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David Holm richtete sich auf den Ellbogen auf und sah sich um. Alle Laternen waren gelöscht; aber das Wetter hatte sich aufgehellt, und ein klarer Halbmond stand hell leuchtend am Himmel. David Holm wurde es nicht schwer, sich zu vergewissern, daß er noch in der Kirchenanlage auf dem von dem schwarzen Geäste der Linden überschatteten, verdorrten Rasenplatz lag.
Ohne sich einen Augenblick zu bedenken, versuchte er sich aufzurichten. Er fühlte sich zwar außerordentlich matt; sein Körper war von der Kälte ganz erstarrt, und der Kopf schwindelte ihm, aber es gelang ihm doch, auf die Beine zu kommen. Er machte einige schwankende Schritte die Allee entlang, mußte aber gleich wieder anhalten und sich gegen einen Baum lehnen, weil er am Umsinken war.
›Ich vermag es nicht,‹ dachte er. ›Es ist ganz unmöglich für mich, noch zu rechter Zeit hinzukommen.‹
Nicht einen einzigen Augenblick hatte er das Gefühl, als sei das, was er eben durchgemacht hatte, nicht volle Wirklichkeit. Er hatte einen vollkommen klaren Eindruck von den Ereignissen der Nacht.
›Der Fuhrmann steht in meiner Wohnung, ich muß mich beeilen,‹ dachte er.
Er verließ den stützenden Baum und machte wieder ein paar Schritte; er war jedoch so jammervoll schwach, daß er in die Knie sank.
Da, in seiner grenzenlosen Verlassenheit berührte etwas seine Stirne. Er wußte nicht, war es eine Hand oder ein Lippenpaar, oder vielleicht nur der Zipfel eines schleierartigen Gewandes, aber es genügte, sein ganzes Wesen mit seliger Freude zu durchrieseln.
»Sie ist zu mir zurückgekehrt!« jubelte er. »Sie ist mir wieder nahe. Sie beschützt mich!«
Hingerissen streckt er die Arme empor, vor Entzücken, daß die Liebe der Geliebten ihn umgab, vor Entzücken, daß die Liebe zu der Geliebten sein Herz mit ihrer Holdseligkeit auch jetzt noch, wo er wieder ins Irdische zurückgekehrt war, erfüllte.
Jetzt ertönte hinter ihm ein Schritt durch die stille Nacht. Eine kleine Gestalt, den Kopf von einem der großen Hüte der Heilsarmee verborgen, kam dahergeschritten.
»Schwester Maria,« sagte er, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Schwester Maria, helfen Sie mir!«
Die Rettungsschwester mußte David Holms Stimme erkannt haben, denn ihr Gesicht umdüsterte sich, und sie ging weiter, ohne sich um ihn zu kümmern.
»Schwester Maria, ich bin nicht betrunken, sondern krank. Helfen Sie mir, daß ich nach Hause kommen kann!«
Sie glaubte ihm wohl kaum, aber ohne ein Wort der Erwiderung trat sie zu ihm, half ihm vom Boden auf und stützte ihn beim Weitergehen.
Nun war er also doch noch einmal auf dem Weg nach Hause. Aber wie langsam es ging! Daheim konnte ja jetzt schon alles vorbei sein. Keuchend blieb er stehen.
»Schwester Maria, es wäre eine außerordentlich große Hilfe, wenn Sie vorausgehen würden und meiner Frau sagten – – –«
»Soll ich vorausgehen und ihr sagen, daß Sie wie gewöhnlich betrunken nach Hause kommen? Das ist ihr wohl nichts Ungewöhnliches.«
David Holm preßte die Lippen zusammen und ging schweigend weiter, indem er sich aufs äußerste anstrengte, rascher vorwärts zu kommen; aber sein von der Kälte erstarrter Körper wollte ihm nicht gehorchen.
Schon nach einer kleinen Weile machte er einen neuen Versuch, sie zum Vorausgehen zu überreden.
»Während ich dort auf dem Rasen lag, hatte ich einen Traum,« sagte er. »Ich habe Schwester Edith sterben sehen. Ich habe Schwester Edith auf ihrem Sterbebette gesehen – – – Und ich habe auch die Meinigen daheim gesehen. Meine Frau ist heute nacht nicht bei Sinnen. Ich sage Ihnen, Schwester Maria, wenn Sie nicht vorauseilen, geschieht ein Unglück.«
Seine Worte kamen nur schwach und abgerissen über seine Lippen. Die Rettungsschwester erwiderte nichts. Sie war noch immer der Ansicht, es mit einem Betrunkenen zu tun zu haben.
Aber sie half ihm treulich weiter. Er merkte wohl, welche Überwindung es sie kostete, dem zu helfen, den sie für das Werkzeug hielt, das Schwester Ediths Tod verursacht hatte.
Während David Holm weiter schwankte, wurde er von einer neuen Angst ergriffen. Wie sollte er es anstellen, daß seine Frau, die sich vor ihm fürchtete, ihm glaubte, wenn nicht einmal Schwester Maria –
Endlich standen sie vor dem Hoftor, wo er wohnte, und die Rettungsschwester half ihm beim Öffnen.
»Nun können Sie vollends allein gehen, Holm,« sagte sie, indem sie sich zum Gehen wendete.
»Ach, es wäre sehr gut von Ihnen, Schwester Maria, wenn Sie meine Frau rufen würden, damit sie herunterkommt und mir hinauf hilft.«
Die Schwester zuckte die Schultern. »Wissen Sie, Holm, in einer anderen Nacht würde ich Sie vielleicht hinaufgeleitet haben, aber heute habe ich keine Lust dazu. Nun muß es genug sein.«
Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen, und sie eilte davon.
Als er sich die steile Treppe hinaufmühte, war ihm zumute, als sei es nun jedenfalls zu spät; und außerdem, wie könnte er seine Frau dazu bringen, ihm zu glauben?
Während er vor Schwäche und Mutlosigkeit fast auf der Treppe umsank, fühlte er aufs neue die leichte liebkosende Berührung an der Stirne.
›Sie ist mir nahe,‹ dachte er. ›Sie wacht über mich!‹
Und er fand die Kraft, sich bis zur obersten Stufe hinaufzuschleppen.
Als er die Tür öffnete, stand seine Frau dicht davor, wie wenn sie herbeigeeilt wäre, um sie zuzuriegeln, damit er nicht hereinkommen könnte. Als sie sah, daß sie es nicht mehr hatte verhindern können, zog sie sich nach dem Herd zurück und blieb, diesem den Rücken zugewendet, davor stehen, ganz als hätte sie dort etwas, was sie verbergen und wegtun möchte. Ihr Gesicht hatte noch immer den starren Ausdruck wie vorher, und David Holm sagte sich rasch: »Sie hat es nicht getan. Ich bin noch zu rechter Zeit gekommen.«
Mit einem raschen Blick auf die Kinder versicherte er sich, daß es tatsächlich so war.
»Sie schlafen noch. Sie hat es nicht getan. Ich bin noch zu rechter Zeit gekommen,« sagte er noch einmal zu sich selbst.
Er streckte die Hand nach der Seite aus, wo Georg vor seinem Fortgehen gestanden hatte, und da vermeinte er zu fühlen, daß eine andere Hand die seinige faßte und drückte.
»Ich danke dir,« sagte er leise, aber seine Stimme zitterte, und ein Nebel legte sich ihm plötzlich vor die Augen.
Er schwankte ins Zimmer hinein und sank auf einen Stuhl. Er sah, daß seine Frau alle seine Bewegungen beobachtete, wie sie es getan haben würde, wenn ein wildes Tier in die Stube hereingekommen wäre.
›Sie meint, ich sei betrunken, auch sie meint es,‹ dachte er.
Aufs neue überfiel ihn große Mutlosigkeit, weil er so grenzenlos müde war und nicht ausruhen durfte. Im nächsten Zimmer stand allerdings ein Bett, und er sehnte sich unaussprechlich, sich dort ausstrecken zu dürfen und sich nicht noch länger aufrecht halten zu müssen; aber er wagte es nicht, dort hineinzugehen. Sobald er den Rücken kehrte, würde seine Frau das tun, was sie im Sinn hatte; er mußte also hier bleiben und sie bewachen.
»Schwester Edith ist tot, und ich bin noch bei ihr gewesen,« versuchte er zu sagen. »Ich hab' ihr versprochen, gut gegen dich und die Kinder zu sein. Morgen darfst du sie ins Asyl schicken.«
»Warum lügst du?« fragte seine Frau. »Gustavsson ist hier gewesen und hat Hauptmännin Andersson mitgeteilt, daß Schwester Edith gestorben ist, und sie sagte, du seiest nicht mehr gekommen.«
David sank auf dem Stuhl zusammen, und zu seiner eigenen großen Verwunderung fing er an zu weinen. Die Erkenntnis der Nutzlosigkeit seiner Rückkehr in diese Welt der langsamen Gedanken und der kurzsichtigen Augen drückte ihn nieder. Die lähmende Überzeugung, daß er nie über die Mauern hinauskommen könnte, die seine eigenen Taten um ihn aufgerichtet hatten, die Sehnsucht, die grenzenlose Sehnsucht, nun sogleich mit der Seele vereint zu werden, die ihn umschwebte und doch unerreichbar für ihn war, das, das brachte seine Tränen zum Fließen.
Während er so noch heftig weinte und schluchzte, hörte er die Stimme seiner Frau.
»Er weint?« sagte sie im Tone allerhöchster Verwunderung vor sich hin. Und nach einer Weile sagte sie noch einmal: »Er weint!«
Sie trat vom Herd weg und kam mit einer gewissen Angst näher zu ihm heran.
»Weinst du, David?« fragte sie.
Er hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihr auf.
»Ich will mich bessern,« sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, so daß man fast hätte meinen können, er sei zornig. »Ich will ein guter Mensch werden, aber niemand will es mir glauben. Soll ich da nicht weinen?«
»Ach, David, das ist sehr schwer zu glauben,« versetzt sie, noch unschlüssig. »Aber jetzt, wo du weinst, glaube ich dir. Jetzt glaube ich dir.«
Und wie um ihm einen Beweis zu geben, daß sie ihm glaube, setzte sie sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an seine Knie.
So saß sie einen Augenblick ganz still da; aber bald begann auch sie zu schluchzen.
Er fuhr zusammen.
»Weinst du jetzt auch?« fragte er.
»Ich kann nicht anders. Ich kann nicht glücklich werden, ehe ich das ganze Leid, das mich erfüllt, weggeweint habe.«
In diesem Augenblick fühlte David Holm jene Berührung noch einmal wie einen leichten frischen Hauch, der über seine Stirne strich. Seine Tränen versiegten und verwandelten sich in ein nach innen gerichtetes, geheimnisvolles Lächeln.
Er hatte das erste vollendet, das ihm durch die Ereignisse der Nacht vorgeschrieben worden war. Nun mußte er noch dem Jungen helfen, den sein Bruder so lieb gehabt hatte. Nun mußte er noch solchen Menschen, wie Schwester Maria, beweisen, daß Schwester Edith nicht unrecht gehabt hatte, als sie ihm ihre Liebe geschenkt. Nun mußte er noch sein eigenes Heim aus dem Verfall wieder heraufbringen. Nun mußte er noch den Menschen den Gruß des Fuhrmanns überbringen. Dann, wenn dies alles getan war, dann, dann durfte er zu der Geliebten, der Ersehnten gehen!
Er saß da und fühlte sich unaussprechlich alt. Er war geduldig und ergeben geworden, so wie die Alten es zu sein pflegen. Er wagte es nicht mehr, etwas zu hoffen oder zu wünschen, er faltete nur seine Hände und flüsterte den Neujahrswunsch des Fuhrmanns:
»Gott, großer Gott, laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird.«