Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Die Heimkehr des Feldherrn

Wer von Henna aus südwärts die Straße nach Dalanatien geht, findet unweit der Stadt auf freiem Felde, versteckt hinter Föhren und Ginsterbüschen, an einem Kreuzweg eine alte Kapelle, die aus Feldsteinen erbaut und mit einem rötlichen Mörtel verschmiert ist. Ihr Turm steht offen, er ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von einem Blitzschlag getroffen worden; seit dieser Zeit hat niemand mehr Hand an das Bauwerk gelegt. Im Innern der Kapelle steht ein kostbarer Sarg aus getriebenem Silber, in dem ein alter Feldmarschall zur letzten Ruhe gebettet ist. Keiner von den Leuten aus Henna geht vorüber, ohne in der Kühle des schmucklosen Raumes einen Augenblick auszuruhen und des toten Heerführers in einer stillen Andacht zu gedenken. Einmal im Jahre erklingt die kleine Glocke in dem geborstenen Turme, sie tönt weit über das Feld und ruft Männer und Frauen aus der Stadt herbei; dann feiern sie den Todestag des alten Helden, der einst, vor vielen hundert Jahren, an dem Brunnen bei der Kapelle, wie die Sage erzählt, seinen letzten Trunk getan.

Damals befand sich die Stadt in einer großen Gefahr. Fremde Soldaten waren bis an die Tore vorgedrungen, 234 da stellten sich die Leute von Henna zur Schlacht und fochten tapfer, bis aus den Reihen der Feinde Männer hervortraten, die eiserne und gläserne Kugeln in den Händen trugen. Diese entzündeten sie an langen Lunten, die aus ihnen hervorschauten, und warfen sie unter die Soldaten von Henna, wo sie zischend und fauchend eine Zeitlang liegen blieben und dann mit großem Getöse zerplatzten. Die Leute aus der Stadt glaubten, ihre Feinde seien mit dem Teufel im Bunde, sie kannten diese Waffe noch nicht und wollten sich zur Flucht wenden. Der Feldmarschall aber nahm eine Kugel, die eben zu seinen Füßen niedergefallen war, und warf sie geschwind unter die Feinde zurück, wo sie sogleich nach dem Auftreffen in Stücke zerbarst. Als die Soldaten dies sahen, fanden sie ihren Mut wieder, sie taten, was der Feldherr ihnen gezeigt hatte; bald entbrannte ein Wettstreit, wer es am besten konnte, und ehe es Abend geworden war, hatten sie den Sieg errungen. Der Feldmarschall aber war kurz nach seiner mutigen Tat gefallen. Die Soldaten brachten ihn in einem Tuche, das sie zwischen zwei Pferde gebunden hatten, in die Stadt zurück. Der Anblick des Toten überschattete die Freude, und es wurde sehr still in Henna. Der kunstreichste Schmied verfertigte einen Sarg aus getriebenem Silber, darin betteten die Leute aus dem Volke den tapferen Mann zur letzten Ruhe und trugen ihn hinaus in die Kapelle am Kreuzweg, nahe dem Brunnen, an welchem der Feldherr zum letzten Male vor der Schlacht getrunken und sein Geschick in die Hände des allmächtigen Gottes gelegt hatte.

An Sommertagen, wenn auf der Straße zwischen Henna und Dalanatien ein Kommen und Gehen ist, herrscht auf dem Platz vor der Kirche bunter Trubel. Die Eseltreiber, die vorüberziehen, binden ihre Grautiere an die Äste der Kiefern und treten, die Mütze in der Hand, durch die 235 niedrige Tür, Fuhrleute lassen ihre Wagen stehen und die Obstweiber ihre Körbe; sie alle suchen Ruhe und Andacht in dem kühlen, schattigen Raum, es ist so still darin zu sitzen und tut wohl, den silbernen Sarg in seiner schweigenden Heiligkeit zu betrachten. Durch den geborstenen Turm blickt der Himmel herein, die Leute falten ihre Hände und haben Tränen in den Augen, sie ahnen, ohne den Toten wäre ihr Leben nicht, und eine heiße Woge steigt in ihnen auf, sie beugen die Knie und sagen sich voller Stolz: So wissen wir, das Volk von Henna, unseren Dank abzustatten!

Vor Jahren nun lebte in Henna ein junger Mann namens Claudius, der mit seiner Frau ein ärmliches Häuschen nahe dem südlichen Tore bewohnte. Seines Zeichens war er Arzt, doch daran dachte niemand mehr in der Stadt; er trieb ein seltsames Wesen, fing sich allerhand Tiere draußen vor den Toren, jagte seltenen Kräutern nach und stellte mit alledem mannigfache Versuche an, um dem Leben und seinen tausendfältigen Formen auf den Grund zu blicken. Am Anfang mochte noch hie und da ein Kranker den Weg in sein Haus gefunden haben, bald aber hieß es, dies sei dem Claudius nur ein willkommener Anlaß, um neue Heiltränke von kräftiger Wirkung zu erproben. Da blieben die Leute aus und am Ende vergaßen sie überhaupt, daß er ein Arzt war, so viel auch immer wieder über ihn gesprochen, geklagt und gelacht wurde. Einst hatte er, um zu erfahren, was ein Mensch ertragen könne, die Finger in ein Becken voll glühender Kohlen gehalten und sie so lange darin gelassen, bis der Schmerz ihm die Sinne raubte. Die Hand war arg verbrannt, und es dauerte lange, bis sie heilen wollte. Später hatte er auf die Tauben am Dome geschossen; es hieß, ihr Tod bringe Unheil über die Stadt, er hatte es nicht glauben und sich der Wahrheit versichern wollen. Claudius war zu einer 236 Geldstrafe verurteilt worden, er hatte alles hingeben müssen, was er besaß. Nur das Häuschen am Tore war ihm belassen worden und der notwendige Hausrat, daß seine Frau kein Elend erleiden müsse, so hatte es die Kaiserin gewollt. Claudius war in den Wochen darauf wie ein Fieberkranker durch die Stadt gelaufen und hatte nach jedem Unglück geforscht, endlich aber war er zu der Gewißheit gekommen, daß seine Tat das Leben in Henna nicht verändert hatte; da gab er sich zufrieden. Er ging hin und brachte den Tauben auf dem Domplatz einen Korb voll Körner, aus welchem er sie den ganzen Vormittag über fütterte. Die Leute aus Henna erinnerten sich noch gut jener Stunden, als der Arzt, einem jungen und übermütigen Soldführer aus vergangenen Tagen gleich, inmitten der gurrenden und hin und her laufenden Tauben stand, den Korb vor seinen Füßen und mit einer Hand nach allen Seiten Körner streuend. Er lachte dazu, und die schwarzen Haare waren ihm ins Gesicht gefallen. Danach war er fortgegangen, ein Schatten hatte sich über seine Züge gelegt, er senkte den Kopf und warf den leeren Korb achtlos zur Seite.

Es wanderte eine alte Legende durch die Stadt, die erzählte, der tote Feldherr läge nicht, wie das Volk es glaube, in seinem Sarge in der Kirche am Kreuzweg, sondern weit draußen unter den Gräsern des Schlachtfeldes; dort hätten die Soldaten ihn liegen gelassen und barmherzige Frauen zur Nachtzeit begraben, als man im Dunkel weder Freund noch Feind an den Gesichtern erkennen konnte. Sie hätten ihn, unwissend, wer er sei, mit zahllosen anderen irgendwo in ein kühles, sandiges Grab gebettet und Erde darüber getan. Am Morgen habe niemand mehr die Stelle gekannt; da schlafe er nun und gräme sich über die Undankbarkeit der Soldaten von Henna, die nicht schnell genug zum Siegesschmaus in die 237 Stadt gelangen konnten. Bald aber, so erzählt die alte Legende, hätten die Leute von Henna ihr Unrecht eingesehen und, um der Schande zu entgehen, seien sie übereingekommen, in der Kapelle am Brunnen einen kostbaren Sarg aufzustellen und so zu tun, als ruhte der Feldherr in jenem kühlen Gehäuse. Darüber endlich sei die Wirklichkeit in Vergessenheit geraten und später nur noch als Legende in den Köpfen der alten Weiber, die sie im Winter am Ofen erzählten und auf solche Weise als ein unheimliches, raunendes Gegenstück zu dem Glauben des Volkes am Leben erhielten.

Claudius war diese Sage schon in seiner Kindheit zu Ohren gekommen, eine Muhme hatte sie ihm am Herdfeuer erzählt und Äpfel dazu gebraten. Das Märchen war ihm aber wieder aus dem Sinn geraten, bis er es nun in seinem dreißigsten Jahre zum zweitenmal erfuhr. Bei seinen Streifzügen geriet er einmal auf das Feld bei der Kapelle und hörte dort von einem alten Weibe, das Hopfen stahl, die Legende von dem Heerführer. Er griff sie gierig auf, und während die Frau noch schwatzte, reifte der Drang in ihm, der Erzählung auf den Grund zu gehen. Er ließ die Alte stehen, die ihren Sack auf den Rücken nahm und fortging, trat, aller Schauer voll, durch das Portal, sah den Sarg mattleuchtend im Dämmerlicht und streckte die Hand danach aus. Eine Kühle wehte von dem silbernen Schrein, Claudius schreckte zurück, und zwischen Bangnis und Begierde erwuchs der Plan in ihm, wie er zu Werke gehen mußte.

Er suchte sich zwei Gesellen, welche ihm helfen sollten, der eine war ein Schuhmacher, den die Leute von Henna um seines roten Schopfes willen den Feuerkopf nannten, der andere ein Handelsmann namens Weinpfropf. Feuerkopf war ein unruhiges Männlein, er trug Liebesbriefe umher und war bei allen Taten zu finden, die ihm 238 abenteuerlich dünkten. Von Weinpfropf aber hieß es, er ließe sich nichts entgehen, wovon er sich eine Belustigung verspreche, sei zu jedem Spaße aufgelegt und wisse allen Dingen ein heiteres Gesicht abzugewinnen.

Man erzählte, er habe einst die Flecken einer feuchten Mauer, aus deren Umrissen das Volk von Henna seit unvordenklichen Zeiten Bilder des Jammers erkennen wollte, mit einem Kreidestift nachgezeichnet, und flugs habe ein Narr von der Wand geblickt, mit bauschigen Hosen und einer Schellenkappe. Weinpfropf aber sei daneben gestanden und habe sich vor Freude nicht zu lassen gewußt, in die Hände geschlagen und dazu gelacht, bis ein Wachmann ihn nach Hause wies.

Am letzten Abend, bevor sie das Vorhaben ausführen wollten, trafen sich die Drei in dem Häuslein ihres Anführers. Claudius stand aufrecht am Tisch und sprach mit funkelnden Augen. Weinpfropf und Feuerkopf saßen auf ihren Stühlen, rauchten und tranken aus irdenen Krügen. – Ihr Freunde, rief Claudius, was ist wohl köstlicher und gibt dem Herzen eine tiefere Befriedigung, als nach emsigem Forschen die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: So ist es, so und nicht anders? Den Mann, der also zu sprechen vermag, ficht nichts mehr an, er besitzt die Gewißheit, und niemand kann sie ihm rauben, sie ist sein sicherstes Gut, welches niemals verloren geht. Deshalb nimmt er auch alle Gefahren auf sich, es zu erringen, und scheut keine Mühe, er gleicht dem Soldaten, ist furchtlos und treu, und wo andere ihre Augen schließen, da hält er sie offen und sammelt Stück für Stück jene Kenntnis, die notwendig ist, um einst die Welt, als wäre sie aus Glas, bis in den innersten Kern zu durchschauen. Für seinen Eifer und seine Kühnheit gebührt ihm das höchste Lob, darauf laßt uns trinken, meine Freunde, und unseren Bund noch einmal durch 239 Handschlag erneuern. Trinkt auf die Kühnheit, Freunde! Sie setzten die Krüge an die Lippen und leerten sie hastig, denn es war spät und den beiden Gehilfen bei Claudius' Worten etwas bang geworden, eine fremde Welt wehte sie daraus an, die sie nicht begriffen und mit der sie nichts zu tun haben wollten. Indessen schwand ihr Argwohn wieder, als der Arzt ihnen freundlich die Hände gab und ihnen und sich alles Glück wünschte. Er sei gespannt, wie es ausgehe, erklärte der Schuhmacher, und Weinpfropf schnalzte mit der Zunge und rief entzückt: Was für Augen werden die Leute machen!

Die Drei gingen auseinander. Im Morgengrauen wollten sie sich vor der Kirche am Kreuzweg unter einer Föhre treffen. Dies sei, erklärte Feuerkopf, die beste Stunde für ein solches Vorhaben, die Nachtschwärmer lägen endlich in den Betten, und die Frühaufsteher kämpften noch mit dem Schlafe. So könne man ungestört an die Arbeit gehen. Der Schuhmacher versprach, das Werkzeug mitzubringen. Claudius war es zufrieden, es kümmerte ihn wenig, wie alles vor sich gehen sollte.

Als die Freunde das Haus verlassen hatten, trat Cornelia, die junge Frau des Claudius, in das Zimmer und öffnete wortlos die Fenster, um den Rauch hinauszulassen. Es wurde bald kühl in der Stube. Cornelia trat an Claudius heran und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Ich weiß, sagte sie, was ihr vorhabt, und möchte dich bitten, davon abzulassen. Du darfst dem Toten nicht seine Ruhe rauben, ob er nun in dem Sarge oder draußen unter dem Grase des Schlachtfeldes schläft. Du darfst auch das Volk nicht an seine Schande erinnern. Hast du das Recht, so viele Menschen zu betrüben, um deine Neugierde zu stillen?

Claudius schüttelte ihre Hände von seinen Schultern und sagte trotzig: Es ist nicht gut, etwas anzufangen und auf 240 halbem Wege umzukehren. Ich würde mich schämen mein Leben lang. – Er setzte sich auf den Tisch und stützte das Kinn in die Hände.

Cornelia schloß die Fenster, sie zündete ein Licht an; dann sagte sie leise: Wenn du keine Achtung vor dem Toten hast und dir das Volk von Henna nicht leid tut, dann, Claudius, denke doch an mich und wisse, daß es nicht schön ist, einem Manne zu gehören, der eine solche Tat beging.

Sie stand dicht vor ihm, ihre großen, dunklen Augen blickten ihn an, die Lippen waren wie im Durst geöffnet. Auf ihren Wangen lag ein matter, feuchter Schimmer. Eine Flechte des schwarzen Haares hatte sich gelöst und war in die Stirn gefallen. Claudius hob die Arme, doch dann war es ihm, als müsse er alles und sich selbst vergessen, wenn er seinem Wunsche nachgab. Deshalb wandte er sich ab und sagte mit einer mühsamen, harten Stimme: Du mußt mich nicht versuchen wollen, Cornelia, das ist nicht recht von dir, ich würde es bitter bereuen.

Er hörte, wie seine Frau fortging und die Tür hinter sich schloß; nun war er allein im Zimmer und blickte auf das ruhelose Flämmchen über dem Kerzenstumpf, er meinte, es müsse sein Atem sein, der es hin und her tanzen ließ. Nach einer Weile stand er auf und löschte das Licht. Doch es wurde nicht dunkel, auf der Straße zogen Leute mit Laternen vorüber, deren Schein wanderte langsam durch das Zimmer, und wenn ein Licht vorbeigegangen war, so kam bald das nächste und warf seine Helligkeit über Boden und Wände. Claudius barg das Gesicht in den Händen. Um Mitternacht erlosch das Leben auf der Gasse, nun begann die Stille zu sprechen. Claudius meinte, die Schritte Cornelias im Hause zu vernehmen, und plötzlich sah er ein Bild vor Augen, das er vor 241 Jahren einmal erblickt hatte: Cornelia stand im Garten und rief und flehte, und da Claudius hinzutrat, bat sie, er möchte ihren Finken suchen, den sie sehr lieb hatte und der ihr entkommen war. Sie selbst konnte nichts mehr sehen, ihre Augen waren von Tränen blind. Claudius erkannte den Finken wohl, er saß nicht weit im Geäst und plusterte sein Gefieder. Da hörte der Mann eine Stimme an seinem Ohr, dies sei die Stunde, auf die er lang gewartet, er freute sich und war zu gleicher Zeit von einer tiefen Bangigkeit erfüllt. Ich will ihn dir zeigen, rief er aus, doch du sollst mich dafür auf den Grund deiner Seele blicken lassen! Und er nahm einen Stein in die Hand und warf nach dem Finken, der vom Baum herabfiel und halbtot am Boden liegen blieb. Cornelia ging hin und hob den Vogel auf, sie sah von dem Tierlein in ihren Händen auf Claudius und von diesem wieder auf den sterbenden Finken. Ihr leidet beide Schmerzen, sprach sie leise, und ich kann euch beiden nicht helfen. Dann riß sie dem Vogel, wie man es bei Tauben tut, mit zwei Fingern den Kopf ab, ihrem Mann aber blickte sie mit einem stillen Lächeln ins Gesicht. Da war es ihm, als hätten Baum und Strauch und alle Blumen ein fremdartiges Wesen angenommen, als sähen sie nicht anders als Cornelia mit stummem Blick auf seine Gestalt, er fürchtete sich vor ihnen und ihrer geheimnisvollen Übermacht und verließ den Garten, so schnell er konnte.

Als der Morgen nahte, wurde es kalt im Zimmer. Claudius fuhr aus seinen Träumen empor, da merkte er, daß die Zeit schon beinahe überschritten war. Er zündete Licht an, aß ein Stück Brot und warf den Mantel über; die Gesichter der Nacht hielten ihn noch gefangen, deshalb brauchte er zu allem eine lange Zeit. Als er das Haus verlassen wollte, trat ihm an der Tür Cornelia entgegen, ihr Gesicht war weiß, und sie zitterte in der Kühle. Tue 242 es nicht, flehte sie. Ich habe einen Traum gehabt, es wird übel ausgehen, bleibe hier, Claudius! Und sie wollte nach ihm greifen, um ihn festzuhalten. Der Mann aber wies ihren Arm zurück und ging, ohne ein Wort zu erwidern, an ihr vorüber zur Tür hinaus.

Draußen war es noch ganz dunkel und sehr still, die Stadt lag im Schlafe. Claudius wanderte durch die schweigenden Straßen und endlich zum Tor hinaus. Auf dem Felde war es schon ein wenig heller, ein Fuchs lief über den Weg und verschwand zwischen den Stauden, in der Ferne lag die Kapelle am Kreuzweg, die Föhren umgaben sie wie große, schlafende Tiere, über dem Dache stand der Mond, der gab ein schwaches, rotes Laternenlicht, das still und kaum spürbar auf den Feldern lag. Claudius eilte und war, als er den Kreuzweg erreichte, trotz der strengen Kühle, die über das Land zog, in Schweiß gebadet.

Die beiden andern warteten auf ihn. Wir müssen uns dazuhalten, sagte der Feuerkopf, die Sterne werden blaß und ein heller Streif zeigt sich im Osten. Er sah unzufrieden aus, als sei ihm etwas nicht nach Wunsch gegangen. Darauf ging er die Stufen empor und machte sich an der Tür zu schaffen, sie war alt und besaß ihre Tücken, in seinem Eifer riß der Feuerkopf sich an dem rostigen Schloß und steckte sogleich den Daumen in den Mund, wie man es tut, um das Blut aufzufangen. Laß das, sagte Claudius mit einer ernsten Miene, es muß frei herausbluten, zeige mir doch die Wunde, ich will sie sehen! Der Schuhmacher hielt ihm den Daumen hin. Claudius preßte ihn zwischen den Fingern wie eine reife Zitrone, er hatte eine rechte Freude daran. Eine prachtvolle Wunde, flüsterte er, sie wird sich entzünden, und du wirst das Blut darin pochen hören, merke nur auf, es ist wie der Schlag des Herzens. Der Feuerkopf stöhnte, und Weinpfropf 243 wurde ungeduldig. Der Morgen kommt, sagte er mit einer heiseren Stimme, es schlägt fünf aus der Stadt, wir müssen anfangen, wenn es nicht zu spät werden soll. Claudius fuhr auf wie aus einem Traume. Der Sarg, flüsterte er, dort glänzt er im ersten trüben Tageslicht, und wir stehen hier und schwatzen über nichtige Dinge. Er zog den Rock aus und legte ihn über eine Kirchbank. Der Schuhmacher tat verstohlen den Daumen wieder in den Mund. Macht schnell, flüsterte Weinpfropf, er zitterte im Frühwind und seine Zähne schlugen aufeinander. Die drei begaben sich ans Werk. Voller Hast gingen sie, beim Schein einer Kerze, dem Sarg zuleibe, der sein Geheimnis bewahren wollte. Claudius' Augen leuchteten wie im Fieber. Die Freunde brachen den Deckel mit einer Stange auf und hoben ihn empor. Dann steckten sie alle drei gleichzeitig ihre Köpfe hinein. Der Sarg war leer.

Ich habe es gewußt, sagte Claudius, ich habe es gewußt! Er maß die Höhlung mit seinen Händen aus und befühlte das kalte Silber, als wolle er sich auf diese Weise der Wirklichkeit versichern. Der Sarg ist leer, sagte er endlich. Was soll nun werden?

Die drei blickten sich an. Niemand wußte etwas zu sagen, sie standen betreten vor dem offenen Schrein und kauten an den Lippen. Endlich meinte Weinpfropf, sie könnten sich niedersetzen auf eine Bank und ausruhen, es sei ein hartes Stück Arbeit gewesen, und sie hätten die Ruhe wohl verdient. Als sie nun nebeneinander auf der Bank hockten und sich umsahen, wollte es ihnen scheinen, als sei die Kirche anders geworden, wie sie sie gar nicht kannten. Claudius entdeckte einen Riß in der Wand und wunderte sich, daß er ihn früher niemals bemerkt hatte, er sah Spinnweben unter der Decke und meinte, einen feuchten Geruch zu spüren. Man müßte die Kerzen anzünden, flüsterte er beklommen. Dann sieht alles gleich 244 freundlicher aus, sie verbreiten ein warmes Licht, in dem sich's wohl sein läßt . . . Er wollte aufstehen, da fiel ihm ein, daß es keinen Sinn hatte; dies war ein gewöhnliches Kirchlein aus altem, grauen Stein, da brannten so früh am Morgen keine Kerzen, und die Mauern froren wie Gräser und Bäume. Claudius blickte sich nach seinen Gesellen um, die saßen reglos auf ihren Bänken, und es sah so aus, als ob sie mit offenen Augen schliefen. Wir müssen fort, sagte Claudius, der Morgen ist gekommen, die Wand über dem Altar zeigt schon einen roten Schein, wahrhaftig, die Fenster erglühen, wir müssen fort, ehe es zu spät ist. Die Gedanken verwirrten sich in seinem Kopf. Der Sarg soll offen bleiben, sagte er noch, die Leute von Henna sollen ihn so sehen, wie er ist, leer, gleich der Truhe eines Bettlers.

Da tat sich die Tür auf, und herein traten, im Licht des frühen Tages, sechs Obstweiber, die mit ihren Körben auf dem Wege zum Wochenmarkt in Henna waren. Wie an jedem Morgen, wenn sie an dem Kirchlein vorüberkamen, wollten sie auf seinen Bänken ausruhen, den schönen, silbernen Sarg betrachten und den Toten darin auf ihre Weise ehren.

Als sie den Schrein geöffnet und die drei Männer erschrocken von ihren Sitzen auffahren sahen, wollten sie zuerst, von Entsetzen gepackt, aus der Kirche fliehen, dann aber faßten sie sich und kehrten zurück, bis auf eine, die sich nicht mehr herein traute. Schämt ihr euch nicht, riefen die Frauen, den toten Feldherrn in seinem Sarge zu bestehlen? Denn es ging die Sage, daß der Heerführer einen kostbaren Ring am Finger trage.

Als Claudius diese Worte hörte, fand er sein Lachen wieder, er sagte den Weibern, sie sollten sich auf die Bänke setzen, und als sie dann artig im Kirchenstuhl hockten, denn sie scheuten sich vor seinem Blick, sprach er mit 245 einer großen Gebärde: Ihr Frauen! Nicht eine Übeltat, wie ihr vermutet, ist hier begangen worden. Habt ihr niemals gehört, daß der Feldherr gar nicht in diesem Sarge, sondern draußen irgendwo auf dem Schlachtfeld ruhen soll, wo der Wind über ihn hinstreicht und der Tau zu seinen Häupten in den Gräsern glänzt? Blickt nur hinein, der Sarg ist leer, und niemals hat ein Mensch darin seine müden Gebeine zur Ruhe gelegt!

Die Obstweiber erhoben sich und traten heran, sie sahen mit scheuen Blicken in die dunkle Höhlung, das Silber des Schreins aber wagten sie nicht zu berühren. So ist es also wahr, begann eine von ihnen, was wir niemals haben glauben wollen, und der Feldherr liegt draußen, wo keiner es weiß, der Sarg ist leer, und wir zählen zu den Nachkommen eines undankbaren Volkes, das einen seiner besten Helden auf der Walstatt liegen ließ? Wehe uns, wie sollen wir diesen Jammer ertragen?

Sprich nicht so töricht, entgegnete Claudius; doch die Frau ließ sich auf eine Bank fallen, legte den Kopf in die Arme und begann zu weinen. Die andern Weiber stimmten ein, und bald hallte das Kirchlein wider von dem Jammern und dem Wehklagen der fünf Obstfrauen, die auf dem Wege zum Wochenmarkt in Henna waren.

Wo sollen wir nun, klagten sie, unsere müden Füße ausruhen, wenn wir in der Frühe zur Stadt wandern? Nirgends war es so heimelig, aber das ist jetzt alles zerstört, wenn auch die Bänke noch stehen. Wem sollen wir die Grüße des Dorfes bringen, und warum haben wir am Sonntag hier gekniet, wenn der Sarg leer ist und niemand darin liegt? Der Tote schläft draußen in der dunklen Erde und grollt uns nun schon seit vielen hundert Jahren. Wie sollen wir uns helfen? Ach, wir Armen, wir Armen! Die Augen des Weinpfropf füllten sich mit Tränen. Ich hatte geglaubt, es sei ein Spaß, klagte er. Nun ist es mir 246 selbst wie diesen Weibern zumute. Er sank in einen Kirchenstuhl nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Feuerkopf blickte finster zu Boden. Wir hätten es nicht tun sollen, murmelte er. Claudius stand mit unbewegtem Gesicht vor dem leeren Sarg. Er hatte die Hände vor der Brust gekreuzt und sagte laut, er bereue es nicht und, um sich und den andern Mut zu machen, lud er die Freunde in ein Wirtshaus ein, dort könnten sie ihre rühmliche Tat gebührend feiern. Er wolle lieber, erklärte Weinpfropf, in der Kapelle bleiben und mit den Obstweibern weinen. Es sei ein schweres Leid, einem Volke anzugehören, das seinen Feldherrn auf dem Schlachtfeld liegen ließ, um nur ja keine Zeit für das Fest des Sieges zu verlieren. Es sei ein großer Schmerz, die Kirche am Kreuzweg ihres Glanzes beraubt und ihrer Heiligkeit entkleidet zu sehen. Wie oft habe er als Kind in ihrem Kerzenschimmer eine unbegreifliche Weihe verspürt! Endlich, klagte der Weinpfropf, sei es ein bitteres Weh, den Feldherrn einsam und verlassen im Sande des Schlachtfeldes zu wissen, wo niemand ihm Dank sagen könne, er müsse denn über die ganze weite Ebene rufen, und da würde der Wind die Worte fortnehmen. So ist es, sagte der Schuhmacher und nickte mit dem Kopf. Ihr seid Toren, rief Claudius zornig und wollte an ihnen vorüber zur Tür gehen.

Da wurde das Portal von außen aufgestoßen und herein drangen, von einem schnauzbärtigen Korporal befehligt, sechs Soldaten mit Säbel und Gewehr, welche sich ohne viel Federlesens über die Spießgesellen hermachten und sie mit festen Stricken banden. Das Obstweib aber, das vorhin aus der Kirche davongelaufen war und die Kriegsleute herbeigerufen hatte, begleitete deren Hantierung mit lautem Schimpfen, sie sollten die Lumpen nur nicht zu sanft anfassen, diese hätten kein Mitleid verdient, 247 wenn sie so aller Scham und Schande vergessen könnten und den ehrwürdigen Helden in seinem Grabe zu berauben imstande seien. Indessen geriet sie immer näher an den offenen Sarg und schwieg endlich erschrocken, denn sie hatte wahrgenommen, daß gar niemand darinnen lag und wohl zu keiner Zeit gelegen hatte. Auch die Soldaten stutzten, als sie in den Schrein blickten, und Claudius, der solcherart seine Fassung wiedererrungen, fragte mit einem boshaften Ton in der Stimme, wie man denn einen Toten berauben könne, der, wer weiß an welchem Orte, irgendwo draußen im Sande des Schlachtfeldes ruhe. Der Korporal nahm eine Spitze seines Bartes zwischen die Zähne, dies war eine Frage, die nicht allsogleich zu entscheiden war, dann aber schlug er die Hände ineinander und erklärte, so oder so, auf jeden Fall hätten die Drei eine Kirchenschändung verübt, und er müsse sie also der Gerechtigkeit zuführen. Sie sollten aber frei und ohne Fesseln mitgehen.

Es wurde eine trübselige Wanderung. Die Gefangenen ließen ihre Köpfe hängen und gestanden sich im Stillen ein, daß die Worte des Korporals ihre Richtigkeit besaßen. Wie man es auch ansah: Sie waren in eine Kirche eingedrungen und hatten unbedenklich den Sarg erbrochen. Würde man ihnen selbst ihren Eifer für die Wahrheit zugute halten, so blieb es doch ein Vergehen, davon war nichts abzuhandeln. Die Drei erblickten ihre Tat jetzt in einem neuen Licht und erschraken, wie sie sich darin ausnahm, schritten mühselig und betroffen durch die morgenhellen Straßen, die sich allmählich mit allerlei Volk zu füllen begannen, und fragten sich voller Sorge, was die nächsten Stunden ihnen bringen würden. Überdies gewann die Sonne eine immer stärkere Macht und setzte den Gefangenen heftig zu. Claudius allein hatte, als er die Blicke der Leute auf sich ruhen 248 fühlte, den Kopf wieder erhoben und gab sich das Ansehen eines geschlagenen Heerführers.

Die drei Übeltäter wurden vor einen Hauptmann geführt, der ihre Namen aufnahm und sich von dem Korporal Bericht erstatten ließ. Er meinte aber, dies sei kein Fall für ihn und wies die Gefangenen weiter vor die Obrigkeit der Stadt. So gelangten sie endlich zum Präfekten, der eine goldene Kette um den Hals trug und inmitten eines Haufens von Papier an seinem Tisch saß. Die Zeit war unterdes schon in den Vormittag fortgeschritten, und die Drei fühlten sich recht erschöpft von allem Hin und Her. Der Präfekt jedoch nahm ihre Sache sogleich in seine geübten Hände und erklärte, einerseits hätten sie eine Übeltat begangen, die sie unfehlbar vor den Richter bringen müßte, zum andern jedoch sei ihnen kein eigentlich böser Wille vorzuwerfen, und also sei es Sache der Kaiserin, ihnen Gnade zu erweisen, wenn die hohe Frau sie dessen für würdig befinden sollte, um ihnen auf solche Weise von vornherein die Schande des Gerichts zu ersparen. So traten die Unglücklichen ihren letzten und bangsten Weg an. Es dauerte auch nicht lange, da ließ die Kaiserin sie vor sich rufen. Sie hatte schon von dem Unheil in der Kirche gehört und wollte die Männer, die es angerichtet, von Angesicht sehen.

Sieh da, Claudius, rief sie, als die Gefangenen hereingeführt wurden. Seid ihr wiederum dabei? Ich hatte es mir gedacht, denn niemand in der Stadt ist wie ihr so bedenkenlos, wenn es gilt, der Wahrheit auf den Grund zu blicken. Sie sprach diese Worte nicht unfreundlich, dann aber verdüsterte sich das Gesicht der hohen Frau, sie blickte alle drei der Reihe nach an und sagte: Wenn ich euch die Tat verzeihe, so geschieht es nur, weil mit dem Jammer, den ihr über das Volk gebracht, ihr euch selbst getroffen habt. Denn ihr gehört zu diesem Volke 249 und wie all die Männer und Frauen, die bald trübselig vor dem offenen Sarge stehen werden, seid ihr um ein kostbares Besitztum ärmer geworden. – Dem Weinpfropf stiegen die Tränen in die Augen, und Feuerkopf blickte finster zu Boden. Claudius hatte die Lippen aufeinander gebissen und betrachtete die Kaiserin aus halbgeschlossenen Lidern. Die hohe Frau fuhr fort: Sollte ich mich jedoch täuschen und ihr den Jammer des Volkes nicht im eigenen Herzen spüren, sondern im Gegenteil fröhlich und guter Dinge sein, so sehe ich nicht ein, weshalb ich euch Gericht und Strafe ersparen dürfte, und ihr könntet alsdann von hier aus sogleich in ein Gefängnis gehen; denn vor dem Gesetz seid ihr schuldig, wie ihr wißt. – Nun mochte Weinpfropf nicht länger an sich halten, er brach in Tränen aus, und der Hunger, den er verspürte, sowie die Müdigkeit hatten ihr Teil daran. Feuerkopf sank stumm vor der Kaiserin auf den Boden nieder und hoffte nur, daß dies genug sei, denn er fand keine Tränen und erst recht keine Worte. Claudius hingegen verbarg seinen Kummer, doch es gelang ihm nicht gut, der Schmerz war zu deutlich in sein Gesicht geschrieben. Die Kaiserin ließ den Feuerkopf aufstehen und Weinpfropf seine Tränen trocknen, dann wandte sie sich an Claudius und fragte, ob etwa das Bild, das sie soeben von denen entworfen, die der Jammer von ungezählten Männern und Frauen unberührt lasse, auf ihn zutreffe? Es jammere ihn nur das eine, erwiderte dieser trotzig, daß niemand den Segen erkennen wolle, welcher in seiner Tat verborgen liege und, wie ein vergrabener Schatz, nur aufgesucht und gehoben werden müsse. Die Kaiserin blickte ihn ernsthaft an, dann aber schüttelte sie den Kopf und entgegnete, sie erkenne den Segen nicht, der in seiner Tat ruhen solle, er könne sie auch nicht glauben machen, daß er selbst ihn 250 gewahre, da er doch den Schmerz des Volkes genugsam erfahren habe. Darauf wußte Claudius nichts zu erwidern, er beharrte aber auf seiner Meinung und wollte den Schmerz, der ihn ergriffen, durchaus nicht eingestehen, so sehr hatte er sich verrannt und war seiner selbst ungewiß, bis die Kaiserin mit einer traurigen Stimme sagte, dann könne sie ihm nicht helfen und müsse es geschehen lassen, daß die Richter das Urteil über ihn sprächen. Da sie sah, wie diese Worte ihn gleich einem Pfeil in die Brust trafen, fügte sie hinzu, sie werde die Augen offen halten und wenn sie ein Zeichen entdeckte, das den verborgenen Segen in seiner Tat offenbare, dann solle er gehen dürfen, wohin er wolle, und es genug sein mit seiner Gefangenschaft. Danach schickte die hohe Frau den Schuhmacher und den Handelsmann nach Hause, Claudius aber in ein enges Gemach, dessen einziges Fenster mit einem kräftigen rostbedeckten Gitter versehen war.

Am Mittag wußten alle Leute in der Stadt, was geschehen war. Sie zogen in großen Scharen hinaus in die Kirche am Kreuzweg, die Tür stand weit offen, jeder konnte in den Sarg blicken, einigen stiegen die Tränen in die Augen, andere zuckten mit den Schultern. Es war ein heißer Tag, die Leute wurden bald müde und legten sich unter den Föhren nieder, setzten sich auf die Stufen und ließen den Kopf auf die Brust sinken. Es sah aus wie ein trauriges Heerlager. Die Kinder besorgten das Trinken, indem sie Krüge aus den nächsten Häusern holten, sie am Brunnen füllten und umherreichten. Bald wurde auch Essen herbeigeschafft, niemand ging fort, es war wie bei einem großen Unglück, wo sie alle beisammen bleiben, Reiche und Arme, und kein Unterschied mehr zwischen ihnen zu erkennen ist.

Es war nun seltsam, daß niemand nach den Urhebern des Unglücks fragte. Zwar hieß es, drei Männer aus der Stadt 251 hätten ihre Neugier nicht bezähmen können und den Sarg im Morgengrauen erbrochen, doch keiner wußte deren Namen zu nennen, und wenn erzählt wurde, die Übeltäter seien von Soldaten fortgeschafft worden, so sagte das den Leuten von Henna nicht viel, sie hätten es auch hingenommen, wenn diese frei unter ihnen umhergelaufen wären, das Unheil traf ja alle ohne Unterschied, und die Sünder hatten sich nur ins eigene Fleisch geschnitten. So haben es die Leute von Henna niemals erfahren, wer ihnen die Schande aufgezeigt hatte, denn später, als alles wieder in seine ordentliche Bahn zurückgefunden, trachteten sie, wie es ihre Art ist, die schlimmen Stunden zu vergessen, was ihnen denn auch bald gelang.

Cornelia war im Hause geblieben. Sie wußte, daß Claudius nicht kommen würde, trotzdem hatte sie für ihn gekocht und auch Teller und Trinkgeschirr aufgetragen. Sie tat dies alles mit einer unsinnigen Hast, ihr Gesicht war weiß, und die Lippen bebten, sie vermochte nicht mehr zu denken, was notwendig war, und tat, was sie in die Hände nahm, viele Male. Am Mittag trat der Feuerkopf bei ihr ein, sie glaubte schon, Claudius folgte ihm auf dem Fuße, der Schuhmacher aber blieb in der Tür stehen und berichtete, was aus den Freunden geworden war. Cornelia sah ihn mit brennenden Augen an. Da schickte uns, schloß der Schuhmacher seufzend seine Erzählung, die hohe Frau in unsere Häuser fort, den Claudius aber ließ sie in ein Gefängnis bringen. Er soll zu euch kommen dürfen, wenn unsere Tat seinen Segen zeigt. Doch wie mag dies geschehen? Cornelia ließ einen Teller, den sie in den Händen trug, zu Boden fallen, Feuerkopf bückte sich und las die Scherben auf, als er aber die Frau ansah, da weinte sie nicht, wie er es geglaubt hatte, sondern lächelte, starr wie eine Maske, und fragte noch einmal, ihr Claudius habe also seine Tat auch vor der Kaiserin 252 nicht verleugnet? Feuerkopf senkte den Blick. Es sei nicht einer wie der andere, entgegnete er. Jeden habe der Herrgott aus einem anderen Holze geschnitzt und ihm sei die Tat nun einmal zu Herzen gegangen. Welches Ende aber werde es mit Claudius nehmen?

Um diese Stunde saß Claudius auf einem Schemel in seinem Gefängnis und zählte die Flecken an der Wand, bald tanzten sie vor seinen Augen und mischten sich mit den Bildern, die er gesehen hatte, er hörte die Stimme der Kaiserin, die wie die seiner Mutter war, dazwischen erklang das Weinen der Obstweiber und die Rufe der Soldaten, ihre Stiefel hallten über die Steine der Straße. Wie aus einer weiten Ferne vernahm er Worte, die aus dem Munde seiner Frau kamen, er wollte sie deutlicher hören, sprang auf und taumelte gegen die Mauer. Da verwandelte sich alles vor seinem fieberheißen Blick. Er sah, wie die Leute von Henna die Kirche am Kreuzweg abrissen und die Steine forttrugen, er wollte ihnen wehren, aber es waren zu viele, sie alle sagten, es habe keinen Sinn mehr, legten eiserne Stangen an das Gemäuer und brachen es auf. Die Steine wurden auf Wagen verladen. Das gibt warme Hütten für die Armen, erklärten die Leute, und ihre Augen waren dabei trüb und kalt.

Cornelia hatte das Essen auf den Tisch gebracht, hatte Fleisch geschnitten und Wein eingegossen, nun saß sie und wartete, die Hände im Schoß gefaltet, auf Claudius. Sie wollte ihn auf diese Art herbeirufen und wußte doch, daß alles unsinnig war. Er wird böse sein, dachte sie, daß ich den Wein angebrochen habe, es war die letzte Flasche, aber heute ist ein Festtag, er kommt zurück, da soll es reich auf dem Tische aussehen, er hat seine Tat auch vor der Kaiserin nicht verleugnet! Die Stunden vergingen, es wurde Nachmittag, das Fleisch war kalt und der Wein warm geworden. Cornelia sank in einen leichten 253 Schlummer, in den die Hitze sie wiegte, verschiedene Bilder zogen vor ihren Augen vorüber, dann sah sie plötzlich Claudius, sein Gesicht war fremd, wie sie es niemals gesehen hatte, er öffnete den Mund und sprach: Ich weiß keinen Weg mehr, hilf mir und tue es auf deine Art! Als sie erwachte, war alle Furcht aus ihrem Herzen verschwunden, eine seltsame Gewißheit kam über sie, als sei ihr im Traume ein Pfad gezeigt worden, den sie wiederfinden müßte. Es war später Nachmittag. Cornelia trat hinaus auf die Straße und begab sich zur Kirche am Kreuzweg.

Die Glut des Tages hatte sich noch nicht gelegt, sie war dichter geworden und zugleich ärmer, von Staub und Dunst gesättigt. Die Leute saßen am Wege vor ihren Häusern und taten nichts, sie blickten vor sich hin und hoben nur dann und wann die Hand, um eine Fliege fortzujagen. Es müßte ein Wind kommen, dachte Cornelia, ein milder, kühler Lufthauch, wie er oftmals am Abend über die Stadt weht. Sie war von einer seltsamen, hoffnungsfreudigen Eile getragen, auf ihren halbgeöffneten Lippen stand ein Lächeln. Als sie auf das Feld hinaus kam, bückte sie sich und nahm eine Kornblume auf, die steckte sie in den Mund, daß das blaue Blütenköpflein heraussah und im Gehen lustig hin und her tanzte. Alle sahen sich nach ihr um. Merkte sie nichts von dem Jammer des Volkes oder spottete sie gar seiner? Cornelia trug ein dunkelgelbes Sommerkleid, wie man es auf einem Feste anzieht, sie hatte eine Kette um den Hals gelegt und eine Nelke ins Haar gesteckt. Nahm sie nicht wahr, wie das Leben sich verwandelt hatte? Die Eseltreiber gingen ohne ihre Tiere über die Straße, sie ließen die Geschäfte ruhen, keiner mochte heute etwas anrühren, die Fuhrleute blieben aus, die Obstweiber saßen am Wege und konnten nicht fassen, daß die Kapelle nur ein 254 gewöhnliches Kirchlein war, ja, weniger als das, es hat all seinen Sinn verloren. In den Zweigen der Föhren hatte sich ein Schwarm von Krähen eingenistet, die Leute wiesen mit Fingern darauf, das bedeutete Unglück; die Vögel saßen dicht und schläfrig im Geäst. Cornelia hob ihre Augen empor und sagte: Eure Zeit ist um, ihr werdet bald wieder fort müssen, es ist mir, als habe die Tat des Claudius ihr Ende noch nicht gefunden und müsse doch noch zum Segen werden.

Vor der Kirche hatte sich das Bild seit Mittag nicht geändert. Männer und Frauen saßen auf den Treppenstufen oder lagerten unter den Bäumen, Kinder spielten im Sande und balgten sich um eine Tüte von Äpfeln, die ein Mann ihnen hingeworfen hatte; dieser saß in Hemdsärmeln, den Rock über den Knien, auf einem Stein und sah traurig vor sich hin. Ein anderer rief nach Wasser, das ein Junge ihm brachte, davon trank er ein paar Schlucke und nagte an einem Kanten trockenen Brotes, er wußte gar nicht, was er tat, überhaupt begriff niemand, was um ihn vorging, alles war öd und leer, wozu saßen sie dort und warteten?

Cornelia trat in den Kirchenraum, hier war es kühl und ruhig, niemand hielt sich darin auf, der Raum hatte seine Stille und Ferne bewahrt, der Frau erschien es, als wolle er sich bereithalten, das Verlorene wieder zu empfangen, ja es war ihr, als habe er es niemals eingebüßt, die Kerzen brannten nicht, doch sie konnten angezündet werden, dann war alles, wie es früher gewesen, ja noch wunderbarer, da Claudius die Wahrheit gebracht.

Sie ging hinaus und blieb in der Türe stehen. Dort saßen die Leute von Henna und konnten über ihren Schmerz nicht hinweg. Weshalb trauern sie, dachte Cornelia. Alles muß genommen werden, wie es ist. Die Stadt liegt in ihrer Schönheit unter dem Himmel wie an jedem Tage. 255 Sie hatte den Kopf erhoben, war sie in einem Traume befangen oder sahen ihre Augen, was die der andern nicht erblickten? Die Heiterkeit, die aus ihrem Antlitz gesprochen hatte, öffnete sich wie der Kelch einer Blüte. Cornelia stieg die Stufen hinab, und alle, an denen sie vorüberging, hoben ihre Augen. Die Frau tat nichts, was den Leuten auffallen mußte, sie zeigte nur ihre Freude, wo alle die Köpfe hängen ließen; es war, als wehte ein sanfter und kühler Wind von dem Meer herüber, und auch die, die in Schlaf gesunken waren, rieben sich die Augen und blickten auf. Was ist, fragten sie erstaunt, warum regt sich alles und beginnt zu flüstern, was ist geschehen, daß die Leute die Köpfe heben, ist es Abend geworden und wollen sie aufbrechen? Cornelia stand auf der Mitte des Platzes, es war, als überlegte sie etwas, das gut bedacht sein wollte. Nach einer Weile nahm sie ein Tuch von den Schultern und band es um den Kopf, verknüpfte es sorgfältig unter dem Kinn und rückte daran, ob es auch festsäße, dann schürzte sie ihr Kleid, wie es die Frauen in Henna tun, wenn sie einen weiten Weg vor sich haben. Dies alles schien ihr wie in einem Traume zu geschehen, als wüßte sie selbst nicht recht, was sie unternahm. Hier und dort stand einer von den Leuten aus Henna auf, reckte die Glieder und klopfte den Staub vom Gewand. Cornelia trat an den Rand des Brunnens und band ihre Schuhbänder fest. Männer und Frauen kamen heran und bildeten einen Kreis um sie. Cornelia ließ das Wasser in ihre Hände laufen und trank daraus, dann wandte sie sich um, und als sie sah, daß alle um sie versammelt waren, lächelte sie und bewegte die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte. Ihre Augen blickten umher, da sah sie einen Jungen, der ihr gegenüber mit einem Krug auf dem Brunnenrand saß, den berührte sie leis an der Schulter und sagte, er solle seinen Krug 256 nehmen und mit ihr kommen. Sie legte ihre Hand auf das Gefäß, der Junge aber nahm es ihr fort und wollte es selbst tragen, seine Augen glänzten, er stellte sich neben sie und fragte, zu den Leuten gewandt, sie kämen doch alle mit, er müsse nicht allein gehen, alle würden ihnen folgen? Ein großes Stimmengewirr wurde laut, jeder rüstete sich für einen weiten Weg, und wußte doch niemand, wohin die Reise ging. Die Leute von Henna drängten um den Brunnen, sie wollten noch einmal trinken und Schlaf und Gram aus den Augen waschen. Es gab ein munteres Treiben, als habe ein jeder auf diese Stunde gewartet, nun war sie da, und es wurde leicht um aller Herzen. Cornelia war unterdes in aller Stille aufgebrochen, nun sahen die Leute aus dem Volke sie weit zwischen den Feldern wandern und hatten Eile, die Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Hinter ihr ging der Junge mit seinem Krug, er blickte sich immerfort um, und erst, als er Männer und Frauen in hellen Scharen herankommen sah, war er es zufrieden und hielt den Blick fortan auf Cornelia gerichtet. Die Leute von Henna schwatzten, ihre Herzen waren voller Erwartung. Dann aber erkannten sie, daß der Weg auf das Schlachtfeld hinausführte, und sie wurden stiller mit jedem Schritt. Am Rande der Walstatt verstummten alle Worte, Männer und Frauen ordneten sich zu einem Zuge und wanderten schweigend einher, mit pochenden Herzen und glänzenden Augen. Ein kühler Wind kam auf. Cornelia ging ihnen vorauf und wies den Weg, sie schritt ruhig dahin und bewegte leise die Hände, sie ging allein und immer weiter voraus, über den endlosen, sandigen Weg. Es war ein weites, ödes Feld, mit hohem Gras und vereinzelten Birken bestanden, die Gräser neigten sich unter der Hand des Windes, gleich Wellen wehte es heller und dunkler über die Fläche, die Birkenblätter flüsterten und 257 zitterten, es ging ein Raunen durch die Ebene, und eine rote Sonne lag darüber wie der letzte Widerschein eines lang erloschenen Feuers. Sprachen nicht die Steine unter den Füßen, klangen nicht Rufe rüber und hinüber, hörte man nicht den dumpfen Schlag von Pferdehufen und in den Gräsern das Singen der Sterbenden? Cornelia war stehengeblieben. Im Schatten dreier Birken beugte sie sich zum Boden hinab. Hier, flüsterte sie, hier wollen wir das Gras von der Erde nehmen und unseren Krug füllen. Es ist Zeit, daß der Feldherr heimkehrt in seine Kirche, die so lange auf ihn gewartet hat. Die Leute von Henna standen wie verzaubert im Kreise, die Männer nahmen ihre Mützen ab und hielten sie fest zwischen den Fingern, niemand sonst rührte sich, alle blieben stumm und starr und blickten mit großen Augen auf Cornelia. Endlich sprach ein alter Mann: Das Schlachtfeld ist weit, niemand kennt die Gräber der Gefallenen, wie wollt ihr seine Gebeine finden auf der endlosen Ebene? Cornelia sah den Alten an, als begriffe sie seine Worte nicht, sie schüttelte leise den Kopf, dann aber richtete sie sich jäh auf, wies mit der Hand im Kreise und rief: Jedes Sandkorn kann von seinem Blute getränkt sein, jeder Stein hat seine Schmerzen gesehen, das ganze weite Feld ist das Grab des toten Heerführers! Wir müssen uns nur hinknien und die Erde aufnehmen.

Eine mächtige Bewegung ging durch das Volk, Männer und Frauen streiften die Ärmel auf, ein jeder suchte sich im Grase einen Fleck, der ihm besonders bedeutungsvoll erschien, und ein vielfältiges Rufen wurde laut, das nach Schaufeln und Hacken verlangte. Was brauchen wir Schaufeln, rief Cornelia, wir wollen den Sand mit den blanken Händen aufnehmen, wir wollen seine Kühle und Härte zwischen den Fingern spüren, das soll uns eine Erinnerung sein und uns fühlen lassen, was er in sich birgt! 258 Nur dürfen wir nicht zaudern, denn es will Abend werden, und der Feldherr sehnt sich, in seinem Sarg zu ruhen! Da ließ ein jeder sich, wo er ging und stand, auf die Erde nieder, riß das Gras vom Boden und grub seine Finger in den kühlen, harten Sand, nahm so viel davon auf, wie seine Hände fassen wollten, und wenn sie auch schmerzten, es war den Leuten nur recht, sie hatten ihre Freude daran und trieben ihr Werk mit großem Eifer; dann aber, als Cornelia mit dem Kruge umherging, kam eine tiefe und geheimnisvolle Stille über alle Herzen, Männer und Frauen ließen das Erdreich aus den offenen Händen in das Gefäß gleiten, es war, als sammle sich darin eines Jeden verborgene und glückselige Hingabe, aus den Wiesen stieg ein leichter Nebel auf, und die Abendglocken begannen in der Ferne zu läuten. Das Volk von Henna blieb noch geraume Zeit am Boden knien, dann erhob sich einer nach dem andern und trat den Heimweg an. Die Birkenbäume warfen lange Schatten über den sandigen Weg, die Leute aus der Stadt fanden sich enger zusammen.

Dem Jungen war der gefüllte Krug zu schwer geworden, Cornelia trug ihn auf ihrem Kopfe, sie ging leicht damit, hatte die eine Hand in die Hüfte gestemmt und hielt mit der andern ihre Last, das Läuten der Glocken kam näher und näher, es senkte einen tiefen Frieden in die Herzen des Volkes, und die Müdigkeit überfiel es wie nach einem guten Tagewerk.

In der ersten Dämmerung traf der Zug des Volkes an der Kapelle ein. Niemand bemerkte, daß die Krähen aus den Föhren fortgeflogen und im Abendhimmel verschwunden waren. Wer dachte noch an sie? Nur Cornelia sah es mit einem flüchtigen Blick und freute sich in ihrem Herzen. Die Leute traten durch die offene Tür, sie suchten ihre Plätze auf den Bänken und in den 261 Gängen, einer stieg in den Turm hinauf und schlug die Glocke mit einem Stein, denn das Seil war seit unvordenklichen Zeiten gerissen. Cornelia ging an den Sarg und setzte den Krug nieder, sie sah die Leute an, und die Leute blickten auf sie. Niemand sprach ein Wort. Endlich standen zwei Männer auf und hoben den Krug an den Rand des offenen Sarges. Cornelia griff mit ihren Händen hinein und schüttete den Sand in die dunkle Höhlung. Nur eine Handvoll blieb in dem Gefäß; da setzten es die Männer auf den Boden und gingen an ihre Plätze zurück. Sie ließen sich auf der hölzernen Bank nieder und blieben steil aufgerichtet sitzen. Cornelia streifte den Sand von den Händen, sie blickte zu Boden, es ging ihr wie jedem, der sich in der Kirche befand, sie konnte nicht fassen, daß alles schon vorüber sein sollte, so schnell war es gegangen. Nun hörte die Glocke auf zu läuten, Cornelia schritt mit gesenktem Kopf durch den Gang zwischen den Bänken und blieb im hinteren Teil des Raumes stehen, niemand rührte sich. Da saßen und standen sie alle, die in der Kirche versammelt waren, und wußten nicht recht, was geschehen sollte. Cornelia griff nach ihrer Halskette und preßte die Perlen zwischen den Fingern; sie sah Feuerkopf und Weinpfropf in der Menge stehen, die blickten recht heiter und zufrieden drein, und Cornelia mußte lächeln, so müde und fern allen Dingen sie auch war. Es wurde Nacht, eine Frau erhob sich und zündete die Kerzen an, die süß im Raume nach verbranntem Wachs dufteten, da leuchteten auch die bunten Fenster auf, ganz zart und fern in dem Dämmerlicht, und das Silber des Sarges spiegelte den Kerzenschein wider. Das Volk von Henna wartete.

Vor der Türe wurden Schritte laut, die Leute schraken aus einem glücklichen Schlummer, der sie alle befallen hatte, sie richteten sich auf, und ein Raunen ging durch 262 die Kirche, viele Köpfe wandten sich um, da sahen sie die Kaiserin an den Bänken entlangschreiten, sie ging so leise, daß man sie kaum vernahm, es war, als wolle sie das Volk nicht aus seinem Traume erwecken. Sie blickten die hohe Frau mit glänzenden Augen an, wie sie zum Sarge schritt und vor dem silbernen Schrein stehen blieb, wie sie den Kopf senkte und die Finger auf den Rand des Sarges legte. Da stand plötzlich Cornelia neben ihr, sie sagte etwas, das die Menschen nicht verstehen konnten, und hob den Krug empor, der auf dem Boden stand. Die Kaiserin griff hinein und ließ die letzte Erde in den Schrein rinnen. Zwei Männer erhoben sich von ihren Bänken, traten heran und schlossen den Deckel. Nun stand der Sarg wieder, wie er viele hundert Jahre lang gestanden, ohne daß ein Mann aus dem Volke Hand an ihn gelegt hatte.

Als die Kaiserin ihre Handvoll Sand in den Schrein tat, war Cornelia still neben ihr zu Boden gesunken, nun blickte sie die hohe Frau flehend an, und ihre Lippen öffneten sich, als ob sie etwas sagen wollte. Die Kaiserin ließ sie aber nicht zu Worte kommen, sie hob Cornelia zu sich auf und nickte ein wenig mit dem Kopf, als habe sie längst begriffen, um was es gehe, ja in ihrer Miene lag ein leiser Vorwurf, es verstand sich von selbst, daß sie ihr Wort nicht vergaß, und sie freute sich, es einlösen zu können. In den Augen Cornelias glänzten Tränen. Oder spiegelten nur die Kerzen ihr warmes Licht? Dies alles geschah in einer weiten Ferne und doch ganz nahe vor aller Blicken. Die Kaiserin wandte sich um, sie ging an den Bänken und den reglos staunenden Menschen vorbei zur Tür, dort blieb sie für einen Augenblick stehen und trat dann in die Nacht hinaus. Die Leute von Henna erhoben sich, schüttelten Arme und Beine und begaben sich endlich, müde und traumselig wie sie waren, auf den 263 Heimweg. Unter ihnen, durch nichts von den anderen geschieden, und doch im Dunkel verborgen, ging Cornelia. Sie hatte die Nelke aus ihrem Haar genommen und zerrupfte sie, nicht wissend, was sie tat, zu ihrer Freude. Nun erst war die Feier in der Kirche am Kreuzweg zu Ende.

Am anderen Morgen, ganz in der Frühe, die Bäume standen noch dunkel und kalt am Wege, schritt ein Mann über das Feld auf die Kapelle zu. Der blasse, kalte Mond stand am lichten Himmel, und ein früher, roter Schein lag auf den Gräsern. Der Mann ging mühsam, als habe er lange nicht einen Fuß vor den anderen gesetzt. Endlich aber war er an seinem Ziel angelangt; er öffnete behutsam die Tür, da erschrak er, wie sie in den Angeln kreischte, und es war, als wolle er umkehren. Doch er besann sich, trat in den Kirchenraum und setzte sich still auf die letzte Bank. Dort blieb er lange und war doch dem Sarge näher, als wenn er an dessen Seite gestanden hätte. Endlich stand er auf und verließ die Kapelle. Draußen war es hell geworden.

Unter einer Föhre stand Cornelia. Ich habe gewußt, daß ich dich hier finden würde, sagte sie. Ihr Haar war unter einem Tuche verborgen, das band sie jetzt ab, und die Sonne beschien ihren Scheitel. Sie lachte ein wenig und wartete, was Claudius tun mochte. Dieser war vor der Tür stehengeblieben, er blinzelte in das Morgenlicht und konnte kein Wort hervorbringen. Langsam ließ er sich auf der Mauer nieder, die den Stufen zur Seite lief, und betrachtete Cornelia. Sie hielt geduldig still unter seinem Blick, als er aber gar nicht herabkommen wollte, breitete sie ihren Mantel unter, den sie in der Morgenkühle getragen hatte und setzte sich schweigend an seine Seite.

Die Strahlen der Sonne wärmten schon etwas, Claudius suchte nach der Hand Cornelias und hielt sie fest. Die 264 Frau schluckte eine Träne hinunter und streichelte eifrig die Finger ihres Mannes. Über dem Felde stiegen Bienen auf, die summten und flogen hin und her, und auf der Straße kamen Menschen herbeigewandert, fahrende Krämer, die sich laut erzählten und den Morgenfrieden mit ihren Rufen vertrieben. Da endlich dünkte es Claudius, er habe nun keine Zeit mehr zu verlieren und müsse sagen, was er auf dem Herzen hatte. Also brachte er seinen Mund an das Ohr Cornelias und flüsterte: Ich hatte Angst vor dir, und nun, da du mich besiegt hast, ist sie verschwunden. Cornelia schüttelte etwas den Kopf, sie wischte hastig die Spur der vergossenen Träne von der Lippe, lachte ein wenig und sagte: Komm, wir wollen in unser Häuschen gehen. – Auf dem Heimweg, kurz vor dem Tore, blieb Claudius stehen. Am Nachmittag, sprach er, will ich den Feuerkopf besuchen, er hat sich am Daumen verletzt, und ich muß sehen, daß alles zu einem guten Ende kommt.

 


 


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