich drauf. Der redet ihm das alles aus – mit der Eisenbahn weißt Du,« und nun fällt sie ins Flüstern, »so gar schlimm ist das alles nicht, weißt Du, ich bin's ja auch – deutsch, weißt Du,« sie lacht einfältig, »gelt, das hast noch nicht gewußt? Das wissen nur noch die Alten im Dorf. Die haben mich noch Deutsch sprechen hören, und dann hab' ich's vergessen und sprach wallonisch und bin noch deutsch, als könnte man eins nicht von dem andern trennen.«

»Geht das?«

»Warum soll's denn nicht gehen, lieb' Seelchen? Ich kam als weise Frau hier ins Dorf, hör'! Da muß man Zutrauen zu einem haben, viel Zutrauen, aber sie hatten keins zu mir. Ich schwatzte mir den Mund wund und lief alle Dorfhäuser ab. Da schlossen sie die Türen vor mir, sie verstanden mich nicht, ich könnt' nicht heimisch bei ihnen werden; eine Wand stand zwischen uns, die war durchsichtig. Wir konnten uns gegenseitig sehen und weiter ging unser Verkehr nicht. Siehst Du, lieb' Mädchen, die Hauptsach' ist doch das Reden und Tuscheln; 's geht wie mit einem Buch. Der Einband ist vielleicht häßlich, aber wenn das Buch 'mal durchgelesen ist, dann gefällt's einem und dann hat man's gern. Siehst Du, das wollt' ich Dir sagen: durch viel reden und schwätzen lernt man die Leut' am besten kennen. Es ist umständlicher, wenn wir warten müssen, wie sie's tun und treiben. Das alles hab' ich mir damals in meiner Not zusammengedacht, und da fing ich an, das Wallonische zu lernen und hab' mit den Wölfen geheult und wurde schließlich selbst ein Wolf.« Sie lacht herzlich, ihr Vergleich paßt nicht auf das verbogene, hinfällige Mütterchen, und auch Gètrou lacht.

»Ein gefährlicher Wolf seid Ihr nicht. Ihr habt schon keine Zähne mehr,« dann lacht sie nicht mehr. »Ihr meint also, Anntschenne, die Fremden, die herkommen und bei uns bleiben wollen, müßten wallonisch werden, damit wir ihnen trauen und sie gern haben, qwai

»Sieh' 'mal, lieb' Mädchen, die alte Anntschenne ist gut dabei gefahren, aber die hat auch nicht viel Großes gewollt. Die war schon zufrieden, als man die Türen nicht vor ihr zuschloß.«

»Die Fremden sollen wallonisch werden, sagt Ihr, und die Fremden sagen: Die Wallonen sollen deutsch werden. Der Alexand wird wohl das Richtige wissen. Wenn der kommt, frag' ich 'n; und dann kann er auch unserm Meister zureden. Wie der heuer herumläuft – man könnt' ihn fast fürchten. Sagt, Anntschenne, denkt Ihr's nicht auch manchmal?«

Da taucht die Alte ihren Arm in den Eimer, als müsse sie sich erst besinnen, wie weit sie ihre Gedanken verraten dürfe, und dann reckt sie sich auf und muß den Kopf in den Nacken drücken, um das Mädchen anzusehen. Sie tippt mit den noch nassen Fingern gegen ihre Stirne und sagte zurückhaltend:

»Die Giètbauern haben die Köpf' mit den zwei Ecken. Die rennen durch, und wenn's durch eine Mauer ist. Jahr und Tag hat der Meister Gièt den Bahndamm wachsen sehen, aber d'ran gewöhnt hat er sich nicht. Jeden Tag im Jahr dagegen ist er dagegen angegangen. Jetzt soll der Zug kommen, die Fremden fahren an seinem Hof vorüber, an dem Armsünderkreuz, und die Musik wird vielleicht spielen, und schön geschmückt haben sie's, es könnt' einen freuen, wenn der Meister nicht wie 'n bissiger Hund da herumlief. Vielleicht setzt er sich auf die Schienen und sagt: Erst über mich und dann über mein Eigentum! Uch, Herr Jemmersch! lieb' Mädchen, vielleicht wird er uns noch gar närrisch. Wenn der Alexand doch bloß zurück wär'! Geh', Gètrou, schreib' ihm.«

»Wie soll ich's denn? Französisch kann ich's nicht mehr, und deutsch kann ich's noch weniger. Da könnt Ihr's besser. Sagt, Anntschenne, wie schreibt Ihr denn Euren Namen?«

»Uch, Herr Jemmersch! Den habt Ihr Wallonen mir verhunzt. Aus dem sanften, deutschen Annchen hat Eure wallonische Zunge das Anntschenne gemacht. Schön klingt's nicht, aber ich hab' 'n halbes Menschenalter gehabt, um mich daran zu gewöhnen, und die Gewohnheit wird einem lieb.«

Diesen Gedanken greift Gètrou mit plötzlicher Lebhaftigkeit auf.

»Die Gewohnheit wird einem lieb – man könnt' sich auch mit dem Meister Gièt gewöhnen, meint Ihr, Anntschenne?« Aber ohne die Antwort abzuwarten, nimmt sie die Eimer und geht zum Stall.

Der Knecht fragt nach dem Bauer, den findet man auf dem Hofe nicht. Da verspricht Anntschenne eine Wallfahrt zur Malmedyer Antoniuskapelle in der Einsiedelei, wenn der Bauer von irgendwem tagsüber ferngehalten würde. Von weitem her vernimmt man schon die Böllerschüsse. Die Papierfähnchen rascheln, und dann ein gellender Pfiff in den Dorffrieden hinein. Die Maschine schnauft heran, ein bebänderter Wagen hintendrein – die Probefahrt! Herren in Zylinder und Fräcken füllen die Wagenfenster. Feiertägig rollt man in die »arme Eifel« hinein. Die Bauern laufen aus den Häusern heraus – Tsch – hht! Da ist's schon vorüber! Ein bißchen Erstaunen, ein bißchen Dampf, und die Papierfähnchen rascheln – und aus dem Moor heraus gähnt wieder der Dorffrieden.

Ein Gespräch geht im Dorfe rund. Der Abendzug bringt schon die Fremden aus Aachen. Daraufhin legt der Krebsenmattes ein frisches Faß auf und stellt sich im Sonntagswams an die Türe. Ein paar Bauern kommen zu ihm herein, was sonst an Werktagen nicht Dorfbrauch ist, und die sehen sich erstaunt in der Stube um. Da sitzt der Meister Gièt breit am Tisch und läßt sich von dem »Frischen« einschänken, als müßte er das ganze Faß vor den Fremden retten, und trinkt und zahlt das Bier mit zwölf Reichspfennigen und spricht kein Wort von dem, was alle auf der Zunge haben – von der Eifelbahn! Aber der breite Kopf rötet sich und die derbe Bauernhand fährt durch das dichte Haupthaar und wühlt es an den Schläfen auf und fährt sich um den Hinterkopf – wie eine Stachelhaube liegt's um seine kantige Stirne.

»Guter Gott! Ihr Nachbarn,« redet Krebsenmattes in ihre Wetternachrichten hinein, »alles Wehren hilft jetzt nichts mehr, heut' wird der Zug dem Verkehr übergeben, und dann ist die Maschine im Rollen, und kein Mensch kann sie mehr aufhalten.«

Da dröhnt des Giètbauern Stimme in sein Gerede:

»Wenn Du, Du Hund im Rock, uns nichts Gescheiteres zu sagen weißt, wirst aus Deinem eigenen Haus 'rausgeschmissen.«

» Abin, wie Ihr wollt, Meister, es war bloß so 'n dumme Meinung meinerseits. Eurerseits denkt Ihr vielleicht anders.«

»Sapristi!« fuhren einige Bauern los, »warum sollen wir denn hier den Mund halten und unsere Meinung nicht sagen? Kein Mensch hätt's geglaubt, daß der Meister Gièt sich so unterkriegen läßt.«

»Unterkriegen?« schnarcht der heraus. »Fré Thoumas, ich schlag' Dir die Backenzähne ein!« Er stößt sein Glas so heftig auf, daß es springt. Das Bier läuft in langen Rinnen über den Tisch und tropft von der Kante zu Boden. Die Bauern rühren sich nicht und rauchen schmatzend weiter. Der Krebsenmattes füllt ein neues Glas und stellt's dem Giètbauer hin. Fré Thoumas reißt die Pfeife aus dem Mund, streicht mit der Pfeifenspitze die Barthaare von den Lippen und fährt den Bauer mit gleicher Grobheit an.

»Brauchst mich nicht so anzubellen, Du! Hast anfangs 'n Geschrei gemacht, bist von Pontius zu Pilatus gelaufen und hast Dich überall 'rauswerfen lassen. Die Bahn wurde weiter gebaut, und Du konntest auf Deinem Hof bellen, tin! Nachher haben ein paar rotzige Buben nachts den Bahndamm aufgewühlt, da stellten sie Wachtposten auf, und keiner machte sich mehr 'ran. Du siehst, Meister, man hat mehr Ketten als wilde Hunde. Die Bahn wurd' gebaut, und heut' ist sie fertig, basta!«

Da steckt der Krebsenmattes den dünnen Kopf zwischen den Nachbarn durch.

» Haltè-là! Fré Thoumas! Euer Basta kommt um einen halben Tag zu früh. Es gibt auch heute noch Rotzjungen, die ans Schikanieren denken. Man braucht doch nur die Schrauben an den Schienen loszudrehen, dann können sie mit der Bahn nicht mehr 'rüber!«

» Sia!« schreit Marnette in den Stimmenlärm hinein, »'rüber können sie, aber die Maschine kommt aus'm Geleis und rollt Gott weiß wohin.«

»Ins Venn!« rufen ein paar andere und lachen breit, »ins Venn! Wenn sie im Sumpf stecken bleibt, sind wir sie los!«

Nun klopft Fré Thoumas auf den Tisch und überschreit die andern.

»Verrückt seid Ihr! Ich kann's Euch schriftlich geben, Ihr seid verrückt! Die Bahn kann doch nur im Geleis laufen, fährt sie da heraus – bums! liegt sie da, und aus und vorbei ist's mit der Fahrt! Dann müssen sie wieder am Bahndamm flicken, und dann haben wir vielleicht wieder ein Jährchen Ruhe. Ja, so geht's immer langsam voran!«

Die Bauern liegen breit über dem Tisch und lachen. Da schlupft Fré Thoumas wieder die Pfeife aus dem Mund und spinnt seine Ansicht weiter aus.

»Justement genau wie ich im vergangenen Winter mit meiner Holzfuhre. Da blieben wir im Hohlweg richtig stecken und kamen nicht mehr aus'm Dreck 'raus. Drei Mann an jedem Rad, da drücken sie links 'rüber wie die Gäule, und richtig! Der Karren kommt ins Schwanken und fällt, wie nur ein Mensch kopfüber fallen kann. Die Hölzer 'runter, die Ochsen im Dreck und sechs Mann daneben. No 's ging gut, keiner hat 'n Rippe zerbrochen; und Du, Weißschnabel,« er zeigt mit der Pfeifenspitze nach ihm, »hast den Kopf beinahe entzwei g'kriegt. Bist aber wieder gut geflickt. Die Schramme im Gesicht hat Deine Frau nicht zurückgehalten, Dich zu heiraten, die wird Dir schon noch eine dazu kratzen.«

Der Bauern Gelächter dröhnt in die niedere Stube, mit ihren breiten Rücken drücken sie sich an die Wand, stemmen die Fäuste gegen den Tisch und trampeln mit den Holzschuhen. Der Giètbauer lacht nicht, macht eine weite Armbewegung und ruft:

»Mattes, eine Runde Bier! Leg 'n frisches Faß auf, wir trinken nichts von dem Abständigen!«

Der Kranen planscht ins Spundloch, der Bierschaum rinnt über die Gläser. Die Bauern nicken sich durch den dichten Tabaksqualm zu und lärmen in den Abend hinein.

Die alte Anntschenne, die jetzt nur mehr bis zu einem Rosenkranz im Tage kommt, geht aus der Kirche heim und sagt der Gètrou:

»Jetzt weiß ich, warum der Meister Gièt das Vieh aufs Fressen warten läßt – der Krebsenmattes hat ihn! Sie trinken, als wär's bei der Dorfkirmes. Lieb' Mädchen, der Krebsenmattes ist Dein Vater, Du kannst ab und zu ein Gebet für ihn sagen. Uh, Herr Jessas! auf 'n hellen Werktag! Gott verzeih' ihnen allen die Sünd'!«

Gètrou sieht unsicher zu der Alten hinüber. Eine junge Sorge drückt ihr's Herz, sie möcht' darüber reden, aber das darf sie nicht, so sagt sie nur:

»Heut' ist 'n Bettag allein für den Meister Gièt. Da geht er immer zum Kreuz. Ich steck' ihm das Licht am Armsünderkreuz an, dann mag ihm die arme Seele seines Vaters beistehen.«

Der Dämmer prickelt in den scheidenden Tag und deckt überall den hellen Schein mit schweren Schatten. Als feurige Scheibe schwimmt die untergehende Sonne im Moor. Dann zieht sie den grauen Wolkenschleier vors Gesicht und geht zur Ruhe. Feuchtwarme Luftwellen strömen von der Hochfläche her, der Dachhahn sieht wieder nach dem belgischen Regenloch; es wird finster.

Gètrou hat das Licht in dem Glasgehäuse des Armsünderkreuzes angezündet und betet davor. Ein milder roter Schein fließt über den Zaun hinüber auf den Bahndamm. Es ist freilich still und andachtsvoll, fast wie in der Kirche. Die Papierfähnchen rascheln leise, der Wind huscht leise, ein Nachtvogel streift leise vorbei. Das Dorf liegt verträumt im Abend. Da tritt ein Mann in den roten Lichtkreis. Das ist der Bauer. Gètrou sieht ihn an und weiß nicht, ob das Ampellicht sein Gesicht so rot und wild färbt.

» Hai, Gètrou, Du bist's? Ein schönes Licht, aber von der Straße aus kann's keiner mehr sehen, und keiner kommt mehr hierher zum Beten.«

Ein Geruch von Bier und kaltem Tabak dringt in den Duft von Gras und Wiesenblumen. Sie wendet das Gesicht von seinem Atem ab und sagt:

»Warum laßt Ihr das Kreuz noch immer hier im Steinsockel stehen und setzt es nicht in die Erde ein? So ist's mir fast grad', als habe man einen Toten ausgegraben und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.«

»Da sagst was, das ist gescheit, Gètrou.« Er verschränkt die Arme über der Brust und sieht unverwandt in das rote Licht. »Einen Toten haben sie ausgegraben, eine Leiche haben sie geschändet. Du hast wirklich 'was Gescheites gesagt, Gètrou,« und er nickt in schwerem Nachsinnen.

Ein Grauen läuft ihr den Rücken hinauf, so war das nicht gemeint. Mildern wollte sie seinen Groll, bestärken nicht. Nun tat sie das Umgekehrte und fürchtet die Umkehr und fürchtet ihn und fürchtet den Abend und das Dunkel und den gleißenden Schienenstrang nebenan. Sie langt mit der Hand herüber und klopft ihm leicht auf den Arm, als wollt' sie ihn aus einem schweren Traum herauswecken.

»Was meint Ihr, Meister Gièt, wär's nicht grad' so gut, wenn Ihr das Kreuz jetzt an dem Fahrweg einlassen wolltet? Dann hat Euer Vater selig die Gebete wieder. Es geht da keiner vorüber, der nicht am Armsünderkreuz stehen bleibt,« und dann leise, wie verschüchtert, »anders wird keine Ruh' und Rast in Euch und auf'm ganzen Hof.«

Er stiert noch immer in das Ampellicht und lacht trocken und kurz.

»Ebensogut könntest Du zu unserm Herrgott sagen: Guter Gott, warum haben Sie den armen Paskal Gièt nicht zehn Schritte weiter sterben lassen!« und dann fährt er aus seinem Hinstarren heraus, packt das Kreuz mit beiden Händen und trägt es weiter bis dicht an den Zaun. Da steht es an dem Bahndamm und wirft sein mildes Licht darüber hin. »Kein irdischer Richter hat mich angehört, nun beschwör' ich den ew'gen 'runter. Der muß richten. Dem Armsünderkreuz sollen sie den Kohlendampf ins Gesicht werfen – ob er das zuläßt? Oho, nein! Hier steht das Armsünderkreuz! Hier bleibt's, das weicht nicht, wie der Meister Gièt. Und ja, Gètrou,« er bückt sich über das Kreuz zu ihr her, »das Strafgericht wird nicht ausbleiben, laß Dir's gesagt sein, einer muß das Strafgericht ausüben – es muß einer sein, und es wird einer sein! Gètrou, gelt, Du weißt nicht, was sie dem alten Paskal Gièt getan haben?«

» Sia! Ich weiß es – ich weiß es gewiß, kommt nur herein!« Da zieht er sie an der Schulter zu sich her aus dem Licht heraus in die Schatten.

»Gètrou, dort herüber kam der Paskal Gièt aus'm Feld, die Sense über der Schulter. Leute, die ihm begegnet sind, erzählen, er habe vor sich her gepfiffen, so wie einer tut, der 'n heimliche Freud' in sich hat. Denk' Dir, Gètrou, gepfiffen – zwei Seufzer vor seinem Tode! Und dann fiel er nieder – stracks ins Gras! Hierhin! Siehst Du, da, wo die Schienenschwelle liegt! Seiner armen Seele haben wir das Armsünderkreuz gesetzt mit einer Inschrift drauf. Da konnte jedermann es lesen, daß der jäh verstorbene Paskal Gièt nach einem Gebet für seine arme Seel' verlangt. Wenn eines den Pfad hier herum kam, hat's allemal einen Kranz aus Wiesenblumen zurechtgemacht. Den hing es um den Christuskopf. Das war wie ein Gebet und grad' so gut. Und die Mäher rückten die Mütz' und legten die Hände ineinander; und unser Pfarrer sagte bei der Predigt: »Das Armsünderkreuz ist die Jakobsleiter im Wallonenlande!« Das ist nun alles aus und vorbei. Aus geweihter Stelle haben sie uns das Kreuz gerissen! Eine Erinnerung haben sie totgeschlagen! Einer armen Seel' haben sie die Gebete gestohlen!«

Der Groll stößt ihm in die Rede hinein. Es ist ein Gedanke ohnmächtiger Wut, der ihm die Tränen heraufpeitscht. Ein schwerer, heißer Tropfen rinnt auf des Mädchens Hand. Da schreckt es auf, faßt den reckenhaften Mann an beiden Armen, die er drohend emporheben will, und drückt sie mit ihrer ganzen Kraft nieder. Sie fühlt die Muskelstränge durch den Kittel hindurch zucken und beben, aber sagen muß sie es:

»Ihr seid das Unrecht nicht gewohnt, Meister Gièt. Ihr rennt mit'm Kopf durch und wenn er auch entzweigeht. Es gibt andere, die stoßen sich bloß Beulen an den Kopf und sagen nichts, die dürfen's nicht, die können's nicht ändern. Meister Gièt, seid einmal so wie die andern.«

»Wer's so tut, ist wert, mit'm Fußtritt traktiert zu werden,« verharrt er finster.

»Ich tu's so, ich muß es!«

»Was Du tust, gilt nicht für mich!«

»Ich meine schon doch!«

»Hast kein Recht zum Meinen – in dieser Sache nicht!«

» Sia, Meister Gièt, ich hab's!«

»Du! Du? Geh' mir weg. Das Recht möcht' ich wissen.«

Da drückt sie sich dicht an ihn, ihre Schulter rückt an die seine, und so sagt sie es ihm in das hochmütige Gesicht:

»Das Recht als Giètbäuerin! Habt Ihr's vergessen und wollt Ihr's nicht, nun dann sagt's grad' heraus, und jeder von uns geht wieder seinen eigenen Weg. Der meine ist frei!«

Das springt ihm wie ein Nadelstich ins Fleisch. »Der meine ist frei!« In ihm rast wieder das Quälende, Unsichtbare, das er nicht fassen und greifen kann, und das doch ist und sein wird sein Leben lang. Woher kam's? Aus dem Haß, der ein Jahr lang mit dem Bahnbau wuchs. Da lief ihm ein Eisenbahner in den Weg – und der verschwand im Venn. Alles Unheil und sein Unfrieden kam von diesen Eisensträngen, die wie zwei gierige Fangarme sich in die Wallonenlande hineinlegten.

Er drängt sie von sich ab, nicht grob und rauh, sondern scheu, beunruhigt, wie etwas Unbequemes, das er hinwegräumen muß, das ihn weich stimmt, wo er hart und eisern und unversöhnlich und stolz und unbeugsam sein will.

»Gètrou hör'! Dein Weg ist nicht mehr frei, der läuft in meinen hinein. Laß sie getrost mitsammen laufen, die zwei, und gräm' Dich nicht. Geh' 'nauf an den Leinwandschrank und such' Dir ein Stück aus. Daraus kannst schon was für'n Haushalt machen. Der Sommer ist bald um. Ich komm' gleich nach.«

»Lieber wär's mir, Ihr kämt gleich mit.«

»Was brauchst mir überall auf'm Buckel zu hängen!« will er wieder heftig losfahren. Da dreht sie sich um und geht.

»Ich will Euch nicht auf'm Buckel hängen, adjüs.«

Er läuft den Zaun entlang, wie einer, der umhürdet ist, und nach Freiheit tobt. Und dann wirft er sich gegen diesen verhaßten Zaun. Mit seinen nervigen Fäusten packt er ihn und rüttelt daran, daß die Pfähle in dem Wiesenboden schwanken. Diesen Racker muß er niederstampfen, mit dem hatten sie ihn eingegittert, ihn, den freien wallonischen Bauer, der mit seinen Erinnerungen noch in der Regierungsherrlichkeit des Krummstabes festhing, einer Erinnerung, die er von den Altvordern übernommen hatte, und die als Familientradition ehrfürchtig gepflegt wurde. Der Fürstabt war der gekrönte Vater, weiter nichts. Er rechnete mit dem heißen Wallonenblut und war nachgiebig, wo sie störrten. So macht man's mit großen Kindern, und so floß denn der kleine Eigenwille ins Blut der jungen Generation. Das wallonische Herz lehnt sich auf gegen den Zwang.

Er reckt die Arme in die Dunkelheit hinein, als wollte er die Abendluft in dicken Klumpen herausgreifen. Es hämmert ihm etwas von innen heraus gegen die Brust, das befreit sein, das hinaus in die Unendlichkeit wollte. Aber vor ihm steht das Dunkel wie eine haushohe Schattenwand, und sein heißer Atem wogt dagegen, und um ihn wird es enge, zum Ersticken enge und preßt ihm die Arme ein und zerrt an seinen Muskelsträngen und spinnt ihn wie ein Netz ein. Mit der rauhschwieligen Hand fährt er sich durch das Gesicht, über das unrasierte Kinn und verstohlen auch über die noch feuchten Augen. Sapristi! Heulen will er nicht. Seine Zähne knirschen aufeinander. Es schlängelt sich etwas in ihm herauf wie ein Gewürm, das den giftigen Speichel absondert, und in ihm zwickt und brennt und rumort ein Ungewisses, dessen Name er nicht kennt, das noch kein Gedanke ist, das aber furchtbar, höllisch aussieht. Er erschrickt nicht davor, denn er kennt's noch nicht in seinen furchtbaren Folgen, aber er fühlt's und weiß, daß er es tun muß, wenn – – – – – ja! ja! ja! aus dem Dunkel zwei Glutaugen leuchten und der Pfiff in das Wiesenland hineintönt – die neue Eifelbahn!

Jahrelang ist's herangewachsen, da konnte er es noch nicht fassen, nicht greifen, da war es noch das Vielköpfige, aus dem man keinen einzelnen Feind herausholen konnte. Jetzt hat es Gestalt und Form und Leben und Bewegung und Gift und Galle angenommen! Jetzt faucht es und glüht und rackert und tobt! Jetzt kann er es bekämpfen!

Heiß sickert ihm das Blut in die Augen. Ein glühender Dunst wogt um ihn. Der blendet und verwirrt ihn. Mit beiden Händen preßt er sich den Kopf. Ist das schon der Wahnsinn?

»Nein, das Furchtbare ist's, das aus dem roten Dunst aussteigt, das prickelnde Feuer, immer glühender! Das ist die Hölle selber – und zum Teufel hat's ihn schon gemacht – damals schon im Venn. Huh! Der Moorgeist, der ihn zwickt und packt! – Da ist er wieder und droht und grinst und schüttelt die leichenfarbenen Hände.

Mit wuchtigem Anprall wirft sich der Bauer gegen den Zaun, daß der krachend und splitternd zusammenbricht. Und als habe diese erste Gewalttat die Scheu vor der zweiten vernichtet, steigt er über die zusammenkrachenden Balken hinweg auf den Bahndamm – und nun steht er hochaufgerichtet auf den Schienenschwellen!

Mit vorgebeugtem Kopf stiert er in die Dunkelheit nach der Richtung hin, woher der Abendzug kommen muß. Und dann langen seine Arme hinüber über den hochaufgeworfenen Damm, mit straff gestreckten Händen tastet er über das Erdgeröll, das kalte Geleise – und dann ein jäher Sprung hinüber – er fällt über einige, vom langen Liegen in die Erdrinnen eingefaulten Baumstämme. Die wälzt er mit aller Kraft herauf und mit Schurfen und Dröhnen auf den Schienenstrang. Es klirrt auf dem Eisen wie der dumpfe, geborstene Laut der versunkenen Glocke – tief aus der Erde heraus – fast graust ihn. Es kroch ihm wie eine Ameisenschar den Rücken herauf, jeder Nerv vibriert in ihm – aber die wahnsinnige Schadenfreude jauchzt aus ihm.

» Hai-là! Und doch wird's nicht sein!«

Er steigt über die Zauntrümmer zurück und stapft langsam dem Hofe zu.

»Und doch wird's nicht sein!«

Wo die Fahrstraße auf das Geleise zuläuft, sammeln sich neugierig die Bauern an und warten auf den Abendzug.

»Und doch wird's nicht sein, tin

Als er am Küchenfenster vorbeikommt, hört er lautes Reden. Anntschenne flickt an den blauen Wollstrümpfen, die ihr hochgehäuft im Schoß liegen, und Gètrou steht auf der Herdbank, um das oberste Brett der Kannenbank zu säubern. Über die Schulter zurück spricht sie mit einem jungen Menschen in halb städtischer Kleidung, der – nach Wallonenart – mit lebhaften Armbewegungen zwischen den beiden Frauen hin und her redet. Der Bauer bleibt stehen und horcht. Die Stimme kennt er; das kann nur der Speckschwarte sein, der in Rothe Erde das Brot als Fabrikarbeiter schmackhafter findet als das Bauernbrot. Den mag er nicht, der kommt ihm schlecht in diesem Augenblicke. Was will der auf seinen Hofe? Seit der Alexand fort war, hatte er da nichts mehr zu suchen. Den Alexand wollte er verschwätzen, aus dem Bauernnest herauszugehen und in der Stadt Dienst zu nehmen. Das Leben sei allda fröhlicher. Das vergaß er dem Speckschwarte nicht. Wenn der auf einen Tag oder zwei im Jahre zurückkam, gingen sie sich beide aus dem Wege. Also – was wollte der Manschettenbauer auf dem Gièthofe? Er horcht wieder. Von dem Alexand hört er sprechen und tritt näher an das Fenster. Gètrou sieht ihn vom Herde aus und springt von der Bank ab zu ihm herüber. An das Fenster tippt sie und winkt, und es steht eine heimliche Freude in ihrem Gesichte.

»Der Speckschwarte sagt eben, daß der Alexand kommt, Meister Gièt. Sie haben ihn heimgeschickt wegen dem Finger, der ist lahm geblieben. Aber er soll ihm nicht hinderlich sein bei der Arbeit, meint der Speckschwarte.«

Da drückt Gièt mit der gespreizten Hand das Fenster auf und fragt in die eifrige Rede hinein:

»Wie kommt der Speckschwarte dazu, das alles vor dem eigenen Vater zu wissen?«

Der lacht verschmitzt?

»Ich hab' ihn ja auch vor Euch gesehen, Meister. Hai, ja, das kommt davon, wenn man näher bei der Welt wohnt als Ihr. Gestern war er bei mir in Rothe Erde und hat übernachtet, und heut' wollt' er sich Aachen ansehen, bevor er wieder nach Sourbrodt kommt und Krompieres (Kartoffeln) graben muß. Ich hätt' die Reis' gern mit'm gemacht. Ihr wißt, auf der neuen Eifelbahn! Aber ich war noch nach Verviers 'rüber für die Fabrik. Da mußt' ich nun partout wieder den alten Reiseweg durch Belgien. Zurück aber gehts per Eifeldampf. Ja, da kann man lang genug fahren für sein Geld.«

Er lacht und schlägt sich aufs Knie. Der Witz scheint ihm unbezahlbar.

Gètrou hat das Fenster weit aufgemacht, und der Bauer legt sich bereit hinein.

»Du kannst gute Witze machen, Speckschwarte. Ich bring's auch fertig, wenn die Gelegenheit sich gibt. Siehst Du, morgen laß ich meine Ochsen anspannen und hol' den Alexand in Aachen ab, nur damit er sein Geld und mir den Ärger spart, daß er mit der neuen Eifelbahn fährt, ja siehst Du!«

»Aber gut gesagt!« lacht der Manschettenbauer und krümmt sich und schlägt die Hände zusammen, »aber gut gesagt! Ich rat! Euch 'was anders. Laßt heut' abend schon Eure Ochsen anspannen und fahrt zur Station. Der Alexand hat Gepäck, 'n neumodischen Pflug hat er mitgebracht; na, der hat's großartig vor. So 'was kennt man in Berlin, und der Alexand ist kein dummer Wallone. Na, so nennen sie uns draußen. Tollpatsche! Großmäulige Wallonen! Der Alexand hat's ihnen draufgegeben, – und stattlich ist der! Ein schönes, gefülltes Gesicht, mit 'm Schnurrbärtchen drin, das sauber herausgedreht ist! 'n netter Kerl, Meister Gièt, schad', daß er in Sourbrodt faulen muß. Ja, und dann, was ich Euch ausrichten soll, – er kommt heut' abend. An der Station mögt ihr ihn abholen.«

»Mit dem Abendzuge?« fragt der Giètbauer. Man kennt seine Stimme nicht mehr, sie klingt wie ein verlorener Schall in einem weiten, leeren Raum. Der Speckschwarte zieht mit einer großartigen Handbewegung seine Uhr. Sie ist von Silber, und er läßt sie in dem trüben Schein des Küchenlichtes blitzen.

»In zwanzig Minuten muß er da sein; wenn er sich aber in Aachen länger aufhält –« und nun beginnt er umständlich alle Möglichkeiten auseinander zu setzen, die den Alexand zurückhalten können. Die einzige, die ihm zuhört, ist Anntschenne. Sie nickt und stopft und hält alles für möglich. Aus Gètrous Gesicht rinnt alle Freude, wie sie den Bauer ansieht. Sie kennt ihn, sie hat diese wirren Augen schon einmal in der Nacht gesehen, als er aus dem Venn heimkam. Ein jäher Schreck fährt in sie hinein und reißt ihr an den Nervenfäden. Zum Halse quirlt's ihr hinauf wie ein Hilfeschrei, den sie nicht herauswürgen kann.

»Meister!« ruft sie und will ihn schütteln. Da ist das Fenster leer, und an der Haustür steht er mit geisterhaft weiten Augen, faßt den ihm entgegenkommenden jungen Mann bei der Schulter und ächzt:

»Speckschwarte, nun sag's noch einmal, daß der Alexand – der Alexand«, er schreit ihm ins Gesicht, »mit der Eifelbahn kommt, sag's wieder, und ich breche Dir die Knochen kaput!«

Der junge Bauer stößt rauh um sich und drängt hinaus.

»Glaubt's oder glaubt's nicht, er kommt, – basta! Als ob der Alexand sich den Teufel 'was drum scherte, ob Euch die Eifelbahn ein Dorn im Auge ist! So 'n alten Nörgler wird man schon um die Ecke drücken!«

Und hinaus ist er. Die zwei Arme reckt der Bauer nach ihm, und dann besinnt er sich und greift sich an den Kopf und an die Stirne und weiß nicht mehr, was er tun soll und heult auf und fällt mit dem Rücken gegen die Tür, daß sie krachend an die Wand schlägt.

»Jesses Mater!« kreischt Anntschenne auf, »da hat er 'n Schlag!«

Gètrou hängt mit Zittern und Beben an ihm und drängt ihn hinaus, einem gewissen Impulse folgend. So irren sie beide in die Nacht hinein – bis hinter den Hof an die Jauchegrube. Da stößt er sie zurück und springt hinüber und verschwindet im Dunkel. Sie taumelt über das Ackergerät am Boden, und wo sie hinfällt, liegt sie still und fühlt ihr Herz gegen die Erde klopfen und fürchtet sich aufzustehen. Sie hört seine schweren dahinrasenden Tritte auf dem naßqualligen Wiesenboden, auf den knackenden Zauntrümmern. Auf allen Vieren rutscht er darüber hin und tastet und sucht und stöhnt. Seine Hände sind zerkratzt, sein Gesicht zerschunden. Das warme Blut läuft ihm an dem Nacken herunter. Er rutscht und liegt mit dem Kopf auf den Schienenschwellen. Der Boden erschüttert unter einem dröhnenden Geräusch. Stoßweise pulst es aus der Erde heraus – – – rrrrhupp! Rattatam!

Seine Arme zitterten und verlieren die Kraft. In wahnsinniger Wut stößt er gegen die Schienenschwellen. Das Gestein lockert sich und bröckelt herunter. Ein Stamm hat sich unter dem Schienenstrang eingebohrt, der Bahndamm ist beschädigt. Und in dem Dunkel glühen die grellen Lichter wie Basiliskenblicke. Rrrrhupp!! Rattatam!

Ein tiefgestimmtes, melancholisches Läuten zieht in wirren Klängen durch den stillen Abend. Der Zug läuft ins Wiesengelände ein. Rrrrhupp! Rattatam! Rattatam!

Da ist ihm, als müsse er schon gestorben sein und sein Geist sehe heller und über seine wirren Gedanken leuchte ein klarer, goldener Schimmer hin. Mit einem Male steht's klar in ihm, was er tun muß – das Armsünderkreuz!

Er tappt den Damm herunter zu dem Zaun hinüber. Mild rinnt das rote Licht über die Verwüstung hin. Behutsam hebt er das Kreuz empor und klettert den Bahndamm hinauf und weiter hinauf auf die Stämme. Seine Muskeln spannen sich, seine Arme sind zu toten Hölzern erstarrt.

Und doch hebt er's Armsünderkreuz! Das sanfte rote Ampellicht fließt in die Schatten des späten Abends. Da betet er laut und flehend:

»Guter Gott, straf' mich nicht so hart! Heilige Jungfrau der Kranken zu Malmedy, bitt' für mich armen Sünder!«

Seine Lippen pressen sich zusammen; sein Herz ist so still, als habe es schon den letzten Schlag getan – und näher schwanken die Lichter. Und schon dröhnt's und poltert's um ihn und rattert und zischt in das Wiesental, und ein Schnaufen, Pusten, Dampfen um ihn!

Rrrrhupp! Rattatam! Tschsch!

Er schließt die Augen und befiehlt seine letzte Stunde Gott.

Die Gebete, die an dem Armsünderkreuz hinaufgeklommen sind, mögen ihm zur Fürbitt' sein!

Das Totenlicht mög' ihm, dem Sohn, dem Einzigen zum Leben sein!

Seine Gedanken verwirren sich. Ein Schleifen und Knirschen umtost ihn, – ein heulender Signalruf durch die Lüfte, ein Ruck in den Eisengelenken. Die Bremse knirscht, der Dampf fluttert in zwei mächtigen Säulen heraus; und dann ein Anprall der Puffer gegen die Balken, dazwischen ein leises, feintöniges Splittern und Klinken, die Ampel verlöscht – über das Armsünderkreuz poltern die schweren Holzbalken; nebenan wider dem Zaun liegt bewußtlos ein Mann, den der einzige Reservemann im Zuge als seinen Vater erkennt. Der Zugführer hilft den Verletzten aufrichten und drückt dem jungen Reservisten die Hand.

»Wenn Ihr Vater wieder die Augen auftut, dann sagen sie ihm, wir hätten ihm alle etwas abzubitten. Nach dem, was die Jahre hindurch vorgefallen, solch' eine selbstlose Rettungstat! Die hätte keiner dem alten Starrkopf zugetraut.«

Der Giètsohn nickt nur stumm, faßt den bewußtlosen Mann unter die Arme, und – ehe ein anderer zugreifen kann – huscht eine weibliche Gestalt aus dem Menschenknäuel, der um die Unglücksstätte drängt, packt den Leblosen um die Kniee und folgt schweigend dem voranschreitenden Knecht, der die Stallaterne trägt.

»Durch die Hintertür 'rein!« ruft sie, als die Hofwand vor ihnen aufragt. Die helle jugendliche Stimme die den harten wallonischen Lauten einen angenehmen Klang gibt, schreckt ihn aus seinen Gedanken. Überrascht sieht er auf und nach ihr hinüber. Die flackernden Lichtsträhnen der Laterne spielen um ihren vorgeneigten Kopf, über das am Halse aufgeknöpfte Leibchen und die aufgekrempelten Ärmel, da bemerkt er auch, daß ihr die Last des regungslosen Mannes zu schwer wird und lädt ihn mit einem Ruck höher gegen seine Schulter. Das Mädchen steigt mit schwerem Atemholen die Steintreppe hinauf, und dann gehen sie wortlos durch die Küche in die Stube. Ihnen nach drängen einige Dorfweiber.

Anntschenne brodelt am Herd ihren Tee zurecht. Ihre Lippen bewegen sich leise, in der linken Hand hängt ihr der Rosenkranz, mit der Rechten hantiert sie an den Schüsseln und Töpfen. Die Hast und die Aufregung ringsum bringt sie nicht aus ihrer seelischen Gelassenheit. Der Wille Gottes steht ihr über dem eigenen. Sie räumt ihm alle Rechte ein über sich, über die ihr Nahestehenden und über die ganze Welt; und darum braut sie ihr Tränklein ohne Qual und Leid und Hoffen und Wünschen.

In der Stube drinnen plustert Gètrou die Bettkissen auf und wirft die Decken zurück, und dann gibt sie Alexand einen heimlichen Wink und deutet nach den Neugierigen, die an der Tür hereindrängen und laut und lärmend schwatzen.

»Es wäre gut, wenn jetzt keiner mehr hier blieb.«

Er wendet sich gegen die Türe und sagt ein paar ernste Worte. Da mucken sie auf, sehen den Heimgekommenen groß an, gehen und klappen die Türe zu. Dann tritt Alexand ans Fenster, wischt mit dem Rockärmel die angelaufene Scheibe ab und sieht hinaus in die Dunkelheit nach der Laterne, die über den Boden hinschwankt und lange Lichter zwischen die eilenden Schritte des Knechtes wirft. Den hat er zum Doktor ausgeschickt. Am Bette steht Gètrou und wendet sich halb nach ihm. Ihr umdüsterter Blick zeigt eine gewisse Neugierde, vielleicht auch eine unerklärliche Scheu. Er kommt von Berlin, da hat er vieles anders gesehen als in dem kleinen Wallonendorf. Ob er auch anders geworden ist – stolzer vielleicht und gar nicht mehr wie ein Bauer? Ihr Blick gleitet an seiner gegen das Fenster gelehnten Gestalt bis zum Nacken hinauf, der den Giètkopf trägt. Das kurzgeschnittene schwarze Haar grenzt in einer scharfen Linie von dem leicht angebräunten Nacken und der breiten Stirn ab.

Der rote Rand der schirmlosen Soldatenmütze spannt sich über den vornübergeneigten Kopf. Er muß sich bücken, um durch das niedere Fenster zu sehen. Das Wallonenhaus war zu niedrig für den Giètbauer geworden – ob auch nicht das Wallonenländchen zu enge für diesen da, der so wagemutig herkam und den Giètkopf und den Giètwillen hatte? Aber den Starrsinn des Bauern hatte der nicht. Er konnte lächeln, warm und gut, fast einfältig; aber es stand dem großen Manne wie ein Sonnenstrahl im Gesicht und milderte die strengen Linien. Und so hat er gelächelt, als er sie an dem Bauernbett sah, wie sie die Kissen aufplusterte und die Decken zurechtschob, so fürsorglich und selbstbewußt, als sei sie schon Bäuerin auf dem Hofe.

Ihr gibt's einen Stoß zum Herzen. Das wird sie dem da nie sagen können. Es erscheint ihr mit einem Male wie eine Schuld, die sie verbergen müsse, – das große Glück, Giètbäuerin zu werden!

Es ist so still in der Stube, daß man die Uhr in der Küche ticken hört. Die Luft wird ihr zum Atmen zu enge. Sie fühlt sich beklommen und möchte hinaus. Behutsam rückt sie den Stuhl, da richtet sich der junge Hofbauer vom Fenster auf und geht bis zur Stubenmitte, bleibt da stehen und dreht die kleine Hängelampe höher. Gètrou fühlt, wie er scharf zu ihr herschaut.

»Ich möcht' Dich 'mal bei hellem Licht sehen, ob Du's auch bist,« sagt er mit halbem Flüstern, »es ist schon eine Zeit her, seit wir uns gesprochen haben. Du hast Dich verändert, Gètrou.«

»Meinst nicht Du auch,« fragt sie dagegen, ohne sich nach ihm umzudrehen.

Er stellt den einen Fuß auf die Bank und stützt sich aufs Knie.

»Das kann schon sein, in Berlin lebt man anders als in Sourbrodt. Wie kam's denn, daß Du aus'm Venn 'rausgingst?«

Es ist eine harmlose Frage, aber sie antwortet gereizt:

»Mit dem Marnette tat's kein Gutes. Dem Meister Gièt verdank ich's, daß ich auf'm Hof bin.«

Er zieht überrascht die Augenbrauen herauf. Aus ihrer Stimme tönt etwas Eigentümliches heraus, als müsse sie einen Vorwurf niederschlagen.

»Warst auch zu schad' fürs Venn,« meint er fast beschwichtigend. »Du bist sehr anstellig, und daß jetzt die alte Anntschenne hier herumschleicht, kann mir auch schon recht sein. Die Daditte hat zwölf Jahre auf dem Hof geschimpft, jetzt kann sie ausruhen.«

Was er da sagt, dringt wie ein Singsang von wirren Tönen um sie. Das Blut sickert ihr in die Ohren hinein. Sie hört fast nicht mehr. Wie der selbstbewußt sprach! »Mir kann's recht sein!« Wollte der hier herrschen? Fing nun der Kampf erst an? Sie kann ihn nicht ansehen, ihr Blick ist feindselig. Jetzt steht er hinter ihr und sieht über ihre Schulter hinweg auf das Bett.

»Gibt er noch immer kein Lebenszeichen?« hört sie ihn dicht an ihrem Ohre fragen. In seine Stimme hinein zittert die Sorge. Da möchte sie im Atmen inne halten und immer auf ihr hören.

»Nein, man spürt kaum einen Herzschlag.«

Sie rückt unmerklich von ihm weg und stößt an seinen Arm, mit dem er sich auf die Bettstatt stützt. Nun steht sie unbeweglich und spürt seinen Atem wie fressendes Feuer und kann doch nicht von ihm los und ist wie im Bann. Unter dem Druck seiner Hand vertieft sich der Bettsack, und das Gesicht des Kranken fällt schwer vornüber. Ehe Alexand ihm helfend beispringen kann, faßt Gètrou den Kopf sachte zwischen ihre Hände und legt ihn auf das Kissen zurück.

»Ich bin Dir eine schlechte Hilfe,« sagt er, und ein flüchtiges Lächeln kräuselt sich um seine Augen, »seitdem mir der Finger lahm geschossen ist, bin ich ein Ungeschickter. Ich muß mich erst dran gewöhnen, daß ich da einen Überzähligen hab'.«

»Meinst, der wird Dir bei der Arbeit genierlich sein?«

»Bei so 'ner Arbeit wie jetzt gewiß, aber bei der Bauernarbeit, da stell' ich noch meinen Mann.«

Er hält ihr die linke Hand hin und zeigt ihr den lahmen Finger.

»Und gar kein Gefühl hast mehr drin?« fragt sie und betupft ihn.

Er zieht die Finger zusammen und hält so den ihrigen dazwischen.

»Da siehst, so tölpisch ist der Überzählige grad' nicht«, und dann scherzt er nicht mehr und wird ernst, fast verlegen. Ihre Finger häkeln sich ineinander. Sie möchte die ihrigen aus seinen lösen und kann's nicht und will's auch nicht und möchte doch wieder aus der Stube heraus sein, weit von ihm fort, um sich des Bangens und der Unruhe zu erwehren. So stehen sie und halten die Hände lose ineinander und sehen sich an, und jeder sucht nach dem befreienden Wort, das sie löst. Die Uhr tickt draußen. Ein leiser Abendwind streift die Hecken; sie rascheln – und vom Bett her ein kaum hörbares Plistern am Kopfsack. Die beiden fahren erschrocken herum. Mit geöffneten Augen starrt der Bauer sie an, erst den Sohn, den großen, der sich über ihn beugt, und dann das Mädchen neben ihm. Man sieht, er begreift nicht, seine Gedanken sind wirr. Er will die Hand heben, da fällt sie wieder kraftlos zurück.

»Vater,« sagt Alexand, und seine Stimme klingt rauh vor innerer Erregung. Der bewegt die blutleeren Lippen, lispelt etwas, schließt die Augen und senkt die Mundwinkel herab.

Alexand legt ihm die Hand auf die Stirne.

»Sie ist heiß, wir könnten ihm noch kalte Umschläge machen.«

Gètrou greift mit der Hand in den Eimer, der neben dem Bett steht.

»Das Wasser ist warm, ich muß zum Brunnen.«

»Zum Brunnen? Da laß mich hin.«

»Das ist nichts für die Mannsleut'.«

»Ich kenn' mich da aus. Der Knecht ist mit der Stallaterne fort. In der Dunkelheit kannst daneben treten.«

Er langt nach dem Eimer. Da tritt sie zurück und setzt sich ans Bett; ihre Kniee zittern.

»Anntschenne,« hört sie ihn in der Küche sagen, »er ist zum Bewußtsein gekommen; es wäre Zeit, daß Du mit Deinen Salben 'reingehst.«

Außer Fassung gebracht, drückt Gètrou den Kopf in die Kissen. Die Gedanken rasen ihr durchs Gehirn. Sie sieht um sich alles zertrümmert – ihre Pläne, ihre Zukunft. Er nimmt ihr die Macht, die sie sich bitter erkämpft, aus den Händen und weiß nicht einmal, daß er in größere Rechte eingreift. Ihr Blick sucht wirr das Krankengesicht, es ist ein hilfesuchender Blick, der sich unter heißen Tränen verdunkelt.

»Meister Gièt,« flüstert sie und drückt ihm leise auf die Schulter, als müsse er nun aufwachen und ihr beistehen und den Giètkopf, den störrigen, stolz und trotzig heben und das Wort sprechen, das ihr nicht über die Lippen will, das die Widersacher verstummen macht und ihr das geheime Bangen nimmt.

»Meister Gièt!« Sie legt ihm beide Hände auf die Stirne und ihre glühende Wange darauf; und dann ist es ihr ein verzweiflungsvoller Gedanke, daß an diesem Manne, von dem sie nicht einmal weiß, ob er dem Leben oder Sterben näher ist, ihre ganze Zukunft und ihr stürmisches Wünschen und Drängen hängt.

Sie hört nicht den leisen Schritt hinter sich. Alexand kommt auf den Fußspitzen herein und stellt den Eimer neben sie. Da fährt sie verwirrt auf und wischt mit dem Ärmel über ihre Augen. Ein tiefes Erschrockensein schattet über sein Gesicht.

»Ist's denn schlimmer mit ihm?« fragt er hastig.

»Mit ihm nicht!« stößt sie unüberlegt heraus, und dann ärgert sie sich und hastet an ihm vorüber in die Küche.

An der Schwelle trifft sie mit Anntschenne zusammen. Die kommt mit einem Essigkrug und einer Tüte Pfeffer, um dem Bauer die Füße einzureiben. Sie faßt das Mädchen beim Arm, zieht es zu ihrem verrunzelten Gesicht herunter und zischelt ihm zu:

»Wenn der Meister wieder zu sich kommt, muß er seinen Tee haben. Gelt, lieb' Mädchen, Du siehst 'mal wegen dem Wasser nach. Wenn's kocht, schütt' es auf die Dornschlehblüten.«

Sie schlurft auf das Bett zu. Der Krug berührt fast den Boden. Dann wendet sich der verschrumpfte, verbogene Körper zu dem jungen Wallonen. Gutmütig klopft sie ihm ans Knie.

»Die Mannsleut' kann ich hier jetzt nicht gebrauchen. Geh' 'naus, Alexand, und sieh' Dir 'mal das Ochsengeschirr an. Der Knecht hat's flicken wollen, nun kommt der wahrscheinlich spät zurück. – Gètrou!« sie schwenkt den kleinen Körper herum, »wenn Ihr für unsern armen, kleinen Meister den Rosenkranz beten wollt, auf der Herdbank liegt meiner. Aber gelt, lieb' Seelchen, Du gibst acht, 's ist 'n Medaille von Lourdes dran.«

Und nun stellt sie mit einem lauten mitleidigen Seufzer den Krug an das Bett, sagt: »Mein Jesus, Barmherzigkeit!« und schlägt das Fußende der Bettdecke zurück.

Alexand geht durch die Küche und sucht nach dem Geschirr. Gètrou sieht es im Torfwinkel, dreht sich um und weist ihn dahin.

Sie reicht ihm nur bis zur Schulter, aber sie hebt den Kopf nicht, wenn sie mit ihm spricht. Sie scheut und fürchtet ihn, als sei er gekommen, um sie totunglücklich zu machen.

Er sieht ernst und bedrückt aus. Über seiner Nasenwurzel vertieft sich eine Falte. Es drängt ihn, sich auszusprechen, sich heimisch zu fühlen. Seine Heimkehr wurde zur Schreckenstat, und nun fand er alles verändert, auch sie, die Gètrou. Die war drei Jahre älter geworden, – es hätten schon zehn sein können.

Nun setzt er sich auf die Herdmauer und starrt in das brodelnde Wasser hinein. Sie tut dasselbe, und es wird eine Weile lautlos still. Von weitem hört man Stimmenlärm an der Unfallstätte. Da hebt Alexand den Kopf.

»Ich müßt doch 'mal nach dem Bahndamm 'rüber, was da alles zu Schanden gegangen ist.«

»Nix ist zu Schanden. Die Bahn ist schon vorüber nach Malmedy zu. Sie hat'n Höllenspektakel gemacht und mich wundert nur, daß Dein Vater nicht drüber aufgewacht ist. Ich mein', im Tod müßt' er sich noch umdrehen, wenn nun doch –«

Da hält sie inne und sieht erschrocken von ihm weg.

»Was meinst denn weiter, Gètrou?« fragt er und legt sich zu ihr herüber. Als sie wegrücken will, hält er sie am Arm. »Ist denn 'was nicht zum Rechten hie? Was Du mir heute abend nicht sagst, hör' ich durch die andern morgen. Das weißt.«

»Die andern?« fragt sie gereizt dagegen, »ja, frag' nur die andern, Alexand, dann machst Du ihnen 'n rechte Freud'. Frag' nix, Alexand.« Sie holt ihm die Hand vom Herde weg und schüttelt sie, als müsse er sie so besser hören, »gelt, Du fragst nix, Alexand? Mach' 'n die Freud' nicht. Sie bersten hier herum vor Neid und Übelwollen.«

Ehrliche Verwunderung steht in seinem Gesichte.

»Wem sollen sie denn übel wollen? Die Giètbauern sind ihrer Lebtag immer den graden Weg gegangen.«

Das sagt er um einen Laut schärfer, aber es trifft sie wie ein Peitschenschlag.

»Es wird einer schon schief angesehen, wenn – er der Krebsenmattestochter 'was zu gut kommen läßt.«

»Geh', Mädchen, sei nicht närrisch.«

»Ja, gelt, närrisch ist's, aber man könnt' über dem Närrischsein wirklich verrückt werden.«

»Ich find' mich hier nicht mehr wieder; 's ist der Hof von früher nicht mehr, alle seid Ihr anders geworden, und Dich kenn' ich schon gar nicht mehr. Sag', Mädchen, was ist's denn nur – das Neue, das Fremde, das in Euch gekommen ist?«

»Du hast ja selbst beinahe den Hals darüber gebrochen. Die unglückselige Bahn ist's. Derzeit ist kein Auskommen mehr auf'm Hof.«

»Dauert das noch immer bei ihm?«

Er zeigt mit dem Daumen über die Schulter zurück nach der Stube.

»Hast denn gemeint, daß so 'was 'mal aufhört?«

»Ja, das hab' ich gemeint.«

»Das sag' Deinem Vater nicht.«

»Ist's denn 'n Schand'?«

»Ungefähr so 'was.«

Seine Augen heften sich an ihr Gesicht.

»Jetzt möcht ich wissen, warum der Vater sein Leben drangesetzt hat, um den Zug aufzuhalten.«

»Wie kannst denn so fragen? Du warst doch drin.«

»Und sonst?«

»Was weiß ich sonst?«

»Hätt' er's nicht getan?«

»Frag' 'n doch selbst.«

»Vorerst Dich, Gètrou.«

»Ich weiß nix.«

Da hebt er sich auf, rutscht auf dem Knie auf der Herdbank weiter und dicht vor sie hin.

»Jetzt lüg' mich noch einmal an! Die Angst steht Dir im Gesicht. Du hast 'was gesehen. Du weißt alles.«

Sie stemmt die Arme gegen ihn, ihr ganzer Körper bebt und zittert. Ihr heißer Atem fällt ihm ins Gesicht.

»Ich hab' nix gesehen. Schlag' Dir's aus dem Kopf. Bist doch nicht von Berlin gekommen, um Deinen Vater schlecht zu machen.«

»Wer hat die Balken gelegt, Gètrou?«

»Frag' im Dorf herum, ob's Dir einer sagt. Da sind Schikaneder genug, die der Bahn 'n Bein stellen wollten. Von Deinem Vater brauchst nicht gleich das Schlimmste anzunehmen. Der kann's gewußt haben, und nachher hat er für Dich sein Leben drangesetzt. So, und nun sag' ich nichts mehr.«

Er sieht sie noch immer an.

»Wenns wahr gewesen wär' –« Er hält inne.

» Bin, und was hätt'st angefangen?«

»Heut' abend noch wär' ich zurückgegangen.«

»Nach Berlin?«

»Wahrscheinlich, aber wiedergekommen wär' ich nicht mehr.«

Da wagt sie kaum zu atmen. Ein Gedanke leuchtet in ihr auf, der sie blendet. Wenn sie ihm die Wahrheit sagt, dann geht er – für immer! Und dann ist der Hof frei für sie, und das Bangen weicht aus ihr, das tiefe, innerliche, bohrende Bangen vor ihm! Sie öffnet den Mund und schöpft den halben Atemzug zu dem Geständnis, das ihn hinaustreibt. Er wartet.

»Willst Du noch 'was?«

»Nein!«

Der Atem fließt in langem Zuge heraus. Jetzt hat sie sich ihr Geschick aufgebürdet. Sie sieht ihn an und haßt ihn, aber gehen darf er nicht. Das kochende Wasser schöpft sie heraus und fragt sich, wie man einen Menschen fürchten und hassen kann und doch nicht will, daß er geht.

Ein feiner Teegeruch duftet in der Küche. Das Ochsengeschirr klinkt leise in seiner hastig schaffenden Hand. In der Stube das tiefe Gebetsseufzen der Alten, und fern auf der Dorfstraße ein klappernder Hufschlag und das Rollen eines Wägelchens. Alexand wirft das Geschirr zurück in den Torfwinkel.

» Vola (hier)! der Doktor! Mach' ihm 'n Kaffee zurecht.«

Der Knecht stößt die Tür auf. Eine laute, joviale Stimme hinter ihm, ein schmaler, rotbäckiger Herr händereibend auf der Schwelle.

»No?« Da steht er kerzengerade und streckt die Hand aus. Alexand legt die Fingerspitzen hinein und lächelt verlegen.

»Gu'n Nacht, Herr Doktor.«

»No! 'n stattlicher Kerl bist Du geworden. Alexander der Große.« Er gurgelt ein behagliches Lachen heraus. »Man will Dir absolut den Garaus machen, scheint's. In Berlin den Eheringfinger zerschossen und hier bald alle Knochen gebrochen. No, Dein Alter hat's brav gemacht. Wer hätte das nun dem Starrkopf zugetraut? Freilich, wäre sein großer Gamin (Junge) nicht im Bähnchen gewesen – wer weiß, hm, hm, – wer weiß, ob der alte Dickkopf, das alte Borstenhaar, nicht Gottes Wasser über Gottes Land laufen gelassen hätte. Man wird ihm jedenfalls eine Rettungsmedaille oder dergleichen überreichen. Vielleicht kitzelt ihn das an der Eitelkeitsmuskel, und der Giètkopf läßt sich weiter keine grauen Haare mehr wachsen.« Er lacht und gurgelt, als müsse er ersticken. »No! Aber Teufelskerle seid Ihr doch, Ihr da in Eurem Loch! Erst wollt Ihr die Bahn nicht, und dann macht Ihr den Robertvillern den Bahnhof abspenstig, und dann wollt Ihr wieder nicht, setzt Euch zum Krebsenmattes, räsonniert – hm!« Mit zwei raschen Schritten steht er auf der Schwelle zur Stube. »Teufelskerle, ja! ja! – No? Was fällt denn dem Alten ein, regt und bewegt sich nicht? Wart', Dich wollen wir kitzeln!« Er streift die Manschetten aus und wirft den Rock ab. Beides lädt er Alexand auf den ungeschickten Arm und macht sich an die Untersuchung des Verletzten. Gètrou kommt herein, sieht den Alexand mit den Doktorsachen inmitten der Stube und entlastet ihn. Antschenne schleicht mit der dampfenden Teetasse neben den Arzt und rührt mit liebevoller Sorgfalt darin.

»Was ist das?« fragt der, tippt mit dem Finger hinein und versucht mit der Zunge. »Pf! Pfui! Groß- oder Urgroßmutter? Hinaus mit dem niederträchtigen Gebräu!«

»Herr Doktor, 's ist für'n Blutreinigung – Dornschlehblüte, wissen Sie. Lassen Sie mich mal machen. Er hat's Fieber.«

Da schreit er sie an:

»Einen doppelten Rippenbruch hat er und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung und noch etwas auf Lateinisch, was Ihr doch nicht versteht!«

»Oho!« prallt sie zurück, 'n doppelter? Nun, wie Gott will!«


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