Volkmar Lachmann
Die 8 Henna-Legenden
Volkmar Lachmann

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Der Anger der Freude

Am Abend, wenn die Handwerker ihre Läden geschlossen haben, ziehen unter dem Geläut der Glocken die Leute von Henna hinaus auf die Felder vor der Stadt, um in der Kühle und im milden Licht der letzten Sonne Ruhe zu finden nach dem Lärm des Tages.

Sie nehmen eine Decke oder ein Kissen unter den Arm und wandern durch die stillen Straßen, bis das Feld sich zwischen den Häusern öffnet und seine lichte, grünende Fläche vor ihren Augen liegt. Nebel steht darüber wie ein feiner Rauch, darin der Sonnnenschein glüht mit einem matten, roten Licht. Die Ferne verschwimmt, man glaubt, es dehne das Feld sich bis an den Rand der Welt. Den Anger der Freude nennen die Menschen diesen Ort, weil hier an den Abenden das Tagewerk sich in Gesang und Tanz löst, in Geschichtenerzählen und andächtiges Lauschen.

Eine Stelle gibt es auf dem Anger der Freude, dort blicken aus dem Feld runde, grüne Teiche, kalt und tückisch wie die Augen von Geistern und Dämonen. Sie sind nicht größer als das Kuppelrund einer Kirche und werden deshalb von dem Volke die grünen Töpfe genannt. Kühle weht um ihre Ränder. Dort sitzt es sich gut an heißen 82 Abenden. Es ist, als habe sich die Stille des Feldes in diesen Teichen gesammelt. Der Himmel spiegelt sich auf ihrer Fläche. Man sieht auf sie hinab und lauscht den Worten der Erzähler oder den munteren Tönen der Musikanten. Später, wenn die Lieder dunkler und schwerer und die Worte leiser werden, kann man die Sterne auf dem dunklen Rund erblicken.

Es sind immer die gleichen Menschen, die an den grünen Teichen sich sammeln. Aus verschiedenen Straßen der großen Stadt kommen sie und kennen sich nur von diesen Abenden her; sie werten einander nach der Art, wie sie erzählen und zuhören, tanzen und singen können. Wenn die Schläge der Glocken über das Feld verhallen, kommen die Ersten und lassen sich am Rande eines Teiches nieder. Sie breiten dazu ihre Decken und Kissen aus, sie tun es viele Male, bis sie die rechte Art gefunden haben; dann bleiben sie sitzen und sehen zurück auf die Stadt, die wie ein Gebirg von Marmor und Kalk und schiefernen Hängen mit ihren Türmen und Dächern in roter Glut blüht. Allmählich kommen andere, sie nahen in kleinen Gruppen, lachend und schwatzend, und lassen sich, ihre Decken auf den Boden werfend, in der Nähe nieder. Die Kinder spielen mit dem Spiegel des Teiches, sie trüben ihn und lassen sein Auge funkeln wie in starker Erregung, sie füllen die Luft mit Lärm und dem Geräusch der schlagenden Wellen.

Später wird es ruhiger im Umkreis. Es findet sich einer, der etwas zum besten gibt. Die andern nehmen ihre Decken, die sie mit soviel Mühe ausgebreitet, wieder auf und lagern sich um den, der etwas erzählen oder ein Lied singen will. Die Männer zünden ihre Pfeifen an, und die Frauen beginnen zu stricken. Sie vergessen Tag und Stunde. Die Kinder sitzen dabei und halten ihren Daumen im Mund. Sie begreifen nichts von alledem. Die 83 älteren unter ihnen mögen nicht mehr still sitzen; sie finden sich abseits zusammen und balgen sich. Hin und wieder hört man aus dem Dunkel einen Schrei oder ein Lachen, dann wendet man nur den Kopf, aber achtet nicht mehr darauf. Die Knaben stehen hinter dem Erzähler, sie machen Gesichter, als glaubten sie ihm nicht. Sie liegen auf der Lauer nach einer Unwahrheit, darin sie ihn fangen wollen wie die Maus in einer Falle, doch sie vergessen ihr Vorhaben bald, wenn die Worte des Erzählers Leben gewonnen haben. Dann geraten sie wie alle anderen in seinen Bann.

Dieser Abend, von dem ich berichten will, ist der Ausklang eines großen Festes. Die Glocken läuten länger als sonst über der Stadt und über das Feld hin. Es sind alle Glocken von Henna. Sie geben eine Musik wie ein letztes, trunkenes Lied. Es ist der Tag, an dem vor zehn Jahren die Seeschlacht am Roten Riff geschlagen wurde. Die Menschen, die auf den Anger der Freude hinauswandern, sind noch berauscht von der Fülle des festlichen Tages. Sie durchlebten noch einmal die Schlacht, die bangen Stunden und die Freude der Siegesbotschaft. Sie sahen den Admiral, den Mann mit dem Gesicht von Stein und den lachenden Augen. Die Kaiserin hatte ihm die Hand gegeben und eine goldene Kette umgelegt, während das Volk jubelte. Dann hatte die Kaiserin beide Arme auf die Schultern des Admirals gelegt, daß es aussah, als wolle sie ihn umarmen. Das Volk geriet vor Freude außer sich: die Männer warfen ihre Hüte in die Luft und die Frauen schwenkten die Tücher, mit denen sie sich die Freudentränen getrocknet hatten.

Warum lieben die Menschen den Admiral so sehr? Vielleicht, weil von ihm berichtet wird, er sei ein Mann des Volkes, eines Fischers Sohn, der sich heraufgedient habe in Treue und Selbstlosigkeit. Ob dieses wahr ist, wissen 84 die Leute nicht, sie glauben es aber, weil sie nach ihrer Meinung zu dem Manne paßt. Vielleicht auch freut sich das Volk von Henna an der Einfachheit und dem schmucklosen Stolze des Admirals, mit welchem er das verkörpert, was alle sein wollen und kaum einer erreicht, weshalb sie es dann an diesen Wenigen lieben. Es wird erzählt, der Admiral habe sich selbst vergessen, und seine Freuden seien die hohen Stunden des Landes. Manche wollen von Not und Entbehrung wissen, die er ertragen vor seinem Aufstieg zum Ruhm, und sie meinen, dies sei seine eigentliche und verborgene Größe, daß er in seiner Jugend zu leiden verstanden habe und alle Kraft für ein Später aufzusparen, denn jede Zucht in der Jugend sei ein Leid, das Früchte trage nach vielen Jahren. Es gibt nichts umsonst, sagen die Leute von Henna, und die eigene Größe muß man teuer bezahlen. Der Admiral hat den Preis nicht gescheut – das spüren die Menschen, und darum achten sie ihn. Achtung aber ist die keuscheste Form der Liebe.

Nun sitzen sie alle, die sich an dem Ort der grünen Teiche zu treffen pflegen, beisammen und warten auf den Alten »der toten Schiffe«, der seinen Namen daher hat, weil er auf dem »Platz der toten Schiffe« wohnt, jener Stelle, wo früher, als Henna noch ein Fischerdorf gewesen, die abgewrackten Boote gelegen haben. Die Menschen wissen, daß sie heute eine Erzählung von dem Alten zu erwarten haben. Immer an festlichen Tagen, wenn ein Großer von Henna in aller Munde ist und die Liebe der Menschen sich um ihn sammelt, weiß der Alte »der toten Schiffe« eine Geschichte von ihm zu berichten. Er erzählt so, als sei er stets dabei gewesen. Einmal ist er ein Jäger, ein ander Mal ein Soldat, dann ein Seemann oder ein Fischer. Die Menschen fragen aber nicht danach, ob die Dinge, die der Alte berichtet, 85 wirklich geschehen sind. Sie nehmen sie hin wie eine Wahrheit aus einem anderen Reiche und freuen sich daran, wie man sich an Dingen freut, die in sich schön sind, an Blumen, Gräsern und grünen Teichen.

Die Leute von Henna sitzen eine lange Zeit, bis der Alte der toten Schiffe kommt. Er tritt in der letzten, unwirklichen Helligkeit des Tages an den Rand des Teiches und blickt eine Weile auf den ruhenden Spiegel. Dann läßt er sich nieder. Er hat dichtes, eisgraues Haar, das in dem Dämmerlicht leuchtet. Seine Wangen sind voll, und das Gesicht scheint immer zu lachen. Aber die großen, hellen Kinderaugen blicken nach innen. Sie sehen die Menschen nicht, sie schauen die Bilder, die inwendig sind, die der Mund ausspricht, als wäre es in einem Traume.

Der Alte fährt mit beiden Händen durch das Haar und lacht in sich hinein. Hört ihr es?, raunen sich die Leute zu. Er hat einen Faden gefunden. Ein Funke ist in ihm aufgesprungen. Er wird gleich beginnen. Sie nehmen ihre Decken auf und breiten sie in der Nähe des Alten auf den Boden. Der Mann lacht immer noch. Es ist ein gütiges, liebendes Lachen. Schließlich verklingt es, als kröche es tiefer und tiefer in sein Herz. Die Menschen im Umkreis verstummen. Ein Junge, der bis dahin auf einer Flöte gespielt hat, bläst schnell die letzten Takte seines Liedes; dann ist auch er still. Aus der Ferne tönt das Lachen und das Geschwätz von anderen Gruppen. Ja, ja, beginnt der Alte, der Admiral hat ein Gesicht wie eine Maske. Seine Haut ist aus hellem Leder gegerbt. Die Lippen sind zwei Messer. Nur in seine Augen, da hinein ist alles Leben gebannt, wie das Licht in den Leib eines Edelsteins. Die Augen lachen.

Der Alte spricht mit seiner hellen, bewegten Stimme, die niemand, der sie zum erstenmal hört, an ihm 86 vermutet hätte. Seine Hände greifen in die Luft, als wollten sie etwas zeigen oder das, wovon die Rede ist, heranholen.

Der Admiral, wiederholt der Alte, hat ein Gesicht wie eine Maske. Doch glaubt nicht, das sei immer so gewesen! Als Junge war er schön wie nur einer, er hatte weiches Haar und schon die gleichen hellen Augen. Damals, ja damals . . .

Der Alte schweigt, aber niemand wagt, in die Stille hinein ein Wort zu sprechen. Sie wissen alle, daß dann die Quelle versiegen würde, aus der der Alte schöpft, die springende Quelle aus dem tiefen Dunkel seines Herzens. Die Menschen, die hier im Dämmerlicht um den Alten herumsitzen, haben es erfahren, wie sie mit wenigen Worten in ein Traumland geführt werden. Der Übergang vom Wachen zum Träumen ist schnell. Es scheint, der Alte besitzt einen Zauber, mit dem er die Leute betört, daß sie ihm folgen, wohin er will.

Ja, damals, spricht der Mann und stützt das Kinn in seine Hände, damals war auch ich noch jung und rüstig. Ich fuhr zur See, ich war ein tüchtiger Matrose, könnt mir's glauben! Wir waren auf demselben Schiff, der Admiral, der damals ein Matrose war und Jörg hieß, und ich. Wir haben oft miteinander gesprochen, in der Nacht, wenn Lichter über die Wellen glitten, als wär's ein Spuk. Er hat mir gesagt – doch nein, ich will von vorn beginnen, daß ihr's begreift. Es ist eine seltsame Geschichte.

Er blickt in den Himmel mit einem verzückten Lächeln, als gelte sein Sprechen dem Preise Gottes. Er ist fröhlich, seine großen, hellen Augen glänzen im Dämmerschein wie die Augen von Kindern. Er hat seine Füße mit den großen, schmutzigen Schuhen weit von sich gestreckt, die Hände ruhen zwischen den Beinen, doch sie sind bereit, jederzeit aufzufahren, zu deuten und zu beschwören 87 und jedem Wort mit den Fingern Ausdruck zu geben. Es mag an die dreißig Jahre her sein, da fuhr ich auf einem Frachtdampfer. Das war ein kleiner und alter Kahn, aber wie es so oft ist bei langgedienten Schiffen, liebten wir ihn alle und vertrauten ihm, denn er hatte gezeigt, daß er das Geheimnis besaß, mit dem Meere fertig zu werden. Es war ein Schiff von guter Art. Der Dampfer fuhr für ein Handelshaus in Henna. Er nahm seinen Weg in alle Welt und hatte stets verschiedene Ladung an Bord, wie es sich gerade traf, einmal Hölzer und ein andermal Früchte, dann getrocknete Fische oder Getreide. Wir blieben oft lange Zeit in fremden Ländern; aber wenn wir die Heimat wiedersahen, dann war es immer, als würden wir neu geboren, dann standen wir an der Reeling und sahen mit brennenden Augen, wie vom Abendlicht überglüht die goldene Stadt Henna aus dem Meere erwuchs. Es schien uns, als erblickten wir sie zum ersten Male und als sei sie die Erfüllung aller heimlichen Träume. Doch kannten wir sie lange und hatten ihr Bild nie aus dem Herzen verloren.

Unter den Matrosen war einer, der mochte kaum achtzehn Jahre zählen, aber er war uns Älteren auf eine seltsame Art überlegen. Er fand schneller die Worte, die er sagen wollte, und es gab kein Geheimnis, das er nicht sogleich aussprach. Es war immer Klarheit um ihn, aber diese Klarheit war nicht mild und wohltuend, sie schmerzte, wie das Licht der Sonne manchmal schmerzt an den Tagen, die ein böses Wetter bringen wollen. Wir Matrosen sagten: Der Jörg ist jünger als wir, er hat behendere Glieder und eine schnellere Zunge, aber das gibt sich, wenn das Alter kommt. Ich weiß aber heute, daß der Junge etwas über uns hinaus besaß, daran wir keinen Teil hatten, weil unsere Herzen es nicht faßten. Ich weiß auch, daß seine Klarheit nur ein Trug war, und daß böse 88 Geister Gewalt über ihn hatten. Seine Worte klangen klug, doch sie waren ohne Frieden und Frömmigkeit. Das fühlten wir mit unseren dumpfen Sinnen, darum blieb auch immer etwas zwischen uns und dem Jungen, was eine Liebe nicht aufkommen ließ. Wir hatten ihn gern, aber wir schlossen uns ab von seiner Art, wir taten unsere Arbeit und kümmerten uns nicht viel, ein jeder hatte seine eigenen Gedanken, die wuchsen und sprachen in der Einsamkeit des Meeres.

Jörg war der Sohn eines Fischers, der in einem Dorfe bei Henna lebte, dort, wo der Strand schon karg und steinig wird. Ich kenne das Dorf, es liegt verborgen in einem Tal zwischen den Dünen. Sehr still ist es um die Häuser, nur das Lied des Meeres tönt herüber, und der Wind geht mit hartem Ton durch das trockene Gras. Die Hütten sind von Holz, man hat Strandgut zu ihrem Bau verwandt, Planken und zersplitterte Balken, auch große Stücke gebrochenen Korkes, Bretter und Bohlen. In allem spürt man die Nähe des Meeres, es riecht nach Salz und Teer und nach getrockneten Fischen, aber es ist nicht das echte Meer, das hier Heimatrecht hat, es ist nur der Abfall des Meeres, hier leben die Dinge, die die See nicht haben will, das Strandgut und die kleineren Fische. Selten, daß einmal ein Sturm kommt oder daß einer von den Fischersleuten nicht zurückkehrt, der am Morgen hinausfuhr.

In dieser Einsamkeit hatte es Jörg nicht ausgehalten. Er war von dem Vater einmal mitgenommen worden nach Henna, da hatte er im Hafen die großen Schiffe gesehen, und seither war seine Sehnsucht, die wie eine heimliche Unruhe in ihm immer gelebt und die er sich nie hatte erklären können, zu einem wilden und schmerzlichen Trieb geworden, also daß er nach vielen Monaten, als ihn der Vater allein in die Stadt geschickt hatte, nicht zurückgekehrt war, weil er sich auf einem Schiffe hatte anheuern 89 lassen, das mit Hölzern in den Süden fuhr. Damals war er siebzehn Jahre alt gewesen.

Ein Jahr später kam er auf unseren Frachter. Er hatte um diese Zeit die bittersten Schmerzen und die ersten Enttäuschungen des Seemannsberufes schon überwunden. Ich sehe ihn noch, wie er hoch und schmal auf der Brücke stand, mit unergründlichen hellblauen Augen und kurzem braunen Haar, welches so weich war, daß es im leisesten Wind sich bewegte; wie er so ganz und gar wie ein Kind aussah, nur, daß sein Mund hart und schmal war, von einem bitteren Spott umzogen, der plötzlich aufsprang wie ein lauerndes Tier und voller Lustigkeit sein konnte, aber auch voll schmerzlichen Hohnes.

Es fiel uns bald auf, daß der Junge von einem tiefen Fernweh ergriffen war. Wenn das Schiff im Morgengrauen den Hafen von Henna verließ, erwachte eine Unruhe in ihm, die so groß war, daß er allein mit ihr nicht fertig werden konnte. Dann sprach er mit zahllosen törichten Worten auf uns ein, als suchte er einen Widerhall und könnte seine Ruhe nicht anders finden, als daß er sich geborgen fühlte in dem gleichen Herzschlag seiner Kameraden. Sie konnten ihn aber nicht verstehen, das Feuer brannte allein in ihm, er stand einsam vorn am Bugspriet und sah hinaus in die graue Kühle des Morgens, auf die Wellen, die dunkel, als sei noch die Nacht in ihnen, gegen das Schiff trieben, bis ein blutiger Streif im Osten den Tag kündete und das Meer mit einem roten Schimmer zu leuchten begann. Dann glaubte Jörg, dort vorn aus den ersten Strahlen der Sonne hebe sich das Bild einer wunderbaren Stadt, vom Licht überglänzt und darum nicht für eines jeden Menschen Auge sichtbar, aber doch wirklich und voller Verheißung für den, der Augen hat zu sehen und einen Sinn für die Wahrhaftigkeit aller Sehnsucht.

90 Ich habe manchen Seemann kennengelernt, der vom Hauch dieses Fernwehs ergriffen war, aber ich habe erfahren müssen, daß die Sehnsucht dann erlosch, wenn sie am Ziele war, weil sie es nicht vermochte, die Wirklichkeit nach ihrem Bilde zu gestalten. Mancher sehnte sich nach dem glühenden, bunten Lärm einer südlichen Stadt. Ich habe ihm später, wenn wir zur Mittagszeit am Kai festmachten, lustlos und enttäuscht gesehen, also daß er es nicht über sich brachte, die Stadt zu besuchen, sondern seine freie Zeit damit vertrieb, daß er unter einer Plane im Hafen schlief oder an Bord blieb und sein Zeug ausbesserte, einen Brief schrieb oder in die blaue Luft starrte. Solcher Art war Jörg nicht. In dem Augenblick, da er seinen Fuß auf den Boden eines fremden Landes setzte, verwandelte ihn dieses nach seinem Geiste, und er ging unter in dem fremden Leben, war ein anderer, den wir nicht kannten, verstand uns wohl kaum, und war doch glücklich in seiner Fremdheit, so daß wir nicht selten davor erschraken. Es gibt in jeder Hafenstadt Häuser und Gaststuben, dahinein gehen die Seeleute; aber diese Häuser sind überall die gleichen. Die Art eines Landes wirft nur einen schwachen Abglanz auf sie, der ihren Geist nicht ausmacht, weil dieser von den seefahrenden Leuten aller Völker bestimmt wird und darum seine Eigenart in sich selbst trägt. Diese Stätten suchte Jörg nicht auf. Er trachtete vielmehr, aus dem Hafenviertel herauszukommen in die Teile der Stadt, die von dem Lande berührt wurden, wo das Leben des Volkes einfacher und ursprünglicher war. Es gelang ihm dann bald, den Anschein des Fremden von sich abzustreifen, daß die Menschen dort glaubten, er sei einer der ihren. Dann war er glücklich. Ich habe ihn einmal gesehen, wie er in einer südlichen Stadt zwischen Armen und Bettlern in dem letzten Schein der Abendsonne auf den Stufen einer Kirche saß, 91 einen Tabakbrand zwischen den Zähnen und mit einem so ruhigen, gleichmütigen Blick, daß man meinen konnte, er säße Abend für Abend hier und sei dieses Leben gewohnt, solange er denken könne.

Wenn das Schiff der Stadt Henna zufuhr, dann befiel ihn das Heimweh mit der gleichen Stärke, wie ihn bei der Ausfahrt das Fernweh verzehrt hatte. Wir spürten dies, und wir wunderten uns nicht, weil wir die Sehnsucht nach der Heimat selbst im Herzen trugen. Ich hörte in einer Nacht, wie auf Wache ein alter Matrose zu dem Jungen sagte: Wenn es nach Hause geht, dann freut sich ein jeder, ob er alt ist oder jung. Denn Heimat ist Heimat, es geht nichts darüber. Als der Alte so gesprochen hatte, hob Jörg den Kopf und sah ihn an mit Augen, wie sie wohl ein Jäger haben mag, wenn er all seine Gedanken auf den einen Punkt richtet, wo es ein Leben zu vernichten gilt. Jörg sagte: Die Welt hat viele Städte, Henna ist nur eine von ihnen. Meine Sehnsucht geht auf alle, warum nicht auch auf die, welche man Heimat heißt? Der Alte zog die Mundwinkel empor, ein Lächeln entstand aus den zahllosen Falten seines Gesichts und er sprach: Du sagst nur die halbe Wahrheit. – Wie meinst du das?, fragte der Junge. Nun, erwiderte der Matrose, es ist ein Unterschied zwischen deinem Fernweh und deinem Heimweh. Das erste spricht in tausend Worten, aber es ist unfromm und schmerzlich. Das zweite ist still, doch man fühlt, daß ein Glück darin lebt und Ruhe und Frieden. Der Junge wiegte den Kopf: Das mag sein, sagte er, aber es sind nur Augenblicke, die vergehen, in denen ich das Glück empfinde. Die Welt ist groß, und jedes Land hat seine Seele. Von allen Seelen habe ich ein Stück, und es ist mein Schicksal oder mein Fluch, daß jede Seele ihr Leben verlangt. Leben aber heißt, die ganze Herrschaft haben. Darum bin ich wie eine Schlange, die ihre Haut 92 abstreift, ich bin heute nicht mehr, der ich gestern war, und werde morgen ein anderer sein. – Du redest von deinem Schicksal, entgegnete der Alte, und hast doch kaum angefangen zu leben. Was weißt du, wo Gott dich hinführt? Die fremden Länder sind nur da, daß du die Heimat recht schätzen lernst, und deine Schmerzen, daß du das Glück endlich findest. Du hast ein heißes Herz, du gehst den Weg der Menschen, die heiße Herzen haben. Als der alte Matrose so gesprochen hatte, sagte Jörg nur kurz: Wir werden es sehen. Dann wandte er sich und sah auf das Meer hinaus. Bei Ende des Gespräches war es fast Mitternacht. Es ging ein seltsames Leuchten über das Wasser, davon niemand wußte, woher es kam; es glomm auf, schwamm eine kurze Weile neben der Bugwelle des Schiffes nach rückwärts und erlosch dann sehr bald, als wäre es nie gewesen.

Auf einer Fahrt nach Süden liefen wir den Hafen von Jone an, um Kohle an Bord zu nehmen. Der Kapitän rief die Mannschaft zusammen und sagte: Es müssen welche hierbleiben für die Arbeit. Die übrigen können in die Stadt gehen. Wer meldet sich freiwillig? Acht Männer hoben die Hand. Sie sprachen zu sich: Es lohnt nicht, an Land zu gehen, die Stadt hat kein Gesicht. Sie ist tot und leer. Es gibt nichts, was einem Freude machen könnte. Die übrigen dachten: Viel ist nicht los in den Hafenvierteln, und die Eingeborenen sind uns fremd. Aber eine Schenke wird sich schon finden, und ein kleiner Rausch ist immer noch besser als die Arbeit. Der Kapitän ließ die Leute, die arbeiten wollten, wegtreten, damit sie noch ein wenig Ruhe fänden. Zu den andern, unter denen sich auch Jörg befand, sagte er: Es ist jetzt Mittag, Leute! Ihr habt Zeit bis zum Abend. Bei Dunkelheit ist mir jeder an Bord. Wir bleiben die Nacht über im Hafen liegen, gegen Morgen laufen wir aus, daß wir bei Sonnenaufgang 93 schon die offene See vor uns haben. Nach diesen Worten wollten die Leute gehen. Obgleich sie nicht viel Lust hatten, waren sie doch voller Ungeduld. Sie traten von einem Fuß auf den anderen und sagten: Es ist gut, wir haben es begriffen. Wir können nun gehen. Sie hatten sich den Weg einmal vorgenommen, darum wollten sie keine Zeit verlieren. Die Stadt lag weiß und eintönig am Wasser. Ihre Häuser schliefen in der Mittagsglut. Der Kapitän schwenkte die Arme, daß die Matrosen in einem Kreise um ihn herumkämen. Er sagte: Ihr wißt, Leute, es ist ein Gesetz der Kaiserin, daß, wer sein Land ohne Grund verläßt, für alle Zeiten verbannt sein und der Rechte eines Bürgers von Henna verlustig gehen soll. Wenn das Schiff den Hafen verläßt, und es ist ein Mann nicht zurückgekehrt – für den gibt es keine Heimat mehr. Der ist verloren, die Fremde frißt ihn auf, seine Spur verweht im Winde.

Jörg hörte den Worten des Kapitäns nur mit halbem Ohre zu. Er dachte: Was spricht der Alte? Wir wissen es ja, wir haben es hundertmal gehört. Seine Augen irrten ab, er sah auf eine Ratte, die über das Deck hinlief und blickte dann auf das Meer hinaus, wo in großer Weite ein Fisch durch die Wellen sprang. Es war, als blitze ein silberner Streif über das Wasser, darin wie in einem Diamanten die weiße Glut des südlichen Mittags gefangen war.

Der Kapitän sprach weiter, und ein Ton des Bittens kam in seine Rede: Verliert euch nicht, Männer, sagte er, nicht an ein Weib und nicht an eine Flasche Branntwein! Vergeßt nicht, daß ihr Leute von Henna seid, und daß über allem Zufall, der Euch umgaukelt, die Heimat das Ewige ist, darin ihr Ruhe findet von dem Gewühl der weiten Welt. Das Gesetz der Kaiserin ist hart. Bedenkt, was es heißt, ein Verbannter zu sein!

94 Von allen Worten, die sein Ohr trafen, wurden nur wenige Jörg bewußt, wie er dastand und dem springenden Fische zusah. Das Gesetz der Kaiserin? dachte er. Die Kaiserin ist da, Gesetze zu machen, so wie der Schuster und der Schneider ihre Arbeit tun. – Er sah mit dem Ausdruck eines glücklichen Gleichmutes zum Himmel empor.

Zuletzt sagte der Kapitän noch: Das Schiff fährt im Morgengrauen. Es wartet nicht, weil es Befehl hat, und der Befehl mehr gilt als eines Menschen Schicksal. Seid darum am Abend, wie ich gesagt, an Bord.

Nach diesen Worten verließen die Männer das Schiff und gingen in die Stadt hinein. Sie blieben in den Vierteln des Hafens, sie zogen langsam in der Mittagshitze von Tür zu Tür, bis sie in den schlafenden Gassen eine Schenke fanden. Dort setzten sie sich nieder und tranken Branntwein, in heimlicher Langweile auf den Abend wartend.

Zu dieser Zeit suchte Jörg aus den Hafenvierteln heraus in die eigentliche Stadt Jone zu gelangen. Was er sah, konnte seine Sehnsucht nicht stillen. Es war alles weit, farblos und eintönig. Die Häuser lagen am Wege wie Güterschuppen. Sie hatten kein anderes Gesicht als die Lagerhallen am Wasser. Es gab viel freien Raum zwischen den Gebäuden, wo die Erde kalkig und weiß war, mit trockenem, spärlichem Gras darauf. Hie und da entstand ein neues Bauwerk, aber es wuchs nicht aus der Erde wie die Häuser in Henna, es wurde auf das Land gesetzt gleich einem Spielzeugstück; dort stand es dann elend und traurig trotz aller Pracht. Es lagen Karren umher, Eimer und Kalk, die Maurer legten Stein auf Stein, es ward aber kein Werk daraus, nur mühsame, unwillige Arbeit. Die Sonne glühte hoch am Himmel wie das Auge eines unbarmherzigen Gottes.

95 Die Stadt hat keine Seele, dachte Jörg. Es geht irgendwo ein Riß durch ihre Art. Ihr Leben ist gesprungen wie ein dünnes Glas, aber die Stadt weiß es nicht.

Er ging ein Stück weiter. Dort sah er einen zerlumpten Kerl, der rittlings auf einem Fasse saß. Er trug ein rot und weiß gestreiftes Hemd und eine Arbeitsmütze. Vor ihm stand ein anderer mit einem hellen, flachen Hut. Dessen Augen waren klein und beständig auf der Lauer. Die Hand hatte er in die Tasche versenkt, darin grub er, als gelte es etwas zu suchen. Er gräbt nach Geld, dachte Jörg, sieht es nicht so aus, als ob er Silber zwischen den Fingern habe und es fühlen müsse, um zufrieden zu sein? Das ist es, in diesem Teil der Stadt herrscht das Geld, und Geld ist tot.

Als es Nachmittag wurde, hatte Jörg das wahre Jone noch nicht gefunden. An einem anderen Tage wäre er unglücklich darüber gewesen. Er erinnerte sich, daß er einmal, als es ihm ähnlich gegangen war wie in dieser Stadt, in bitterem Zorn einen Stein ergriffen und ein Fenster eingeworfen hatte. Damals war er der Verzweiflung nahe gewesen, weil es die Stadt nicht vermocht hatte, seine brennende Sehnsucht zu stillen, und ihm an Stelle der erträumten Bilder nur öde und Leere gezeigt hatte. An dem heutigen Tage wollte jener Zorn nicht über ihn kommen. Jörg ging, mit einem Lächeln auf den Lippen, als ob dies alles selbstverständlich wäre, seines Weges in stiller Ergebenheit. Es war ihm, als ruhte sein Herz, als schliefe es traumlos vor einem großen, tiefen Abenteuer. Ein heimliches Glück war in ihm, eine rätselhafte Erwartung, als spare seine Seele die Kraft für ein unbekanntes Erlebnis.

Als er so dahinschritt, bemerkte er in einer Seitengasse ein Tor, welches mit Ornamenten seltsamer Art geschmückt war. Die Häuser in dieser Gegend waren schon 96 niedriger, wohl auch älter; sie standen dicht beisammen. Es war das Viertel der Armen. Von fernher, aus den Straßen jenseits des Tores, drang ein fremder Lärm herüber. Es war, als riefen zahllose, heisere Stimmen. Ein freudiger Glanz kam in Jörgs Augen. Hinter dem Tor lag die Stadt der Eingeborenen. Der seltsame Bogen schien ihm wie eine Pforte zu einer Märchenwelt. Untertauchen, murmelte er, sich selbst nicht mehr kennen, getragen werden von dem summenden Leben, alles vergessend, nur Auge sein und Ohr und fremder Mund – das ist das Glück, das ist der Trunk der ewigen Lust, das ist der Gott in uns, ist die Verheißung! Zitternd am ganzen Leibe, mit Augen von fieberndem Glanz, betrat der Junge die Gassen der Eingeborenen, um Ruhe zu finden und die Stillung seiner Sehnsucht, indem er sich selbst auslöschte.

Als die Sonne sank, trat Jörg durch das Viertel der fremden Menschen den Heimweg an. Er ging wie ein Trunkener. Er atmete tief, den Geruch der Gassen zu spüren, den goldenen Staub und den Duft von den Leibern des anderen Volkes. Seine Augen waren weit geöffnet, er meinte, den Abend zu trinken und das bunte, wogende Leben. Er trug ein Lied auf den Lippen, er wußte nicht, was er sang, eine Melodie war in ihm, daran er keinen Teil hatte. Rechts und links von ihm schlossen die Kaufleute ihre Basare, der Lärm verebbte, das Licht der Sonne erlosch. Die Stadt geht schlafen, sprach Jörg, o, könnt ich mit ihr schlafen gehen! Ein neues, geheimnisvolles Leben beginnt in der Nacht, man muß nur den Kopf hinlegen und den Traum darüber zusammenschlagen lassen. Schlafen, schlafen . . .

Einen Augenblick tauchte der Gedanke in ihm auf, daß er sich in einer großen Gefahr befände. Sonst, wenn die Sonne sank und er zurückging auf das Schiff, war er 97 gesättigt und glücklich gewesen, wie nach einem tiefen, erquickenden Trunk, und dann hatte es ihm auch geschienen, als wehe schon Kühle um ihn und der Duft des weiten, salzigen Meeres. Heute aber, trotz allen Glücks, welches er genossen, war er nicht satt, es sprach in ihm und trieb ihn weiter und weiter in übermächtiger Sehnsucht, seine Sinne waren verzaubert, kaum wußte er den Weg mehr, der zurück zum Schiffe führte. Ja, er war in großer Gefahr. Diese Klarheit ward ihm aber nur kurze Zeit, dann ging sie unter in der Flut seiner Sehnsucht. So schritt der Junge seinem Schicksal entgegen.

Er fand die Tür eines Hauses offen stehen. Er meinte, es müsse sich Wunderbares dahinter verbergen. Auf Zehenspitzen trat er heran, den einen Arm an den Pfosten gestützt. Er blickte in einen Hof, darin war ein Brunnen, an dem ein Mädchen stand. Jörg sah zwei große Augen auf sich gerichtet. Es war ihm, als müsse das Mädchen ihn lange gesehen haben. Den ganzen Nachmittag, sprach er zu sich, hat sie mich gesehen und so auf mich geblickt. Das Mädchen hatte schweres, dunkles Haar, ihre Haut war gebräunt von der Sonne und schimmerte wie Metall. Sie stemmte ihre Hand in die Hüfte und sah unverwandt auf den Jungen. Dann blickte sie zur Seite und senkte den Kopf. Sie lächelte. Welch tiefes, lockendes Lächeln! Ich muß etwas tun, dachte der Junge. Wie in einem Traume schritt er in den Hof. Auch er lächelte, aber es tat ihm weh. Seine Lippen zitterten. Er trat an den Brunnen und griff mit beiden Händen nach dem Trog. Er wollte daraus Wasser in einen Becher gießen, der auf dem Brunnen stand, aber das Gewicht des Wassers spottete seinem Tun. Er schüttete viel über den Brunnenrand, nur wenige Tropfen gelangten in den Becher. Jörg wollte das Gefäß an den Mund setzen. Er spürte keinen Durst mehr. Sein Herz schlug laut und schwer. Das Mädchen sagte 98 etwas in einer fremden Sprache. Sie schüttelte den Kopf und nahm den Becher an sich. Sie berührte den Mann leicht am Arm und deutete auf das Haus. Wieder sprach sie etwas, es klang wie: Komm! Der Junge folgte ihr. Er gelangte in ein Zimmer und sah ein Lager von Kissen und Decken. Das Mädchen ließ ihn allein. Die Stube war klein und dunkel. In dem Fenster stand das letzte Licht des Abends mit grauem Schein. Ein seltsamer Duft stieg empor. Es war sehr still. Das Schiff, dachte Jörg, indem er sich auf das Lager setzte, ich muß auf das Schiff zurück! Die Nacht sinkt herab, und ich bin hier, bin allein in der fremden Stadt. Aber er vermochte nicht mehr, sich zu erheben, die Glieder waren ihm schwer, der Schlag seines Herzens ging durch den ganzen Leib. Es muß sein, was kommen wird, murmelte er. Es gibt kein Ausweichen. So wenig wie eine Blume das Blühen kann ich verhindern, was mir geschieht.

Das Mädchen kam zurück. Sie trat durch den Vorhang von Perlenschnüren, entzündete ein Licht an der Wand und gab Jörg zu trinken. Es war ein dunkler, schwerer Wein, davon alle Gedanken in ihm erstarben und nur die Sehnsucht noch blieb, ein dunkelglühendes, tiefes Weh.

Als er den Krug von den Lippen hob, griff das Mädchen danach, und ihre Hände berührten einander. Da war es dem Jungen, als ginge eine heiße Woge über seinen Leib. Das Mädchen stellte den Krug auf die Erde. Als sie sich zurückwandte, war ihr Blick verändert. Die Augen waren schmal geworden, es schimmerte aus ihnen wie das Erstaunen vor einem großen Glück. Sie gab ihre Hände in die seinen. Der Junge fühlte sie wie zwei kleine, zitternde Vögel, welche die Wärme suchten, er nahm sie an seine Wange, alle Sehnsucht in ihm floß zusammen, er fühlte nur den Wunsch noch, dem Mädchen nahe zu sein. Er zog 99 sie an sich, hörte ihr Herz schlagen und meinte ein Zittern zu spüren. Du, sagte er, als habe er jedes andere Wort vergessen. Du! Der Kopf des Mädchens lag in seinen Armen, sie sah zu ihm auf und ihr Begehren war stumm, nur die Hände sprachen und ihr Herz. Es war dem Jungen, als sänke er in einen tiefen Brunnen. Er verlor sich selbst, er dachte nur einmal noch: Ewigkeit! Meine Sehnsucht will Ewigkeit! Kein Ende, keine Besinnung!

Als Jörg am Vormittag erwachte, war er allein. In seinem Traum hatte eine Glocke zu läuten begonnen. Sie schlug auf dem Turm über dem Fischmarkt von Henna. Abend! sagten die Leute und sahen zu dem Turm empor, der in rotem Glanz wie eine steile, steigende Flamme in den farblosen Himmel glühte. Abend! sagte auch Jörg. Er dachte, nun würde er zurückkehren in das Dorf, und die Mutter würde ihm das Essen bereiten; danach wollte er in die Dünen an das Meer gehen, den Wellen zusehen und den ziehenden Schiffen. Die Glocke, die im Traum zu schlagen begonnen hatte, läutete immer noch, als Jörg die Augen öffnete. Aber es war ein fremder Ton. Jörg dachte: Es ist doch Morgen, wie kann da die Glocke des Fischmarktes läuten?

Allmählich wich die Verzauberung des Traums von ihm. Fremde Laute drangen an sein Ohr. Er hob den Kopf und ward plötzlich mit einem grausamen Schreck der Wahrheit inne, daß er sich allein in der fremden Stadt befand, daß sein Schiff in der Morgendämmerung ausgelaufen und er ein Verbannter war, der den Fischmarkt von Henna niemals mehr sehen würde. Mit einem schmerzlichen Stöhnen sank er zurück auf das Lager. Vor seinem Fenster sprachen zwei Männer, sie redeten mit hellen, heiseren Stimmen. In der Nähe war ein Geräusch, als wenn Holz auf Holz schlüge, es brach nicht ab, 100 dazwischen klang das Treten von hölzernen Schuhen. Im Hause wurde gesungen. Es war ein Lied von drei Tönen, welches kein Ende fand. Aus der Ferne klang der Lärm der Basare. Was sind dies für Stimmen, dachte der Junge. Ich verstehe sie nicht, sie sind mir fremd, sie gehen an mir vorüber wie das Rauschen eines Wassers, und ich muß sie doch hören! Er verschloß seine Ohren, es wurde still um ihn. Darum erwachten seine Augen. Sie gingen in dem Zimmer umher wie in einem Gefängnis. Der Raum war kahl, es war nichts darin als das Lager, auf welchem er ruhte, und ein Ring in der Wand, darauf bei Nacht die Lampe gesteckt wurde. Das Licht der Sonne, das durch das Fenster drang, das gleißende Licht des südlichen Tages, schmerzte in seinen Augen. Der Himmel ist hier, sprach er zu sich, dunkel von dem Licht der Sonne, es ist heiß wie ein klirrender Frost, alles ist nahe und laut, ist schmerzlich – wie soll ich das aushalten ein Leben lang? Er dachte an den Abend und an das Mädchen, er sprach: Deine Liebe ist groß, aber sie ist stumm. Sollen wir immer einander küssen und in die Augen sehen? Ich werde sprechen, aber du wirst mich nicht begreifen. Ich werde rufen, doch es wird kein Widerhall kommen. Du wirst den Kopf schütteln, und dann wirst du aufblicken und mir deine Lippen geben. Ich werde sie nehmen, aber es wird keine Freude dabei sein, denn mein Herz ist voller Trauer, und du hast an ihm keinen Teil. Jörg hatte diese Worte laut gesprochen. Als er aufblickte, stand das Mädchen an seinem Lager. Geh, sagte der Junge, aber das Mädchen verstand ihn nicht. Sie lächelte und legte die Hände um seinen Hals. Laß mich, rief Jörg. Er sah ihr Antlitz geprägt von Freuden an anderen Menschen und von Schmerz um fremde Dinge. Zwei leise Falten lagen um ihren Mund. Weißt du denn, fragte Jörg, wo die Stadt Henna liegt? Weißt du, was der Fischmarkt bedeutet, der Anger der 101 Freude und die Tauben vor dem Schlosse der Kaiserin? Weißt du, wie es tut, wenn du bei Menschen bist, die dich kennen wie sich selbst, weil sie die gleiche Art und die gleichen Gedanken haben? Das Mädchen verstand ihn nicht, sie strich mit ihrer Hand über sein Gesicht, als suchte sie etwas. Die Finger blieben auf seinen Lippen ruhen. Nein, sagte der Junge und tat ihre Hand beiseite. Ich möchte wieder auf dem Fischmarkt stehen und die Luft der Heimat atmen, ich möchte durch die Dünen wandern und den Wind in den Gräsern rauschen hören, ich möchte mich freuen können auf den Frieden meines Dorfes. Ich habe Sehnsucht nach den Kameraden, nach ihrem Lachen und ihren rauhen Worten. Der Durst der Fremde ist gestillt, und das Heimweh erwacht in mir, wie es sonst erwachte, wenn die Fahrt nach Hause ging! Geh, Mädchen, geh! Du kannst mir nicht helfen, ich habe die Heimat verloren, ich bin allein. Das Mädchen begriff nichts von seinen Worten, sie spürte aber, daß der Mann sie fortschickte. Sie sah ihn an, als ob sie etwas sagen wollte. Dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Fremd und unerklärlich blieb, was sie dachte. Niemand hätte sagen können, ob sie in diesem Augenblick einen Schmerz empfand.

Als Jörg allein war, erhob er sich und trat an das Fenster. Die Stadt lag in der Glut des Vormittags. Das Licht hatte alle Farben ausgelöscht. Wie in großer Ferne lag Haus bei Haus, und doch waren die Wände und die Dächer und die Kuppeln sehr nahe. Der Junge meinte die Wärme zu spüren, die sie ausstrahlten, es gab kein Entweichen, alles war miteinander verwirkt und versponnen, er selbst darin wie ein Gefangener, gefangen in der Glut und dem weißen, blendenden Glanze, gefangen unter der dunklen, strahlenden Bläue des Himmels, gefangen in dem Lärm und dem Schmerz der fremden Stimmen, gefangen in dem 102 eigenen Schicksal und der eigenen Schuld. Über allem Zufall, der uns umgaukelt, sprach er zu sich, ist die Heimat das Ewige, darin wir Ruhe finden von dem Gewühl der weiten Welt. Es ward ihm plötzlich klar, daß er die Worte des Kapitäns nachsprach, welche dieser den Matrosen gesagt hatte, ehe sie in die Stadt Jone gingen. Jörg hatte auf das Meer hinausgesehen und seine Freude gehabt an dem silbrigen Spiel eines springenden Fisches, doch die Worte waren tief in seine Seele gesunken und hatten dort geruht einen Tag und eine Nacht hindurch, bis sie jetzt, da es zu spät war, emporstiegen an die Oberfläche seiner Gedanken, genau so hart und genau so fordernd, wie der Kapitän sie gesprochen. Wenn das Schiff den Hafen verläßt, redete es weiter in dem Jungen, und es ist ein Mann nicht zurückgekehrt – für den gibt es keine Heimat mehr. Der ist verloren, die Fremde frißt ihn auf, seine Spur verweht im Winde. Bei diesen Worten war es Jörg, als begriffe er jetzt erst die ganze Grausamkeit seines Schicksals. Eine sinnlose Angst kam über ihn und die wilde Hoffnung, es möge das Schiff doch noch im Hafen liegen. Er verließ den Raum, er fand über die Treppe den Weg auf den Hof. Das Mädchen stand dort, ihre Hand in der Hüfte, am Brunnen. Sie sah ihn an mit großen, dunklen Augen. Lächelte sie? Falten des Schmerzes lagen um ihren Mund. Der Junge lief über den Hof auf die Gasse hinaus. Das Licht der Sonne glühte in seine Augen. Ich kann es nicht glauben, murmelte er im Laufen, es kann nicht wahr sein, daß das Schiff fort ist. Es liegt noch im Hafen, ich muß mich eilen, daß ich es erreiche, bevor es ausläuft und alles verloren ist. Er lief durch die Hitze und den Staub der Gassen, durch den summenden Lärm der Basare. Das fremde Leben wogte ihm entgegen, es teilte sich, wo er lief, es schlug hinter ihm zusammen und strömte fort, gleichgültig, wie an 105 allen Tagen, bunt und unbegreiflich und voller Fremdheit. Es war, als kämpfe er an gegen eine Flut, die seinen Weg zu hemmen suchte. Hinaus, nur hinaus!, rief es in ihm. Jörg kam in die Hafenstadt, lief über endlose, breite, eintönige Straßen, auf denen die Sonne glühte, und erblickte endlich das Meer, das blaue, wogende Meer. Kühle wehte ihn an, er meinte Salz auf der Zunge zu schmecken, er sah Kräne, Schienen und eiserne Schuppen. Der Hafen!, rief es in ihm, und plötzlich am Kai, sah er die Fahne von Henna, sah sein Schiff und sah seine Kameraden, die ihm winkten. Mit der letzten Kraft seines Atems stieß er einen Schrei aus, einen hellen, wilden, tierhaften Schrei. Er meinte, die Welt höbe sich und alle Dinge verlören ihren Ort, er taumelte, faßte sich aber und erreichte das Schiff wie in einem Traum.

Der erste, welchem er begegnete, war der alte Matrose. Jörg sank an seine Brust, umfing ihn mit den Armen und stieß hervor: Unverdiente Gnade! Ich habe solch ein Glück nicht verdient. Es ist wie ein Wunder. Ich begreife es nicht. Tränen glänzten in seinen Augen. Nun, begütigte der Alte, laß es gut sein! Das Schicksal hat es gnädig mit dir gemeint, doch auch das Schicksal kann nicht nach Willkür schalten. Gute Menschen lenken es öfter, als einer wohl glauben will.

Der Alte der toten Schiffe hört auf zu erzählen. Aber es ist ihm wohl anzusehen, daß er noch nicht aufgetaucht ist aus seinem Traumland. Die Erinnerung hält ihn gefangen, obgleich das, was er hat erzählen wollen, gesagt und sein Werk getan ist. Er hebt die Hände und macht eine Bewegung, als wolle er die letzten Krumen von einem beendeten Mahl zusammenstreichen, damit Sauberkeit sei und keine Fragen mehr bleiben. Er spürt, daß er eine Brücke schlagen muß von dem Damals zum Heute, damit die Leute, die ihm zuhören, leicht zurückfinden in die 106 Wirklichkeit des »Tages vom Roten Riff«. Es ist dunkel geworden, und Kühle geht über das Feld.

Was soll ich noch berichten?, fragt der Alte. Er stellt die Frage nur an sich selbst, wartet einen Augenblick und die Antwort ist, daß eine neue Geschichte sich aus ihm löst.

Ich vergaß zu erzählen, was mit dem Schiff geschehen war und weshalb es noch im Hafen lag. Als wir im Morgengrauen auslaufen wollten, war an der Maschine etwas nicht in Ordnung. Wir mußten den Tag abwarten. Es war ein ungewöhnlicher Schaden, wie er selten von allein entsteht. Auf dem Schiff ging das Gerücht, es müsse einer an der Maschine gewesen sein, der nichts davon verstehe. Die Besatzung war in einer bösen Stimmung. Zu dem Ärger über den Schaden und den verlorenen Tag kam die Schande, daß einer von den Leuten nicht an Bord zurückgekehrt war. Die Männer waren am Abend vorher mit dem alten Matrosen, von dem ich berichtet habe, hart aneinander geraten, weil er auf ihre Schmähreden nur gelächelt und gesagt hatte, sie begriffen ja doch nicht, was ein Schicksal sei, und es sei noch nicht aller Tage Abend. Diese Worte gaben an Bord zu allerlei Reden und seltsamen Vermutungen Anlaß, besonders als im Morgengrauen das Schiff nicht auslaufen konnte.

Der Erzähler hat seinen Ton geändert. Es ist, als würde ihm langsam bewußt, daß alles Erinnerung sei und nichts Gegenwart. Er spricht langsamer, er überlegt länger, und zwischen den Sätzen verfällt er in ein verträumtes Sinnen. Seinen Kopf hat er in die Hand gestützt. Er blickt nicht mehr in den Himmel, sondern träumt vor sich hin. Es war seltsam, sagte er, aber der Junge wurde, als er dem alten Matrosen an die Brust gesunken war und dann in einem Winkel Ruhe gefunden hatte, von dem Wunsche gepackt, eine Strafe zu erdulden. Er meinte, man könne 107 mit Strafe die Seele reinwaschen wie die Hände mit Wasser. Es war die Sehnsucht nach Sauberkeit in ihm. Ich habe ein Gesetz verletzt, sprach er zu sich; darf ich da ohne Strafe ausgehen? Er wußte, daß, wenn er das Schiff nicht mehr erreicht hätte, sein Leben ohne Inhalt gewesen wäre. Nun es der Zufall anders gewollt, sollte es da so scheinen, als sei nichts geschehen? Jörg entbehrte etwas in seinem Gewissen. Er wußte nicht, was es war. Darum nannte er es Strafe.

Er ging zu dem Offizier des Schiffes und bat um eine fühlbare Vergeltung. Der Offizier war ein lustiger Mann, der das Leben für einen Jahrmarkt ansah, mit Lärm und Lachen und manchen Gefahren. Er verzieh alles, wenn es irgend anging, nur Zaudern nicht sowie Ängstlichkeit und Ungeschick. Bei kleinen Übeltaten kniff er ein Auge zu, wenn sie nur ganz getan wurden, nach den Regeln der Kunst, ohne einen Rest und ohne Dummheit. Warst du bei einem Mädchen, fragte der Offizier und lachte. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern rief: Du wirst müde sein und schlafen wollen. Als Strafe sollst du heute nacht die Hundswache halten. Jörg war enttäuscht, doch er glaubte, es sei ein Teil seiner Strafe, daß er für einen kleinen Übeltäter gehalten und also behandelt würde. In der Nacht bis gegen Morgen hielt er Wache mit einem Manne, der der gleichen Strafe verfallen war, weil er im Hafengelände ein kurzes Seil hatte mitgehen heißen. Der Kerl sprach die ganze Zeit von kleinen Tücken und Schlichen, wie man sie zu harmlosen Gaunereien brauchte. Er war kein schlechter Mensch, doch er schwamm an der Oberfläche und trieb hierhin und dorthin, wie gerade der Wind stand. An dir habe ich keinen Teil, dachte Jörg. Und diese Strafe ist auch nicht meine Strafe. Am folgenden Tage tat er die Arbeit von drei Männern. Er schaffte, als gelte es, das Schiff vor dem Untergang zu 108 bewahren. In einem freien Augenblick bat er den Kapitän um eine Strafe, so, wie er am Tage vorher den Offizier gebeten hatte. Er fügte hinzu, daß die Wache keine wirkliche Strafe für ihn gewesen sei, weil sie ihn nicht geschmerzt, sondern nur traurig gestimmt habe. Du kannst noch einmal die Hundswache halten, sagte der Kapitän. Er war ein kluger Mann, der die Menschen durchschaute wie Glas. Mancher, der von der Antwort des Kapitäns erfuhr, schüttelte den Kopf. Ich glaube aber, der Kapitän wußte mehr, als die Männer ahnten, und wollte nur sagen, daß Jörg auf dem Schiffe nicht finden konnte, was er suchte, heute nicht und in aller Zukunft nicht. Er wollte ihm den Abschied leicht machen, und das tat er dadurch, daß er ihn notwendig machte. Jörg besprach sich noch einmal mit dem alten Matrosen. Ich weiß die Worte nicht, die zwischen ihnen gewechselt wurden. Es ist aber sicher, daß der Alte noch einmal und deutlicher den Weg aufzeigte, den Jörg zu gehen hatte, wenn der Kapitän, in seiner rätselhaften Art zu sprechen, noch einen Zweifel gelassen hatte. –

Der Alte der toten Schiffe ist wieder ganz in seiner Erzählung gefangen. Er reiht die Worte schnell und sicher wie Perlen auf eine Schnur. Er blickt mit seinen Kinderaugen in den Himmel, und noch flinker, noch sicherer als seine Worte sind die Bewegungen seiner Finger.

Hier in Henna, spricht er, nahm der Junge Abschied von der Mannschaft und dem Kapitän. »Wir wußten, daß es für immer war. Jörg ging in das Dorf seines Vaters und blieb dort viele Tage. Er war still und verschlossen. An den Abenden zog er hinaus an das Meer und hielt Zwiesprache mit den Wellen, die aus der Ferne an den heimatlichen Strand kamen. Als die Zeit fortschritt, reifte der Plan in ihm, auf den Fischmarkt zu gehen und die Kaiserin um seine Strafe zu bitten. Es ist möglich, daß dies der 109 Rat des alten Matrosen war und es seine Zeit gebraucht hatte, bis Jörg die Entschlossenheit für ein so kühnes Unternehmen fand. Der Alte wird gesagt haben, die Kaiserin freue sich, wenn ein Mensch ihr das Herz ausschütte, aber er wußte wohl, daß dies nur galt, wenn in des Jungen Seele sich Großes verbarg, wie eine seltene Blüte in bescheidener Knospe. Davon aber war der Alte überzeugt, er hatte es öfter durchblicken lassen, mit Worten und auch mit dem, was er verschwieg.

An einem Donnerstag, an dem Tage, da die Kaiserin nach alter Sitte auf den Fischmarkt geht, um einen Fisch zu kaufen und ihrem Volke nahe zu sein, zog auch Jörg auf diesen Platz und wartete, daß die hohe Frau erscheine. Die Kaiserin kam spät und war offenbar in großer Eile. Sie war damals noch jung und dennoch die gleiche, wie sie heute ist. Ihr Gesicht verriet nicht, was sie dachte. Sie lächelte, doch das ganze Volk wußte, daß ihr Lächeln nichts zu bedeuten hatte. Eine große Menge Volkes umschwärmte sie, da viele die Kaiserin zu sehen wünschten. Einige kamen auch mit Bitten, doch es war niemand da, der um eine Strafe bat, alle dachten an ihren Vorteil und meinten, das Glück gehöre ihnen, wenn sie es nur ergriffen. Die Antworten der Kaiserin, die sie den Fragenden zuwarf wie Bälle zum Fangen, waren herb und stachlig wie grüne Kastanien. Sie ist übel gelaunt, dachte dieser und jener, aber sie irrten sich, denn die Kaiserin traf, wohin sie wollte und wo es nötig war. Sie durchschaute die Menschen. Lange stand Jörg zur Seite und konnte den Mut nicht finden. Der Inhalt seines Lebens drängte sich in einen Augenblick, die Kaiserin konnte lachen oder ihn anhören. Als er vortrat, traf ihn der Blick der hohen Frau wie der seiner Mutter, voll Güte, aber so, daß er die Augen niederschlagen mußte. Der Junge hatte sich viele Worte zurechtgelegt, die er 110 sprechen wollte, um zu zeigen, daß er die Größe des Augenblicks nicht verkannte. Nun, da er vor der Kaiserin stand, hatte er die Rede vergessen. Er schwieg und senkte nur das Haupt. Er wagte nicht, wieder aufzublicken. Was willst du?, fragte die Kaiserin. Da erzählte Jörg, weshalb er auf den Fischmarkt gekommen und es gewagt hatte, die Kaiserin anzusprechen. Er berichtete mit wenigen Worten, aber in jedem Laut glühte die Leidenschaft der ungesagten Dinge. Als er geendet und um seine Strafe gebeten hatte, blieb es lange still um ihn her. Die Leute reckten die Hälse, um zu sehen, ob die Kaiserin lachte. Das Begehren des Jungen war sonderbar, dergleichen hatte auf dem Fischmarkt noch niemand vorgebracht. Keiner wußte, ob er lachen oder den Hut ziehen sollte. Es konnte eine Kinderei oder die Offenbarung eines großen Herzens sein. Jeder sah auf die Kaiserin. Die hohe Frau wandte den Kopf zur Seite, als habe ihre Aufmerksamkeit sich in einem anderen Dinge verfangen. Keiner wußte, ob sie noch bei der Sache war. Jörg tat einen Schritt; die Kaiserin wandte den Kopf zurück und sah den Jungen an. Sie nahm ihren Fisch und hielt ihn Jörg entgegen. Du kannst ihn mir tragen, sagte sie. Dann schickte sie sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und sprach: Folge mir bis dahin, wo mein Wagen steht.

Als eine Stunde später die Kaiserin den Fischmarkt verließ und durch das Gewirre kleiner Gassen den Weg zu ihrem Wagen einschlug, befahl sie mit einer Handbewegung den Jüngling, der ihr bis dahin mit dem Fisch in der Hand gefolgt war, neben sich. Ihre Augen waren wieder wie die einer Mutter. Ich könnte dir, sprach sie, eine Strafe geben, die so schwer ist, wie du sie wünschst. Du würdest sie dulden und danach frei sein. Doch dies ist nicht der Sinn deiner Bitte. In einer Strafe wirst du 111 das Glück nicht finden, sie mag leicht oder schwer sein. Ich weiß das. Dir aber ist es nicht bewußt. Der Junge ging still neben der Kaiserin. Er hatte den Kopf gesenkt und suchte nachzudenken. Doch da seine Gedanken machtlos waren, überließ er sich ganz der Kraft, die aus den Worten der Kaiserin quoll. Was fordert ihr von mir? fragte er. Dein Leben! sprach die Kaiserin und ihre Stimme wurde hart und unerbittlich, nicht nur deine Hände und Gedanken, dein ganzes Dasein will ich haben. Einen andern hätten diese Worte verstört. Jörg empfand sie als eine Offenbarung. Du sollst, fuhr die Kaiserin fort, Dienst nehmen auf einem meiner Kriegsschiffe. Du sollst deine Arbeit tun, als sähe ich dir zu, Tag für Tag und Stunde für Stunde. Du sollst aber nicht ruhig werden dabei. Du mußt deine Sehnsucht bewahren und die Qual deiner Gedanken. Wenn die Gewohnheit über dich kommt, dann wende deine Kraft an ein größeres Werk, daß du Arbeit und Not hast und immer etwas, was deine Sehnsucht noch nicht erreicht hat. Verlerne das, was andere Glück nennen, und suche die Freude in deiner Mühe. Ich will die Hand über dich halten, solange du das Versprechen hältst, welches du mir nun geben wirst. Vergiß nie, daß nur du es bist, der unseren Bund brechen kann. Gib mir die Hand! Jörg wurde nicht bange bei den Worten der Kaiserin. Ich war daran, ein Gesetz zu verletzen, sagte er, das mich das Leben gekostet hätte. Es ist billig, daß ich das Leben dafür gebe. Es waren große Worte, die der Junge sprach, und er sagte sie nur, um der Freude und der Zustimmung in seinem Herzen einen Ausdruck zu geben. Die Kaiserin lächelte. Sieh es als Fingerzeig deines Schicksals an, antwortete sie, daß du behütet wurdest, mein Gesetz zu verletzen und dem langsamen Tod in der Fremde zu verfallen. Sage dir, daß dich das Schicksal aus gutem Grunde 112 bewahrt hat. Und wenn es dein Los sein sollte, einmal Großes zu vollbringen, so vergiß nicht, daß alles bezahlt sein will mit Mühe und Entsagung. Die Kaiserin hob die Hand und ging fort mit schnellen Schritten. Jörg war weder verwirrt noch betroffen. Es schien ihm, als habe er einen Befehl empfangen, auf den er schon lange gewartet. Vor ihm lag die Mühe eines großen Werkes. In seinem Herzen war Klarheit. Er empfand eine tiefe Freude, die so hell war und so kühl, wie das spiegelnde Licht der Gipfel im Gebirg. Er kannte seine Zukunft nicht, doch in diesem Augenblick sah er sie wie ein Traumbild lebendig und nahe. Er stand, ein Junge, den niemand kannte, in jener Gasse am Fischmarkt von Henna und sah nicht rechts und nicht links; die Leute stießen ihn an, doch er spürte es nicht.

Die Kaiserin hat ihr Wort gehalten. Sie hat ihren Schützling eine schwere Zucht durchlaufen lassen und ihn spät erst, als ihm Not und Mühe nichts mehr anhaben konnten, sondern ihm als das Salz des Lebens erschienen, aus dem Alltag eines kleinen Kommandos emporgehoben zu schwerer Verantwortung. Sie hat recht damit getan, als sie dem Admiral den Befehl am »Roten Riff« gab. Es konnte jeder sehen, daß dieser Mann der fähigste war. Damals aber, als an dem unbekannten Jungen auf dem Fischmarkt von Henna die Menschen vorbeiliefen und ihn anstießen, hatte die Kaiserin ihn schon erkannt und mit der Kraft ihres starken Herzens gewünscht, daß alles mit ihm würde, wie es zu werden verspräche, und daß er den Weg fände, der ihm vorgezeichnet war.

Der Alte hat zu sprechen aufgehört; es ist ganz dunkel auf dem weiten Felde und sehr still. Die anderen Gruppen sind längst in die Stadt zurückgewandert. Langsam weicht die Verzauberung von den Menschen. Sie merken, daß es Nacht und kühl geworden ist. Sie beginnen zu 113 frösteln und hüllen sich fester in ihre Decken. Sie kommen sich sehr einsam vor, ein jeder ist in dem Traumland allein gewesen, allmählich erst spüren sie, daß es ihrer viele sind, die sich um den Alten geschart haben. Lange dauert es, bis aus der Nähe der anderen eine Gemeinsamkeit wird, so befangen ist jeder in seinem Kreise, und so liegt die Kühle und liegt die Finsternis zwischen den Menschen. Als wenn sie aus dem Dunkel ihrer Kammer in das Sonnenlicht blicken, so erschrocken sind die Leute, da sie aus ihrem Traum von Buntheit und Helligkeit der Nacht ins Auge sehen, die weit und schweigend über den Feldern liegt. Niemand erhebt sich, solange noch der Alte zwischen ihnen am Boden hockt.

Der alte Mann braucht seine Zeit, bis er zurückfindet in die Wirklichkeit. Es ist, als sänke er mit den ersten Worten, die er spricht, in ein tiefes Wasser, das seine Ohren und seinen Blick verschlösse, bis er, gegen Ende seiner Erzählung, allmählich emportauche und endlich, wenn er schon längst geschwiegen, den Kopf aus dem Wasser stecke und sich erstaunt umsehe. Die Leute wissen, daß dann das Lachen auf seinem Gesicht erlischt, und der Mann sich mißmutig, als habe er zuviel gesprochen, erhebt und brummend im Dunkel verschwindet. Dann ist es Zeit, daß sie ihre Decken zusammenpacken und über das nächtliche Feld den Rückweg in die Stadt antreten.

Heute dauert es lange, bis die Erinnerung von dem Alten weicht. Er hockt immer noch dort auf dem Boden, und die sein Gesicht erkennen können, bemerken, daß er mit verklärten Augen in den Himmel sieht. Er lacht und hat die Hände wie in einer Überfülle von Freude breit auf die Knie gestützt. Allmählich erlischt das Feuer in ihm, sein Kopf sinkt nach vorn, daß die grauen Haare ins Gesicht fallen, das Lächeln verschwindet, und seine Augen werden dunkel. Er stützt einen Fuß und eine Hand auf 114 den Boden, erhebt sich und schüttelt Grashalme und Erdbüschel von seiner Kleidung. Er ist der einzige, der keine Decke besitzt. Ja, brummt er, so wäre das also . . . Dann blickt er denen, die dicht bei ihm gesessen haben, noch einmal hastig ins Gesicht, als wollte er etwas daraus lesen, was er doch nicht erkennen könne, wendet sich um und verschwindet stapfend über das weite, dunkle Feld.

Es ist Zeit, sagen die Leute, wir müssen nach Hause gehen. Die Mütter wecken ihre Kinder, die sich warm geschlafen haben an ihrer Brust, sie stecken das Strickzeug ein und erheben sich steif und fröstelnd. Packt mit an, rufen sie den Männern zu und fassen die Decken, die auf dem Boden liegen, an einen Zipfel. Die Männer zünden Laternen an und führen einen Kampf mit dem Nachtwind, der über das Feld weht. Der Mond geht auf, wie eine rote Ampel steht er am Rande des Himmels.

Die Leute brechen auf. Sie tragen ihre Laternen vor sich her. Der Lichtschein tanzt gleich einem trunkenen Kobold über den Weg. Manchmal fällt er in das dunkle Rund eines Teiches; dann leuchtet der Spiegel auf in einem schwachen, roten Schimmer. Die Menschen schlagen einen Bogen und ziehen weiter auf die Stadt zu. Sie schwatzen und singen. Obgleich sie es nicht wissen, sind sie ganz voll von der Geschichte des alten Mannes.

Manchmal tritt ein Fremder zu ihnen und wandert ein Stück in ihrem Lichtschein. Sie sind freundlich zu ihm und geben ihm Auskunft wie einem großen Herrn. Wissen sie denn, ob es nicht der Kanzler ist oder der weißhaarige Dichter von Henna, die unerkannt über das abendliche Feld ziehen, um die Geschichten ihres Volkes zu hören? Manchmal, heißt es, geht selbst die Kaiserin hinaus auf den Anger der Freude, und sie steht hinter den Menschen und erkennt Gut und Böse, und es ist 115 niemand, der sich vor ihrem Antlitz verbergen kann. Als sie in die Gegend der ersten Häuser kommen, werden die Menschen stiller und stiller. Der Mondkahn fährt über den Himmel herauf und verzaubert alles mit seinem Lichte. Die Brunnen murmeln lauter in den Höfen, und die Dinge sind nahe und ferne zugleich. Verklungene Lieder wandern über die Dächer. Es schweigen die Gassen. Die Nacht ist sehr tief. Ruhe, denken die Menschen, wir sind voller Glück. Laßt uns Frieden finden in den träumenden Mauern von Henna.

 


 


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