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Auf der Giojosa wollte es Egon nicht mehr so wohl werden wie nach dem ersten Einzug im vorigen Jahr. Wohl lebten sie jetzt wieder selbzweit, aber ein dritter, der ihn störte, war überall unsichtbar dabei. Im Eßraum die neuen Wandbilder, künstlerisch nicht zu beanstanden, schufen eine fremde Luft im Hause. Unter dem Vorwand der schöneren Aussicht wünschte Egon, daß in der Loggia gespeist werde, die vor der Sonne durch den rostroten Zeltstoff und durch verschiebbare Glasscheiben gegen Regen geschützt werden konnte. Aber wenn er von da ins Tal blickte, sah er mit seines Geistes Augen den zerlumpten Landfahrer mit dem Vogelkäfig in der Hand sich bergan schieben, und das Gefühl, daß dieses Kommen ihm Schicksalswende gewesen, verließ ihn nie. Denn was er nicht wissen wollte, wußte er heimlich doch. All die Monate her hatte er die jüngeren Leute, die sein Haus besuchten, beobachtet und sich gefragt: Welcher ist es? Da war keiner, den er mit dem weicheren Schmelz im Wesen der geliebten Frau in Verbindung bringen konnte. Keiner – als Roderich. Vielleicht doch er? Als Kinder hatten sie sich gebissen und geschlagen; wäre es das erste Mal, daß aus dem Hader von Jugendgespielen später eine Leidenschaft herauswuchs? Widerstrebend mußte er sich bekennen, daß Roderich bei all seinen Mängeln gerade das besaß, was auf Frauen wirkt: die unbedingte Mannhaftigkeit; das Genie hatte er obendrein. Wahrnehmungen, die er gemacht hatte, gingen mit ihm: sie sagte seit lange nicht mehr »Unser Sohn«, wenn sie von Roderich sprach, und aus seinem Munde hatten ihn Worte und Wendungen überrascht, die von ihr stammten. Was ihm am meisten zu denken gab, war der Schrecken, mit dem sie seine gelegentliche Andeutung abwehrte, daß er nun bald einem Jüngeren, Glücklicheren, den Platz räumen werde, mit dem sie, was sein gewesen, teilen könnte. »O niemals! Niemals!« hatte sie angstvoll gerufen. Er hatte ihr den Kopf aufgehoben, um in ihre Augen zu schauen, die ihm auswichen. »Warum niemals?« Sie holte tief Atem, als wollte sie sich zu einer Enthüllung zusammenfassen. Aber so weit ließ er es nicht kommen: »Laß es gut sein, mir genügt, daß du bei mir bist.« – Was hatte sie ihm sagen wollen? Ein Unerreichbares mußte ihr vorgeschwebt haben, als sie dieses hoffnungslose »Niemals!« sprach. Galt es dem Sohn, der seinen Namen trug und darum ja niemals ihr zweiter Gatte werden konnte? Ein seltsamer Fall kam ihm in Erinnerung, der in seiner Jugendzeit viel besprochen worden war. Ein alter Herr, dem besten österreichischen Adel angehörig, hatte eine junge Frau, die, wie alle wußten, ihren Stiefsohn liebte. Der Graf war kein Philipp von Spanien: als er die unbezwingliche Leidenschaft der beiden sah, deckte er ihre Schuld mit seinem Namen. Ein Kind, das sein Enkel war, zog er auf als Sprößling seiner zweiten Ehe. Seinen Sohn duldete er in der Nähe, und die schuldige Frau behandelte er mit feinster Rücksicht. Sie reisten immer zusammen, sein Ansehen hielt das Gezischel der Dienstboten und der Kellner nieder. Wenn die beiden sich stritten, war er es, an den sie sich als Schiedsrichter wandten und der sie wieder versöhnte. Endlich brach sein Martyrium ihm das Herz. Auf einer Reise im Morteratschgebiet übernachteten sie auf der Bovalhütte. Da unternahm der alte Herr, der ein geübter Bergsteiger war, noch am Abend einen einsamen Spaziergang. Er kam nicht zurück, niemals; auch seine Leiche wurde nicht gefunden. Von da an konnte das Paar nirgends mehr zusammen leben. Wo sie sich niederlassen wollten, empörten sich Hausgenossen und Nachbarschaft. Unter falschem Namen reisend, wurden sie erkannt und belästigt, daß unter all den Widerwärtigkeiten ihre Liebe erkaltete und sich in Bitterkeit wandelte. Sie trennten sich, der junge Mann fiel im Duell um eine Tänzerin, die Frau verscholl. Diese Geschichte hatte Egon ehedem nur als Merkwürdigkeit beschäftigt, jetzt rückte sie seltsam nahe an ihn heran. Er mußte den einsamen Gang des Alten in der Gletscherregion verfolgen bis zu dem geheimnisvollen Punkt, wo er für immer verschwand, und seine eigenen Schultern senkten sich von der Last, die jener getragen haben mußte. Hatte nicht auch er etwas übernommen, das über Menschenkräfte ging? –
Vanadis umsorgte ihn wie immer, ihre Ruhe, die sie auch in inneren Stürmen bewahrte, tat ihm wohl und machte sie ihm zugleich undurchdringlich. Wie mußte auch sie leiden, wenn seine Vermutung richtig war! Sie schützte das Leid um Bertie vor. Es war groß genug, denn er allein hätte sie über die Trennung von Roderich trösten können. Auf eine Türfüllung ihres Schlafzimmers hatte ihr dieser den Knaben mit dem Papagei gemalt, daß er ihr beim ersten Eintritt wie aus dem Nebenraum lebendig entgegenkam. Die ganze Luft war noch durchtränkt von seiner holden Gegenwart. Sie mußte sich bezwingen, um nicht ans Fenster zu stürzen, wenn sie plötzlich aus einem Vogelschrei sein geliebtes Stimmchen »Vantje!« rufen hörte. Und von den Wänden des Eßzimmers redete Roderichs Liebe mit stiller Leuchtkraft zu ihr, er hatte sein ganzes Fühlen in diese Bilder gemalt, wo Liebende zärtlich an blühenden Ufern gingen und der Jüngling zu Tod verwundet noch sein Mädchen gegen die einbrechenden Piraten verteidigte. Aber dabei kam ihr Berties Schilderung in den Sinn, der von diesen Dingen so berauscht war, daß er nicht mehr wußte, ob er nun lieber Maler oder Seeräuber werden wollte. Sie sprach oft mit Egon von dem Knaben, doch ohne ihm zu sagen, wie nahe er ihr verbunden war. Auch er vermißte das Kind hier oben, sie waren beide beraubt und einsam, viel einsamer als sie gewesen, bevor es einen Roderich und einen Bertie gab, denn sie hatten ja nicht gewußt, was sie entbehrten. Vanadis befand sich in dem beklemmenden Zustand, da das Leben ganz und gar unheimlich und dämonisch wird. Da war wieder die tragische Zweimaligkeit der Fälle, von der der spintisierende Gunther ihr einmal wie von einem mystischen Lebensgesetz gesprochen hatte und die er später für seinen Teil wahr machte, als er so schnell nach Edwin Leo hinging, beide von der Kugel getroffen. Und nun hatte ein und derselbe Fluß im Abstand von wenigen Wochen Corinnas Enttäuschung und Berties strahlende Zukunft getrunken. Es war wie im Traume, wo sich zuweilen der gleiche Vorgang schnell zum zweitenmal ereignet. In solcher Verfassung wagt das verängstete Herz sich nicht mehr auszudehnen; ganz klein und in sich selbst verkrampft, fragt es nur noch: Was kommt jetzt? Eine Gefahr hing über ihr, die sie unvorsichtig selbst heraufbeschworen hatte. Zwischen ihr und Märchen hatte zuletzt noch ein gewaltsamer Auftritt stattgefunden, einer jener plötzlichen Ausbrüche, von denen nachher kein Teil mehr recht weiß, wie sie entstanden sind, weil ihnen etwas Elementares, in der Luftspannung Vorbereitetes, zugrunde liegt. Es sind keine luftreinigenden Gewitter, sondern jähe Blitzschläge, die zerstören. Nach dem Unglück von Rovezzano hatte sie sich Märchen wieder genähert und suchte ihr Liebes zu tun, aber als sie die Freundeshand ausstreckte, ergriff sie eine Viper. Die unglückliche Mutter hatte zuerst in einem plötzlichen Wutanfall die Engländerin auf die Straße gesetzt. Weil das Geschehene dadurch nicht anders wurde, überließ sie sich Schrei- und Weinkrämpfen, an deren Nutzlosigkeit dem verzogenen Kind erst ganz die Macht des Unabänderlichen aufging. Nun bedachte sie wieder, daß sie ihre Schönheit zu hüten hatte, und ihr Gesicht wurde von verschluckten Tränen steinern. Vanadis, von sich selber ausgehend, meinte ihr wohlzutun, wenn sie ihr von dem geliebten Knaben sprach, seine Anmut und seltsam sinnigen Reden zurückrufend. Aber Märchen wollte nicht erinnert sein, sie gehörte zu denen, die blindlings vor ihrem Schmerz fliehen, sie wollte Berties Namen gar nicht nennen hören. Sie fuhr jeden Tag anderswohin, ihr neuer Freund, der ihr ein besserer Tröster war, mußte sie begleiten. Nur immer Neues sehen, hören, sich Dinge von außen vorführen lassen, nichts denken müssen, nicht nach innen blicken. Und gegen Vanadis grollte noch immer eine Eifersucht in ihr; daß sie nicht aufhörte um Bertie zu weinen erzürnte sie so, als sollte ihr damit etwas genommen werden. Und eines Tages kam es zwischen den beiden Frauen zur Entladung.
»Du tust ja, als hätte mein Sohn dir gehört«, brach es höhnisch aus der Verbitterten hervor. »Sorge dir für einen eigenen, es ist an der Zeit.«
»Er hat mir gehört«, antwortete Vanadis, nun auch verletzt, »und wenn er lebte, würde er mir nur immer mehr gehören.«
Märchen lachte schrill.
»Jawohl!« rief Vanadis, plötzlich der Entrüstung die Zügel lassend. »Das sollst du wissen: ich würde ihn dir abgenommen und nicht geduldet haben, daß du das edle Blut verdirbst, das auch mich anging.«
»Dich anging?« Märchens blasse Augen blickten unheimlich dunkel. Aber keine gütige Gottheit war nahe, um ihrer erzürnten Gegnerin jetzt den Mund zu verschließen.
»Ja mich. Denke dran, was Großmutter auf den ersten Blick von Berties Augen sagte. Sie hat sie auf der Stelle erkannt.«
»Bist du wahnsinnig, solche Reden zu führen?«
»Ich führe keine leeren Reden.«
Märchens Stimme überschlug sich: »Du wagst mich zu beleidigen und denkst nicht, was ich von dir weiß, was andere auch wissen, du Immakulata!«
Märchens Gesicht war hart vor ihr, ein Dämon sprühte sie aus ihren Augen an. Der unbesonnene Vorhalt hatte mitten hinein getroffen in den unvergessenen Neid auf die scheinbar Begünstigtere und in den Haß des ungeistigen Menschen auf den geistigen. – »Wie nennt man das, wenn die Mutter mit dem Sohn in unerlaubtem Umgang steht?« Sie rief ihr ganz nahe ein furchtbares Wort in die Ohren.
»Märchen!« schrie die Beleidigte wie unter einem Peitschenhieb. Was dabei in ihrem Gesicht vor sich ging, war so erschreckend, daß die andere sich plötzlich wandte und wie verfolgt den Park verließ, in dessen Zypressengang das Gespräch stattgefunden hatte. Die seltenen Blumen, die ihr Vanadis für Berties Ruheplatz hatte schneiden lassen, lagen verstreut am Boden.
Diese stand wie in einer lodernden Flamme, sie begriff in diesem Augenblick, wie man um eines beleidigenden Wortes willen töten kann. Sie hätte mögen der Beleidigerin nachstürzen und sie mit ihren Händen stumm machen in der Erlösung des Vergeltens, wonach das stockende Herz wieder schlagen kann, geschehe dann, was wolle. Aber mitten in der Leidenschaft kam ihr die Besinnung und mit der Besinnung die Erkenntnis ihrer Lage: daß sie in Märchens Händen war, daß sie Märchen unvorsichtig gereizt hatte und daß diese sie an der empfindlichsten Stelle treffen konnte, an Egons Ruhe, die ihr heilig war. Wie ihn und sich vor der Vergifterin retten? Eine Dame des florentinischen Mittelalters, wie sie ehedem an dieser Stätte wohnten, würde der Feindin einen treuen Diener nachschicken, der für ihr Schweigen sorgte. So ein Matteo wäre dafür der Rechte. Sie staunte selbst, woher ihr die wilden Gedanken kamen, die in Vernichtung schwelgten. Wohl von fernen Geschlechtern, deren Erbe sie heut zum erstenmal in ihrem Blut spürte. Aber sie kostete die innere Entladung wie eine Wohltat aus, durch die ihr Geist wieder frei wurde. Die Einsicht kam, daß sie selber schwer gefehlt hatte und daß dieser Fehler nicht mehr gutzumachen war. Ein fremder Geist war auf ihre Zunge gesprungen und hatte ihrem feineren Gefühl entgegen der anderen zugerufen, was diese ja niemals gestehen durfte. Damit war ein tödlicher Krieg erklärt. Etwas mußte zur augenblicklichen Sicherung geschehen. Sie mußte vor allem den leidenden Egon aus der Gefahrenzone retten. So kam es, daß sie schon den nächsten Abend auf der Giojosa schliefen. Das war der trübe Spuk, der ihr in die reinen Lüfte des Mugello folgte. Sie hatte jetzt Zeit, ihrer Lage von allen Seiten ins Gesicht zu sehen. Bisher hatte sie in ihrer Liebe wie in einem Traum gelebt und nur ab und zu aus dem eigenen Innern einen Klang des Vorwurfs vernommen. Jetzt sah sie auf und fand sich unter wachenden Gesichtern. Nie konnte sie sich vor diesen reinigen. Was ihre Entschuldigung war, durfte sie nicht aussprechen, und ausgesprochen hätte es ihr doch nicht genützt, denn vor dem Herkommen gilt von jeder Sache nur der Schein.
Woher aber hatte Märchen ihr Wissen? Daß Carlo nicht in Betracht kam, verstand sich von selbst. Matteo, der allein ihre Wege kannte, war gleichfalls treu. Er hatte nur eine Schwäche, eine junge Nähterin, deren Eltern am Viale wohnten. Märchen hatte sie auf seine Verwendung hin in Dienst genommen. Konnte diese die Hand im Spiele haben?
Märchen haßte sie seit langer Zeit und umlauerte sie, das war jetzt völlig klar. Sie haßte auch Roderich, schon von Jugendtagen her, wo es ihr mit allen ihren Künsten nicht gelungen war, ihn in ihren Bann zu ziehen. Eine solche Schlappe vergaß ihre Gefallsucht nie. Da war aber noch etwas anderes: Roderich war der einzige, der von ihrem Besuch bei Gunther wußte, denn er war ihr auf dem Schleichweg begegnet. Ihn hatte sie mehr zu fürchten als irgendwen. Und darum hatte sie nach einer Waffe gesucht, womit sie die zwei Verhaßten gleichzeitig treffen konnte. Jedoch Märchen war bei allem Haß auch klug. Wahrscheinlich sah sie doch ein, daß es für beide Teile besser war, sich so mit gleichen Kräften gerüstet gegenüberzustehen, als blindlings den Hieb zu führen, der den Gegenhieb hervorrufen mußte. Diese Erwägung hatte etwas Tröstliches, wenigstens für die nächste Zukunft.
»Fällt der gnädigen Frau nicht auf, daß der gnädige Herr seine Zimmerübungen ganz eingestellt hat?« fragte Carlo eines Tages.
»Seine Zimmerübungen eingestellt? Warum?«
Carlo zuckte die Achseln, dann sagte er: »Es ist kein gutes Zeichen, wenn jemand auf einmal seine täglichen Gewohnheiten aufgibt.«
Sie griff den Wink auf und bat ihren neuen florentinischen Hausarzt, der beiden ein Freund geworden war, sie scheinbar zufällig auf der Giojosa zu besuchen. Dieser war von der Niedergeschlagenheit betroffen, in der er den Hausherrn fand. Er schrieb sie der übergroßen Hitze zu und riet, das Mugello, das nicht hoch genug lag, mit dem Ober-Engadin zu vertauschen. Egon atmete auf, er hatte heimlich diesen Wunsch gehegt, ihn aber seiner Frau zuliebe nicht laut werden lassen, weil er sie in Barberino am zufriedensten wähnte. Diese war jedoch mit allem einverstanden. Seit ihr Roderich fehlte, kam es auf eine größere oder kleinere Entfernung nicht mehr an. Wenn man doch begraben liegt, sagte sie sich, so ist es gleich, ob sechs Schuh tief oder sechzig.
Wären sie nun sogleich abgereist ohne die Umständlichkeiten, mit denen Egon einen solchen Entschluß zu umgeben pflegte, so wäre es zu aller Heil gewesen. Aber der verwöhnte Mann haßte das Hotelleben, er erhob den Anspruch, überall im eigenen Heim zu sein; deshalb wurde gleichzeitig nach St. Moritz und Pontresina um ein kleines Chalet telegraphiert. War das gefunden, so sollte Carlo wie früher mit dem größten Teil des Gepäcks vorausreisen, das Haus einrichten und für eine Köchin sorgen; das Ehepaar folgte dann in Begleitung der Kammerfrau langsam nach. An den beiden Orten war jedoch bei der vorgerückten Kurzeit kein Chalet mehr zu haben, man mußte sich mit einem kleinen Haus auf Maloja begnügen, das allerlei Mängel hatte. Bis die Sache fest geregelt war, begab man sich nach Florenz zurück, von wo die Abreise leichter vonstatten ging.
In der Nacht vor der Rückkehr wurde Vanadis durch einen Mark und Bein durchdringenden Schrei vom Fenster her aus ihrem immer nur leichten Schlummer geschreckt. Es klang wie von einem Kind in Todesnot, erinnerte aber auch zugleich an eine Katze. Die Augen aufreißend sah sie einen schwarzen Vogel von, wie ihr schien, gewaltigen Umrissen am offenen Fenster sitzen. Der schrie noch einmal ebenso auf und verschwand mit lautem Flügelschlagen ins Dunkel. Mit abergläubischem Schauder sprang sie aus dem Bett, um das Fenster gegen alles Unholde zu schließen. Aber draußen lag die Nacht im mildesten Sternenfrieden, und in dem mattverbreiteten Glanz war nichts Unheimliches mehr wahrzunehmen. Sie blieb am offenen Fenster stehen.
»Wen hast du gemeint?« fragte sie hinter dem Davongeflogenen her. »Wärst du vor Corinnas oder Berties Tod gekommen, so müßte ich dich fürchten, aber damals hast du nichts gewußt.«
Sie suchte in der ungeheuren Weite des sternbesäten Himmels den Stern, den ihr Roderich genannt hatte. Endlich fand sie ihn tief unten am Horizont, rötlich flimmernd, zum Untergang geneigt; sie kannte ihn nur noch an den Sternbildern seiner Umgebung, die er mit hinunternahm. Seltsam tragisch berührte sie dieses unaufhaltsame Wegsinken ganzer Sternengruppen hintereinander. So folgen auch die Menschen, die man geliebt hat, einer dem andern, und die Stelle, wo sie noch eben standen, wird dunkel und leer. Ihre Tränen flossen noch einmal um Corinna, um Bertie, und am wehesten um Roderich. Langsam verblich die ganze Pracht und verschwamm in grauer Dämmerung, durch die sich bald die ersten Vogelstimmen ankündigten. Darauf noch einmal Schweigen und Dämmern, bis mit einem Ruck der Vorhang aufgezogen wurde. Unten glänzte erfrischt ihr liebes Tal mit seinen Häusern und Gehöften. Da nahm sie aus der verschließbaren Mappe ein Blättchen, worauf sie in den ersten Tagen ihres Glücks zwei Strophen einer dichterischen Eingebung geschrieben hatte:
Ich will mich vertändeln im Blumenhag,
Nicht sehen, was mir droht,
Mein Glück sei ein einziger Sommertag,
Ein langer, leuchtender Sommertag,
Und sein Abend sei der Tod.
Die glücklichen Paare zu jeder Frist
Küssen ihr Herze satt.
Was wissen die Satten, wie Liebe küßt,
Die keine Zukunft hat!
Darunter schrieb sie jetzt noch mit eilender Feder:
Ein schwarzer Vogel krächzte zu Nacht
Auf meines Fensters Bord.
Du schwarzer Vogel der Mitternacht,
Wen, sprach ich, rufst du fort?
Die zwei ersten Strophen schienen auf die letzte gewartet zu haben. Sie überlas das Ganze und siegelte es in einen Umschlag. Darauf schrieb sie: »Nach meinem Tode verbrennen!«, denn sie wollte nicht, daß Egon, falls auch ihr einmal etwas zustoßen sollte, ein Zeugnis ihrer Liebe und ihres Leides fände. Die Rückkehr nach Florenz gab jetzt die Möglichkeit, Roderich noch einmal zu sehen, ehe sie auf die lange Reise ging, und die Kürze der Frist drängte zu raschem Handeln. Er hatte sich nur bis Capraja an der Linie von Pisa begeben, um schnell zur Stelle zu sein, wenn sie ihn rief. Carlo war mit Packen der Koffer beschäftigt, die er mitnehmen sollte. Seine Abfahrt war auf den nächsten Tag festgesetzt, dann würde es immerhin noch ein paar Tage dauern, bis die Herrschaft folgen konnte. Egon, durch den Vorgenuß der Luftveränderung gehoben, kramte in Schriften, die er für das noch immer vorhandene Saffianköfferchen zusammentrug. Da äußerte sie den Wunsch, noch schnell nach Signa zu fahren und auf der Villa Malaspina eine Nacht mit ihren dortigen Freunden zu verbringen. Sie hatte dereinst auf der Hochzeit des jungen Paares getanzt und dann die Patenstelle bei ihrem kleinen Mädchen übernommen, das nach ihr Eugenia hieß. Das Geburtstagsgeschenk, das sie wie alljährlich dem Kinde bringen wollte, lieferte ihr den Vorwand. Egon hatte nichts einzuwenden, wenn auch diesmal der Geburtstag schon vorüber war, eine Nachfeier war ja ebenso gut. Roderich wurde verständigt. Der Tag ließ sich nach Wunsch an. Mit einem kostbaren Perlenanhängsel, das sie dem eigenen Schmuckkasten entnahm, erschien sie bei den Freunden zu jubelnder Überraschung. Schwieriger war, sich wieder von ihnen zu lösen, ohne wenigstens über Mittag zu bleiben. Sie ließ den Wagen, der sie gebracht hatte, warten, indem sie ein eiliges Geschäft in Montelupo vorschützte und daß sie die Weiterfahrt nur des Kindes wegen unterbrochen habe. Es fiel nicht auf, weil sie öfter die dortigen Töpferwerkstätten besuchte, die ihr das Geschirr für die Giojosa lieferten. Glücklich machte sie sich frei. Es gab noch ein kleines Straßenhindernis auf der Rückfahrt; sie fieberte. Aber sie erreichte rechtzeitig den Bahnhof. Noch zwei Minuten, dann kam der Zug von Florenz, den sie zur Weiterfahrt benutzen mußte. In einer halben Stunde würde sie in Montelupo sein. Dort wartete Roderich. Er brauchte nur einzusteigen – so war es seit lange brieflich zwischen ihnen vereinbart –, dann fuhren sie zusammen nach Pisa; sie hatte ihre Fahrkarte schon bis dorthin gelöst. Von Pisa führte ein Kleinbähnchen unter schattigen Platanen in drei Viertelstunden nach Bocca d'Arno. Dort war sie einmal vor Jahren allein auf der Düne unter den Schirmpinien beim Geschrill der Zikaden gesessen und hatte die weitverbreitete, sandige, geisterhaft stille Mündung des Flusses, der auf seinem Lauf so viel Größe sah, geliebt. Flußmündungen, wo das Süßwasser sich der Salzflut mischt, hatten stets einen tiefen Zauber auf sie geübt. Nun erst diese, die im Schauer der Einsamkeit wie ein unberührtes Geheimnis dalag, denn noch hatte die alle Zauber tötende Betriebsamkeit dort keine Sommerkolonie errichtet. Nur ein einfaches Unterkunftshaus mit offener Terrasse nach dem Meer hatte sie damals unter Pinien halb versteckt gesehen. An diesem weltvergessenen Strand einmal einen Tag und eine Nacht mit Mond und Sternen zu verleben, war ihr ein unerfüllter Wunsch geblieben, der sich mit Egons Gewohnheiten nicht vereinen ließ. Desto besser mit denen Roderichs. Am Strande lag gewiß wie damals ein Boot, sie würden es flott machen und im Abendglühen selbander hinausrudern auf die sich purpurn färbende Welle. Dann würden sie noch lange Haupt an Haupt auf der Düne sitzen und endlich drinnen bei Mond- und Sternenglanz entschlummern. Niemand würde sie dort nach Namen und Herkunft fragen, sie würden endlich einmal ohne Furcht vor Störung beisammen sein, sicher und selig wie die Glücklichen, deren Glück die Gesellschaft hütet.
Der Zug aus Florenz fuhr ein, ihr Herz klopfte der Freiheit entgegen. Aber die Knie bebten ihr, als eine schwarze hagere Gestalt eilig herausstieg und ihr den Weg vertrat, Carlo.
»Die gnädige Frau muß gleich nach Hause kommen, es ist ein Unglück geschehen.«
»Ein Unglück!« – Für sie gab es nur eines: nicht zu Roderich kommen. So stark war der Antrieb in dieser Richtung, daß sie noch mechanisch zu dem Zug hinstrebte, der schon zur Abfahrt pfiff. Er hielt sie auf:
»Die gnädige Frau muß verzeihen, ich komme mit einer sehr traurigen Nachricht. Die gnädige Frau muß sogleich heimfahren. Der gnädige Herr hat die Sprache verloren.«
*
»Mein Geliebter in Zeit und Ewigkeit!
Ich nehme an, daß Dich mein Eiltelegramm vor Einfahrt des Zugs, der mich nicht mitbrachte, erreicht hat. Ich habe es an den Bahnhofsvorstand gerichtet, damit es Dir richtig übergeben würde. Etwas Furchtbares hat uns auseinandergerissen, das hat Dir meine Botschaft gesagt. Ich hatte meinen Fuß schon auf dem Trittbrett des Wagens, da faßte das Schicksal meinen Arm. Roderich, Dein Vater hat eine Hirnblutung erlitten, er liegt halbseitig gelähmt, der Sprache beraubt. Er sieht mich an aus Augen – ich habe keine Worte, um diesen Blick zu schildern. So muß ein Verschütteter, zu dem die Helfer nicht gelangen können, aus den Trümmern seines eingestürzten Hauses hervorblicken. Was mit ihm geschehen ist, wissen wir nicht. Ich hatte ihn morgens bei leidlichem Wohlsein verlassen, ganz mit dem Gedanken an die bevorstehende Übersiedlung nach Maloja beschäftigt. Ein paar Stunden später fand ihn Carlo bewußtlos am Boden. Er scheint einen Brief erhalten zu haben, der ihn schwer erschütterte, kleine Stücke eines zerpflückten Blättchens lagen noch umher. Ein plötzlicher Schrecken muß ihn wie ein Wetterstrahl getroffen haben. Der Arzt war bei ihm und blieb die ganze Nacht. Als ich eintrat, gab er ein leises Zeichen des Erkennens, indem er den gesund gebliebenen Arm zu heben suchte und ein ›Oh! – Oh!‹ hervorbrachte, das eine freudige Überraschung auszudrücken schien, als wollte er sagen: So hast du mich doch nicht verlassen. Carlo sprang mit der frommen Lüge ein, als habe er mich schon zur Rückfahrt bereit auf dem Bahnhof getroffen, weil ich es doch nicht vermocht hätte, die Nacht vom Hause fortzubleiben. Er wiederholte sein ›Oh! Oh!‹ Ich konnte nur bei dem Kranken niederknien und mein schamrotes Gesicht auf seine gelähmte Hand legen. Es sieht so aus, als ob ihm unsere Verabredung verraten und als Fluchtplan gedeutet worden sei. Von wem? Ich habe noch keinen Anhalt zu einer Mutmaßung. Deine Briefe gingen alle durch des treuen Matteo Hände, wenn ich sie nicht selber von der Post abholte, die meinen an Dich trug ich immer eigenhändig zum Briefkasten. Wie undankbar muß ich ihm erschienen sein, wenn er mir zutrauen konnte, ich würde, nachdem ich seine guten Tage geteilt, ihn verlassen, da die schlechten begonnen haben. Der Arzt macht aus der Schwere des Falles kein Hehl, doch scheint er in dem Umstand, daß der Kranke seine Umgebung kennt und auch sonst Spuren von Erinnerung zeigt, ein günstiges Zeichen zu sehen.
Ach, daß man nicht schuldlos durchs Leben gehen kann! Wie glaubte ich all mein Tun im Recht. Und trage nun vor mir selbst den Vorwurf, mich an dem versündigt zu haben, der seit meinen frühesten Tagen wie eine gütige Gottheit über meinem Leben stand. Wenn er an mir zugrunde ginge – ich könnte mein Aug nicht mehr zur Sonne erheben. – Komm Du nicht hierher, ich würde es nicht ertragen, Dich jetzt zu sehen. Ich werde Dir täglich Nachricht geben, offen, auf Postkarte, dem Sohn vom Befinden des Vaters.«
»Geliebter, es ist schon eine Woche seit dem Schreckenstag vergangen, und er hat noch kein deutliches Wort gesprochen, wir wissen nicht, ob er das volle Bewußtsein wiedererlangt hat, denn man versteht sein Gestammel nicht. Ach, und er ist so unglücklich, wenn er sich nicht verstanden sieht. Es muß ihm ein trostloses Gefühl von Einsamkeit geben. Der Barmherzige Bruder, der Dich auf der Giojosa pflegte, ist um ihn und teilt sich mit mir und Carlo in die Wachen. Meist liegt der Kranke ganz still und wird nur unruhig, wenn ich einmal auf längere Zeit das Zimmer verlasse. Dann suchen seine Augen umher, daß man mich schnell zurückruft. Aber neulich brach er plötzlich in ein Zwangslachen aus, das sich schaurig anhörte. Ich weiß ja, daß es ein mechanischer Vorgang ist, aber mir klang es wie ein Hohngelächter zu meinen Bemühungen.«
»Roderich, Roderich, muß ich Dich bitten, Ehrfurcht vor dem Schicksal zu haben? Wenn Du wie bisher um Casteldimonte schleichst, so kann Deine Gegenwart dem kranken Vater verraten werden, es ist schon, als spürte er sie durch die Luft, denn er ist auf einmal unruhiger geworden. Ja, wenn Du frei und offen gekommen wärest, Dich bei Carlo nach des Vaters Zustand erkundigen und auch mich zu sprechen verlangt hättest, aber dann wieder gegangen wärest, so könnte niemand Dein Verhalten bemängeln. Aber in eine Heimlichkeit darf ich nicht mehr hineingezogen werden, damit ich dem Kranken frei ins Auge sehen kann und den forschenden Blick, den er oft auf mich richtet, nicht zu scheuen brauche. Du fragst mich, ob ich meine Jugend mit dem abgelebten Greis zu Grabe tragen wolle. Ja, Roderich, das will ich. Ich will sühnen. Dieser Mann ist derselbe, der mich aus dem Typhusspital geholt hat, wo ich als eine aufgegebene Namenlose lag, und derselbe, der mich in Paris aus der Falle rettete. Und da liegt er jetzt, durch mich gefällt.
Ein anzeigender Geist wollte mich durch den schwarzen Vogel warnen. Aber ich verstand ihn nicht, wie blind und taub war ich mit allen Sinnen in Dich verstrickt, daß ich nicht an das Haupt dachte, das vor allen bedroht war. Hätte ich verstanden und wäre jenes Tages zu Hause geblieben, so hätte keine Angeberei ihm den Glauben an mich nehmen können. Dich trifft keine Schuld. Du bist niemals seinem Herzen nahe gewesen, noch er dem Deinen. Aber ich, die ich alles von ihm habe, allen Sinn des Lebens und alle Weite der Welt und allen Schutz und Geborgenheit, wie kann ich mir das verzeihen, daß er an mir vergeht!
Du wirfst mir vor, daß ich ihn mehr liebe als Dich, Du tatst es schon einmal. Jetzt ist es Wahrheit. Als Du krank auf der Giojosa lagst und niemand hattest als mich, da war er wie weggewischt aus meinem Denken, in dem nichts Raum hatte als Du. Der hilflose, gebrochene Mann ist wieder der Herr meines Lebens, wie er es in seinen besten Tagen war. Wenn mir seine Augen so ängstlich folgen, sooft ich das Zimmer verlasse, überwältigt mich's stets aufs neue, was ich an ihm verbrochen habe. Und Du sollst wissen, ich habe zur Sühne gelobt, das Haus, worin er lebt und leidet, nie wieder zu verlassen, auch nicht auf einen einzigen Tag, nicht auf Stunden, sondern die traurige Gefangenschaft mit ihm zu teilen, ob sie Monate dauert oder Jahre. Daraus folgt auch, daß ich Dich nicht mehr sehen darf. Ja, ich würde jetzt nicht einmal mehr wie eine Nonne zu Dir ans Sprechgitter kommen. Und doch liebe ich Dich wie je und werde Dich immer lieben, aber noch einmal die Arme um mich zu legen, das erwarte nicht. Glückes genug, daß wir noch voneinander wissen dürfen und daß unsere Briefe ungehindert hin und her gehen, weil es niemand der Mutter verwehrt, wenn sie den Sohn über des Vaters Leiden auf dem laufenden hält.
Mir war nicht das Glück bestimmt, ein Kind im Arm zu haben. So pflege ich jetzt dieses arme alte Kind, das mich nicht entbehren kann. Daß er mich so notwendig braucht, daß ich ihm das Leiden zu erleichtern vermag, das erleichtert ein wenig auch meine eigene Seele. Und wenn ich vollends weiß, daß Du Dich gefaßt in das Unabänderliche findest, so kann auch ich mit Fassung erwarten, was kommen will.«
Um ein weniges besserte sich nach und nach Egons Zustand. Wenn nicht durch Worte, so konnte er doch durch Mienen und halbe Winke seine Wünsche verständlich machen. Wenn der Wärter an ihm zu tun hatte, so schickte er durch ein Zeichen die junge Frau hinaus, denn er war noch immer sehr ritterlich und sehr schamhaft, sonst wollte er sie immer um sich haben. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war ihm nicht mehr bewußt. Mit jener Selbstsucht, die dem Kranken so natürlich ist, nötigte er auch sie, wach zu bleiben, wenn er nicht schlafen konnte, und wußte gar nicht, daß er es tat. Sein Krankenzimmer war der Mittelpunkt, um den sich die Erde bewegte. Allmählich erwachte er zur Teilnahme an den äußeren Dingen. Seine Neigungen und Geschmacksrichtungen sonderten sich zuerst aus dem Chaos, in dem sein Geist brütete. Als er sie eines Tages an der weißen Schürze zupfte und diese zwischen zwei Fingern leise schüttelte, erkannte sie an seiner mißbilligenden Miene, daß der Sinn für das Schöne und Gefällige sich wieder in ihm regte. Sie stand auf, um die Tracht, die er nicht liebte, abzulegen, und als sie in einem lichten Sommerkleid wieder erschien, lag er eine Zeitlang zufrieden, ganz mit ihrem Anblick beschäftigt. Und nun bemerkte er zum erstenmal die Blässe ihrer Wangen. »Oh!« sagte er wiederholt bedauernd und bemühte sich mit der gesunden Hand, ins Freie hinauszuzeigen. Worauf sie erklärte, daß sie mit dem Spazierengehen auf seine Genesung warte, um dann gemeinsam die frische Luft zu genießen. Darüber freute er sich kindlich, was er durch allerlei Zeichen auszudrücken suchte, denn ein Lächeln brachten die gelähmten Gesichtsmuskeln nicht auf. Dann kam die Stunde, wo er, auf einen Stock gestützt, die ersten Gehversuche im Zimmer machte. Sie gelangen von Tag zu Tag besser, während die Hand noch lange unbrauchbar blieb. Langsam stellte sich auch die Sprache wieder ein, freilich mußte er das Sprechen erst wieder lernen wie ein ganz kleines Kind. Seine Pflegerin saß neben ihm und ließ ihn von allen umgebenden Gegenständen die Namen nachsprechen, die sie ihm vorsagte. Das erforderte eine unsägliche Geduld, denn oft mißglückte ihm das Wort, dann konnte er äußerst unmutig werden. Darauf ging sie weiter und ließ ihn ganze Sätze nachsprechen, der Pfleger folgte ihrem Beispiel und sagte ihm Gebete vor. Als er es fertigbrachte, einen kleinen Vers von Goethe und das lateinische Vaterunser ohne Anstoß aufzusagen, herrschte Freude im Haus. Aber noch äußerte sich der Arzt über den weiteren Verlauf der Krankheit zurückhaltend.
Es war nahe an Mitternacht und der Kranke eingeschlafen, da zog die Pflegerin sachte ihre Hand aus der seinigen, um ihren Platz dem ablösenden Bruder abzutreten. Sie war müd vom Tagesdienst und suchte ihr Zimmer, um auszuruhen. Da sagte eine leise Stimme:
»Erschrick nicht!« – und aus dem Schrank, der sich lautlos öffnete, stieg Roderich.
»Was wagst du, Wahnsinniger? Bleib ferne, rühre mich nicht an, sonst springe ich aus dem Fenster.«
»Ich bleibe ja fern, du siehst es ja. Nur dein Gesicht muß ich noch einmal sehen, wenn ich leben soll.«
»Hab' ich dir nicht verboten, im Park umherzuschleichen und nach meinen Fenstern zu spähen? Jetzt kommst du um Mitternacht, auf Katzenwegen, während dein Vater leidet und stirbt. Ich muß vergehen vor Scham, wenn jemand dich gesehen hat.«
»Es hat mich niemand gesehen, ich bin nicht durch den Park geschlichen. Nur oben stieg ich vom Podere her über die Mauer. Im Nu bin ich wieder drüben, wenn ich mich noch einmal an dir satt gesehen habe.«
»Wenn du mich liebtest und verstündest, hättest du diesen Schritt nicht getan.«
»Was ist es denn so Schlimmes, wenn ich aus deinem Mund hören will, was denn eigentlich geschehen ist und wer uns das angetan hat.«
»Bleib ganz stille, dann will ich dir sagen, was ich denke. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen. Eine bloße Verdächtigung kann es nicht gewesen sein, die hätte nicht so blitzartig und vernichtend gewirkt. Es muß irgendein Beweisstück ihm geliefert worden sein, das er mißverstand. Briefe wurden nicht abgefangen, die deinen kamen alle richtig an und so die meinen an dich, es war keine Lücke in der Reihenfolge. Aber von dem Telegramm, das ich dir von hier aus sandte mit der Angabe des Treffpunktes, erhielt ich meinen Text nicht zurück. Matteo, den wir doch immer als sicher kannten, ging vom Telegraphenamt weiter Besorgungen machen und verlor, wie er mir sagte, unterwegs den Zettel. Da er nicht lesen kann, war ihm der Inhalt unbekannt, und er ahnte nicht, was er getan hatte. Ich nahm die Sache auch nicht schwer, der Text hatte ja keine Unterschrift, und wer sollte im Straßengewühl groß nach einem verlorenen Papierwisch von unbekannter Hand fragen? Erst später kam es mir, daß der Inhalt, wenn er vor deines Vaters Augen kam, ihm wohl wie eine Verabredung zur Flucht geschienen haben kann, weil er mit den Angaben, die ich ihm machte, im Widerspruch stand. Meine Handschrift zeugte gegen mich, und doch meine ich, wenn er nicht zuvor schon Winke empfangen hätte, wäre sein Verdacht nicht so weit über das Ziel geschossen.«
»Was denkt er jetzt von der Sache?«
»Jetzt ist er zu schwach zum Denken. Er will nur meine Hand in der seinen fühlen, das beruhigt ihn.«
»Ist Märchen noch hier?« forschte er.
»Sie soll abgereist sein; sie wollte mir einen heuchlerischen Beileidsbesuch machen, ich nahm sie nicht an.«
»Goffredi hat den Auftrag, Berties Grabmal zu machen für den Englischen Friedhof.«
»Sein Grabmal ist in unsern Herzen, Roderich. Aber jetzt mußt du gehen, und wir dürfen uns eine lange, lange Zeit nicht wiedersehen.«
»Ach, warum erhieltest du mich am Leben, wenn ich nichts haben soll als das nackte Dasein? Ohne dich läge ich mit den Trümmern der ›Alaska‹ auf dem Grund. Oder ich läge auf dem kleinen Friedhöflein von Barberino.«
»Du hast dein Talent und die ganze reiche Welt dazu. Du wirst noch Herrliches in ihr finden. Ich bleibe in meiner selbstgewählten Gruft und verlasse sie keinen Schritt, solange ich noch deinem Vater dienen kann.«
»So bin ich nichts mehr für dich?«
»Alles bist du. Du bist das Leben mit dem Schönsten, was es hat. Aber ich scheide mich freiwillig vom Leben. So will es die innere Macht, die mich führt. Darum glaube du nicht, mich zu wenden.«
»Ach, Vanadis, dein Wille ist unzerbrechlich, ich wußte es längst.«
»Laß mir das eine, was niemand für mich tun und leiden kann, daß ich die Einigkeit mit mir selber wiederherstelle und mich aus den gräßlichen Dissonanzen rette, in denen ich nicht zu leben vermag.«
»Ja, das hatte ich vergessen, daß du die Schwester Gunthers bist«, sagte er bitter. »Wenn ihr die Einheit mit euch selber sucht, so fragt ihr wenig nach dem Schmerz, den ihr andern zufügt.«
»Sprich nicht so, es steht nicht in meiner Macht, eine andere zu sein, aber ich werde es nicht machen wie er«, gab sie zur Antwort.
»Laß mich wenigstens noch einmal deine Hand fassen und halten«, flehte er.
»Hier ist sie. Jetzt geh!«
Er verschwand wie ein Schatten durch die Fensteröffnung und durchglitt lautlos den Weg, den er schon einmal in glücklicherer Stunde gemacht hatte. Bald hatte er auch die Mauer überklettert, denn draußen im Podere schlug der Hund des Bauern an, andere Hunde von den Nachbargehöften fielen ein, daß die horchende Frau am Fenster den lautlosen Gang des sich Entfernenden am Gebell bis ins Tal hinab verfolgen konnte. Dann warf sie sich auf ihr Bett und weinte fassungslos.
Des andern Tages schrieb ihr Roderich:
»Geliebte, oder wie soll ich Dich nennen, daß Du mir nicht von neuem zürnst? Ich will Schwester sagen, im Gedanken an unseren Bruder Gunther und an die gemeinsamen Jugendtage. Vergib mir, daß ich wie ein Wilder in die Heiligkeit Deines Lebens eingebrochen bin und Dein häusliches Dasein zerrüttet habe. Vergib mir auch, daß ich trotz Deines Verbots noch einmal kam und dadurch Deinen Frieden störte. Vergib Deinem Rasenden, er wird es nicht wieder tun. Seit ich die starre Verzweiflung in Deinem Gesicht gesehen habe, zu der ich der Anlaß war, weiß ich erst, wie unglücklich ich bin. Zwar das glaub' ich in Ewigkeit nicht, daß ein alter Mann vom Anblick eines beschriebenen Blattes stirbt. Der Faden, der da reißen soll, war schon mürb vom Ablauf der Zeit. Aber Du hast mich und Dich verurteilt, und ich gehe. Ich verlasse Italien, wo ich Dir zu nahe und zu fern bin und immer aufs neue versuchen müßte, zu Dir zu dringen. Du aber sollst Ruhe vor mir haben und ebenso ruhig sein für mich. Ich werde Dir kein neues Leid zu Deinem alten fügen, es ist an dem einen zu viel. Ich werde nicht untergehen, ich schwöre es Dir. Ich will das Werk an mir fortsetzen, das Du begonnen hast, und wenn etwas aus mir wird, so darfst Du Dir sagen, daß es Deine Schöpfung ist. Ich gehe nach Paris, darin tu ich den Willen des alten Mannes, wenn er noch einmal nach mir fragt, so sag ihm das. Ich weiß jetzt, daß es für mich das Rechte ist. Du sprachst mir einmal von einem Großen, der dort in der Stille schafft, und Du nanntest mich seinen Wahlverwandten. Unterdessen habe ich eine Vorstellung von seinem Werk bekommen. Ja, das ist, was ich immer in meiner Kunst gesucht habe. Um solche Ausdrucksmacht habe ich immer gerungen, darum fiel ich so oft ins Wilde und Abstoßende. Nun hast Du mir auch hier den Weg gezeigt. Ich werde nichts Plastisches mehr stümpern, aber ich will in der Luft leben, wo solche Werke entstehen. Nur das ganz Starke und Große, das Überwältigende, hilft aus einem Schiffbruch wie diesem vielleicht noch heraus.
Ich küsse den Saum Deines Kleides, das letzte, was ich von Dir berühren darf. Leb wohl, Du Einzige, Du dennoch Meingewesene! In Ewigkeit der Deinige.«
Diesmal folgte eine Nachschrift:
»Wenn wir uns vielleicht in ferner Zeit wiedersehen, so werde ich mir selbst nicht glauben, daß ich die stolzeste Frau im Arm gehalten habe, und Du wirst Dich wundern, was Du an dem häßlichen Kürbiskopf leiden mochtest. – Du siehst, der wortkarge Roderich kann heut nicht enden. Aber er muß. Noch einmal, lebe wohl.«
Er denkt doch nur an seinen Schmerz, das ist Männerart, dachte sie. Aber es ist gut so. Wenn er sich nur faßt, während ich ohne ihn vollende.
Die Ärzte hatten sich getäuscht, als sie Vanadis darauf vorbereiteten, daß dem ersten Schlaganfall voraussichtlich in Bälde ein zweiter, stärkerer folgen und das Leben des Kranken enden werde. Er erholte sich körperlich, die Gliederlähmung wich, und er erlangte auch nach und nach unter unendlichen Mühen der Pflegerin die Sprache vollständig wieder, wenn auch sein Sprechen ein langsames blieb und dann und wann ein Wort ausfiel. Aber die frühere Frische kehrte ihm nie zurück, sein geistiges Sehfeld war verengert und die Schärfe seiner Denkkraft hatte gelitten. Er lebte nur noch in Einzelheiten ohne Überblick. Noch immer schickte der Buchhändler die wichtigsten Neuerscheinungen der Weltliteratur; aus Deutschland kamen wie sonst Hefte und Zeitschriften. Er wollte alles neben sich aufgestapelt haben. Vanadis schnitt ihm wie in seinen guten Tagen die Bücher auf, und zuweilen wenn er schlief, las sie darin. Das war die einzige geistige Anregung, die ihr blieb. Aber wenn er aufwachte, mußte sie schnell das Buch verstecken: sie lesen zu sehen, regte ihn auf, weil er selber es nicht mehr konnte. Zuletzt blieb ihnen nur das Kartenspiel, mit dem er sich stundenlang unterhielt, weil an das Schach, das sie ehedem zusammen spielten, nicht mehr zu denken war. Musik, sonst seine Leidenschaft, obschon er sie nicht ausübte, mußte auch verstummen, weil ihre Sprache ihm zu mächtig wurde. Trotz des Gebots der Ärzte, auch an sich selber zu denken, schon um seinetwillen, wollte sie von keiner weiteren Hilfe hören als dem Barmherzigen Bruder, den der Kranke, launenhaft, wie er geworden war, zuweilen leiden mochte, zuweilen nicht. Überhaupt war außer ihr niemand sicher, ihm erwünscht zu kommen. Mitunter fühlte sie seinen Blick lange und forschend auf ihrem Gesicht, wobei es ihr bald schien, als suche er verwischte Erinnerungen zusammen, bald auch, als frage er: »«Wolltest du mich denn wirklich verlassen?« Sie streichelte alsdann nur tröstend seine Hand. Seinem geschwächten Gedächtnis kehrten nur langsam die letzten Ereignisse zurück und die Eindrücke, die zu der Katastrophe geführt hatten. Er wußte wieder, wie er die Blättchen zerpflückt hatte, die ihren vermeintlichen Verrat bezeugten, und wie ihm zumute war, als er glaubte, sie verloren zu haben. Nicht mehr ihre Stimme hören, ihr Lachen, das Rauschen ihrer Kleider durch die Säle. Kein hingeworfenes Buch mehr in der Ecke, kein zerwühltes Sofakissen mit dem Eindruck ihres süßen jungen Leibes. Casteldimonte ein geschmücktes Grab! Und das Gelächter hinter dem Rücken des alten Narren, der geglaubt hatte, ein solches Geschöpf für sich zu besitzen! – Oder flohen die zwei, um gemeinsam zu sterben? – Da hatte es ihn hingeworfen wie von einer fremden Gewalt gestoßen.
Im Freundeskreis, der nur noch bei ganz kurzen Besuchen, die der Erkundigung nach dem Befinden des Kranken galten, empfangen wurde, hieß es, die schöne Donna Eugenia weise alle Erholung von sich, weil sie mit ihrem Gatten sterben wolle. Die Ehe der jungen Frau mit dem alten Mann rückte wieder in den Blickpunkt der Gesellschaft und verursachte aufs neue heimliches Fragen und Verwundern. Aus diesen Fremden, wenn man sie auch noch so lang kannte, wurde man doch niemals klug. Aber schade um den herrlichen Sitz da oben, der jetzt verödete und immer still und dunkel dalag wie ein Kloster. Schade um die vornehme Gastfreundschaft des Hauses Solmar, die in vieler Leben einen Höhepunkt bedeutet hatte. Dem Hausherrn selber war es auf Casteldimonte nicht mehr heimisch: die vielen unbenutzten Räume gähnten vor Ödigkeit und erregten ihm eine Art von seelischem Schwindel. Die Gewächshäuser mit ihrem Treiben und Sprießen hätten noch einigen Trost gewährt. Aber um sie zu besuchen, mußte er sich von Carlo die steile, geländerlose Treppe hinabführen lassen, die er sonst mit leichter Anmut auf- und abgestiegen war; das demütigte ihn. Und dann war da das Orchideenhaus mit den Anlagen zur Gewinnung neuer Arten durch Samenkreuzung, die schon europäischen Ruf erlangt hatten und die jetzt in den Händen eines aufsichtslosen Gärtners zugrunde gingen. Seinem verlassenen Laboratorium wich er im Bogen aus, weil seine Ohnmacht ihm am Herzen fraß.
Um die letzten Reste der Gliederlähmung zu beseitigen, riet der Arzt zu einem Versuch mit den warmen Quellen von Teplitz. Mit großen Anstalten wurde dorthin aufgebrochen. Allein beim ersten Spaziergang im Kurgarten stieß er auf Bekannte aus seiner guten Zeit, die ihre Verwunderung, ihn so gebrochen wiederzusehen, nicht genügend verbargen. Die Begegnung erregte ihn so, daß nichts übrigblieb, als wieder abzureisen.
Die Monde wurden zu Jahren, die Jahre verrannen, Egons Zustand blieb der gleiche, man konnte sich fragen, ob es mit ihm auf- oder abwärts ging. Die Heftigkeit, die oft zu Anfang seines Siechtums an ihm hervorgetreten war, verschwand. Er wurde wieder der vornehm-gütige Mann, der er gewesen. Oberflächliche Besucher, die ihn nur auf kurze Zeit sahen, konnten meinen, daß er ganz der alte sei. Er genoß wieder die feine Küche, die er von je zu schätzen gewußt hatte, und die Güte seiner Zigarren. Seinen geistigen Rückgang, der ihn anfangs so verbittert hatte, schien er nicht mehr zu spüren, oder er hatte die Mittel gefunden, ihn vor sich selbst zu verheimlichen. Geistigen Gesprächen wich er aus, aber er liebte ein leichtes Geplauder über leichte Dinge, vorzugsweise in französischer Sprache. Dabei hatte sein Gesicht oft einen leeren Ausdruck, der sich jedoch beim Schlafen verlor. Alsdann trat in den abgemagerten Zügen der geistige Adelsmensch wieder heraus, als ob er ausgezogen gewesen und seine alte Wohnung wiedergefunden habe. Am wohlsten war ihm jetzt des Sommers auf der Giojosa. Dort gab es keine langen geländerlosen Steintreppen, die Schwindel erregten, nur wenige, durch Brustwehr geschützte Stufen führten ins Grüne herab. Roderichs Wandbilder störten ihn nicht mehr, es blieb ungewiß, ob er mit ihnen ausgesöhnt war oder ob er nicht mehr wußte, wer sie gemalt hatte. Auch die Erscheinung des Landfahrers mit dem Vogelkäfig suchte ihn nicht mehr heim, wenn er in der kleinen Loggia zeitunglesend seine Siesta hielt.
Mit der Zeit wurde der einfache Landpfarrer von Barberino seine liebste Ansprache, er zog ihn dem lebhaften und helläugigen Doktor vor. Schon ehedem hatte er ihn in seiner signorilen Art wöchentlich einmal zu Tische geladen und war auch ab und zu sonntags zu ihm in die Messe gegangen, um dem kirchenscheuen Landvolk ein Beispiel zu geben, weil er das für seine Pflicht hielt. Der parrocco war gleichfalls Blumenzüchter, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, und beide liebten es, ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet auszutauschen. Neuerdings bemerkte Vanadis, daß die beiden Herren, wenn sie sie bei der Zigarre verließ, auch religiöse Fragen streiften, was Egon, der durch die östlichen Geheimlehren Hindurchgegangene, sonst vermied. Er sprach jetzt gern von seiner sehr frommen Mutter, die ihn streng katholisch erzogen hatte, und bei diesen Erinnerungen erschien vor den Augen der Frau ein anderer jugendlicher Egon, als sie ihn aus den Erzählungen ihres Vaters und seinen eigenen zu kennen glaubte. Sein Bild verlor an klarer Zeichnung, und sie fühlte sich fremder in seinem Leben. Was ihr dabei an natürlicher Zusammengehörigkeit entschwand, suchte sie durch innere Aufbietung zu ersetzen, ihre Hingebung, aus angstvollem Seelendrang geboren, wurde zur Selbstvergewaltigung im Lebensverzicht. Hatte sie nicht glücklich sein dürfen bis zur letzten Ausschöpfung ihres Selbst, so suchte sie jetzt ihre Erfüllung in der Selbstverneinung, die im Grund nur eine stärkere Selbstbejahung war, ein sich selber Worthalten um jeden Preis. Sie war sich dieses Wandels nicht bewußt. Wenn sie in den Spiegel sah und ihr blasses, schmalgewordenes Gesicht erblickte, war es ihr gleichfalls fremd und vermehrte ihre Fremdheit im Leben, denn die schönen gewesenen Tage hatten ja einem andern Gesicht gehört. Mit Staunen dachte sie an den unverwüstlichen Frohsinn der Großmutter, die ein ganzes Leben hindurch Tag für Tag im Spiegel das gleiche Gesicht zu sehen geglaubt hatte. Auch sie pflegte einen gebrechlichen Mann, und einen, der kein Egon gewesen war. Glückliches Zeitgeschlecht, in dem diese Frau wurzelte.
Roderich war wieder fast so fern wie in der Zeit seines Schweifens. Er sandte zuweilen einen Zeitungsausschnitt, wo seiner Arbeiten ehrenvoll Erwähnung geschah, schrieb aber nie. Eines Tages kam Alma mit ihrem Gatten aus Paris, wo sie jetzt wohnten. Sie hatten Casteldimonte leer gefunden und fuhren unangemeldet nach Barberino als eine wohltätig empfundene Überraschung. Sie brachten gute Nachrichten von Roderich, von dessen Genius sie mehr als je erfüllt waren und der, wie sie berichteten, der Kunstwelt schon kein Unbekannter mehr war. Verkehr hatten sie keinen mit ihm, er wohnte weit draußen in einem Außenviertel und ließ niemand in seine Werkstatt. Er lebte dort zusammen mit seiner Frau, ob gesetzlich verheiratet, wußten sie nicht, und hatte zwei Kinder.
Vanadis hatte es nicht anders erwartet. Und doch fuhr ihr bei diesem Wort ein Schwert in die Seele, das wie von grausamer Hand immerzu langsam hin und her gedreht wurde. Auch wenn Liebe alle Hoffnung aufgegeben hat, hofft sie doch unbewußt weiter, irgend etwas Unsinniges, Unmögliches: daß man eines Morgens erwachen könnte und alle traurige Wirklichkeit wäre ein Traum gewesen, jener unerreichbare Traum würde Wirklichkeit. Nun war es ausgesprochen, der Vorhang ging nieder, und selbst die Erinnerung mußte schweigen.
Sehr einsam war es in ihr und um sie her. Schnee lag über der Landschaft ihrer Seele. Auf der Giojosa hatte sie keinen Umgang als ihren alten Freund Bonanno, der die Behandlung Egons weiterführen sollte, aber sich in der Stille mehr Sorge um ihren als um seinen Zustand machte. Sie redeten mitunter Heimliches zusammen, das der Patient nicht erfahren durfte. Dieser, ganz in sich selbst befangen, bemerkte nicht, daß er ihre Kraft aufbrauchte. Wenn sie sich ohne ihn nur bis zum Waldsaum entfernte, folgte ihr schon sein durchdringender Ruf, der sie zurückhaben wollte, oder ein Diener wurde eilig hinter ihr her gesandt. Wie aber sich die schweren Gedanken vom Halse halten, wenn man sie nicht dann und wann den grünen Bäumen und den blauen Lüften hinwerfen kann? So Jahr um Jahr die Luft mit einem Siechen teilen, ein sinkendes Leben betreuen und wissen, daß kein Aufstieg mehr möglich ist, nach jedem kleinen, mühsam errungenen Vorteil die Natur, die nicht mehr konnte, aufs neue zurücksinken sehen, das zermürbte. Andere junge Frauen hüteten in Stolz und Glück das aufblühende Leben, sie schickte ihre Jugend einem Hinsterbenden voraus ins Grab. In dem Friedhof ihrer Heimat standen auf einem Grabstein in der Nähe Esthers in griechischer Sprache, von der sie einige Kenntnis hatte, die Worte: »Wen die Götter lieben, der stirbt jung!« Dieser Spruch hatte ihr in den um Edwin vertrauerten Jahren einigen Trost gebracht. Jetzt machte sie an Egon die Gegenprobe.
Eines Nachts träumte ihr, daß sie Egons Beerdigung beiwohne. Als sie an sich niedersah, bemerkte sie – und wollte vor Scham vergehen –, daß sie ein rosenfarbenes Seidenkleid trug! Während sie voll Entsetzen dachte: Wie konnte ich das tun? – sah sie aus irgendeiner Ecke her die Augen Märchens hämisch auf sich gerichtet. Erwachend schauderte sie vor der unbekannten Höhle des eigenen Innern, in die der Traum ein schnelles Blinklicht geworfen hatte, und wollte es vor sich selbst nicht wissen, daß ihre Seele wie durch ein Zellengitter hinaus nach Leben und Freiheit und Selbsterhaltung blickte.
Wieder wurde es Lenz, auf Casteldimonte sangen die Nachtigallen, und der Flieder duftete zu allen Fenstern herein, da klopfte mit eins der Tod an die Tür. Lang, lang waren der jungen Frau die Jahre neben dem siechen Mann geworden, schwerer, immer schwerer die Opferschale, die sie trug. Aber die Nähe des Unwiderruflichen änderte auf einmal alles. Der bevorstehende Verlust zeigte ihr erst wieder, was sie an diesem Mann besessen hatte, dessen unendliche Liebe von ihren ersten Schrittchen an mit ihr gegangen war. Egon hatte Fieber; eine Lungenentzündung, Folge zu langen Sitzens in der Abendluft, kündigte sich an. Er war sehr unruhig, in der Aufregung des Fiebers kam wieder Glanz in seine Augen und etwas von seinem alten Geist in seine Reden. »Sieh mich nicht so liebevoll an«, sagte er einmal, als er beim Erwachen ihr Gesicht über das seine geneigt sah, »du bindest mich zu fest an die Erde. Ich bin wie das edle Roß Bayard, das nicht sterben kann, solange es das Angesicht seines Herrn erblickt.«
Sie brach in Tränen aus, da hielt er zärtlich ihre Hand fest: »Du Dummchen, ich scherze ja nur.« – Aber die ganze folgende Nacht lag er in Delirien und schrieb mit dem Finger in die Luft.
Am frühen Morgen schickte Carlo nach dem Konsul. »Der Herr will sein Testament machen«, sagte er zu der Herrin.
»Hat er denn keines gemacht?« fragte diese erstaunt.
»Er machte eins bei seiner zweiten Heirat, das er später verbessern wollte. Seit Jahren nahm er sich's vor, kam aber nie dazu.«
Bei diesem Anlaß erfuhr die junge Frau, die nie nach den Geldverhältnissen ihres Gatten geforscht hatte, daß Casteldimonte durch die Erträgnisse eines böhmischen Majorats erhalten wurde, das beim Tod seines Inhabers an eine fremde Linie fiel, und daß das übrige Vermögen, das zum größten Teil von Egons erster Frau stammte, keineswegs sehr bedeutend war. Der treue Diener führte seit Egons Siechtum die meisten Geschäfte des Hauses und war in alles eingeweiht, er durchsah die großen Abrechnungen des böhmischen Verwalters und die der englischen Bank nicht minder als die kleinen der Bauern von Casteldimonte; der jungen Frau war nur beim Bau der Giojosa, gleichsam als Spiel, die Verwaltung dieses kleinen Eigentums übergeben worden. Carlo entledigte sich seiner Aufgabe mit so viel Takt, daß der Kranke, der sich noch immer die Rechnungsbücher vorlegen ließ, obgleich sein Kopf der Aufgabe nicht mehr gewachsen war, glauben konnte, alles selber überprüft und richtig befunden zu haben. Dieser Carlo, dem sie sein Verhalten gegen Roderich lange nicht hatte vergeben können, war ihr jetzt lieb und unentbehrlich geworden wie ein letzter, ihr verbleibender Rest von der treuen Obsorge ihres Gatten.
Der Konsul erschien, mußte aber wieder fortgeschickt werden, weil der Kranke zu müde war. Des andern Tages wiederholte sich der gleiche Vorgang, aber Ruhe ließ der Verschub ihm nicht; in steigender Beklemmung warf er sich im Bett herum. Vanadis sah es mit Erbarmen: dieser Mann, einst der Starke, der Weise, und scheute sich, seine Unterschrift unter eine Verfügung zu setzen, als hätte er sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben.
»Er scheut sich, Vergangenes aufzurühren«, sagte Carlo, der ihn am besten kannte.
Vanadis entschloß sich, mit ihm zu sprechen. Sie nahm seine umherfahrende Hand in ihre beiden und sagte bittend: »Egon, ich sehe, daß dich etwas quält. Darf ich es nicht wissen, daß ich dir's abnehme?«
Er seufzte noch tiefer und schwieg. Da ging sie gerade vor: »Du hast nicht vorgesorgt für unseren Sohn? Ist es das, was dich drückt?«
Sein Angesicht erhellte sich. Daß sie wieder »unser Sohn« sagte, gab sie ihm ganz zurück und machte den Strich unter die vergangene Irrung. Er nickte.
»Laß alle Sorge fahren. Ich bin ja da. Es wird alles in deinem Namen geschehen, als ob du selber gewaltet hättest.« (Und besser, setzte sie in Gedanken hinzu.) Damit war sein Gewissen entlastet.
Die Entzündung griff schnell auf die andere Lungenhälfte über. Der Arzt und die Pflegerin verstanden sich durch Blicke, aus denen die Hoffnung schwand. Aber der Kranke genoß die Frühlingsluft, die sein Bett umspülte, und die Fülle seiner herrlichen Blumen, mit denen Vanadis eigenhändig sein Zimmer schmückte.
»Was wäre die Welt ohne die Frauen?« sagte er dankbar zu Carlo, allen ihren Bewegungen folgend.
»Herr, von dieser Art gibt es nur eine«, war des Dieners andächtige Antwort.
In diesen Tagen geschah, was keiner von Egons Freunden je für denkbar gehalten hätte: der Eingeweihte östlicher Geheimlehren und Kenner aller Religionen wurde wieder katholisch.
Die religiöse Frage war für die Zeit und für den Kreis, worin jene Menschen lebten, urlängst im Sinne Lessings und Goethes entschieden: jede Religion war gut, war eine reine Schale, der Gottheit entgegengehalten, solange sie bei ihrer seelischen Aufgabe blieb. Daß es unduldsame, streitende Bekenntnisse gab, war ein Stück Geschichte; man erwartete nicht dergleichen im Leben zu begegnen. Egon liebte den Umgang mit dem feingeistigen höheren italienischen Klerus, dem er sich an lächelnder Weltkenntnis und an Kunstgefühl verwandt wußte. In den geselligen Tagen von Casteldimonte hatten viele höhere Geistliche dort verkehrt, ihre Unterhaltung war die fesselndste gewesen, man hatte über alle hohen Gegenstände, nur niemals über Weltanschauliches, gesprochen. Auch wenn irgendwann einmal unter dem jüngeren Geschlecht die Rede auf solche Dinge kam, so schwieg der Herr des Hauses und lächelte. Ihm war alles Vergängliche Gleichnis, und auch die Religionen waren vergänglich, nur die Religion blieb. Ein einziges Mal schien er so etwas wie Partei zu nehmen, als seine damals noch ganz junge Gattin sich gegen einen der allverneinenden Dogmatiker des Unglaubens ereiferte: »Was der Menschheit jahrtausendelang zum Halt gedient hat, kann nur ehrwürdig sein. Wenn ich in der Kirche so ein armes altes Weiblein knien und beten sehe und lese in ihren vergrämten Zügen und flehenden Augen die Angst um irgendeinen bösen Jungen, den sie im Leib getragen hat, dann weiß ich, daß es ein Verbrechen ist, an solcher Stütze zu rütteln.« – Da hatte ihr Egon beifällig die Hand geküßt. Dann aber hatte er sich einlenkend an die Gesellschaft gewendet: »Laßt es gut sein, Kinder, das ist ein Gegenstand, den die Menschheit nie zu Ende denken wird.«
Auch jetzt vollzog sich die Wandlung nicht innerhalb des Bewußtseins. Es war kein Umdenken des Gedachten, sondern ein plötzlicher Durchbruch, ein Hervortreten früher Eindrücke, so wie zuweilen auf einer getünchten Wand ein altes Gemälde wieder durchdringt. Eine Rückkehr in die frühe Kindheit. Im Traum trat seine Mutter an sein Bett, wie sie es damals zu tun pflegte. Sie berührte ihn mit einem goldenen Kruzifix und mahnte: »Sage noch deine Gebete auf, dann wird die Muttergottes zu dir kommen.« (Das war sein glühendster Kinderwunsch, einmal die Muttergottes zu sehen.) Während er sich ängstlich mühte, ein Gebet zusammenzubringen, verbreitete sich ein himmlischer Wohlgeruch. Die Gebenedeite stand im Strahlenkranz an seinem Bett. »Ora pro nobis«, lallte er. Sie legte ihm eine kühle Hand auf die Stirn. »Ora pro nobis«, wiederholte er innig bittend und versank wieder in Halbschlummer. Vanadis, frisch aus dem Bad gestiegen, im weißen Kleid, nach Veilchenessenz duftend, setzte sich neben sein Bett.
»Gnädige Frau, es wird nötig sein, den Reverendo zu dem gnädigen Herrn zu bitten. Der Herr Baron hat das Bedürfnis, sich mit seiner Kirche zu versöhnen.«
Sie machte große Augen: »Hat er Ihnen das selbst gesagt?«
»Nicht ausdrücklich, aber ich habe ihn verstanden.«
Sie begriff. – »Ich gehe sogleich selber Don Tito holen. Nehmen Sie unterdessen meinen Platz ein, Carlo.«
Don Tito Castaldi war ein langjähriger Freund des Hauses und eine stadtbekannte Persönlichkeit. Hochgeschätzt als Gelehrter in verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern und in der Mathematik, dabei ein Mann von sprichwörtlicher Reinheit und Güte, dem die Kinder auf der Straße nachliefen, um ihm die Hand zu küssen. Mit Egon verbanden ihn die wissenschaftlichen Belange und dessen Freigebigkeit für seine Armen. Donna Eugenia, die er persönlich bei seinen Kranken zu treffen pflegte, stand ihm noch näher. Er nannte sie gerne Töchterlein und sie ihn Don Tito oder gar Papa Tito.
»Ich komme im Namen meines Mannes, Reverendo«, sagte sie atemlos eintretend.
Der alte Priester erhob sich von seinem Buch, erstaunt über die förmliche Anrede.
»Wie geht es dem trefflichen Freund? Ich habe lange nicht nach ihm geschaut, es gab so schwere Fälle in meiner Seelsorge. Aber ich werde in den nächsten Tagen das Versäumte nachholen.«
»Nein, Reverendo«, sagte sie, »ich muß Sie bitten, sogleich mitzukommen. – Draußen wartet der Wagen und zu Hause wartet ein Kranker, der wenig Zeit mehr hat und der ungeduldig ist, durch Sie die Tröstungen seines Glaubens zu empfangen. – Ich sehe, Sie sind überrascht«, fuhr sie fort, weil er ohne Worte vor ihr stand.
»Meine Überraschung ist hohe Freude, Donna Eugenia. Aber sagen Sie mir, wie dieses Licht bei ihm durchgebrochen ist.«
»Ich kann Ihnen nichts sagen, als daß er in der letzten Zeit oft und viel von seiner Mutter gesprochen hat, die eine sehr fromme Frau gewesen ist und ihn im Herkommen ihrer Kirche erzogen hat. Als ich begriff und auch von Carlo daran gemahnt wurde, daß er sich in das Nest seiner Frühzeit zurücksehnt, bat ich ihn, Sie holen zu dürfen, und er nickte mit Freuden Ja.« Das letztere erzählte sie schon im Wagen sitzend. Bevor sie das Krankenzimmer betraten, hielt sie den Geistlichen noch zurück.
»Don Tito, darf ich Sie in Ruhe hier einführen? Der Arzt hat Aufregungen für unmittelbar gefährlich erklärt. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie dem Kranken diesen Schritt, den er am Ende seines Lebens nach einer völlig anders gerichteten Vergangenheit tut, nicht erschweren werden? Er ist schwach und leicht zu ängstigen. Gebrauchen Sie die Macht, die Ihnen gegeben ist, mit Schonung.«
»Fürchten Sie nichts. Gott ist ganz Liebe, wehe seinem Diener, der es nicht auch wäre.«
Sie führte ihn vor das Bett, wo Carlo unterdessen am Kopfende den auf weiße Seide gemalten chinesischen Buddha von der Wand genommen und durch ein Kruzifix ersetzt hatte. Dann ließ sie die beiden allein.
Wohl eine Stunde verging, bis Don Tito sie wieder hereinholte.
»Nun blicken Sie diesen Schlummernden an, Donna Eugenia. Sieht so ein Gequälter aus? Sehen Sie die befreiten Atemzüge. Er ist in sein Nest heimgekehrt, wie Sie es nannten, er hat seinen Frieden gefunden. Mir ist wohl für ihn.«
»Ich danke Ihnen, o ich danke Ihnen so sehr.« – Sie brach in Tränen aus und wollte seine Hand küssen, die er zurückzog, um ihre blasse Wange zu streicheln.
»Und Sie selber, Donna Eugenia? Fühlen Sie nicht hier an diesem Bette, wie wohl es tut, einem jeden von uns, ein solches Nest zu haben? Fühlen Sie kein Heimweh? Sagt Ihnen Ihre Seele nichts für sich selber? Sie haben viel gelitten und schwer gekämpft, ich sah es. Welch himmlischer Trost für diesen Sterbenden, wenn er durch sein Beispiel Sie nachgezogen hätte. In einer Stunde komme ich wieder mit den heiligen Sakramenten. Wieviel reicher und süßer würde die Gnade in das Herz dieses Sterbenden einziehen, wenn er Sie, die er so sehr geliebt hat, zuletzt noch als eine Gerettete an seiner Seite sähe.«
»Lassen wir das, Don Tito. Ich möchte die Wandlung, wenn mir eine solche bestimmt sein sollte, nur einem inneren Durchbruch, nicht einer Überrumpelung von außen danken.«
»Überrumpelung? – Von außen?« sagte der alte Priester schmerzlich.
»Vergebung, teurer Freund. So war es nicht gemeint. Nicht Sie sind der Überrumpler, die plötzliche Überraschung dieser Umkehr ist es.«
»Und doch sind wir uns viel näher, als Sie selber wissen, liebe Tochter.«
»Sie mögen recht haben. Mit einer tiefen Frömmigkeit kann ich mich aufs tiefste verstehen. Aber dazu braucht es der Formeln und der Dogmen nicht. Und nichts von all den Zeremonien und Litaneien und dem glitzernden Drum und Dran, das den Frömmlern und Kirchensitzern die Hauptsache ist. Und Sie, Don Tito, geben mir in der Seele recht.«
»Nein, meine Tochter, das tue ich nicht. Sie kennen nicht die Segenskraft des Wortes, das einmal Fleisch wurde der Menschheit zuliebe. Dieses Wort, vermöge dessen noch täglich Brot und Wein sich in Fleisch und Blut verwandeln, hat seine Wirksamkeit in sich selbst, ohne daß der schwache sündige Mensch vom seinigen hinzuzutun braucht. Deshalb ist die bloße Berührung mit ihm, das Sprechen eines Gebets, das Tragen einer heiligen Reliquie, heilkräftig.«
Sie schwieg, und hier endete das Religionsgespräch der beiden.
»Wir sind eine schöne Wegstrecke miteinander gegangen«, sagte der Sterbende zu seiner geliebten Pflegerin, als die heilige Handlung vorüber war, »jetzt scheidet sich unser Weg. Du bleibst die Tochter Heinrich Folkwangs, aber ich brauche keine Sorge um dich zu haben, und du verstehst auch mich. Unser Scheiden ist nur ein zeitliches. Einmal werden wir uns wieder zusammenfinden, dort wo es keine Zeit gibt. Verlaß mich jetzt, ich muß noch ein wenig mit mir allein sein.«
Als der Arzt gegen Abend erschien, schlummerte Egon schon wieder mit einem zufriedenen Lächeln, aber der Atem ging schwer und die Brust röchelte. Der Arzt fühlte lange den Puls und warf dann einen vielsagenden Blick auf Vanadis. Diese neigte leise das Haupt zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.
»Ich sehe in einer Stunde wieder nach. Sorgen Sie, daß er jetzt durch nichts mehr gestört wird.«
Sie setzte sich wieder und faßte die Hand, die sich auch im bewußtlosen Zustand um die ihrige legte. Und nun zog ihr eigenes Leben, wie es mit dem seinigen verknüpft gewesen, Bild um Bild noch einmal an ihr vorüber. Ihre Kindheit und erste Jugend, über der er wie ein Stern gestanden, alle die kleinen und großen Freuden, die sie ihm und ihm allein von allen Menschen dankte, wie er ihr beisprang in jeder Not, wie er sie dann als die edelste seiner Blumen gehegt und zum höchsten Blühen gebracht hatte, daß sie ganz zum Werk seiner Hände wurde. Und wie danach die Verwirrung über sie alle gekommen, an der niemand schuldig, aber auch niemand unschuldig war. Das alles drängte sich in seiner letzten Lebensstunde zusammen. Es schien unfaßlich, daß dieser Mann jetzt von ihr ging. Und doch konnte sie um seinet- und ihrer selbst willen keine Verlängerung seiner Tage mehr wünschen. Als der Arzt wiederkam, warf er nur einen Blick in das stillgewordene Angesicht, dann löste er langsam ihre Hand aus der seinen, schon erkaltenden:
»Jetzt ist es höchste Zeit, daß Sie an sich selber denken«, sagte er.
Er führte die Todmüde am Arm die Treppe hinauf in ihr eigenes Zimmer, während Carlo weinend ihren Platz einnahm.
Als sie in erster Morgenfrühe nach kurzem Erschöpfungsschlaf wieder ins Zimmer trat, saß der Getreue noch immer bei seinem toten Herrn. Er deutete auf seine Augen, die sich wieder geöffnet hatten:
»Der gnädige Herr will die gnädige Frau noch einmal anschauen.«
Schweigend schloß sie die toten Augen und breitete ihren Brautschleier der Länge nach über den Entseelten.
Zweimal habe ich ihn zum Schein für dich getragen, sagte sie ihm in Gedanken, jetzt soll er dich unter die Erde begleiten.