Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Zweites Kapitel. Märzenlüfte

Ein Jahr und darüber war vergangen. Wie ein jähes kurzes Sturmgewitter war der deutsch-französische Krieg vorübergebraust, ohne von der Familie Folkwang ein Opfer zu fordern, weil die Knaben ja noch zu klein waren zum Waffenrock. Als die Glocken zur Kaiserkrönung läuteten, hatte Vater Folkwang zu den Seinigen gesprochen und ihnen an Hand der Geschichte die gewaltige Bedeutung der endlichen, wenn auch unvollkommenen Zusammenfassung der deutschen Stämme und der Gründung des neuen Reiches erklärt. Er war aber auch von vornherein jeder Überhebung, die von der Schule oder Straße aus einzudringen drohte, entgegengetreten und hatte der Jugend in Worten, die sie nie vergaßen, die Selbstbescheidung des Siegers und die Achtung vor dem unterlegenen Gegner als oberste Pflicht des einzelnen wie der Nation ins Herz geprägt. Ein Geist der Hoffnung war in ihm erwacht, daß seine hängenden Schultern sich wieder aufrichteten und seine Augen freudiger blickten: es schien ihm, daß jetzt beim Sinken der Schranken innerhalb des geeinten Vaterlandes ein freierer Luftstrom durch das Ganze kreisen und mit allem Zurückgebliebenen, Gestrigen, auch veraltete Irrtümer und Vorurteile der wissenschaftlichen Welt, mit denen er gerungen hatte, hinausfegen müsse. Er holte das schon vergilbte Manuskript seines vergleichenden Werkes über Mythen und Religionen der Völker wieder hervor und führte den heranwachsenden Sohn auf langen Spaziergängen, die sie zu zweien machten, in seine Gedankenwelt ein. In Gunthers feuriger, wirklichkeitsfremder Dichterseele verwob sich die Romantik seiner geliebten deutschen Heldensage mit dem großen Zeitgeschehen, und sein ganzes Wesen spannte sich mit gläubiger Inbrunst auf das geträumte Hochziel einer künftigen Führerschaft. Wogegen Bruno sich mit den Klassenkameraden zu lautem Soldatenspiel zusammentat und Roderich seinen Anteil an den Ereignissen nur dadurch äußerte, daß er auf dem Dachboden, wo er in seinen Freistunden hauste, statt der pflügenden Ochsen gewappnete Reiter und ausrückende Fähnlein, aber alles in mittelalterlicher Tracht, malte.

Vanadis, das Kind, wurde nun schon zum angehenden Jungfräulein. Es lag rings wie Märzluft um sie her, voll von Ahnungen und Hoffnungen, die keinen Namen hatten. Jeder Tag brach mit einer großen Erwartung an und schloß, wenn er nichts Neues, Besonderes gebracht hatte, doch mit der Vorfreude auf den morgigen. Sie ging die Wolkenwege des Bruders nicht mit, sie liebte die Erde mit ihren Blumen und das noch unerschlossene Leben mit seinen unbekannten Schätzen und Wundern. Sie sprach auch nicht mehr mit den Unsichtbaren, die sichtbaren Dinge nahmen sie jetzt gefangen. Sie hatte den Drang, sich zu schmücken, und lernte von der Großmutter, die auf den Hofbällen von halb Europa geglänzt hatte, das verklungene Menuett jener Maskenfeste und die Tänze ihrer eigenen Zeit. Und einen besseren Tanzmeister als die Großmutter konnte man sich nicht wünschen: man mußte sie sehen, wie sie mit ihrer vornehmen Leichtigkeit und Grazie bei dem tiefen Knicks in ihren Röcken untertauchte, daß die Enkelinnen Mühe hatten, es ihr nachzutun. Wie kam diese Wandlung über das Kind? Vanadis war verliebt, ohne es selbst zu wissen. Ein junger Mann, Sohn eines befreundeten Hauses, hatte sich eines Tages bei der Großmutter vorgestellt. Er kam soeben von der Universität als junger Doktor der Medizin und sollte vorübergehend den Assistenten an einem in der Nähe gelegenen Sanatorium vertreten. Seine Mutter hatte einmal in ihrer Jugend als Gast bei den van der Mühlens gelebt und von dort weg in gute Verhältnisse geheiratet. Aus Dankbarkeit war sie seitdem mit Frau van der Mühlen in brieflichem Verkehr geblieben, und es verstand sich von selbst, daß ihr Sohn, als ihn ein Zufall in die Gegend führte, im Haus ihrer alten Gönnerin empfohlen war. Der junge Dr. Gerhardt empfahl sich überdies von selbst durch ein sehr vorteilhaftes Äußere und ein anziehendes Betragen. Vanadis war bei diesem ersten Besuch zugegen, sie trug einen Arm verbunden in der Schlinge, denn das Pony war am Morgen mit ihr gestolpert und hatte sie ohne seine Schuld zu Fall gebracht, wobei sie sich am Arm verletzte.

Mit einer liebenswürdigen Selbstverständlichkeit wickelte der junge Arzt, ohne zu fragen, den Verband ab, untersuchte die Verletzung, verordnete eine Einreibung, für die er gleich im Vorübergehen die nötige Anweisung in der Apotheke geben wollte, und legte den Verband in kunstgerechter Weise wieder an, knüpfte auch die Schlinge bequemer. Beim Fortgehen bat er um die Erlaubnis, wiederkommen und nach seiner Patientin sehen zu dürfen.

Die Großmutter, die immer nach Neuem begierig war, ergoß sich im Lob des jungen Mannes, auf die Enkelin hatte er einen stillen, aber um so stärkeren Eindruck gemacht. Schon des andern Tags kam er wieder, um selber die Einreibung vorzunehmen. Er hielt den langen schlanken, noch kindlichen Arm, an dem sich schon eine anmutige Rundung vorbereitete, in den Händen und behandelte ihn mit ebensoviel Zartheit wie Geschicklichkeit. Er stellte sich nun häufig im oberen Stockwerk des van der Mühlenschen Hauses ein, wie es sein Dienst gestattete, und machte der alten Dame in scherzhafter Weise den Hof. Bei der mangelnden Ansprache in der kleinen Stadt zogen ihn ihre reiche Welterfahrung und der Hauch der Vornehmheit, der sie umwehte, lebhaft an, so daß er auf sie das hübsche Wort geprägt hatte, sie sei mit ihren Jahren nicht nur liebenswürdig, sondern noch immer verliebenswürdig. Die beiden Enkelinnen, die häufig zugegen waren, gefielen ihm nicht minder. Die Schwestern hatten jetzt einen Gegenstand, über den sie sich heimlich mit Eifer unterhielten. Denn auch Estherchen, die einen scharfen Blick für menschliche Eigenart besaß, war lebhaft für ihn eingenommen. Sie sprachen davon, daß er schöne braune Augen habe, und wenn er lächle, etwas ganz Besonderes um den Mund, das ihnen der Ausdruck einer wertvollen inneren Besonderheit zu sein schien. Und daß er blutjung als freiwilliger Pfleger einen Lazarettzug ins Feld begleitet hatte, gab ihm in den Augen der kleinen Mädchen noch eine besondere Weihe.

Einmal traf er bei der Großmutter mit einer jungen Russin zusammen. Die Familie war durch Zufall zu dieser Bekanntschaft gekommen. Vor etlichen Monaten hatte Professor Folkwang auf einem Spaziergang zwischen den Feldern Gelegenheit gehabt, einem jungen ausländischen Ehepaar, das beim unvorsichtigen Durchqueren eines besäten Ackers unter Beschädigung des Lattenzauns mit dem gröbsten und geizigsten Bauern der Gegend in Streit geraten war und sich nicht auszudrücken wußte, eine Gefälligkeit zu erweisen. Er beschwichtigte den heftig schimpfenden Eigentümer, und da der Fremde, seiner Aussprache nach ein Russe, kein gewechseltes Geld bei sich trug, erlegte er den geforderten Schadenersatz, worauf das Pärlein dankend abzog.

Des andern Tages waren dann beide gekommen, um ihre Schuld zu begleichen und nochmals zu danken, und waren in Abwesenheit des Hausherrn von der Großmutter empfangen worden, die auch eine Zeitlang in Petersburg gelebt hatte und noch ein wenig Russisch sprach. Sie forderte jedoch das Paar, das sich gerne auch dem Hausherrn empfohlen hätte, nicht auf, den Besuch zu wiederholen, weil sie zufällige Bekanntschaften nicht liebte. Vor kurzem aber hatte sie vernommen, daß der junge Mann, dessen kränkliches Aussehen ihr aufgefallen war, im Sanatorium gestorben sei, und von seiten der Witwe war ihr ein französischer Trauerbrief zugegangen. Da jammerte sie das junge Wesen, das mutterseelenallein im fremden Lande zurückgeblieben war, daß sie ihr ein paar teilnehmende Zeilen schrieb und sich erbot, ihr, falls sie etwas bedürfe, an die Hand zu gehen. Nun war Frau Bazarew erschienen, um für die bewiesene Anteilnahme zu danken. Sie erklärte, daß sie sich noch nicht entschließen könne, die Stadt zu verlassen, wo ihr geliebter Gatte begraben sei, auch habe sie von Rußland her Kreditbriefe und andere Papiere abzuwarten, daß ihr aber in ihrer Verlassenheit nichts so großen Trost gewähren könne als die Anlehnung an ein Haus wie dieses, worauf denn Frau van der Mühlen versprach, sich ihrer anzunehmen, solange sie noch in der Stadt weile.

Als Dr. Gerhardt erschien, zeigte sich's, daß die beiden sich schon kannten, weil er ihren Mann in seinen letzten Lebenswochen behandelt hatte, und beim Aufbruch, da es schon zu dunkeln begann, begleitete er sie nach Hause. Bei seinem nächsten Besuch bemerkte er gegen Vanadis, als sie einen Augenblick allein waren:

»Sie haben das Herz der Frau Bazarew im Sturm erobert. Sie hat großes Verlangen, öfter mit Ihnen zusammenzusein. Da sie aus sehr guter Familie ist und gewohnt, wohin sie kommt, in den gebildetsten Kreisen zu verkehren, findet sie hier niemand, der für sie paßt. Ein gemeinsamer Spaziergang mit Ihnen, dann und wann, wenn Sie gerade Zeit haben, würde eine wahre Wohltat für sie sein.«

Das Mädchen sagte mit Freuden zu, auch sie war aufs wärmste für die Fremde eingenommen, der das einfache und geschmackvolle Trauergewand etwas eigentümlich Bestechendes gab. Von der Großmutter war die Erlaubnis leicht zu erlangen, weil das heranwachsende Mädchen doch endlich auch etwas Umgang haben mußte und weil das Französisch, das die Russin geläufig, wenn auch ohne Feinheit sprach, das der Enkelin vor dem Einrosten bewahren sollte.

Sie sprachen aber jenes Tages kein Französisch zusammen, denn kaum hatten sie das Wäldchen betreten, wo eine Aussichtsbank hübschen Rundblick über die Gegend gewährte, tauchte Gerhardt auf, den ein Zufall – oder was sonst? – den gleichen Weg geführt hatte. Die beiden Erwachsenen hatten einen taktvollen, liebenswürdigen kameradschaftlichen Ton mit dem halben Kinde, der den Abstand der Jahre überbrückte. Das Kind fand einen unaussprechlichen Genuß an der Neuheit dieses Verkehrs und hätte gewünscht, daß der Spaziergang nie ein Ende nehme. Als sie jedoch einen beliebten Ausflugsgarten erreichten und Gerhardt die »Damen« zu einer Tasse Schokolade einladen wollte, erklärte sie plötzlich ganz bestimmt, daß die großmütterliche Erlaubnis so weit nicht reiche, und sie wäre allein umgekehrt, wenn die andern nicht schließlich auch verzichtet hätten. Der Vorschlag, den Frau Bazarew mit Vergnügen aufnahm, flößte ihr starken Widerwillen ein. Das war zu ihrem Heil, weil bei den strengen Schicklichkeitsbegriffen der Zeit ihr Erscheinen an dem öffentlichen Vergnügungsort unter dem Schutz eines fremden jungen Mannes das peinlichste Aufsehen erregt hätte. So klang der Tag beglückend aus, das Kind kam mit strahlenden Augen nach Hause und lebte vor dem Einschlafen die schönen Stunden noch einmal durch, während im Bettchen nebenan die kleine Esther stille Tränen zerdrückte, denn sie fühlte sich mit einem Male ausgeschlossen und der Schwester entfremdet. Die Spaziergänge wiederholten sich nun häufig und nicht immer mit Wissen der Großmutter, die solcher Übertreibung der neuen Freundschaft ihre Zustimmung versagt hätte. Denn sie hielt trotz ihrer Weitherzigkeit streng auf das, was sie die »Dehors« nannte und was der wildgewachsenen Enkelin nicht immer von Bedeutung schien. Und da die alte Dame selbst bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Schwiegersohn und dessen Schwester zu äußern pflegte, sie wisse wohl, sie sei altmodisch und könne den Anschauungen des jüngeren Geschlechts nicht mehr folgen, was aber nur eine gefällige Form war, ihnen nahezulegen, daß diese Anschauungen anfechtbar seien, fand es die Enkelin geraten, ihr diejenigen eines noch jüngeren Geschlechtes zu ersparen. Die Freundschaft nahm an Wärme nur immer zu. Die häufige Abwesenheit des Mädchens fiel im Haus nicht auf, weil man gewohnt war, daß sie noch immer ihre Bücher und Lernaufgaben auf die Zinne von Schloß Tronje oder an einen anderen versteckten Waldplatz trug. Freilich bemerkte Vanadis bald, daß zwischen den beiden noch eine besondere nähere Vertrautheit herrschte, an der sie keinen Teil hatte und die sich in Blicken und gelegentlichem Armstreifen kundtat. Die Entdeckung verursachte ihr einen Schmerz, den sie nur dadurch niederringen konnte, daß sie sich die Anmut und Liebenswürdigkeit der neuen Freundin recht lebhaft vor Augen stellte und in ihrem Herzen einen Doppelaltar errichtete, vor dem sie beiden zusammen ihre liebevolle Verehrung darbrachte. Seit der mißglückten Einladung versuchte Gerhardt keine zweite, aber er trug jetzt immer die Tasche voll Pralinen und Röstmandeln für seine zwei Freundinnen. Das Mädchen hatte jedoch seit ihren frühesten Tagen einen so großen Abscheu vor naschhaften Kindern, daß sie niemals zugriff, so schwer es ihr oft fiel, standhaft zu bleiben. Frau Bazarew hingegen war dieser Verführung äußerst zugänglich und knapperte so lange fort, bis der Vorrat erschöpft war.

Eines Tages kam das Paar, das ihr jetzt mehr und mehr als ein solches erschien, nicht zu dem verabredeten Stelldichein. Mit einem Riß in ihrem kleinen Herzen ging das Kind wieder nach Hause, ohne jemandem etwas zu sagen. Esther allein merkte, was vorging, sie schwieg jedoch, nur durch eine wachsende Abneigung gegen die Russin, die ihr von Anfang an mißfallen hatte, gab sie zu verstehen, daß sie auf dem laufenden war.

»Wie bist du nur so verblendet!« konnte sie gelegentlich sagen. »Sie ist ja gar nicht schön. Der Kopf ist viel zu groß für den Körper, und um den Mund hat sie einen Zug, ich weiß nicht wie. Ich würde sagen, es sei etwas Gemeines, aber das ist vielleicht zu stark. Etwas Edles ist es jedenfalls nicht.«

»Esther!« rief Vanadis schmerzlich entrüstet, während ihr zugleich klar wurde, daß dieser Zug auch ihr keineswegs gefiel. Aber das wollte sie nicht einmal vor sich selber zugeben und erging sich in weitläufigem Lob der Freundin, ohne Glauben zu finden. Ja, es zeigte sich, daß die eigensinnige Kleine auch Gerhardt ihr anfängliches Wohlwollen entzogen hatte, denn sie behauptete jetzt, daß er falsch sei, was beinahe zu einer Entzweiung zwischen den Schwestern geführt hätte.

Bei der nächsten Begegnung sagte der junge Mann zu Vanadis:

»Wir waren gestern in Waldhausen« (so hieß eine große, etwas entlegene Ortschaft), »Frau Bazarew wollte einmal eine Kirchweih sehen, wir haben uns trefflich unterhalten.«

Die Russin begann in ihrem gebrochenen Deutsch allerlei Possen zu erzählen und die Gebärden der Burschen und Dirnen beim Tanze mit gutem Geschick nachzuahmen.

»Es ist schade, daß Sie nicht dabei waren«, fuhr Gerhardt zu Vanadis fort. »Aber wir haben unserm Kinde zur Entschädigung etwas mitgebracht. Sie müssen es erraten, sonst bekommen Sie es nicht.«

»Das kann ich nicht erraten«, sagte sie abweisend, denn sie liebte es nicht, wenn man ihr Geschenke anbot.

»Oh, es wird Ihnen gefallen, es ist ein hölzernes Schäfchen« – und er zog das spannenlange, aus Holz geschnitzte Ding, das aus einer Nürnberger Spielwarenschachtel stammte, aus der Tasche und hielt es ihr hin.

Das Mädchen fühlte sich ihres unreifen Alters wegen verspottet, ihre Augen flammten auf.

»Selber Schäfchen!« sagte sie und warf ihm die Gabe ins Gesicht.

Das hölzerne Ding ritzte ihm die Wange, daß er erzürnt auffuhr, denn er hatte es nicht böse gemeint, es war nur ein Einfall der russischen Freundin, den er ausführte. Als er aber die Augen des Kindes blitzen sah, mußte er lachen und suchte sich der Hand, die ihn verletzt hatte, zu bemächtigen. Sie rangen miteinander, der geschmeidige Mädchenleib wand und bog sich, ohne nachzugeben.

»Seien Sie doch nicht so wild«, sagte er, »ich will ja nur die kleine Hand streicheln, die mich so schnöde behandelt hat.«

Die Russin stand daneben und lächelte. Der Zug, den Esther nicht leiden konnte, trat deutlicher in ihrem Gesicht hervor.

Endlich hatte er die Hand fest, und sie wurde ihm nun mit Lachen überlassen. Er hielt sie in der seinigen und fuhr bewundernd den Linien der langen spitzigen Finger nach.

»Das nennt man eine Künstlerhand«, sagte er zu Frau Bazarew. »Wenn man erst die Schrift in der Handfläche lesen könnte, was würde man da alles erfahren!«

Mit einem Ruck bekam das junge Wesen die Hand frei und steckte sie trotzig in die Tasche ihres Überjäckchens.

Er näherte seinen Kopf dem ihrigen und sah ihr aus kurzer Entfernung in die Augen.

»Man müßte Sie immer von Zeit zu Zeit ärgern. Der Zorn steht Ihnen gar zu gut. Ihre Pupillen werden dabei so groß, daß das Auge tief schwarz erscheint. Das ist ein ganz eigener Vorgang, den ich sonst an niemand gesehen habe.«

Sie schieden versöhnt, von beiden Seiten war die Kränkung vergessen.

In dieser Zeit wurde sogar der vielgeliebte Falada vernachlässigt. Das einzige Mal, wo sich die neue Freundin zu einer Ausfahrt im Ponywägelchen bereden ließ, wurde das sonst so fügsame Tier auf einmal störrisch, so daß der erschrockene Fahrgast unterwegs auszusteigen verlangte und Vanadis mit Esther allein nach Hause kam.

Nun geschah es einmal, daß sie sich mehr als eine Woche nicht gesehen hatten, und die Sehnsucht nach ihrem Doppelstern begann dem Kinde das Herz zu beschweren. So machte sie sich denn nach dem Mittagstisch heimlich auf, um die Freundin zu besuchen, wie sie es schon öfter auf deren Bitte hin getan hatte. Frau Bazarew hatte ein Zimmer am anderen Ende der Stadt inne, dessen Tür unmittelbar an der Treppe lag. Sie klopfte, aber es kam kein Herein. Da drückte sie leise auf die Klinke, indem sie zugleich ihren Namen hineinrief, im Glauben, Frau Bazarew halte sich still, um nicht von einem Unberufenen gestört zu werden. Sie erhielt auch jetzt keine Antwort, doch war es ihrem sehr scharfen Ohr, als ob im Zimmer etwas gewispert hätte, und zugleich entdeckte sie, daß der Schlüssel innen steckte. Eine Hand so kalt wie Eis griff ihr ins Herz, und der Blitz, der zugleich ihr Hirn durchfuhr, machte es um Jahre älter. Hier war ein Etwas, von dessen Dasein sie wußte, an dem sie aber im Leben ahnungslos vorbeigegangen war, weil sie es in Meilenferne glaubte. Es war ihr ein holdes Mysterium gewesen, von dem sie nicht zu früh den Schleier ziehen wollte. In dieser plötzlichen Nähe war es häßlich und fürchterlich, seine Berührung brannte wie eine Schmach, und sie fühlte die Hand, die diese Klinke berührt hatte, wie gezeichnet. Scheu und in sich zusammengesunken schlich sie die Treppe hinab, die sie ein Liedchen summend erflogen hatte. Als sie unten war, meinte sie einen Augenblick auf das Pflaster schlagen zu müssen, dann raffte sie sich auf und floh wie gehetzt, indem sie die begangenen Straßen mied und gleich nach dem Flusse einbog. Sie lief das Ufer abwärts bis zur Rückseite des großelterlichen Anwesens, aber sie ging nicht hinein, sie konnte kein Menschengesicht ertragen. Sie setzte sich auf die Uferböschung dem Sandrücken gegenüber, der aus der Mitte des Flußlaufs ragte – zufällig war es die gleiche Stelle, wo sie einst als Kind hineingefallen war, weil sie sich hatte waschen wollen. Wenn sie jetzt hineinfiele, brauchte man sie nicht nach Hause zu tragen, das Wasser ginge ihr nur bis zum halben Schenkel herauf. Aber welches Wasser wäre tief genug, diese Entdeckung von ihr abzuwaschen.

Es fiel ihr gar nicht ein, was bei ihrer Unerfahrenheit nahegelegen hätte, für die verschlossene Tür eine harmlosere Auslegung zu suchen. Der Eindruck war augenblicklich, unwidersprechlich. Der Zigaretten- und Mokkaduft, der durch die Ritzen drang, bestätigte ihn; sie bildete sich sogar nachträglich ein, sie habe die beiden durch die geschlossene Tür hindurch auf dem durchgesessenen Kanapee dem Eingang gegenüber fest umschlungen sitzen sehen. Und ein zweiter Gedanke war ihr fast noch unerträglicher als dieser erste: sie, sie war gekommen, ein Stelldichein zu stören, sich von den Verliebten in diesem Augenblick verwünschen und, nachdem sie abgezogen war, verlachen zu lassen! Das Lachen der Russin, das nichts Gütiges hatte, lag ihr dabei in den Ohren. Sie fürchtete, das stille Geheimnis ihres Herzens werde jetzt eben aufgedeckt, entweiht, ins Lächerliche gezogen. Mit ihren vierzehn Jahren, ihrer Unschuld, die jenen nur als Einfalt erschien, und ihrem frühzeitigen Gefühl, für das man ihr mit einem Kleinkinderspielzeug dankte, sah sie sich dem Spott als Zielscheibe gesetzt. Hierin täuschte sie sich freilich: die Russin hatte zwar wohl bemerkt, daß ihr Geliebter dem Mädchen nicht gleichgültig war, aber nichts lag ihr ferner, als den jungen Mann auf ein von ihm erregtes Wohlgefallen hinzuweisen, das seine Augen der aufblühenden Schönheit zuwenden und sich leicht in eine erwiderte Neigung wandeln konnte.

Zu all der glühenden Beschämung und der vereisenden Enttäuschung gesellte sich noch die Frage, was die beiden heimlich Verbundenen eigentlich bei ihr, dem Kinde, gesucht, weshalb sie sich so fest an sie geklammert hatten, und da gab es keine Antwort als die, daß sie einen Deckmantel für ihre Heimlichkeiten brauchten, sei es gegen die Welt oder gegen die Angehörigen Gerhardts. Und das letztere traf in Wirklichkeit zu; das Gerede der kleinen Stadt brauchte ihn ja nicht viel zu kümmern, aber von den Eltern hing er ab, die gewisse Dinge nicht leichtnahmen, und da konnte er gegen alle Zuträgereien keinen besseren Schutz finden als in der Anlehnung an das Haus Folkwang-van der Mühlen, das zwar für sehr eigentümlich, aber für streng sittenhaft galt und hochgeachtet war. Er hatte auch schon vorgebeugt, indem er in allen seinen Briefen von der entzückenden Großmutter und ihren zwei reizenden Enkelinnen erzählte und sogar gelegentlich einer russischen Dame Erwähnung tat, die zu diesem Kreis gehöre, so daß die Eltern, falls ihnen je von anderer Seite dieser Name genannt würde, im voraus damit das Bild einer gesellschaftlich unantastbaren Persönlichkeit verbinden mußten. So weit konnte die kleine Vanadis natürlich seine Gedankengänge nicht verfolgen, es war schon seltsam, daß dem Kinde, das bisher das Leben aus der Höhe ihrer Heldenbücher anzusehen gewohnt war, wie durch ein Blitzlicht diese Schleichwege weltlicher Berechnung bloßlagen. Je länger sie über ihr Erlebnis nachsann, um so ungeheurere Maße nahm es für sie an, es wurde zu einem Schmerz, in dem der Schmerz aller betrogenen Herzen Platz hatte und der am Ende gar nicht mehr ihr eigener war. Das aber konnte sie mit aller plötzlich erlangten Hellsichtigkeit nicht ahnen, daß zu gleicher Stunde die Frau, der sie ihr unschuldiges Herz gegeben hatte, ihrem Liebhaber einflüsterte, sie müsse den Umgang mit dem kleinen Mädchen abbrechen, sie habe entdeckt, daß es ein frühverderbtes, lasterhaftes Kind sei, scheinheilig und mit verkehrten Neigungen. Gerhardt, der sich doch auch auf Gesichter zu verstehen glaubte, stand wie vor den Kopf geschlagen. Aber er war zu verliebt, um seiner Dame zu mißtrauen. Doch konnte er das Gehörte nicht hinunterbringen und vertraute es einem etwas älteren Freunde an, der gleichfalls bei den Folkwangs verkehrte. Dieser geriet in helle Empörung, wandte ihm den Rücken und teilte die Verleumdung sogleich Frau van der Mühlen mit, wobei er auch nicht verschwieg, daß die Bazarew durchaus für eine Abenteuerin gelte, die schon, als sie dem armen, ihr freilich niemals angetrauten Bazarew nach Deutschland gefolgt sei, eine vielseitige Vergangenheit hinter sich gehabt und dann, noch während er mit dem Tode rang, in nähere Beziehungen zu dem jungen Arzt getreten sei, von dem sie jetzt unterhalten werde.

Die Großmutter, die so viele Ungeheuerlichkeiten auf einmal erfuhr und noch dazu hören mußte, daß ihre schlechtbehütete Enkelin dem wildernden Paare nähergestanden als sie ahnte, geriet ganz außer sich. Sie schrieb dem jungen Manne sofort, daß sie ihm und seiner Mätresse das Haus verbiete, und wandte sich dann mit einer Darlegung des Vorgefallenen an seine Mutter. Die größte Sorge bereitete ihr das Verbot ferneren Umgangs mit den zwei Gezeichneten an die Enkelin, von deren leidenschaftlicher Natur sie einen heftigen Widerspruch fürchtete. Aber das Kind antwortete mit verschlossenem Gesicht und trockenem Ton, daß weder Herr Gerhardt noch Frau Bazarew künftig für sie in Betracht kämen. Um sicherzugehen, hielt die Großmutter doch noch einen Wink über eine gegen ihre Arglosigkeit gerichtete bübische Verleumdung für angezeigt und brach dann ab, eine Frage der Enkelin fürchtend. Doch diese wollte nichts weiter wissen, es war ihr schon zuviel Schmach, die beiden Namen noch einmal in bezug auf sich selber zu hören. Sie lief in den Forst, warf sich bei der Zeder zu Boden und bohrte den Kopf in die Nadeln unter lauten Schreien, die die Klagen ihres Innern übertönen sollten.

Von Gerhardt, der nicht mehr sichtbar wurde, hieß es nach einiger Zeit, daß er eine andere Anstellung in einem weit entlegenen Landesteil gefunden habe, und bald darauf war auch seine Geliebte verschwunden und verschollen.

Eine Zeitlang lebte die kleine Vana mit einer Wüste im Herzen: Verrat, Schmutz, Niedrigkeit hatten sie berührt, ihr Frühling war jählings entblättert, das Angesicht der Erde verändert. Da kam ein Helfer zu ihr, es war Shakespeare. Mit diesem Fund flüchtete sie auf ihre Zeder und saß wieder stundenlang in grüner Verborgenheit. Er sagte ihr: »Verrat, Schmutz, Niedrigkeit, ja, das gibt es. Aber darüber schwebt ein höheres Reich, das Land der Helden und der Liebenden, wo der Schmutz nicht hinreicht und wo Schmerzen und Freuden eines sind. Bei diesen suche dir eine Heimat.«

Die häßliche Erfahrung sank tief hinunter, und die Welt begann aufs neue zu strahlen.

 

»Märchen kommt!« sagte eines Tages Vater Folkwang mit einem geöffneten Brief in der Hand zu seiner Schwester, und alsbald lief es von Mund zu Mund: »Märchen kommt!«

Märchen war Herrn Folkwangs Nichte, das Töchterchen seines jüngeren Halbbruders, des Hamburger Großkaufmanns James Folkwang. Dieser hatte nach dem Tode seiner Gattin Edith, einer blonden englischen Schönheit, lange Jahre als Witwer gelebt, um sich ausschließlich seinem Geschäft und der Erziehung seines Kindes zu widmen. Obgleich man Märchen noch nicht mit Augen gesehen hatte, war es doch, als ob alle sie kennten, denn Onkel James – von seiner gleichfalls englischen Mutter hatte er den englischen Vornamen – war so verliebt in sein Einziges, daß schon seit Märchens frühesten Jahren seine Briefe von ihr und ihren Reizen überflossen. Ihre kindlichen Worte wurden als Merkwürdigkeiten berichtet, die ersten Buchstaben, die sie malte, wurden brieflich vorgelegt und mußten zurückgesandt werden; daß ihr Wachstum von Jahr zu Jahr in allen möglichen Stellungen im Lichtbild aufgenommen wurde, verstand sich von selbst, und von diesen Aufnahmen besaß das Haus Folkwang eine unerschöpfliche Sammlung. Märchen war also ihren jungen Vettern und Basen keine Fremde, wenn auch eine von fremdartigen Wundern Umgebene. Der Ruf ihrer Unvergleichlichkeit und ihr Name als Koseform von Mary hatten sie in Wahrheit zum Märchen der ganzen Verwandtschaft gemacht.

Sie kam aus ihrem väterlichen Glanz in das bescheiden geführte Verwandtenhaus, um ein paar Monde da zu verbringen, denn Onkel James hatte sich gegen alles Erwarten auf einmal zu einer zweiten Heirat entschlossen, und nun sollte die erwachsene Tochter, die gerade um ein Jahr älter war als Gunther, dem neuen Paare wenigstens während der Flitterwochen die Freiheit des Alleinseins lassen.

Märchen war vollkommen englisch erzogen, erst durch eine Nurse, dann durch eine Governess; auch pflegte sie jedes Jahr einen Monat bei ihren mütterlichen Großeltern, teils in London, teils auf dem Lande zu verbringen, und ihr väterliches Haus war gleichfalls nach englischem Muster eingerichtet. Sie war also in äußeren Dingen anspruchsvoll, und es mußte der beste Raum im Hause für sie hergerichtet werden. Die Großmutter machte eigenhändig die weißen, rosageblümten Mullgardinen, die aus ihrer eigenen Jugendzeit stammten, auf und legte den feinen Spitzenüberwurf über das blütenweiße Bett. Vanadis und Esther steuerten noch von ihrem eigenen Mädchenkram bei, um das Zimmer des Gastes reicher auszustatten, denn ihre Herzen schlugen der schönen Base, dem Wunderkind, entgegen.

Sie erschien, und alle Erwartungen waren überflogen. Sie hatte ein Köpfchen wie eine Gemme, nicht sehr ausdrucksvoll, aber mit glänzenden Augen und Wangen wie das durchsichtigste Rosenblatt. Ihre Kleider waren vom neuesten Schnitt und äußerst geschmackvoll, ihre goldenen Armbänder klirrten, die kostbare Gürtelschnalle blitzte. Ein Halsband von kleinen, aber echten Perlen, um den bloßen Hals gelegt, und Perlentropfen in den Ohren gaben ihr das Märchenhafte, das ihr Name erforderte, und ein fremder, köstlicher Wohlgeruch umschwebte sie bei jedem Schritt.

Sie begrüßte alle und besichtigte dann gleich ihr Zimmer, mit dem sie zufrieden schien. Nur vermißte sie da und dort noch einiges, das schnell beschafft wurde. Dann packte sie aus und zeigte ihre Kleider, die mit Hilfe der beiden Schwestern sehr umständlich im Schranke aufgehängt wurden. Zuletzt ließ sie auch noch ihren Schmuck bewundern, den sie in einem kunstreich ziselierten silbernen Kästchen mit sich führte, und sie erklärte von jedem einzelnen Juwel mit Sachkenntnis die Beschaffenheit und den Wert. Als alles untergebracht war, wollte sie wissen, was die Schwestern an Schmuck besäßen, und diese mußten nun auch ihre Schätze vorweisen, die mit Kennermiene teils gelobt, teils getadelt wurden. Die Bernsteinkette fand ihren Beifall, doch nicht ohne die Bemerkung, ihre eigene, daheim gebliebene, sei ebenso schön und länger. Dann gingen sie in den Garten, alle drei Mädchen ineinander verhakt, und Märchen unterzog auch diesen einer genauen Besichtigung. Sie fand ihn sehr verwildert und rühmte den schönen Park ihrer väterlichen Villa an der Alster, der vom Gärtner in tadellosem Stand gehalten werde. Am Ende besuchten sie noch das Pony in seinem Stall, denn bis zur ersten Mahd konnte man es nicht ins Freie lassen, weil es sonst die duftende Wiese, seinen eigenen Tisch, zertrampelt hätte. Märchen lobte das schöne Tier, sie besaß ein ähnliches, mit dem sie gewohnt war, auf dem Land spazierenzufahren, und sie freute sich auf die gemeinsamen Fahrten, die sie unternehmen wollten. Nur den Namen des Ponys fand sie lächerlich und begriff nicht, wie Vanadis auf den gekommen war; Pferde, sagte sie, müßten englische Namen haben.

»Bist du nicht traurig, eine zweite Mutter zu bekommen?« fragte Vanadis beklommen, als sie nach einigen Tagen des Zusammenlebens zum erstenmal mit der schönen Base allein blieb; sie kannte Stiefmütter nur aus den Märchen.

»Das nicht gerade«, war die Antwort, »aber Papas Einfall kommt mir ungelegen, er hat so lange gewartet, da konnte er auch noch ein bißchen länger warten, bis ich selbst verheiratet wäre. Seine Braut ist nur um weniges älter als ich, wir waren lange befreundet, und sie kam eigentlich durch mich ins Haus. Ich war nicht darauf gefaßt, ihr Platz machen zu müssen, denn natürlich paßt es ihr nicht, eine erwachsene Stieftochter neben sich zu haben, und mir paßt das Zusammenleben auch nicht, wenn ich auf einmal an der Seite stehen soll, wo ich sonst allein war. Aber sie sieht meine Lage ein. Sie sagte mir noch bei der Abreise: ›Du mußt dich sehr jung verheiraten, wir wollen schon dafür sorgen, daß du den Rechten bekommst.‹ Und das war ohnehin meine Absicht. Wenn ich verheiratet bin, so kann ich tun und lassen, was mir gefällt, ich mache ein Haus, und die beste Gesellschaft steht mir offen.«

Eine unbestimmte Traurigkeit befiel die liebende Vanadis bei diesen Worten. Märchens kühle Weltreife, von ihr nur als Überlegenheit empfunden, rückte diese plötzlich auf einen ganz entlegenen Standort, wo keine Gemeinsamkeit sein konnte. Als Mädchen aus der Fremde war dieses reizende Geschöpf ins Haus gekommen und trieb alles, was in den jungen Herzen sproßte, wie ein verfrühter Lenz zu schneller und reicherer Blüte. Und was ihr Zauber aus den anderen hervorlockte, das erschien als ihre Gabe und als ein Ausfluß ihrer Persönlichkeit. Wie sollte man diese Gestalt jemals wieder missen? Und nun zeigte sich's, daß Märchen selbst das Haus der Verwandten nur als Durchgangspunkt betrachtete, aus dem sie schon jetzt wieder herausstrebte in weitere Lebenskreise, in vollkommenere Umgebungen hinein, wozu ihre eigene Vollkommenheit ihr ein Recht gab. Was konnte man tun, um der Zauberin zu gefallen, mit welchen Mitteln mußte man um sie werben, damit sie sich die Liebe, die sie erweckte, gefallen ließ? Nach Art der Jugend hatte die Verzauberte der neuen Erscheinung zu ihren sichtbaren Vorzügen noch alles beste des eigenen Wesens hinzugedichtet und stand in Anbetung vor dem selbsterfundenen Bild. Widersprechende Wahrnehmungen, die sich dazwischendrängen wollten, wurden zurückgewiesen.

Ähnlich erging es Gunther, nur daß er noch unfähiger war, zwischen dem, was er in sich erschuf, und dem, was vor ihm stand, zu unterscheiden. Er litt seit seinem Eintritt in die beginnenden Jünglingsjahre an einer Reizbarkeit, die mit tiefer Schwermut abwechselte; mit seinem Drang zur Höhe und seinem starken Reinlichkeitsbedürfnis konnte er sich schwer ins Leben finden. Nicht nur, daß er sich auf Schritt und Tritt von der Brutalität der menschlichen Gemeinschaft abgestoßen fühlte, ihn verletzte in noch höherem Grade die Brutalität der Natur, deren Forderungen dunkel in seinem Blute wühlten und die Spannung seines Wesens ins Unerträgliche trieben. Im Gemütsleben glich er der Schwester, nur daß bei ihm die Folkwangsche Schwerblütigkeit überwog: der dunkle, väterliche Bordeaux hatte sich, wie Egon einmal sagte, nicht so gleichmäßig mit dem goldhellen, mütterlichen Champagner vermengt wie bei ihr. Doch hatte er auch von diesem ein gut Teil in den Adern, und das Erscheinen Märchens brachte das Gemisch zum Brausen. Auch ihm war das Klirren der goldenen Ketten und Spangen eine Musik ihrer Seele.

Märchen besaß einen dünnen, aber wohllautenden Sopran, für dessen Ausbildung durch erste Kräfte ihr Vater große Summen aufgewendet hatte, und sie ließ ihn gerne hören. Gunther begleitete sie, er hatte ein musikalisches Ohr und war ohne Anleitung von selbst zum Klavierspiel gekommen. Was er konnte, war wenig, aber es genügte für die Bedürfnisse seiner Partnerin. Sie sang unermüdlich ihr Lieblingslied, das der sentimentalen Moderichtung entsprach: »Ich wollt', meine Lieb' ergösse« – und unermüdlich begleitete sie Gunther. Seine blauen Augen, ins Übernatürliche vergrößert, hingen ohne auf die Tasten zu schauen mit schwärmerischer Bewunderung an ihr, wenn sie im duftigen Kleidchen neben ihm stand, das Notenblatt in der Hand, die Augen nach oben gerichtet, wie um ihre Seele den Tönen nachzusenden. Sie erschien dann seinem gläubigen Jünglingsherzen als eine lichtverklärte heilige Cäcilie, und wenn sie am Schlusse sang: »Bis in den tiefsten Traum«, da war es, als ob sie beide entkörpert und selig ins Traum- und Wunderland entschweben sollten.

Wenn nicht am Klavier musiziert wurde, so spielte man im Freien, und dann konnte es geschehen, daß die Großmutter, vom Lärm angelockt, herunterkam und sich lebensfroh unter die Jugend mischte. Man spielte Blindekuh, riet Rätsel, verfaßte auch selber welche, worin Gunther große Fertigkeit besaß, wogegen Vanadis im Rufe stand, alle, auch die schwierigsten, lösen zu können. Die Tage, da dieses Völkchen lebte und jung war, hatten vor den heutigen, so viel ernsteren und bewußteren, eines voraus: daß die Jugend jünger war, noch nicht mit Zwecken überlastet und folglich harmloser, daß ihre Spiele wie die der Kinder wirkliche Spiele waren und doch zugleich mehr Geist verbrauchten, weil dieser Geist seine unbeschäftigten Stunden hatte, da er nichts Nutzbares betreiben mußte und also ohne sich zu schämen sich selbst zum Spielzeug dienen konnte. An Spielen solcher Art hatte auch ein Jahrhundert früher der jugendliche Genius Goethes sich gern vergnügt. Neckereien gehörten mit zur Unterhaltung, nur durften sie nicht boshaft werden, man liebte es unter anderem, sich gegenseitig auf das »Lästerstühlchen« zu setzen, wobei man Klatschgeschichten von abenteuerlicher Unmöglichkeit gegen die auf dem Schemel sitzende Person erdichtete oder sie mit ihren kleinen Untugenden dadurch bekannt machte, daß man ihr das umgekehrte Laster vorhielt. Das gab Roderich Anlaß zu den derbsten Ausfällen gegen das zartere Geschlecht. Als das vergötterte Märchen wie ein Blumengebilde, ganz Duft und Farbenschmelz, auf dem Armesünderschemel saß, sagte er ihr, sie sei aus Lappen gezupft wie die selige Lumbell.

An einem solchen Sommertage, der unendlich schien, saß die junge Gesellschaft unter der großen Linde im Vorgarten und spielte Pfänder. Vanadis hatte sich lange gewehrt, bis es gelang, ihr ein Pfand abzujagen, und Gunther war im gleichen Falle. Jetzt hatten die andern sämtlich ihre Pfänder wieder eingelöst, nur noch zwei waren in dem großen Beutel übrig, den Bruno hinter dem Borkentisch sitzend auf dem Schoß hielt:

»Was soll mit dem Pfande geschehen, das ich in der Hand habe?«

»Der Inhaber soll es einlösen, indem er aus dem Stegreif ein Gedicht auf die Schönste macht«, entschied Märchen.

»Und er soll es mit den Zehen schreiben«, setzte Roderich hinzu. Alle stimmten lachend bei. Bruno holte ein fliederfarbenes Band hervor, das sich Vanadis, als sie ihr Pfand verlor, aus den wieder nachwachsenden Haaren gezogen hatte.

»Inhaberin dieses Pfandes«, sagte er zu seiner Schwester gewandt, »wird ersucht, es durch ein Gedicht an die Schönste der anwesenden Persönlichkeiten einzulösen.«

»Vorwärts, Schwesterlein, schwing dich auf deinen alten Pegasus, er wird dich wohl noch kennen«, ermunterte Gunther.

Vanadis setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf den Rand des Tisches, zog ebenso gleichmütig einen Strumpf aus und ließ sich den hohen Schemel, der als Lästerstühlchen zu dienen pflegte, nebst einem Blatt Papier unter die Füße schieben. Einen Bleistift hatte sie selber in der Tasche. Diesen steckte sie zwischen die große und die nachfolgende Zehe, die weit voneinander standen, was das Spiel der Zehen, die noch so beweglich waren wie in der Kindheit, erleichterte. Und sie begann in Wirklichkeit zu schreiben. Sie hatte das oft als Kind geübt, allein, seit Jahren war die Kunst in Vergessenheit geraten. Jetzt kam sie ihr aber doch zustatten. Sie hielt das Blatt mit dem linken Fuße fest, mit dem rechten schrieb sie. Natürlich fiel die Schrift alles eher als gleichmäßig aus, und es ging auch nicht allzu rasch, so daß die Schreiberin Zeit hatte, den Inhalt zu überlegen, während es schien, als ob sie nur mit der mechanischen Arbeit des Schreibens beschäftigt sei. Ermunternde Zurufe und Gelächter der Anwesenden begleiteten ihre Bemühung. Als das Blatt heruntergeschrieben war, begehrte sie es zu wenden und begann auf der andern Seite von neuem.

»Was? Noch mehr?« sagte Bruno, der sich vor Lachen bog. »Das gibt ja einen Sturzbach von Versen.«

Endlich war auch das andere Blatt voll, und die biegsamen Zehen zogen einen kräftigen Strich unter das Geschriebene. Gunther, der vor Neugier brannte, holte schnell das Blatt unter ihren Füßen weg und begann zu entziffern.

»Man kann ungefähr erkennen, daß es Deutsch ist, aber als ein Meisterstück der Schreibkunst läßt es sich nicht ansprechen.«

»Sie soll es selber vorlesen!« riefen jetzt alle.

Vanadis nahm das Blatt an sich und las:

»Die Schönheit kann man nicht besingen,
Die ohne Wort sich selbst besingt.
Ich will ein Hoch der Anmut bringen,
Die zaubrisch alle Herzen zwingt.

Ein Jüngling wohnt in unsrer Mitte,
Und was er treibt, ist unterm Strich.
Als Spiegel aller edlen Sitte
Grüß ich den holden Roderich.«

»Puh, erbärmliche Verse!« sagte dieser und riß ihr das Blatt aus der Hand.

»Schwesterlein«, sagte Gunther, »du hast vergessen, die Muse anzurufen, darum hat sie dich bei der letzten Strophe verlassen. ›Unterm Strich‹ ist keine poetische Wendung, da kann ich Roderich nicht unrecht geben.«

»Das Gedicht ist selber unterm Strich!« schrie dieser.

»Quale vinum tale latinum«, sagte die Verfasserin, auf die Anekdote von jenem fahrenden Schüler anspielend, der für schlechte Klosterbewirtung durch ebenso schlechte lateinische Verse dankte.

»Ja, wenn ihr Latein sprechen wollt« – schmollte Märchen.

»Wie der Gegenstand, so das Gedicht«, erklärte Bruno, indem er wieder in den Beutel griff. »Jetzt ist nur noch ein einziges Pfand übrig. Was soll mit dem geschehen?«

»Das gleiche wie mit dem vorhergehenden«, bestimmte Märchen, die auf die erwartete poetische Huldigung durchaus nicht verzichten wollte. Der Beutel gab Gunthers Taschenkalender von sich.

»Aber ohne Zehenstift«, sagte dieser. Die Verschärfung wurde ihm erlassen. Er nahm nun seinerseits ein Blatt und schrieb, nicht minder schnell als seine Vorgängerin:

»Die Schönheit kann man wohl besingen,
Sie ist's, wovon die Sphäre tönt,
Die alles irdische Vollbringen
Zum Wohlklang sänftigt und versöhnt.

Und was ist schön, wenn nicht das eine,
Das jedes deutsche Herz ergreift?
Das Märchen, das im Mondenscheine
Durch unsre Wälder singend schweift.«

Er las das Gedicht an Märchen gewendet vor und schloß mit einer huldigenden Verbeugung an die Gefeierte.

Die Versammlung spendete Beifall, und die Besungene wünschte das Blatt zu besitzen. Der Verfasser versprach, es besser abzuschreiben, und entfernte sich gleich, um seine Absicht auszuführen.

»Und was wird aus meinem Pfand?« fragte der kleine Enzio weinerlich, denn ihn hatte man vergessen.

Bruno drehte den Beutel um, da fiel des jüngsten Bruders Taschenmesserchen heraus.

»Wenn du es wieder haben willst, Häslein, mußt du auf dem Rasen sieben Räder nacheinander schlagen.«

Der Knabe glänzte auf und vollführte alsbald, was ihm auferlegt war, denn das war seine Meisterkunst.

Roderich aber, der eine Zeitlang vor sich hingebrütet hatte, näherte sich jetzt Vanadis und sagte triumphierend:

»Ein Spiegel kann nichts spiegeln, als was vor ihm steht. Ich habe immer nur die Sitte gespiegelt, die du selbst mir zu sehen gabst.«

»Huhu, das ist stark«, machten Bruno und Enzio.

Aber Vanadis antwortete im Ton erstaunter Anerkennung:

»Wahrhaftig, Roderich hat einen Witz gemacht! Das ist noch niemals vorgekommen, solange wir uns kennen. Wir wollen an diesem Baum eine Tafel anbringen mit der Inschrift: ›Hier hat Roderich Solmar einen Witz gemacht.‹«

»Wart, ich will gleich einen zweiten machen, von dem du heulen sollst«, erwiderte dieser und griff seinerseits nach einem Blatt, worauf er seine Widersacherin zu konterfeien begann, wie sie vorhin auf der Tischkante gesessen hatte. Das schlanke, feingefesselte Bein bekam die Gestalt eines Besenstiels und wuchs endlos unter dem Rock hervor, riesige Zehen krümmten sich und schwangen drohend den Bleistift. Gesicht und Körper waren zu barocker Mißform verzerrt und doch nicht ganz unähnlich, weil in Haltung und Bewegung getroffen, daß alle lachten, die Verspottete selbst nicht minder.

»Ja, das ist Kunst«, sagte sie verbindlich. »Jetzt soll es heißen: ›Und was er macht, ist meisterlich.‹«

»Oh, ich kann es noch meisterlicher«, antwortete er, verärgert, daß sie sich nicht ärgern ließ. Und nachdem er einen prüfenden Vergleich zwischen seiner Zeichnung und der Wirklichkeit gezogen hatte, begann er schnell den Hals zu verlängern, versah den Kopf mit einem weit aufgesperrten Schnabel, der laut zu schnattern schien, und zeichnete ihr ein Paar Gänseflügel auf die Schultern. Danach fuhr er fort und stellte den hochgeschossenen Gunther als Giraffe daneben, unwidersprechlich ähnlich, wie er den Kopf über das Geschriebene beugte, der kurze, fette Bruno bekam eine Schweinsgestalt, und der kleine, schnellfüßige Enzio hockte als Hase auf den Hinterbeinen, wobei er den Kopf mit einer ihm eigenen schnuppernden Bewegung drehte, wie um gleich auf allen vieren davonzuspringen. Über die ganze Folkwangsche Jugend ergoß sich seine Rache, nur das zufällig abwesende Estherchen blieb verschont. Dann betrachtete er das Blatt mit Befriedigung.

»Und er sahe an, daß es gut war«, sagte seine Widersacherin feierlich.

»Es ist gut, Jungfrau Marzipan«, war die rauhe Antwort. »Genauso seht ihr aus. Daß ihr's wißt!«

»Und ich, Roderich, wie sehe denn ich aus?« fragte Märchen, die viel lieber herabgesetzt als übersehen sein wollte.

»Du bist zu schön«, sagte Roderich widerwillig, »für dich ist kein Platz in meiner Tierbude.«

Er war und blieb der einzige im Haus, den die neue Erscheinung nicht zu bezaubern vermochte. Er verfolgte sie aber nicht mit seinen Bosheiten, er ließ sie nur bei jeder Gelegenheit fühlen, daß sie nichts für ihn bedeutete. Das war es gerade, was sie am wenigsten ertragen konnte, sie gab sich deshalb eine beständige Mühe um ihn. Diesen Bären zu zähmen, hätte ihr ein ganz besonderes Vergnügen gemacht.

Darum beharrte sie darauf, daß er sie gleichfalls verfratzen müsse, sie wolle es gewiß nicht übelnehmen, bis er nachgab und schnell mit ein paar Strichen eine steife Nürnberger Puppe hinzeichnete, die aus gänzlich leerem Gesicht blickte und sich an den Baum lehnen mußte, um zu stehen; ihre Leblosigkeit wirkte unter der bewegten Tiergruppe doppelt lächerlich.

Vater Folkwang und sein Bruder kamen herzu und wollten sehen, was das Völkchen treibe. Der letztere schüttelte den Kopf zu Roderichs Leistung, dann sagte er:

»Sehr ungezogen, aber das Bürschlein hat einen verteufelt flotten Strich. Schade, daß er nichts Besseres damit anzufangen weiß.«

»Man läßt mich ja nicht«, polterte dieser in einem Ton, der wie ein Heulen klang, zerriß das Blatt und rannte, den Kopf voran, wie ein kleiner Eber in den Forst.

Es wuchs dazumal in deutschen Landen eine Blume, die fast in jedem Haus gezogen wurde, ein ebenso köstliches wie vergängliches Gebilde: das junge Mädchen. Sie war im heimischen Kreis Krone und Mittelpunkt, das Ziel aller Augen, war Königin der Gesellschaft, der ohne sie alles fehlte, und herrschte durch ihre bloße Gegenwart, durch den Schmelz, den die Natur ihr gegeben hatte. Ihr Dasein war zwecklos wie das der Blumen, sie hatte nichts als schön zu sein und das Haus mit dem Dufte der Jugend zu erfüllen, an dem die junge Männerwelt sich berauschte, die alte sich erquickte. Neben den Verlockungen der Evastochter, über die sie gebot, war sie zugleich durch Unberührtheit heilig und unirdisch. Sie war eine Besonderheit, die kein anderes Volk besaß; noch heute aus der Entfernung von anderthalb Jahrhunderten spürt man etwas von dem zarten und doch überschwenglichen Duft, den einst an den Ufern des Mains die Blume Elisabeth Schönemann ausgeströmt hat. Die Art ist verschwunden, und niemand wird sie zurückwünschen, denn nur die eben aufgebrochene Knospe hatte jenen unaussprechlichen Schmelz; nach kurzem Blühen, schon gleich nach dem Eintritt ins zwanzigste Jahr, pflegte die Blume abzufallen, und es begann die so gefürchtete Herbstverwandlung, entweder in die nüchterne, frühalternde, weil geistig unentwickelte und nur mit Kleinigkeiten befaßte Hausehre oder in das verkümmerte und nutzlose alte Fräulein. Das Duftgebilde hatte ja keine Zeit, ins Menschentum hineinzuwachsen, es war einzig mit der Aufgabe beschäftigt, zu gefallen, sich begehren zu lassen und endlich gut zu wählen, und dafür mußte die von der Natur gegebene Spanne nach Möglichkeit genutzt werden. Griff sie fehl, so war das ganze Leben verspielt. Märchen war sich dieser Aufgabe klar bewußt, ihre Erziehung hatte sie darauf vorbereitet, und ebenso wußte sie, daß sie von den drei Blumen, die jetzt im Hause Folkwang blühten, die schönste war. Mit ihrem leichten Gang, dem immer lächelnden Mund und dem lichten Haar, das sich um die kurze Stirn in freien Löckchen krauste, die, wenn der Wind darein wehte, sie wie ein Heiligenschein umstanden, setzte sie, was ihr von männlicher Jugend in den Weg kam, in Flammen. Liebesbriefe und Blumensendungen kamen für sie an, künstlich gebundene Sträuße fielen über die Parkmauer zu ihren Füßen. Sie nahm die Huldigungen als Abschlagszahlung auf größere Eroberungen und übte sich in der Taktik des leisen Anziehens und losen Haltens, die sie nur ein Lächeln von wechselnder Färbung kostete, bis die ernstlichen Bewerber in Sicht kämen. Für dieses Spiel eignete sich Gunther ganz besonders. Da Märchen in ihrer engen Sphäre bereits ein fertiger Mensch, er in seiner weiten, deren Umfang sie nicht ahnen konnte, ein erst beginnender war, schaute er an ihr hinauf und sie auf ihn herunter. Doch tat sie dies nur heimlich, denn seine Anbetung war ihr so nötig wie ihr Spiegel, in dem sie sich täglich schöner sah. Darum suchte sie sich seiner Denkart anzupassen und auf seinen Geschmack einzugehen. Es konnte nicht fehlen, daß er ihr das Nibelungenlied, seine Bibel, im Urtext brachte und daraus vorzulesen begann, wobei er das Mittelhochdeutsch so behandelte, daß es die Übersetzung schon in sich trug und von ihr wie heutiges Deutsch verstanden werden konnte. Das ließ sie sich für die ersten Gesänge gern gefallen, denn in der minniglichen Magd Krimhilde, die »sam der liehte Mâne vor den Sternen stand«, meinte sie sich selber wiederzuerkennen. Aber in der Nibelungen Not mit ihrer wilden Rachewut und Mannentreue wollte sie ihm nicht weiter folgen. Auch sie las viel und gerne, jedoch nur Oberflächliches nach dem Geschmack der Zeit: Geschichten, wo sie sich am Ende kriegten und Geld in Menge dazu. Darüber geriet sie oft in Streit mit ihrer Base, bei der die Liebenden sterben mußten, wenn es am schönsten war, und das Sterben schöner als alles Sein.

Auf Wunsch ihres Bruders James führte Fanny ihre drei Nichten zuweilen in die nahe gelegene Residenzstadt zu einer Theateraufführung. Während da die beiden Jüngeren sich dem süßen Schauder der großen Tragödie hingaben, saß die verwöhnte Hamburgerin fächerwedelnd in der gelassenen Haltung des weltgewohnten Theatergastes da und genoß sich selber und die Wirkung ihrer Persönlichkeit auf die Logennachbarn. Nur eine Aufführung der Zauberflöte, für die eine berühmte Koloratursängerin von auswärts gekommen war, riß auch sie in die Verzauberung mit hinein und machte sie jung wie ihre Jahre. Als Sarastros gebietende Gestalt erschien, tauschten die Schwestern erstaunte Blicke, und Fanny schien zu verstehen, was sie meinten. Nach dem Aktschluß erhielt Märchen die Erklärung, daß die Maske des Sarastro einem Bilde Baron Solmars gleiche, das ihn bärtig in der Tracht darstellte, die er in der Oase Biskra getragen hatte. Märchen horchte auf. Egon, den sie noch nie mit Augen gesehen, von dem sie aber so viel schon hatte erzählen hören, war seit lange ein Gegenstand ihrer Neugier und heimlichen Bewunderung; sein diesjähriger Besuch, der nahe bevorstand, wurde von ihr mit Spannung erwartet. Seit ihrem Eintritt in das Haus der Verwandten beschäftigte sie das Rätsel, was es denn mit Roderich für eine Bewandtnis habe. Warum wurde dieser Knabe im Hause Folkwang erzogen? Hatte er denn kein Elternhaus? War Baron Solmar Witwer? Lebten Mann und Frau geschieden? Warum war von der Mutter nie die Rede? Und warum stand auf Roderichs Schulheften der bloße Name ohne das »Von«? War er nicht Baron wie sein Vater? Die Folkwangsche Jugend konnte keine Auskunft geben, für sie hatte Roderich von jeher mit dazu gehört, über das Wie und Warum dachten sie nicht nach. Tante Fanny, an die sie sich wandte, verwies dem jungen Geschöpf seine unbescheidenen Fragen. Die Großmutter dagegen antwortete kühl, daß Baron Solmar in der Tat Witwer und seine Frau im Wochenbett gestorben sei. Daß sie ihr Neugeborenes mit ins Grab genommen hatte, erzählte sie nicht. Aber Märchen forschte weiter, denn irgendwie schien ihr die Sache nicht zu stimmen, sie wollte auch die Daten und sonstige Umstände wissen, worauf ihr Frau van der Mühlen die Rede abschnitt. So mußte sie ihre Neugier bezähmen, denn mit der Großmutter mochte sie es nicht verderben, das war eine Frau, von der man lernen konnte. Von dieser Frau ging ein Etwas aus, das es ihr antat; die bei ihr verbrachten Stunden waren die schönsten und aufschlußreichsten, der Ausblick in eine wahrhaft große Welt. Desgleichen fühlte sich die Großmutter von Märchen angezogen, die ihr mitunter verständlicher war als die eigenen Enkelinnen.

Auf der ganzen Rückreise sprachen die jungen Mädchen nur noch von Sarastro, dessen Züge ihnen mehr und mehr in die Egons übergingen. In seiner Schönheit, Hoheit und Weisheit fand Vanadis die Schönheit, Hoheit und Weisheit des väterlichen Freundes gespiegelt, und ihre entschlummerten Gefühle für diesen Beglücker ihrer Kindertage erwachten wieder, daß sie nicht satt wurde, von ihm zu erzählen. Esther trug ihren Weihrauch mit hinzu, und Fannys beistimmende Zwischenbemerkungen rundeten und erhöhten noch das Bild. Das hatte zur Folge, daß Märchen, die sich alles, was ihr wohlgefiel, sofort als eigenen Besitz denken mußte, im stillen auf dieses Glanzstück eines Mannes Beschlag legte und sich ein Leben an seiner Seite in verlockender Gestalt auszumalen begann. Sie brannte vor Neugier, sein Bild, und nachdem sie es gesehen, das Urbild kennenzulernen.

»Welch ein schöner, einnehmender Mann muß dieser Baron Solmar sein, ich glaube, er wäre nicht zu alt, um ein junges Mädchen zu heiraten«, sagte sie zu der Großmutter, gegen die sie sich am offensten gehenließ. »Man müßte nur wissen, ob er wirklich frei ist.«

»Er ist älter als dein Vater«, antwortete Frau van der Mühlen, der das angeschlagene Thema nicht gefiel.

Aber Märchen beharrte in ihrem Gedankengang. Bei älteren Männern, meinte sie, seien junge Frauen gut aufgehoben, und mit Baron Solmar müsse sich's angenehm reisen lassen, weil er alle Länder kenne und alle Sprachen spreche. Da dieser Gedanke bei der Großmutter keinen Widerhall fand, konnte sie nicht umhin, ihn auch Vanadis mitzuteilen.

»Glaubst du nicht, daß Baron Solmar für mich passen würde? Da ich mich doch bald verheiraten will und soll, wüßte ich keinen, der mir besser gefiele.«

Vanadis erschrak ins tiefste Herz. Das war doch ihr Freund, solange sie denken konnte, noch nie war es ihr in den Sinn gekommen, ihn an eine andere verlieren zu müssen. Aber Märchen war zur Zeit ihr Abgott, und Vanadis konnte nicht mit halbem Herzen lieben; bei ihr war wie bei Gunther alles Fühlen unbedingt und unbegrenzt. Und hatte denn nicht der Vater sie beim Balderfest gelehrt, wie man opfern soll? Je weher es tat, desto süßer war das Hingeben; jetzt erst, dachte sie, trete die große Probe an sie heran.

Mit Leidenschaft warf sie sich an Märchens Hals:

»Nimm ihn, er soll dir gehören. Märchen, du bist so schön, ich liebe dich, ich liebe dich über alles. Ich will ihn dir lassen, er soll dein sein.«

Aber ein Schmerz, der über alle bisher erlittenen Schmerzen ging, riß ihr die Worte ab. Sie machte sich los und lief hinunter auf die Wiese, wo ihr das Pony wiehernd entgegensprang. Sie legte die Arme um seinen Hals und ließ die Tränen fließen, indem sie dachte, daß von heute an ihr Freund einer anderen gehöre.

 

»Wie finden Sie Märchen, lieber Egon?« fragte Fanny.

»Ein niedliches Püppchen«, antwortete er obenhin.

Das war dem Tantenherz zuwenig.

»Sie ist eine Schönheit«, antwortete sie in bestimmtem Ton.

»Lassen Sie Vanadis zwei Jahre älter sein«, entgegnete er, »dann werden Sie sehen, was eine Schönheit ist. – Ja, Frau Fanny, man wird alt«, fuhr er fort. »Man merkt es an den Kindern, die man auf dem Schoß hatte und die jetzt große Menschen sind.«

»Nun, Sie brauchen nicht zu klagen«, sagte Fanny, »Sie sind ja der ewige Jüngling, Sie altern nicht wie wir andern Sterblichen.«

»Fehlgetroffen, Frau Fanny! Wenn ich Ihnen nicht zu altern scheine, so ist es, weil ich niemals ein Jüngling war.«

»Dann hat vielleicht mein Bruder recht, der behauptet, daß das Alter nicht in der Zahl der Jahre liege, sondern daß alle Menschen mit dem ihnen angemessenen Alter geboren würden und darin verharrten bis ans Ende. Das Ihrige war dann von jeher das, was man das ›beste Mannesalter‹ nennt, denn seit ich Sie kenne, haben Sie sich um nichts verändert.«

»Sie meinen es zu gut mit mir, Frau Fanny. Beim Anblick dieses Jugendflors fühle ich nur allzu wohl, wie es mit mir bergab geht.«

»Nun, darüber müßten Sie diesen Jugendflor selber hören. Wenn die drei Mädchen beisammen sind und über die jungen Herren ihrer Bekanntschaft zu Gericht sitzen, so heißt es bei den Unsern: Nichts gegen Egon, und Märchen stimmt bei: Kein Vergleich mit Baron Solmar.«

»Aber Fräulein Mary kennt mich ja gar nicht.«

»Sie kennt Sie aus den Schilderungen der andern. Seit sie in der Zauberflöte waren, finden sie, daß Ihr Wüstenbild dem Sarastro oder der Sarastro Ihrem Wüstenbild gleiche. Und sie sind alle drei wie verzaubert. Sie begreifen Pamina nicht, daß sie den krummbeinigen Tamino, der noch dazu ein schlechter Sänger war, dem erhabenen Beschützer der Unschuld und der Tugend vorziehen konnte, und den ganzen Tag hört man sie singen: Bei Männern, welche Liebe fühlen . . .«

»Der Vergleich ist sehr schmeichelhaft. In ein paar Jahren werde ich wohl Mühe haben, mit Weisheit auf meine Pamina zu blicken. Wer weiß, welche Überwindung es den armen Sarastro alsdann kosten wird, sein Mündel ihrem Tamino in die Arme zu legen, auch wenn seine Beine nach dem Kanon des Polyklet gebildet sind.« Es wurde ihm aber doch über diesem Gespräch so froh zu Sinn, daß er ungesäumt in den Garten hinabging, wohin die drei Mädchen soeben entschwunden waren. Sie gingen Arm in Arm über die Wiese, Märchen in der Mitte; bei diesem Anblick verdunkelte sich seine Miene, sein überempfindliches Schönheitsgefühl war abgestoßen: er haßte es, wenn schöne junge Mädchenkörper, jeder für sich ein Kunstwerk der Natur, statt sich einzeln frei vom Raume abzuheben, zum formlosen, armlosen Klumpen zusammengeballt gingen, wobei der Gang durch enges Zusammendrängen und Ungleichheit des Schrittes notgedrungen etwas Watschelndes bekam, besonders auf weichem Boden. Er näherte sich ungehört der Gruppe und schob von hinten seine Arme trennend zwischen die drei Körper. Mit einem leisen Schrei drehten sich die Mädchen um und erkannten verwundert ihren Verfolger, von dem sie soeben in Mädchenweise geschwärmt hatten. Märchen als die Mittelste stand ihm gerade gegenüber, sie hatte sich von hinten umfaßt gefühlt und meinte, es sei ein auf sie gemünztes Schäkerspiel. Da sie jedoch keine Zärtlichkeit, sondern etwas wie eine sachliche Absicht in seiner Miene las, fragte sie ein wenig spitz:

»Warum trennen Sie uns, Herr von Solmar?«

»Ich trenne euch nicht, ich will euch schöner vereinigen. Fügt eure Hände zusammen, aber nur die Finger nach Grazienweise. Laßt einander die Ellbogen frei – seht ihr, so« (er zog sie weit genug auseinander, daß jede Gestalt in ihren eigenen Umrissen stand) – »Hand in Hand gehen Grazien und Engelpaare. Auch die Ritter führten ihre Damen an den Fingerspitzen; man wußte damals noch, was schön ist. Nehmt euch die Grazien des Botticelli zum Vorbild, wie sie die langen, schlanken Elfenbeinfinger ineinander verstricken und jede ihr Flaumgewicht, aber nur ihr eigenes, auf schwebenden Zehen trägt – das ist Jugend, das ist Grazienweise!«

Märchen hatte ein rundes, molliges Patschhändchen, keine schlanken Elfenbeinfinger wie die Folkwangs von der anderen Linie. Daher fühlte sie sich nicht nur nicht ausgezeichnet, sondern vernachlässigt, und hatte Lust zu antworten, daß sie keinen Tanzmeister nötig zu haben glaube, aber ein Zauber war über ihr, daß sie sich bezwang und schwieg. Die anderen schwebten, sie an den Fingern haltend und mit sich ziehend, rückwärts und vorwärts nach den Anweisungen Egons, der die Gruppe jetzt allerliebst fand und mit Handwinken leitete. Sie drehten und wandten sich geschmeidig, schlüpften immer eine unter den verschlungenen Händen der beiden anderen durch, bis die Gruppe sich löste und die drei Nymphen ihn einzeln umkreisten, Märchen schmachtend und lockend wie eine Odaliske, Vanadis in strengem, fast hieratischem Ernst und Esther in kindlicher Unschuld. Märchen brach im Tanzen eine Blume und reichte sie ihm mit Schmeichelgebärde, Esther tat desgleichen, Vanadis ergriff die abgebrochene steinerne Schale, die neben der Hebe im Grase lag, drückte sie ans Herz und ließ sich damit langsam vor ihrem Freund auf die Knie nieder, sie mit beiden Armen wie eine Opferschale über dem Haupt emporhebend. Es war ihr geopfertes Herz, das sie seinem Glück entgegentrug, aber diese symbolische Sprache konnte er nicht verstehen. Er war nur entzückt von dem Tanz, küßte jede der Tänzerinnen auf die Stirn und dankte seinen drei Bajaderen, wie er sie nannte, für die köstliche Augenweide. Vanadis erwartete jetzt Tag für Tag, daß Egon sich mit Märchen verloben werde, denn das glaubte sie durch ihren schmerzvollen Verzicht beim Schicksal erwirkt zu haben. Sie ging stille an ihm vorbei, indem sie ihr Herz zusammendrückte, daß es sich nicht mehr regen konnte; sie hatte sich geschworen, die Stunde, wo sie Egon und Märchen vor dem Altar sehen würde, für eine sehr schöne und glückliche halten zu wollen. Ihre Beklemmung fiel Egon auf, der sich bei Frau van der Mühlen beklagte, seines Lieblings Herz verloren zu haben, aber die Lebenskundige tröstete ihn, daß dem nicht so sei, das Kind sei jetzt in die Jahre getreten, wo die Unbefangenheit aufhöre und die inneren Hemmungen beginnen.

Märchen war von seiner Haltung enttäuscht, aber nicht abgeschreckt, sondern ging jetzt ernstlicher zu der schwierigen Eroberung vor. Wo Egon ging und stand, fand er sie auf seinem Wege. Saß er mit einem Buch auf der Gartenbank, so setzte sie sich mit Blumen spielend zu ihm und störte ihn durch ihre Fragen im Lesen. Ihre Unterhaltungskunst beschränkte sich ganz aufs Fragen, sie fragte unermüdlich. Und wenn sie nicht fragte, so stellte sie unbeschreiblich einfache und unfehlbare Urteile über tiefverwickelte Dinge auf, die sie von ihrer Erzieherin fertig übernommen hatte. Denn das Gefühl der Ehrerbietung vor reiferen und überlegenen Geistern kannte sie nicht. Wenn aber törichte Reden aus einem bezaubernd frischen jungen Munde kommen, so pflegen sie keinen Anstoß zu erregen. Darum hatte sich noch niemand über die ihrigen aufgehalten.

Sie setzte sich also zu Egon, hinreißend schön und hold wie die Jugend selber, und begann zu fragen:

»Tanzen Sie gern, Herr von Solmar?«

Und ehe er antworten konnte (obgleich man im Sommer war): »Laufen Sie auch Schlittschuh? – Sie waren in Indien? Haben Sie den Ganges gesehen? Was sagen Sie vom Buddhismus?« (Die englische Erzieherin hatte sich um ihre Bildung gemüht und ihr ein ganzes Namen- und Sachregister in den Kopf geprägt.)

Ein andermal wollte sie wissen, ob er Shelley liebe oder ob er Byron vorziehe; sie selber fand beide großartig, aber sittenlos, denn mit dieser Marke waren sie im Literaturunterricht gezeichnet worden. Wenn Märchen ähnliche Feststellungen im Kreis ihrer jungen Hausgenossen machte, so pflegte sich ein Redesturm gegenteiliger Meinungen zu erheben, der vor allem Gunther Gelegenheit gab, seine verfeinerte, frühreife Geistigkeit an Märchens Gemeinplätzen zu üben, die er noch nicht als solche erkannte. Denn die Jugend kann alles zu ihrem Wachstum verwenden, auch das Unfruchtbare. Aber dem stillen Weltweisen waren ihre Reden lästig und ungenießbar. Er hatte sie eine Zeitlang belächelt und mit einer leichten Handbewegung wie einen Fliegenschwarm abgewehrt. Als aber das junge Geschöpf sich zu der Frage verstieg, wie ihm Shakespeare gefalle, bemerkte er trocken:

»Mein liebes Fräulein, wenn Sie noch lange so weiterfragen, wird es am Ende heißen: ›Hat der Sternenhimmel Ihren Beifall?‹ oder: ›Wie gefällt Ihnen das Wort Gottes?‹«

Märchen war gekränkt, und von da an hatten die Bewerbungen ein Ende. Sie fand ihn eingebildet und anmaßend – und alt, ach so alt! Nein, für ein junges Mädchen war er doch viel zu alt! Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der jüngeren und jüngsten Männerwelt zu, aber der Richtige war nicht darunter. Dafür mußte man sich nun doch durch ein klein wenig Bosheit schadlos halten. Es wurde jetzt über die jungen Leute, die das Haus besuchten, zu Gericht gesessen, und einer um den anderen fiel Märchens Zünglein zum Opfer. Sie genoß es, ihren Witz vor der Folkwangschen Jugend leuchten zu lassen, und diese gaben Beifall, selbst der gewissenhafte Gunther lachte mit, denn er hätte es nicht ertragen, einen seiner Kameraden bevorzugt zu sehen. Als das Witzeln einmal eingerissen war, griff es um sich wie Feuer und erstreckte sich bald auf die ganze Bekanntschaft; weder jung noch alt, nicht Männlein noch Fräulein wurde mehr verschont. Märchen hatte ein natürliches Geschick, die Leute nachzumachen, und an jedem fand sie eine lächerliche Seite heraus. Körperliche Gebrechen, wurden ebenso hergenommen wie seelische Schwachheiten. Aber ein Richter sah stumm und unbestechlich dem grausamen Spiele zu, das war die kleine Esther, die niemals zu Märchens oder der Geschwister Witze lachte, wenn sie auf Kosten der Abwesenden gingen. Als auch Vanadis der Ansteckung erlag und bei dem Gespöttel mitmachte, blickte die kleine Schwester sie lange kalt an, und als es zum zweitenmal vorkam, ging sie stillschweigend hinweg. Vanadis folgte ihr, da wurde sie bitter empfangen: »Schämst du dich nicht, auf so billige Weise geistreich zu sein? Laß es doch denen, die sonst nichts im Kopfe haben. Meinst du denn, man könne nicht an uns ebensoviel Ursache zum Lachen finden wie an den andern? Ist es schön, sich über den einen lustig zu machen, weil er hinkt, und über den andern, weil er einen Sprachfehler hat? Ich möchte meinem Heiland nicht mehr vor die Augen treten, wenn ich mich so am Nächsten vergangen hätte.«

Vanadis war betreten.

»Du hast ganz recht«, sagte sie, »man ist schwach und läßt sich mitreißen. Aber mir ist das spitzige Wesen auch zuwider.«

Von da an ließ sie sich nie wieder auf der Bank der Spötter treffen und begann ihr vielbewundertes Märchen mit kritischen Augen anzusehen. Ach, und wie schön war es jetzt, daß das Schicksal ihr großmütiges Opfer nicht angenommen hatte und daß der verschenkte Freund ihr doch verblieb. In ihrer Freude erwies sie ihm viele kleine Aufmerksamkeiten, die ihn rührten und beglückten, ohne daß er die Ursache des Umschwungs ahnen konnte.

Roderich hatte bei der diesjährigen Einkehr seines Vaters fest auf ein erlösendes Wort gehofft und gab sich alle Mühe, den gehorsamen, wohlgeratenen Sohn hervorzukehren. Er war ihm gleich beim Empfang entgegengeeilt um Koffer und Schachteln schleppen zu helfen, und seitdem wetteiferte er mit dem Kammerdiener an Beflissenheit. Bei Tisch dämpfte er seine laute Stimme und betrug sich musterhaft bescheiden. Baron Solmar hatte ihn wie die Kinder des Hauses reich mit Geschenken bedacht, und da er seinen guten Willen sah, zeigte auch er ihm mehr Güte als sonst, doch eine Güte, die mehr herablassend als väterlich war. Aber zu der ebenso erhofften wie gefürchteten Auseinandersetzung über seine Zukunft kam es nicht. Egon blieb die halben Vormittage auf seinem Zimmer, wo man ihn nicht stören durfte, und lag gymnastischen Übungen ob, die er sehr pünktlich ausführte, sowie gewissen stundenlangen religiösen Meditationen, von denen man wußte, daß sie dem Geiste der Veden näherstanden als dem Christentum. Nach Tische ruhte er, und der Rest des Tages gehörte den Büchern oder gelehrten Unterredungen mit seinem Freund Folkwang. Roderichs Gesicht verdüsterte sich mehr und mehr, und die geselligen Tugenden, die er sich zugelegt hatte, gingen schrittweise wieder zurück. Er verschwand, wenn er aus der Schule kam, auf den Speicher und erschien nur wieder für kurze Zeit bei den Mahlzeiten; es fiel seinem Vater nicht ein zu fragen, was er unterdessen treibe. Unlängst hatte Herr Wittich dem widerhaarigen Schüler angekündigt, daß er sich gezwungen fühle, sein undankbares Amt in die Hände dessen, der es ihm anvertraut habe, zurückzulegen. Worauf Roderich die erwartete Antwort gab, daß ihm die Nachhilfestunden ebenso wie die ganze Schule gestohlen werden könnten. Doch der Lehrer hatte noch gezögert, seine Drohung wahrzumachen, augenscheinlich, um nicht dem Erzeuger schon die erste Zeit seines Aufenthaltes zu verbittern. Mit Bangen, das er vor sich selbst durch Grimm verschleierte, sah Roderich dem Augenblick entgegen, da die schon niedergefallene Bombe zerspringen mußte.

Die jungen Mädchen, deren Zahl noch durch zwei hübsche Nachbarstöchter vermehrt war, verstanden nicht, was den Unglücklichen umhertrieb, sondern sahen nur seine wiedererwachten Launen und Bosheiten. Für ihre Gesellschaft war er nicht zu haben, und wenn er je gezwungenermaßen daran teilnahm, so gefiel er sich in der Rolle des Spielverderbers. Dafür ließen sie ihn büßen, indem sie ihn nun ihrerseits mit kleinen Tücken verfolgten. Wie man zuweilen einen gefangenen Uhu mit seinen tagblinden Augen finster und traurig auf der Stange sitzen sieht und um ihn einen Schwarm kleiner Vögel, der ihn neckt und verspottet: Fang uns, wenn du kannst! – so umkreisten die jungen Mädchen den mürrischen Roderich mit ihren Neckereien:

»Seht ihn an, ob er nicht dem Monostatos ähnelt!«

»Wem?« knurrte er grimmig, denn der Name war ihm unbekannt.

»Dem Monostatos, dem Mohren aus der Zauberflöte«, schrien sie ihn an, als ob er taub wäre.

»Wartet, ich will euch was flöten!«

Er schoß knirschend unter sie, und die losen Vögel flogen mit Geschrei auseinander. Am meisten erboste er sich wie immer gegen Vanadis, auch wenn sie gar nicht beteiligt war; die andern kümmerten ihn wenig. Sie blieb das Lieblingsziel seines Grolls. Da es ihm nicht mehr so leicht wie in der Kinderzeit gelang, sie zu reizen, und sie seinen Ungezogenheiten nur noch einen kühlen Hochmut entgegenzusetzen pflegte, dachte er sich eine neue Form der Kränkung aus. Er begann Tiere zu quälen, aber nur in ihrer Gegenwart, weil sie sich dann dazwischenwarf, um ihm sein Opfer zu entreißen. Daraus entstand eine Balgerei, wobei er ihr seine Übermacht zu kosten gab, indem er ihre feinen Handknöchel in seinen Eisenfäusten preßte, daß sie blau wurden, doch ohne ihr einen Schmerzenslaut entreißen zu können, was seinen Grimm vermehrte. Das gepeinigte Tier aber, sei es eine Katze oder ein Huhn, gewann inzwischen Zeit, zu entkommen.

Eines Tages hatte er das grasende Pony mit einem Stück Zucker herbeigelockt, um ihm schnell das Maul zu verbinden und es so wieder auf die Wiese zu entlassen. Damit dachte er zugleich auch seinen Vater zu treffen, weil das Tier sein Geschenk war. Der alte Gärtner, der sonst das Pferdchen versorgte, hatte gerade Urlaub, und niemand bemerkte die Missetat. Der arme Falada bückte sich vergeblich nach den saftigen Kräutern und suchte sich an Bäumen und Mauern die Binde abzustreifen. Als endlich Vanadis ihren Liebling sah, wie er hungrig umherirrte, flog sie hin und befreite ihn, dann stürzte sie vor Entrüstung flammend nach der Laube, wo Roderich, der seine Tat schon vergessen hatte, eben bemüht war, ein Zelttuch aufzuspannen, hinter dem er zu zeichnen gedachte. Ehe sie wußte, was sie tat, war sie hereingebrochen und hatte ihm mit der Hand ins Gesicht geschlagen, daß Funken vor seinen Augen spritzten. Dann standen sie einander gegenüber, beide gleich verblüfft und sprachlos. – Jetzt wird er mich erwürgen, dachte sie erschrocken, sich seines Jähzorns erinnernd. Aber er sah sie nur durchdringend an und ging stumm aus der Laube. Das brachte sie zu sich selber. – Was hab' ich getan! dachte sie, denn nie zuvor hatte sie gegen irgendwen die Hand erhoben, außer um sich zu wehren. Reue und Beschämung überfielen sie mit solcher Gewalt, daß ihr die Laube wie der Schauplatz eines Verbrechens erschien. Schluchzend lief sie hinaus und lief geradewegs in die Arme Egons, die sich der Betränten öffneten, wie da sie noch ganz klein war.

»Was ist mit meinem Kinde geschehen?«

»Ach, Egon, wenn ich es dir sage, wirst du mich niemals wieder liebhaben.«

Er erschrak ein wenig über diese Einleitung und drang in sie zu reden, aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus und schluchzte immer stärker. Endlich bekannte sie zwischen Herzstößen, daß sie seinen Sohn geschlagen habe.

»Meinen Sohn?« fragte er verwundert, denn die Vaterschaft haftete nicht allzu fest in seinem Hirn.

»Ja, ich hab' dem Roderich eine Ohrfeige gegeben«, kam es noch leiser.

»Du dem Roderich? Das ist doch deine Art nicht. Wie kamst du denn dazu?«

Nun mochte sie den bösen Jungen doch nicht wegen einer Tat verklagen, die ihn in den Augen seines Vaters noch tiefer herabsetzen mußte.

»Ach, er hat mich so aufgebracht, ich mag gar nicht sagen wie, und plötzlich war es geschehen. Und jetzt weiß ich, daß du mich nicht mehr liebhast.«

»Immer hab ich dich lieb, mein Kind«, tröstete er, »aber schön war es freilich nicht, ein Mädchen sollte niemals schlagen. Und hast du denn nicht bedacht, daß Roderich viel stärker ist als du? Er hätte dir ja ein Leides tun können, denn im Zorn kennt er sich selbst nicht mehr. Wie nahm er es denn auf, daß du ihn schlugst?«

»Er sah mich bloß an und ging hinaus. Da hab' ich mich so sehr geschämt. – Und ich will ihn auch um Verzeihung bitten«, setzte sie mit Überwindung hinzu.

»Das ist überflüssig«, sagte Egon. »Er wird es schon verdient haben, wenn nicht diesmal, so ein früheres Mal. Er war oft ungezogen genug gegen dich, damit seid ihr quitt.«

Aber Gunther, der gleichfalls von dem Vorgefallenen Kenntnis hatte, wollte ihr die Tat nicht so leicht durchgehen lassen.

»Was kann ein anständiger Junge tun, wenn ihn ein Mädchen schlägt? Er kann sie nicht wiederschlagen, er muß die Beschimpfung hinnehmen, wie sie in ihm wühlt und brennt. Also ist es ebensogut, als wenn du einen Schwächeren geschlagen hättest.«

»Wenn du wüßtest, Gunther, wie er mich gereizt und außer mich gebracht hat. Es vergeht ja kein Tag, da er mir nicht eine Kränkung antut. Und warum? Ich habe ihm nie einen Anlaß gegeben.«

»Und dein Spottgedicht, war das keiner?«

»Aber Gunther, das war ja ein Scherz, und er hat ihn durch seine Karikatur mit Zinsen heimgezahlt.«

»Zwischen dir und Roderich ist ein altes Mißverständnis, das geht auf die früheste Kinderzeit zurück. Von klein auf bemühe ich mich, ihm auszureden, daß du ihn verachtest, aber er glaubt mir nicht. Ich wollte es dir längst sagen, aber man kommt so schwer an dich heran.«

»Das konnte ich mir wirklich nicht vorstellen«, antwortete sie ein wenig bitter, »daß ich das Lämmchen bin, das dem Tiger sein Wasser trübt.«

»Du bist ganz und gar kein Lämmchen, mein Schwesterlein, hast dich immer trefflich zu wehren gewußt. Du denkst nicht, wie unglücklich Roderich schon dadurch ist, daß er nie ein Elternhaus gehabt hat und daß sein Vater sich so wenig aus ihm macht. Und dazu muß er auch noch täglich daran erinnert werden, wie häßlich er ist.«

»Nie, nie hab' ich ihn daran erinnert.«

»Aber du hast es ihn fühlen lassen, hast ihn stillschweigend ausgeschlossen aus deinem Kreis durch deine Begeisterung für alles das, was er nicht ist und nicht hat. Du liebst Balder, weil er schön ist, und alle deine Helden müssen schön sein, alles, was dir gefallen soll, muß das gerade Gegenteil sein von ihm.«

»Aber ihr andern seht ja meinen Helden auch nicht ähnlich«, sagte das Kind aufrichtig.

»Freilich nicht, aber da ist doch ein Unterschied. Ich zum Beispiel weiß, daß ich nicht schön bin. Das kann hingehen, Roderich aber weiß, daß er häßlich ist, tatsächlich häßlich, ihr steht im Gegensatz, ihr seid wie zwei feindliche Pole.«

»Das muß wohl so sein, denn er verfolgt nicht nur mich, sondern alles, was mir lieb und heilig und teuer ist.«

»Und ebenso verfolgst du ihn, wenn du es auch nicht weißt. Er hat oft genug darüber geweint.«

»Roderich – geweint um mich?« – Sie konnte das nicht fassen.

»So sage: gebrüllt, wenn dir das lieber ist. Du verstehst ihn nicht. Roderich hat drei Eigenschaften, die ich als die höchsten schätze: er ist großmütig, ist tapfer und ist treu. Wenn sich die Treue der Nibelungen noch einmal in der Welt verkörpern kann, so wird es in Roderich sein.«

»Wie kannst du es mit solchen Eigenschaften vereinigen, daß er hilflose Tiere quält?«

»Er quält die Tiere nicht aus Bosheit, sondern nur, wenn die Wut ihn selber quält. Die Tiere wissen es auch und sind ihm anhänglich. Wenn er heute eine Katze in den Schwanz kneipt, morgen zieht er sie mit Lebensgefahr aus dem Wasser. Es ist seine unterdrückte Begabung, was in ihm wühlt, und die Schuld ist bei denen, die ihn selber quälen.«

»Hältst du ihn denn wirklich für ein so großes Talent?« fragte die Schwester.

»Für mehr als das, für ein Genie. Um so schwerer wird er es haben, bis er sich selbst und ihn die Welt versteht. Er ist zu tief gewurzelt, als daß ihm nicht jeder Fußbreit streitig gemacht würde.«

Gunther war einer von den allzu reichen und allzu tiefen Jünglingsseelen, die ein frühes und schmerzliches Wissen um alles Menschenwesen wie von früheren Geburten her in sich tragen und Erfahrungen, die sonst das Leben zeitigt, im Geiste vorausnehmen.

»Den leichten Talenten«, fuhr er fort, »wird es auch in der Welt leicht gemacht. Da ist euer Goffredi, der wird es schnell zu etwas bringen, er soll schon jetzt seine Sachen verkaufen. Er ist ein hübscher Mensch mit dunklem Krauskopf und Italiener. Dafür hat er die Unterstützung deines Paten. Den Welschen muß man natürlich helfen, der eigene Sohn mag sehen, wie er sich selber hilft. Ist er ein Genie, so muß er ohne Hilfe fortkommen, unterliegt er, so ist er eben keines gewesen, damit trösten sich die Menschen. Auch du hast noch nie danach gefragt, was er ist und was er kann.«

Vanadis war betreten. Sie hatte sich diesem Jugendgenossen gegenüber, den sie fast nur von seinen unerfreulichen Seiten kannte, stets als die Duldende und Verzeihende gefühlt und mußte sich nun plötzlich sagen lassen, daß sie Werte übersehen und Versäumnisse begangen habe.

»Denkst du denn, daß ich ihm hätte helfen können?«

»Du und du allein. Du bist der einzige Mensch, auf den Egon hört. Auch Vater hat keinen Einfluß. Dir tut er alles zuliebe. Du mußt mit ihm reden.«

Vanadis entgegnete kleinlaut:

»Ich weiß im voraus, was er antworten wird: ›Liebes Kind, das verstehst du nicht.‹ Ich scheue mich vor ihm.«

»Wenn alle so dächten«, antwortete Gunther mit einiger Bitterkeit, »so würde nie etwas Gutes und Großmütiges in der Welt geschehen, und das Leben wäre noch um vieles ärmer.«

Seine Schwester hob den Kopf. Sie sah ein, daß sie helfen mußte, und jetzt wußte sie auch schon wie; gleichzeitig mit dem Entschluß war ihr eine Eingebung gekommen, wie sich Egon fassen ließ.

Am nächsten Tag, der ein Sonntag war, sollte ein großes Volksfest auf der am andern Stadtende liegenden Festwiese stattfinden. Es war selbstverständlich, daß niemand zu Hause bleiben würde außer der Großmutter, die nie den Umkreis des Gutes verließ, und Egon. Dieser haßte die spießbürgerlichen Belustigungen, wobei an hölzernen Tischen Bier getrunken und mit heiseren Stimmen falsch gesungen wurde, und sein Patenkind teilte diese Abneigung. Es kostete ihr also kein Opfer, gleichfalls zurückzubleiben. Am Montag wollte Egon verreisen. Es jährte sich der Zeitpunkt, wo er nach alter Gewohnheit an irgendeinem entlegenen Weltwinkel mit zwei Freunden zusammenzutreffen pflegte, die gleich ihm für Eingeweihte einer Geheimwissenschaft galten. Ihre Namen wurden nie genannt, gesehen hatte sie keiner, nicht einmal Carlo wußte, wer sie waren; wenn Egon je von ihnen sprach, so sagte er nur »meine Alten«. Das genaue Ziel seiner Reise, das jedes Jahr wechselte, erfuhr man ebensowenig, der Diener wurde niemals mitgenommen.

Nun besaß Baron Solmar ein feines Handköfferchen aus Saffian, das ihn auf allen Reisen begleitete; er barg darin gewisse Bücher und geschriebene Hefte, von denen er sich niemals trennte. Carlo durfte es weder packen noch tragen, sein Herr gab es auf Reisen nie aus der Hand. Da ihm alle Hast zuwider war, pflegte er schon am Vortag einer Abreise alles Nötige vorzubereiten und vor allem das besagte Köfferchen sorgfältig unter Berücksichtigung jedes Zettels zu packen. In der Zwischenzeit jedoch, solange die Schriften im täglichen Gebrauche waren, stand es vergessen auf dem Schrank. Auf diesen Umstand gründete Vanadis ihre Berechnung. Als am Sonntag alles ausgeflogen war – der Vater führte die Jungen, Fanny die Mädchen auf die Festwiese, und Carlo durfte sich den Mägden anschließen –, da holte sie unbemerkt das Köfferchen weg und trug es auf den Speicher.

Bald nach Beendigung seiner Siesta hörte sie, wie erwartet, Egon in seinem Zimmer kramen und unruhig hin und her gehen. Sie hielt sich in der Nähe, und als er endlich verstört die Tür öffnete, fragte sie unschuldig, ob er etwas brauche.

»Erinnerst du dich nicht an ein ledernes Handköfferchen, das immer auf dem Schranke stand?«

Der Schalk ließ es sich ausführlich beschreiben.

»Das mit dem geflochtenen Lederbügel?« fragte sie dann. »Steht es denn nicht auf dem Speicher? Ich meine, es dort gesehen zu haben.«

»Wie käme es denn dahinauf? Es stand bisher immer oben auf dem Kasten.«

»Du weißt, wir hatten kürzlich Stöbertag, da ist wieder vieles verräumt und weggebracht worden.«

Er kannte Fannys Leidenschaft, alle Gegenstände umzustellen, und unterdrückte einen Ausruf des Unmuts.

»Ich will gleich gehen und suchen«, sagte Vanadis und setzte sich scheinbar in Bewegung.

»Nein, nicht du mit deinem Kopfschmerz« (sie hatte solchen vorgeschützt, um zu Hause zu bleiben), »gib mir den Schlüssel, ich suche schon selber.«

»Allein wirst du es kaum finden«, meinte sie und brachte den Schlüssel, worauf sie selbander gingen. Der letzte Treppenabsatz war nur noch ein schwankendes Leiterchen aus ungehobeltem Holz.

»Sei vorsichtig, Pate, die Stiege ist nicht ganz sicher«, sagte sie voraushuschend.

Das war das sicherste Mittel, daß er bis oben folgte, denn er war stolz auf seine Leichtfüßigkeit.

»Hier riecht es nach Farbe«, sagte er, den Vorraum betretend.

Sie schloß die Kammer auf, die durch ein breites Nordfenster Licht bekam und seit langem der Schauplatz von Roderichs Tätigkeit war.

»Ach, Roderichs Schmieralien«, sagte Egon.

Sie hatte das Gelaß in aller Stille so weit gesäubert und aufgeräumt, daß es den empfindlichen Besucher nicht schon beim Eintritt zurückstieß. Die Bilder, die ihr selber neu waren, hatte sie geschickt geordnet, daß der erste Blick darauf fallen mußte, und das augenscheinlich Beste auf eine am Fenster stehende Staffelei gesetzt, wo es gut beleuchtet war. Es stellte einen Reiter in voller mittelalterlicher Rüstung dar, der mit einer Fahne im Arm und einer Trompete in der Hand einem geschlossenen Stadttor entgegenreitet. Das Pferd war schwer und grobschlächtig, der Reiter gleichfalls, auch fehlte es nicht an Verzeichnungen, allein das Bild hatte einen so hohen Ernst, Roß und Kriegsmann waren so überzeugend in der Bewegung, daß man meinte, im nächsten Augenblick müsse aus der Trompete die Aufforderung zur Übergabe der Stadt erschallen. Teils gegen die Staffelei, teils der Wand entlang hatte Vanadis aufgestellt oder hingelegt, was ihr von Roderichs Versuchen beachtenswert schien.

Egon ging ohne weiteres auf die Staffelei zu, besah sich mit Erstaunen das Bild, trat zurück und nochmals hinzu, dann weiter zurück.

»Und das? – Das hat Roderich –?«

»Freilich«, antwortete die Listige in gleichgültigem Ton. »Jede freie Stunde, die er hat, sitzt er hier oben und malt. Ich wundere mich, daß er heute nicht da ist, er geht sonst nie zu einem Fest.« (Gunther, ihr Mitverschworener, hatte ihn eigens weggeführt.)

Egon wurde es auf einmal zu warm, daß er den Kragen lockerte und das Fenster öffnete.

»Das ist in der Tat merkwürdig«, murmelte er. Dann wandte er sich zu den andern Bildern, die er ansah, wegstellte, wieder ansah und dann zu dem ersten zurückkehrte.

»Es ist in der Tat merkwürdig«, sagte er laut.

»Nicht wahr, Egon, das Bild ist gut? Ich versteh' es ja nicht, aber Vater sagt es.«

Schweigend stieg er die Treppe hinunter und vergaß das Köfferchen, das ihm Vanadis nachtrug.

Wenn Egon von den Zusammenkünften mit seinen »Alten« zurückkehrte oder sich darauf vorbereitete, hatte er mehr als sonst das Bedürfnis, Gutes zu tun und Gerechtigkeit zu üben; er fühlte sich dann wie ein Almosenier der Gottheit. Diesem Umstand hatte auch Goffredi seine Erhörung zu danken gehabt, deren Plötzlichkeit wie eine Eingebung erschien und die so auffallend glücklich ausschlug. Unter dem gleichen Zeichen stand die späte Erkenntnis vom Wesen des eigenen Sohnes. Er hatte selber die Vorstellung, als könne er in solchen Zeiten der Weihe und Heiligung keinen Fehlgriff begehen. Zur rechten Zeit rückte noch Herr Wittich zur Hilfe heran, von beiden Geschwistern eingeweiht. Sein Entlassungsgesuch ging jetzt aus einer anderen Tonart, als er selbst geglaubt hatte.

»Ihr Sohn kann bei mir nichts lernen«, sagte er, »und in der Schule ebensowenig. Seine Begabung – denn begabt ist er – liegt ganz woanders. Und so viel er als Künstler braucht, hat er sich auch an Allgemeinbildung angeeignet, dafür hat schon die Luft des Hauses, in dem er aufwachsen durfte, gesorgt. Es genügt ja, in einem Kreise wie diesem zu leben, wo die geistigen Elemente von allen Seiten herandringen, um von selber ein gebildeter Mensch zu werden.«

Baron Solmar dankte ihm für die gehabte Mühe und enthob ihn seines Amtes, indem er gestattete, daß Roderich inskünftig seine Freistunden nach Gefallen verbringe. Im Herbst nach Schulschluß sollte dann seine Versetzung an irgendeine Kunstschule stattfinden.

Danach begab sich der verabschiedete Lehrer auf Herrn Folkwangs Studierstube und überraschte diesen durch eine in sicherem Ton und ohne alles Stottern vorgebrachte Ansprache.

Er könnte es nicht über sich gewinnen, aus seinem Hause zu scheiden, dem er so viel verdanke, sagte er und bat darum, seine Schülerin weiter wie bisher unterrichten zu dürfen.

»Sie wundern sich vielleicht, Herr Professor, wenn ich Ihnen sage, daß ich von diesem Kinde so viel lernen kann wie sie von mir. Ihre so überraschenden und doch immer ganz naheliegenden Fragen eröffnen mir ganz neue Auffassungsmöglichkeiten außerhalb des schulmäßig Überlieferten und lassen mich Dinge erblicken, an die ich zuvor nicht dachte. Denn was dieses glückliche Geschöpf nur anschaut, das bekommt eine neue und tiefere Bedeutung. Lassen Sie mich die Stunden mit Vanadis allein fortsetzen, ganz ohne Vergütung. Die Freude und der Gewinn, den ich von ihr habe, sind Vergütung genug. Außerdem bin ich einen Ersatz schuldig für das zu Unrecht von Roderich eingenommene Lehrgeld.«

Herr Folkwang wollte nichts entscheiden, bevor er sich mit seiner Schwiegermutter besprochen hätte.

Diese sagte lächelnd: »Lassen wir ihn machen, er hat nun einmal sein Herz an Vanadis verloren, er wird nicht der letzte sein. Und dies ist ja doch der einzige Weg, auf dem in unsren Tagen Frauen zu etwas höherer Bildung gelangen können.«

Als Egon davon erfuhr, freute er sich und verdoppelte die Herrn Wittich bestimmte Zuwendung.

 

Im Hause Folkwang entstand eine plötzliche Leere, als fast gleichzeitig Roderich und Märchen schieden. Die letztere holten ihre Eltern auf eine kleine Schweizerreise ab. Aus der zeitweiligen Entfernung wurde jedoch eine dauernde. Denn auf dem Bodensee gesellte sich ein Herr zu ihnen, den das neue Paar schon von der Hochzeitsreise her kannte. Und seine Aufmerksamkeiten für Märchen wurden schnell so auffallend, daß über seine Absichten kein Zweifel bestehen konnte. Seine Verhältnisse waren günstig, seine Persönlichkeit nicht abstoßend, und er führte einen, wenn auch neuen, so doch immerhin schätzbaren Adelstitel. Somit wurde es von dem jungen Mädchen wie von den Eltern nicht ungern gesehen, daß er sich für die ganze Dauer der Reise ihnen anschloß. Danach kehrte Märchen nach Hamburg zurück, wo die neue Beziehung leichter fortzusetzen war als im Hause ihrer Verwandten. Sie ließ sich von diesen ihre Koffer nachschicken, und bald darauf kam die Verlobungsanzeige. Ein langer Brief an die Großmutter folgte, worin viel von Kleidern und Aussteuerwäsche, von Spitzen und Brillanten und sehr wenig von dem Bräutigam die Rede war. Gunther ging in diesen Tagen wie ein Entgeisterter umher, und man hörte kein Wort aus seinem Munde. Doch mit wohltätigem Zwang stellte sich die Abgangsprüfung vor ihn, die ihm den Zulaß zur Universität öffnete. Märchens Hochzeit wurde auf gemeinsamen Wunsch aller Beteiligten so beschleunigt, daß der Spätsommer sie schon vermählt und in den Flitterwochen auf Capri sah.

Vanadis war nun wieder sich selber überlassen, denn Estherchen besuchte eine neueröffnete Privatschule und war eine Schülerin von begeistertem Fleiß. Sie erfuhr zwar auf diese Weise nichts vom Lever der Marie Antoinette noch von den Ballfesten der Napoleoniden, aber sie kam dafür auch nicht in die Lage, die Schafe der Lüneburger Heide für zweibeinige Wesen anzusehen. Sie lernte alles, was in damaliger Zeit als wohlanständig für ein junges Mädchen galt. Vanadis wurde unterdessen von Herrn Wittich in Fächer eingeführt, die man sonst nur Knaben lehrte. Aber sie trug eine Unruhe in sich, die durch geistige Nahrung nicht mehr beschwichtigt werden konnte. Der Umgang mit Märchen hatte ihr die Kindheit vollends abgekürzt, es gab keinen Weg mehr in die Zeit wunschlosen Glückes zurück. Sie dürstete nach dem großen Unbekannten, dem Leben.

Ein langer, glühender Nachsommer war gekommen, der mehr Hitze brachte als die Hundstage. In diesen schwülen Nächten konnte das junge Mädchen nicht schlafen, die Matratze war ihr zu heiß, jedes Linnen zu schwer, und allnächtlich huschte eine leichte Gestalt unbemerkt durch das kleine Parktürchen nach dem offenen Flußufer, streifte im Nu das einzige Gewandstück ab und schwamm. Mit gebreiteten Armen fing sie die Welle ab und strebte flußaufwärts. – Leben, Leben, wann wirst du kommen, daß ich dich fasse und halte! – Sie suchte die reißendsten Stellen, um kämpfen zu können und sich überschütten zu lassen. Dann erhob sie sich, das Wasser rieselte von ihrem Leib, sie fühlte sich wie eine kühle silbrige Najade im Mondlicht. Bauern, die verspätet vom Jahrmarkt kamen, hatten einmal eine blanke Gestalt mitten auf dem Sandstreifen im Flusse sitzen und sich die Haare auswinden sehen. Bei ihrem Herankommen war sie im Gebüsch verschwunden. Jene machten, daß sie vorüberkamen, denn es gingen im Volksmunde noch Sagenreste von Wasserfräulein um, die anzureden bedenklich war.

Eines Nachts tauchte eine dunkle Gestalt am Ufer auf und blieb stehen. Jenseits des Sandstreifens rann der Fluß tief und schnell, dorthin wollte sich die Überraschte im Wasser bergen auf die Gefahr des Ertrinkens hin. Da rief eine weibliche Stimme:

»Keine Furcht, Sie schönste Nymphe, es sind Frauenaugen, die Sie bewundern. Kommen Sie hervor und lassen Sie sich aus der Nähe anstaunen.«

Vanadis erkannte die Stimme und jetzt auch die Gestalt. Es war Corinna Elsner, die Malerin, die sich auf ehemals van der Mühlenschem Grund und Boden ein kleines Haus nach eigenem Geschmack erbaut und mit einem Rosenspalier umzogen hatte. Sie galt, wenn auch nicht für eine große, so doch für eine sehr tüchtige Künstlerin; sogar der schwer zu befriedigende Egon hatte ihr einmal ein Stilleben abgekauft. Vanadis hatte noch nie mit ihr gesprochen, aber sie empfand seit langem eine sehnsüchtige Bewunderung für diese starke, selbständige Frau, die sich ihr Schicksal selber schmiedete, eine Ehrfurcht, wie sie lebensdurstige weibliche Jugend gerne Geschlechtsgenossinnen entgegenbringt, die das Leben gemeistert haben.

Sie bat Frau Elsner, ihr das Gewand ins Gebüsch zu werfen.

»Daß ich ein Narr wäre«, lachte diese. »So etwas bekommen Künstleraugen nicht oft zu sehen, ich werde mich doch nicht selber verkürzen. Warten Sie, ich höre Männerschritte, ich werde Sie decken, bis sie vorüber sind.«

Der nächtliche Spaziergänger kam heran. Das Mädchen drängte sich ins Ufergebüsch, die Malerin stand davor und verbarg den verdächtigen weißen Schimmer.

»Guten Abend, Frau Elsner. So spät noch im Freien?«

»Ja, Herr Förster, für unsereins gibt es immer Ausbeute.« – Dabei starrte sie in den Mond.

Der junge Mann ging weiter.

»Er ist weg, liebes Fräulein, kommen Sie hervor und belohnen Sie mich dafür, daß ich Wand gewesen bin. Nichts Herrlicheres als der menschliche Körper im Mondschein. Stellen Sie sich hierher und lassen Sie mein Auge schwelgen. Hier sieht Sie niemand als ich und der Mond, der ja für seine Verschwiegenheit gelobt wird. Ich versichere Ihnen, ich habe viel Akt studiert, aber so etwas habe ich nie gesehen.«

Vanadis tat ihr den Gefallen. Sie kannte keine Ziererei, sie fühlte selber, daß sie schön war, auch Märchen, die nicht gern eine andere gelten ließ, hatte ihr das gesagt, wenn sie sich des Abends harmlos voreinander entkleideten. Die Malerin geriet in Entzücken:

»Wie die Schultern sich wölben und der Hals daraus hervorwächst, wie die Brust klein und hoch ansetzt in ihrer herben Straffheit, wissen Sie, daß man das klassisch nennt? Und die hohen, schlanken Schenkel mit den schmalen Knien, und das Schönste vom Schönen die Hebungen und Senkungen des Beckens wie die eines Gedichts! Nun die Linie des Rückens, welch ein Adel! Versprechen Sie mir, diesen Leib heiligzuhalten, niemals einen Modeschnürleib anzulegen, liebes Fräulein.«

»Das will ich gerne versprechen«, sagte das Mädchen.

Während sie ihr wieder in das Gewandstück half, begann die Malerin vorsichtig:

»Ich habe einen großen Wunsch. Vielleicht ist er unbescheiden, aber ich bin Künstlerin, und wer nicht wagt, gewinnt nicht! – Ich möchte eine badende Nymphe malen, eine leichte, schlanke Jägerin aus dem Gefolge der Artemis, vielleicht die Göttin selbst mit der Mondsichel überm Haupt. Ein gutgebautes Modell ist wohl zu finden, aber keine Edelzucht, wie sich's für eine Göttin gehört. Wollen Sie mir nicht zu meinem Glücke behilflich sein? Ich will Sie nicht überrumpeln, ziehen Sie über mich Erkundigungen ein, damit Sie wissen, wer ich bin, und besprechen Sie es, wenn Sie meinen, mit Ihren Angehörigen.«

»Ich brauche keine Erkundigungen, hier kennt und verehrt Sie jedermann, und wenn ich Ihnen nützlich sein kann . . .«

»Hu – u – u!« scholl es auf einmal von der dunklen Parkmauer herunter, daß Vanadis zusammenfuhr. Im Laubwerk rauschte es wie von raschem Niedergleiten.

»Erschrecken Sie nicht, es war eine Nachteule, deren gibt es viele hier in der Umgegend«, sagte Frau Eisner beruhigend.

Aber Vanadis wußte, daß es keine Nachteule war: sie hatte einen struppigen Kopf zwischen den Ästen der Kastanie bemerkt, die hoch über die Mauer hinaufwuchs, und das Sausen in den Blättern war das eines menschlichen Körpers. Da war kein Zweifel über die Person. – Der abscheuliche Junge! Immer war er da, wo er sie belästigen konnte, und keine Freundlichkeit vermochte seine Bosheit zu entwaffnen. Er hatte sie in ihrer Nacktheit belauert und vielleicht nicht das erstemal – natürlich nur, um sie bei der nächsten Gelegenheit bloßzustellen! – Das war der Dank für ihre Bemühungen, ihm die Gunst seines Vaters zuzuwenden.

Der Abschied zwischen den beiden, der an einem der nächsten Tage stattfand, fiel denn auch von ihrer Seite mehr als frostig, von der seinen verlegen-finster aus, während die gute Fanny und Estherchen weinten und auch die Großmutter den derben Bengel mit Bedauern scheiden sah.

Von jetzt an wurde Corinna Elsner des jungen Mädchens ein und alles; jede freie Stunde brachte sie in dem Häuschen unter den Rosen zu. Sie gab sich für die erbetene Skizze und noch für manch andere her, bald als sitzende Nymphe im Ufergebüsch, bald leicht hineilend mit gespanntem Bogen und kurzem Flattergewande – die Künstlerin wußte noch nicht, welche sie zum Bild ausführen wollte. Daneben hatte sie auch das feine Köpfchen in Pastell angefangen, weil Vanadis als Grund ihrer Besuche angab, Frau Elsner wünsche sie zu malen. Von den Aktstudien schwieg sie weislich, weil das für die gesellschaftlichen Begriffe ihrer Angehörigen zu fremdartig gewesen wäre. Sie wußte nicht, ob sie recht oder unrecht tat, aber der neuen Freundin konnte und wollte sie den Wunsch nicht abschlagen. Und jedesmal, wenn die Hülle fiel, faltete Corinna die Hände: Heilige Schönheit! Heilige Schönheit! – Das machte dem jungen Mädchen so tiefen Eindruck, daß sie selbst begierig wurde, sich so zu sehen, und sie tat, was sie nie getan hatte. Bei der nächsten Gelegenheit, als sie sich allein im Schlafzimmer sah, streifte sie bei angezündeten Kerzen schnell die Kleider ab und trat vor den großen Stehspiegel. Da schritt ihr eine Gestalt entgegen, deren Anblick sie durchschauerte: Bin das ich? Sie wandte sich langsam und wiederholte die Stellungen, in denen Corinna sie sehen wollte. Bin ich das wirklich? Ganz fremd erschien ihr jene, sogar das Gesicht anders und schöner im Zusammenhang des Körpers. – Schnell blies sie die Kerzen aus und verbarg sich erschrocken vor sich selbst in den Decken. Jetzt glaubte sie Corinna, daß sie etwas Seltenes, Einziges besaß. Niemand brauchte es zu wissen, niemand brauchte es zu sehen, es ging als ein stilles, beglückendes Geheimnis mit ihr.

 

Corinna Elsner genoß als Künstlerin und als Persönlichkeit eine so allgemeine Achtung und Verehrung, daß der Familie Folkwang-van der Mühlen der häufige Verkehr des Töchterleins mit einer solchen Frau nur schmeichelhaft sein konnte. Sie wohnte allein mit einer Magd in dem Rasenhäuschen, das sie sich mit vorzüglichem Geschmack eingerichtet hatte, und pflegte nur wenig Umgang, denn sie arbeitete unausgesetzt, es war das einzige, was ihr im Leben Freude machte. Zuweilen zwischen dem Sprechen lachte sie hart und kurz auf, das hatte Vanadis, die noch den heiligen Ernst der Frühzeit in sich trug, zuerst betreten gemacht; allein sie fühlte durch, wenn sie es auch nicht begriff, daß dieses Lachen aus keiner oberflächlichen Seele kam, es klang triumphierend und traurig, als ob die Lacherin einen Feind unter die Füße getreten hätte. Das Leben dieser Frau war ein steter Kampf gewesen, nichts war ihr vom Himmel geschenkt worden als ihr Talent, jede Freude war ein erstrittener Sieg. Daher der Stolz und die Herbigkeit ihres Ausdrucks, den ein leiser Zug von Mütterlichkeit sänftigte.

Von ihrem Schicksal, das ein ungewöhnliches war, erfuhr Vanadis allmählich so viel, wie eine geprüfte Frau einem eben aus der Kindheit tretenden Mädchen erzählen kann. Ihr Vater, Paul Elsner – sie führte als Künstlerin wieder ihren Mädchennamen –, war ein Maler von Ruf gewesen, dazu ein schöner, geistvoller Mann, den seine Gattin glühend liebte und der zu jener Gattung von Männern gehörte, die von der Natur eigens geschaffen werden, um Frauen zu bezaubern und unglücklich zu machen. Daß er den Reizen der Weiblichkeit unterlag, wann und wo die Gelegenheit sich zeigte, wäre ihm durchgegangen, allein er hatte noch eine andere Schwäche, die in den Abgrund führte. Um malen zu können, mußte er trinken, und mit der Zeit wurde das Trinken die Hauptsache. Er vertrank den größten Teil seiner Einnahmen, und der Hausstand ging zurück. Da halfen nicht Bitten noch Vorstellungen! Erst als seine Hände zu zittern begannen, erschrak er selber und begab sich freiwillig in eine Heilanstalt. Von dort entlassen, fiel er bald in sein altes Laster zurück, seine Frau starb aus Kummer, und die junge Corinna blieb allein mit dem immer weniger zurechnungsfähigen Vater. Er hatte sie frühzeitig im Malen unterrichtet, so daß sie schon anfing, einiges zu erwerben. Aber das Heimweh nach der toten Mutter, der tägliche Anblick des Vaters, dessen starres Trinkerauge immer weniger imstande war, eine natürliche Vaterzärtlichkeit auszudrücken, wenn er sie auch im Herzen empfand, machten sie vor der Zeit ernst und freudlos. Der Vater begriff wohl, daß er ihre Jugend zerstörte, Scham und Reue fraßen an ihm; um ihre Bisse nicht zu fühlen, betäubte er sich, wie es alle Trinker tun, aufs neue im Trunk und verkam immer mehr. In den besseren Weinstuben war er bald nicht mehr gerne gesehen, denn der einst so flotte Mann wirkte jetzt abschreckend auf die Gäste. So stieg er in immer tiefere Kreise des Wirtshauslebens hinunter und saß auch, wie sich von selbst versteht, daheim über dem Glase. Eines Nachts war er in einer Winkelkneipe der Großstadt eingeschlafen. – Da war ihm, als ob die Tür aufginge und ein Haufe junger Burschen hereingestürmt käme, Matrosen und Arbeiter, jeder eine schamlos gekleidete Dirne am Arm. Sie setzten sich und tranken, die Mädchen auf dem Schoß der Männer. Dann wurde getanzt, wobei der Raum sich zum Saal weitete. In der Ecke sah er ein bräunliches blasses Mädchen mit traurigem Gesicht und schwarz gekleidet sitzen. Die johlenden Paare winkten im Vorübersausen spöttisch nach ihr hin, aber niemand wagte, sich ihr zu nähern. Unwiderstehlich gezogen, trat Paul Elsner zu ihr heran und forderte sie zum Tanze auf. Sie folgte mit sichtlichem Widerstreben, von einem Blick der Wirtin genötigt. Als er sie im Arme hielt, rührte ihn der schmerzliche herbe Ausdruck ihrer jungen Augen, und das Gesicht erschien ihm irgendwie bekannt, gleichzeitig entflammte die Berührung der festen jungen Glieder sein Blut. Er ging zu der Wirtin und sagte brutal: »Verschaffen Sie mir das Mädchen, die Braune dort. Sie gefällt mir.« – »Das glaub' ich«, antwortete diese, »sie ist guter Leute Kind. Ihr Vater war ein bekannter Maler, der an Trunksucht starb. Sie heißt Corinna Elsner.«

Er erwachte, ins Herz getroffen, und sah sich allein in der alten Spelunke. Da wurde er ganz nüchtern und überlegte. Daß er nicht die Kraft hatte, eine neue Lebensweise durchzuführen, wußte er. Es blieb ihm nur eines. Er verschrieb sein Haus, Wohnung und Werkstatt mit Einrichtung, seiner Tochter und schiffte sich nach Amerika ein, um dort gezwungen zu arbeiten oder zugrunde zu gehen. Während der Überfahrt erlitt er durch die Entbehrung der gewohnten Menge Getränke einen Wahnsinnsanfall und ging bei Nacht über Bord. Corinna verheiratete sich, fand aber kein Glück in der Ehe. Ihr Gatte machte einen unredlichen Bankerott, wurde flüchtig und verscholl, indem er ihr die Bezahlung der Schulden und den Unterhalt der Kinder überließ. Corinna griff wieder zum Pinsel und hatte Erfolg; ihre Knaben gab sie in eine Erziehungsanstalt, da sie mütterliche Hände für dieses Amt zu schwach hielt, und tilgte den Mann aus ihrem Gedächtnis wie aus ihrem Leben, indem sie seinen Namen ablegte, den Vanadis niemals erfuhr.

Mit solchen Erlebnissen war es begreiflich, daß Corinna Elsner von dem starken Geschlecht keine gute Meinung hatte. Sie wurde nicht müde, dieses Thema auf die mannigfachste Weise abzuwandeln.

»Glaub mir, Kind«, sagte sie, »die Männer sind nicht, was unsere Mädchengedanken aus ihnen machen. Alle, auch die besten, auch wenn sie Halbgötter wären, sind schwach, viel schwächer als wir. Sie mögen ihre starke, ihre heldenhafte Seite haben, aber die ist der Außenwelt zugekehrt. So ein Dichter, der für sein Werk hungert und leidet, ein Arzt, der sich in ein Seuchenhaus begibt, ein Gelehrter, dessen Entdeckungen das Leben umgestalten, ja, die mag man wohl bewundern, aber von außen her. Schwach und bedürftig sind sie alle. Da steht einer als ein Übermensch an Wissen und Können, aber heimlich setzt eine Dirne den Fuß auf seinen Kopf. Die Natur hat die Frau zur Sklavin des Mannes gemacht, aber dann leistete sie sich ein übriges an Ironie und machte ihn zum Sklaven der Sklavin.«

Sie lachte hart auf bei diesen Worten. Und ein andermal sagte sie:

»Die Frauen sind eigentlich das vollkommenere Geschlecht. Aber man hat sie über lauter Kleinigkeiten gesetzt, so können sie nicht wachsen. Da nun das Kleine überall ist, so müssen sie sich nach allen Seiten wenden und entwickeln und werden somit gleichmäßiger durchgearbeitet, aber du lieber Gott, in welchem Format! Der Mann dagegen hat die großen Maße, aber weißt du, er erinnert mich an gewisse Standbilder, die der Künstler nur für eine Schauseite geschaffen hat. Wenn wir so alt würden wie Methusalem, so würden wir nie etwas anderes erfahren, als daß der Mann unvollkommen ist und die Frau klein.«

Ihre ehelichen Enttäuschungen wirkten so stark in ihr nach, daß sie dem Mädchen einen Widerwillen gegen das Heiraten einzuimpfen suchte.

»Was die Menschen Liebe nennen und die Dichter als göttlich preisen, das eben ist ihr Niedrigstes, und sie haben es mit dem Niedrigsten im Tier gemein. Werde du Künstlerin, laß dich von mir im Malen unterrichten, das ist besser, dann beherrschst du das Leben, statt ihm sklavisch unterworfen zu sein.«

»Wenn ich aber doch kein Talent habe«, antwortete Vanadis.

»Du und kein Talent! Man sieht ja, wie du davon überquillst. Fasse nur an, es wird dir überall gelingen, du brauchst nur entschieden zu wollen!«

»Du sprichst, als ob ich nur zu wählen hätte«, meinte ihre junge Freundin beklommen. »Ich habe niemals an die Malerei gedacht, meine Versuche, wenn ich mir solche getraute, gingen immer in anderen Richtungen.«

»Das beweist nichts«, sagte die Malerin. »Die Natur gibt ihren Bevorzugten nicht bloß ein Talent, sondern gleich mehrere, für den Fall, daß das eine oder andere verkümmern müßte. Das ist wie der Zeugungsüberschuß in der Tierwelt. Die Einseitigkeit der Künstler kommt erst mit der Ausübung, und das muß sein. Ich zum Beispiel hätte vielleicht mehr Begabung für die Musik gehabt, ich war schon im Begriff, auf der Geige etwas zu können. Aber die Verhältnisse zwangen mir den Pinsel in die Hand; es geht auch so. Nur noch in der stillen Nacht, wenn das Tagwerk vollbracht ist, gehe ich meiner ersten Liebe nach.«

»O Corinna, bist du die Geige, der ich so oft vom Fenster aus zugehört habe?«

Sie erinnerte sich so mancher Nachtstunden, wo sie mit Esther bezaubert einem Violinspiel gefolgt, dessen tiefe Beseeltheit beide ergriff, und sie dachte im stillen: Vielleicht ist sie innerlich ganz anders, als sie sich nach außen gibt.

Die Künstlerin fuhr fort: »Ja, siehst du, nun male ich, es war für mich das Erreichbare. Ich hab' es dahin gebracht, nicht wie die Mehrzahl der Malerinnen nur immerdar die Schülerin des Herrn Soundso, sondern einfach Corinna Elsner zu sein. Das Technische hat mich mein Vater gelehrt, meinen Stempel gab ich mir selber. Was ich geworden bin, das danke ich mir allein. Aber hart muß man sein können, wenn man wachsen will, hart auch gegen sich selbst. Solch einen Stamm, an dem alle Winde gerüttelt haben, den kann dann höchstens ein Blitz noch treffen, kein Sturm wurzelt ihn mehr aus.«

Sie reckte sich bei diesen Worten, ihr schönes, aber herbes Gesicht verklärte sich in berechtigtem Triumph, und eine unbesiegliche Herrscherseele blickte aus ihren Augen. So kam es, daß Vanadis mehr aus Bewunderung für die stolze Frau als aus eigenem inneren Trieb mit Einwilligung der Ihrigen die Schülerin Corinna Eisners wurde.

Immer erneuerte diese ihre Warnung vor der Sklaverei der Ehe und ihren Folgen. Sie entsetzte ihre junge Freundin durch die Schilderung der Verwüstungen, die durch die Geburt eines Kindes im Körper der Frau angerichtet werden, enthielt sich auch nicht, mit raschen Strichen solche Mißformen auf Papier zu werfen, vor denen das junge Mädchen wie vor etwas Widernatürlichem zurückschauerte und die in ihrer Seele haftenblieben wie unausgezogene Dornen.

Eines Tages, als Vanadis ihr noch einmal für die badende Diana saß, begann Corinna wieder:

»Ein Leib wie dieser gehört nicht seiner Inhaberin allein, die Kunst hat auch ein Recht daran. Wenn denn doch einmal geheiratet sein soll, so nimm nur einen Künstler, der versteht, was die Natur mit einem solchen Wunderbau geschaffen hat. Die Alltagsmänner sind Barbaren. Ihr Auge ist für das Schöne gar nicht reif. Sie fressen wie das Grautier Rosen und Disteln gleichmäßig hinunter.«

Diesem Gespräch hatte auch Estherchen beigewohnt, die zuweilen die ältere Schwester zu Corinna begleitete und niemals zu Hause ein Wort über das, was sie gehört hatte, sprach. Auf dem Heimweg schmiegte sie sich innig an die andere und fragte:

»Macht es dich glücklich, daß du so schön bist?«

»Närrchen«, antwortete diese zärtlich, »in ein paar Jahren bist du es ebenso.«

»Ach nein«, antwortete das Kind mit einem plötzlich verwandelten Gesicht, »so weit kommt es nicht.«

»Was willst du damit sagen?« fragte die Schwester betreten.

»Gar nichts, als daß ich ein armes Aschenputtel bin«, sagte Estherchen lachend und lief weg, um eine späte Blume am Grabenrand zu pflücken.

Mit einem eigenen Wehgefühl im Herzen sah Vanadis ihr zu. Es fiel ihr ein Gespräch ein, das einmal zu Märchens Zeit im Zimmer der Großmutter stattgefunden hatte. Sie waren zu dreien bei ihr eingedrungen, und die alte Frau, die immer bereit war, auf die Jugend einzugehen, hatte die Scherzfrage gestellt, was sich wohl eine jede von ihnen erbitten würde, wenn sie einen Wunsch an das Schicksal frei hätte.

Das eitle Märchen antwortete:

»Ich möchte sehr frühe heiraten und möchte so schön vor dem Altar stehen, daß es nie eine schönere Braut gegeben hätte und daß alle Männer den Bräutigam beneiden müßten.«

Vanadis übertrumpfte sie, halb im Scherz und halb aus jenem seltsamen Drang ganz junger Menschen, die aus überstarkem Lebensgefühl so gerne mit dem Todesgedanken spielen:

»Ich möchte jung sterben und möchte so schön im Sarge liegen, daß alle um mich weinen müßten und daß ein Dichter unsterblich würde durch einen Gesang auf meinen Tod.«

»Das möchte ich auch!« rief Märchen eifrig, die ihr unmöglich einen Vorrang gönnen konnte. »Aber dann möchte ich wieder lebendig sein und lesen, was er geschrieben hat.«

»O Kinder«, lachte die Großmutter, »was seid ihr noch für Kinder! Auch mit dem Letzten, Schwersten muß getändelt sein. Sogar der schwarze Herr paßt euch zum Spielkameraden. Gebt acht, daß er nicht Ernst macht und zufaßt. Was wünscht sich denn unser Kleinstes? Gewiß wird es mit seinem Wunsch die zwei törichten Jungfrauen da beschämen.«

»Ach, ich bin nur ein Aschenputtelchen«, war Estherchens Antwort gewesen, »und ich wünsche mir gar nichts als ein kleines, kleines Schemelchen, um ganz zuunterst zu den Füßen des Heilands zu sitzen.«

»Da kannst du ja nicht einmal sein Gesicht sehen, wenn du so tief unten bist«, lachte Märchen.

»Wer bin ich denn, daß ich sein Gesicht sollte sehen dürfen, wenn ich nur bei ihm bin und seine Füße sehen kann, die für mich geblutet haben«, erwiderte das Kind mit großer Innigkeit.

Damals hatte die größere Schwester zum erstenmal einen Blick in Esthers verborgenes Herzkämmerchen getan und die tiefe Frömmigkeit entdeckt, die das Kind erfüllte und von der es niemals sprach. Daß es in Wahrheit an frühes Scheiden von der Erde dachte, wurde ihr erst klar, als sie durch das Wort vom Aschenputtelchen an jenes Gespräch wieder erinnert wurde. Und zugleich fiel ihr zum erstenmal auf, daß Esthers feines Gesicht viel älter war als ihre Jahre und mit seiner Durchgeistigung zu dem noch ganz kindlichen Körper nicht passen wollte. In plötzlicher Wehmut legte sie ihr beide Arme um den Hals. Da sah sie, daß das Kind eine Träne im Auge hatte.

»Was ist dir nur?« fragte sie beängstigt.

Esther warf ihr mit plötzlicher Leidenschaft die Arme um den Hals. »Verzeih mir, o verzeih mir«, murmelte sie.

»Was soll denn ich dir verzeihen? Du bist ja eine viel bessere Schwester als ich«, antwortete die Ältere.

»Ich habe dich mutterlos gemacht durch mein Kommen und unseren guten Vater zum Witwer. Ohne mich wäre unser Haus voll von Musik und vom frohen Lachen unserer schönen, herrlichen Mutter, und Vater wäre ein glücklicher Mensch geblieben.«

»Wer hat dir denn das gesagt?«

»Ich war einmal als kleines Kind dabei, wie die Großmutter darüber zum Vater sprach. Die Großen meinten, ich hätte nicht hingehört. Ich faßte aber alles auf, auch wenn ich es nicht verstand, und später fragte ich mir die Wahrheit zusammen. Deshalb laß mich nur dein Aschenputtelchen sein und dir und den Brüdern dienen, solange ich hier bin. Ich kann ja doch niemals gutmachen, was ich da verschuldet habe.«

»Du armes Kind, was kannst denn du dafür?«

»Ich hätte eben nicht so zudringlich sein dürfen«, sagte die andere schon wieder mit lächelnden Augen. »Aber ich wollte mit dabeisein, ich glaube, ich wollte vor allem zu dir!«

»Also mußt du auch bei mir bleiben, versprich es mir«, sagte die ältere Schwester bedeutsam.

»Ja, ich verspreche es: solange du mich brauchen kannst. – Ich dachte nur: weil du jetzt Corinna hast –.«

»Oho, kleine Eifersucht! Will es dahinaus? Aber weißt du, Corinna braucht dich auch. Sie will ein Amazonenbild malen, uns beide beim Bogenschießen, wie sie uns einmal im Garten gesehen hat; sie ist innerlich ganz voll davon und sagt, es müsse ihr bestes Bild werden.«

Sie gingen weiter, sich zärtlich umschlungen haltend, und die heitere Sonnenluft verzehrte den Schatten, der auf die beiden Jungen, Werdenden gefallen war.

 

Die Wintersonnenwende sah die Familie Folkwang noch einmal vollzählig beisammen. Auch Roderich war von München gekommen, um die kurzen Ferientage zugleich mit Gunther, der an einer norddeutschen Universität studierte, in dem Hause zu verbringen, das er als sein Vaterhaus ansah.

Die Folkwangs feierten von je das altgermanische Julfest als die Geburt des Lichts, gaben aber auch dem christlichen Kalender seine Ehre, indem sie am Weihnachtsabend die Lichter des Baumes noch einmal anzündeten. Fanny hatte mit Esther und Enzio aus dem jüngeren Tannenbestand sich die schönstgewachsene ausgewählt, sie mit Silberflitter und Wachslichtern geschmückt und in einem großen, mit Moos verkleideten Topfe im Gartensaal, wo sie mit der Spitze fast zur Decke reichte, aufgestellt. Am Sonnwendabend wurden in dem mit Tannen- und Mistelzweigen besteckten Raum, der herrlich duftete, die Lichter entzündet, und mitten in dem Kerzenglanz stehend, sprach Vater Folkwang noch einmal zu den Seinigen.

Als ob er wüßte, daß er zum letztenmal an dieser Stelle zu ihnen sprach, erhob sich seine Rede zu fast prophetischem Schwung. Er erinnerte sie daran, wie sie Jahr um Jahr gemeinsam die Wiederkehr dieses Tages gefeiert hatten. – »Und so sollt ihr es auch künftig halten«, sagte er, »wenn wir nicht mehr beisammen sind, wär's auch nur in eurer schweigenden Seele, denn es ist nicht nötig, daß ihr eure Andacht dem Pöbel preisgebt, der da Philister heißt und gleich ins Höhnen fällt, wo er nicht versteht. Ihr sollt euch bewußt bleiben, was es für uns bedeutet, sowohl im rein natürlichen wie im geistigen Sinn, wenn die Sonne nach langer Entkräftung im Zeichen des Steinbocks wieder zu siegen beginnt. Gottes Angesicht können wir nicht sehen, er gab uns seine Sonne dafür. Wie sie alle stofflichen Miasmen verzehrt, so reinigt sie auch die Herzen von den Giften, die im Schatten gedeihen. Alle Medikamente ziehen ihre Heilkraft einzig aus der Sonne, und was ein Dichter Großes und Herzerhebendes gibt, aus der Sonne hat auch er es geholt.

Ihr seid jung und wart noch vor kurzem sämtlich Kinder des Elternhauses – unser Roderich weiß, daß ich ihn mit dazu rechne –, und doch wird kaum eines unter euch sein, das nicht schon eine Nacht in Angst und Seufzen hingebracht hätte. Denn alle Seelenlast – sei es Sorge, Leid oder Reue – wird schwerer und schwerer und liegt mit dem Gewicht eines Grabsteins auf dem Herzen in der langen nächtlichen Dunkelheit. Ist es euch da nicht plötzlich wie ein Wunder erschienen, daß, wenn nur erst der blasseste Schein der Dämmerung anhebt, euer Atem leichter geht und die Ängste verwehen? Noch steht die Sonne unter dem Horizont, aber ihre übermächtigen Strahlen sind ihr vorausgeeilt und haben den Stein von dem Grab gehoben, in dem ihr lebendig erdrückt lagt. Ebenso geschieht es in der Krankheit, daß sich beim ersten Nahen des Morgens die Wut des Fiebers legt und die Hoffnung, die uns in der Nacht verlassen hatte, wieder am Bette sitzt. Man möchte wahrlich von Zeit zu Zeit erkranken, um das unsägliche Glücksgefühl des Wiedersehens mit der Morgensonne so zu kosten, wie es nur der Genesende kann. Nun denkt euch, wie es euren Altvordern zumute war, die keine künstliche Beleuchtung kannten als den rauchenden Kienspan oder höchstens ein übelriechendes Ämpelchen, wenn aus den langen, trostlosen Winternächten, während deren sie auf das Heulen des Windes und das der wilden Tiere außerhalb ihrer Umfriedung horchten, das Tageslicht wieder zu wachsen begann. Denkt euch, mit welchen Gefühlen sie den kürzesten Tag feierten, wo der Abstieg so tief geworden ist, daß ihm der unmittelbare Aufstieg folgen muß. So sagt ja auch der Christ: wo die Not am größten, da ist die Hilfe am nächsten. Im Mittelalter hatte man den schönen Brauch, daß der Tagwächter durch Hornstoß und Gesang das Herannahen des Morgens den Bürgern ankündigte, die sich vielleicht in ihren engen Alkoven ängsteten, ob nicht der Feind von außen die Mauern ersteige oder das Verbrechen vermummt in den dunklen Straßen schleiche. Wir glücklicheren Nachfahren können in jeder Sekunde sprechen: Es werde Licht! und alle Winkel unseres Hauses durchhellen, daß nächtliches Raubgesindel erschrickt und die Dämonen unserer Einbildungskraft verschwinden. Aber dieser rettende Lichtstrahl, obwohl er wie alles Gute von der Sonne kommt, ist doch ohne Wärme, er sendet keine wunderwirkenden Erlöserwellen, die uns heilkräftig durchströmen. Das Licht, das Menschenhände entzünden und verlöschen, vermag nicht, was nur dem unvergänglichen Himmelslicht möglich ist, das Gott uns statt seiner zu sehen gegeben hat. Darum, wer sich reinen Herzens fühlt und seine Augen frei zum großen Licht zu heben vermag – ich weiß, ihr vermögt es alle –, der setze den feurigen Trank an die Lippen, den uns die treue Hausmutter heute gebraut hat, und spreche mit mir: Gepriesen sei die Sonne, die da Urfeuer ist und von der alles Feuer kommt. Heil der Sonne!«

Die Jugend stimmte ein, und fröhlich tranken alle von dem Glühwein, den Fanny in die Gläser füllte. Denn ihr Vater hatte nicht feierlich als Prediger gesprochen, noch auch im lehrhaften Ton des Fertigen, dessen Meinungen unwidersprechlich sind, sondern wie ein älterer Freund, der zu den jüngeren ausspricht, was seine Seele bewegt. Die Lichter waren zum großen Teil herabgebrannt und hatten einzelne Zweige entzündet, die unter Prasseln einen köstlichen Wohlgeruch von sich gaben. Großmutter und Fanny wollten haushälterisch löschen, aber Vater Folkwang sagte: »Laßt brennen, zum Christabend stecken wir neue auf. Wir haben heute im Geist unserer Altvordern, die wir ehren, die Wiedergeburt des Lichtes gefeiert. Am Tage, den die Kirche festgesetzt hat, feiern wir die Menschwerdung des Lichts.«

Er setzte sich. Jetzt trat Gunther an die Stelle, wo er gestanden hatte, ein Blättchen in der Hand. Er bat, ein paar Verse lesen zu dürfen, die er im verflossenen Herbst nach einem Sonnenaufgang im Gebirge niedergeschrieben hatte. Er lehnte sich dabei mit dem Rücken gegen den großen Gabentisch, die lange Gestalt leicht vornübergeneigt, fast genau in der Haltung, die zuvor sein Vater eingenommen, und noch nie war die große Ähnlichkeit zwischen den beiden deutlicher hervorgetreten. Mit zitternder Stimme, die sich erst allmählich festigte, begann er zu lesen:

»O heilig, heilig ist die Morgenfrüh',
Entweiht sie nicht durch eure Sorg und Müh,
Vor jedem Tagwerk wendet Herz und Sinn
Der Sonne zu, der Allerweckerin.

Seid Kinder noch, die Sonne ward ein Kind.
Hüllt euch in Weiß, die Locken gebt dem Wind.
Mit Milch und Brot und Honig weiht dem Strahl
Des neuen Lichts ein reines Opfermahl,

Gib, hohe Sonne, daß ich Tag für Tag
Im Steigen mich wie du erneuern mag,
Daß ich aus dir geflossen, rein und frei,
Im Feuer wirkend, selber Sonne sei.«

Als er geendigt und ein Lob für die lautere Gesinnung seines Gedichts geerntet hatte, legte zu allgemeinem Erstaunen Roderich ein Blatt auf den Tisch, nachdem er zuvor die Gläser kurzerhand weggestoßen hatte. Mit verlegenen Bewegungen, die wie widerwillig aussahen, schob er es vor, bis es die rechte Beleuchtung hatte. Es war ein von ihm selbst gefertigter Holzschnitt; die Familie wußte schon, daß er neben seinen Malstudien diese Technik auf eigene Hand angefangen hatte. Da war wieder der unvermeidliche Reiter auf dem derben Gaul, aber diesmal zog er nicht auf Eroberungen aus, er ließ eine mit zerschlagenen, herrenlosen Waffen bestreute Ebene hinter sich und ritt einen Hügel hinan, über dem die Sonne aufging.

Er habe auch etwas zur Feier des Tages beitragen wollen, murmelte er halb unverständlich.

Alle umstanden den Tisch und beugten ihre Köpfe über das Blatt.

»Und das willst du uns schenken, Junge?« sagte Herr Folkwang. »Weißt du auch, daß es ein wirkliches Geschenk ist?«

»Wenn Vanadis es haben mag«, rang er sich ab zu sagen; man fühlte, daß ihn die Worte Mühe kosteten.

Diese stand sprachlos. Sie hatte selber einen kleinen Malversuch bereit, der unter Frau Eisners Aufmunterung entstanden war und mit dem sie an diesem Abend hervortreten wollte, aber angesichts dieser Zeichnung entsank ihr der Mut, und sie weihte ihn im Geiste dem Untergang. Sie spürte das Wehen eines starken Flügels. Da sie sich nicht regte, um zu danken, zupfte Gunther sie leise am Ärmel. Sie gab sich einen Ruck und trat zu Roderich, der schon wieder finster blickte.

»Ich danke dir, Roderich«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Ich will das Blatt in Ehren halten.« –

Sie begriff, daß es sein Dank sein sollte für die Wendung, die sie seinem Geschick gegeben hatte.

Alle lobten den Holzschnitt, aber Roderich, dem des Redens schon zuviel war, drückte sich in eine Ecke.

An diesem Abend war auch Oskar Wittich wieder einmal zugegen, der gleichfalls die Ferien in der Heimat verbrachte. Er studierte nun doch Medizin, man wußte nicht, mit welchen Mitteln, nachdem er ein höchst unzufriedenes Semester mit der Theologie verbracht hatte. Seine Wiederbegegnung mit Vanadis, der er ehedem ein treuer Kamerad gewesen, fiel seltsam fremd und steif aus. Er wollte nicht mehr du sagen. Als ihm das erste »Sie« über die Lippen kam, sah das Mädchen ihn staunend an und lachte dann. »Bist du übergeschnappt, Oskar? Kann man sich denn mit ernstem Gesicht ›Sie‹ sagen, wenn man so viele dumme Streiche gemeinsam verübt hat?«

Er brachte noch ein paarmal ein gezwungenes Du heraus, fiel dann aber gleich wieder in das Sie zurück, daß ihr am Ende nichts übrigblieb, als darauf einzugehen.

»Kinder, was seid ihr denn so förmlich miteinander?« sagte die Großmutter, als sie es bemerkte. »Stellt euch doch nicht an, als wärt ihr bei Hofe, ihr seid ja beide noch dasselbe grüne Holz. Warum sich vor der Zeit alt machen?«

Ihre Enkelin zuckte die Achseln, und Oskar schwieg. Er setzte sich mit Esther in einen Winkel, wo der Mistelzweig über ihren Häuptern nickte, und erzählte dem Kind eine lange Geschichte, die sie sehr zu erfreuen schien, denn ihre Augen strahlten, und einmal ums andere lachte sie hellauf. Der älteren Schwester tat diese Fröhlichkeit wehe, weil sie sich davon ausgeschlossen fühlte, und ihr verletztes Selbstgefühl antwortete auf Oskars Zurückhaltung mit betonter Gleichgültigkeit.

Vater Folkwang hatte indessen seinen Köcher noch nicht ausgeleert. Er fühlte diesen Abend ein unausweichliches Bedürfnis, noch mehr zu den Seinigen zu reden, ihnen, von der Bedeutung des herannahenden Christfestes ausgehend, über seine innersten Gesinnungen Rechenschaft abzulegen. In seiner Lieblingshaltung, mit dem Rücken gegen den Tisch und einer Hand auf der Kante, sprach er zu ihnen nochmals wie zu seinesgleichen:

»Ich habe euch in den religiösen Anschauungen eurer Zeit und eures Volkes erzogen, denn das war meine Pflicht als Erzieher; was ihr später davon festhalten wollt und könnt, ist eure Sache. Aber es muß euch aufgefallen sein, daß ich selber an den kirchlichen Formen, zu denen ich euch hinwies, keinen Teil nahm. Ich weiß, daß man mich hierorts einen Materialisten und Gottesleugner nennt. Und da ich nicht wissen kann, ob uns noch einmal eine Sonnwend so vollzählig beisammenfinden wird wie heute, sollt ihr, um nicht später Falsches von mir zu glauben, aus meinem eigenen Munde hören, wie euer Vater gedacht hat.

Nichts hasse ich mehr als die öde Glaubenslosigkeit, diese Götterdämmerung unsres Jahrhunderts. Aber ein andres ist es: glauben, weil die Menge glaubt, und die Gebräuche mitmachen, weil sie hergebracht sind, ohne den Sinn, der sie eingesetzt hat, mehr zu fühlen; ein anderes: glauben, weil man die Gewißheit eines göttlichen Seins im Innersten spürt. Denn Gottes Geist ist nicht an irgendeinem Punkt in Erdferne über uns, er geht mitten durch die Welt, in jeder edlen Tat und jeder überirdischen Schönheit ist er uns nahe.

Es war einer der frömmsten Christen, der das unbegreiflich tiefe und blasphemisch kühne Wort sprach: ›Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben‹ – ohne den Empfänger gibt es keinen Spender.

In den Kirchen und Schulen lehren sie die Gottesfurcht als besten Wegweiser durchs Leben. Habt ihr bedacht, was dieses Wort bedeutet? Furcht Gottes ist gut für die Wilden. Bei dem zivilisierten Menschen ist sie Lästerung. Sich von dem Höchsten, dem unfaßbar Hohen ein Bild machen, worin alle menschlichen Laster, Eifersucht, Rachewut, Habgier, Grausamkeit vereinigt sind, ist schlimmer, als keinen Gott glauben. Sie nennen ihn zwar den guten, aber nur aus zitternder Furcht, heimlich ist er ihnen der blutdürstige, unversöhnliche Popanz. Der alte Grieche Plutarch, der selber Priester war, sagt zu dem Thema Gotteslästerung und Gottesleugnung sehr passend, er für seinen Teil möchte lieber, daß man von ihm sagte, es gebe gar keinen Plutarch, als daß es hieße, dieser Plutarch sei ein furchtbares, unmenschliches Wesen, das den Unglücklichen, der sich im geringsten an ihm verfehlt habe, mit unauslöschlichem Haß verfolge, martere, sein Haus zerstöre, seine kleinen Kinder erwürge. Und er zieht daraus den Schluß, daß die Gottheit doch nicht schlimmer sein könne als er, der Mensch. Dieser alte Heide beschämt unsre Frommen. Wer Gott mit bleicher Furcht und Zittern dient, nur damit ihm von seiner Seite kein Übles geschehe, der stellt ihn auf gleichen Rang mit einem Nero, einem Tamerlan. Und wer Gott dient mit dem Hintergedanken an eine Belohnung in diesem oder in jenem Leben, der ist nur ein kriechender Höfling, der seinem Herrn durch erlogene Hingebung eine Gunst abzuschmeicheln sucht. Selbst ihn lieben wollen, ist Vermessenheit und heißt seine unausdenkbare Größe auf einen uns erreichbaren Maßstab verkleinern, denn lieben können wir nur, was wir uns ähnlich zu denken vermögen. Wir können ihn nur staunend ahnen und seinem Gesetz eines Weltenrhythmus treu sein.

Wie ihr euch nun auch künftighin zu der Frage von den Letzten Dingen stellen möget, eines leg' ich euch vor allem ans Herz: seid duldsam und verständnisvoll gegen jeden, der anders denkt. Störet nie das Glaubensglück eines Menschen, von welchem Bekenntnis er sei. Leuchtet nicht mit der Fackel eurer Kritik dahinein, die Kritik hat in dieser Sphäre nichts zu suchen. Von dem Glück, das ihr zerstören würdet, könntet ihr nicht das kleinste Teilchen wiederherstellen. Und wisset vor allem eins: jede Religion ist die wahre für ihre Zeit und Zone, in jeder spiegelt sich das Angesicht des Ewigen. Erscheint es unvollkommen, so liegt das an der Unvollkommenheit des Spiegels. Derjenige, den wir Jesus Christus nennen, erkennt sich in jedem anderen Namen auch, wenn nur wahre Frömmigkeit ihn ruft. Und einmal wird eine Zeit kommen, wo auch unser Abendland ihn mit anderem Namen nennen wird, denn jedes Weltalter sieht eine neue Menschwerdung des Lichtes. Das Licht wird immer dasselbe sein, nur wird der menschliche Geist immer mehr davon aufnehmen können. – Das aber sollt ihr für jetzt den Unmündigen nicht sagen. Das Volk ist immer unmündig, und die Gebildeten sind es großenteils auch. Gedankenloser Glaube aber ist besser als gedankenloser Unglaube. Ein griechischer Philosoph, einer der größten, die je gelebt haben – Anaximander hieß er –, sagte in grauer Vorzeit, daß das Aufsteigen aus dem Ungeformten, also die Persönlichkeit, eine Überhebung sei, die nach der Ordnung der Zeit mit dem Tod bezahlt werden müsse. Nach der Bibel wurde durch den Apfelbiß das erste Menschenpaar seiner selbst bewußt, es beging den Frevel, sich durch Erkenntnis von der Masse des Geschaffenen zu unterscheiden, und dieser Frevel zog den Tod nach sich, gleichfalls ›nach der Ordnung der Zeit‹. Dies zeigt, daß das menschliche Gehirn in allen Jahrtausenden und in allen Zonen die gleichen Gedanken denkt. Es sind die ewigen Gottesgedanken, denen von Zeit zu Zeit ein neuer Spiegel geschliffen wird.«

Er schwieg eine Weile, während die Zuhörer über das Gesprochene nachdachten, und begann nach einigem Besinnen von neuem:

»Es ist noch ein Gegenstand, über den ich mich zu euch aussprechen muß. Unser Bruno wollte heute unsern Baum mit den vaterländischen Farben schmücken. Ich habe es gewehrt, fand aber nicht die Zeit, ihm das Warum zu erklären: Die Wiedergeburt des Lichtes, die wir feiern, findet ja nicht für uns allein, sondern ebenso für die andern Völker statt, sie ist ein Himmelsvorgang und hat nichts mit irdischen Vorgängen und mit Landesgrenzen zu tun. Denn wenn einmal alle Länder im Meer versunken oder von einer Sintflut überschwemmt wären, so würde noch immer an jeder Sonnwend das große Licht seinen Siegesgang antreten oder sich zum Abstieg bereiten. Auch die Religion ist überzeitlich, außergeschichtlich. ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‹, sagte Christus dem ihn versuchenden Pharisäer und enttäuschte damit auch seine Anhänger, die eine weltliche Befreiungstat von ihm erhofften: für ihn, dessen Auge durch die Jahrhunderte sah, der die Weltgeschichte vor- wie rückwärts lesen konnte, war ja das ganze Imperium urlängst vergangen.

Auch der deutsche Genius ist außerzeitlich, unpolitisch, auch für ihn ist der werdende Augenblick zugleich schon vorüber, denn es gibt nichts Seiendes, nur Werdendes und Vergehendes unter der Sonne. Wird er durch die politischen, die zeitlichen Völker, die uns umgeben, bedrängt und in seinem innersten Bestand gefährdet, so erhebt er sich wie ein Riese und überwältigt seinen Gegner, auch wenn er Napoleon Bonaparte heißt. Aber dieses zeitliche Tunmüssen ist dem überzeitlichen Genius eine Qual, die stets an seinen größten Geistern zum Ausdruck kommt. Sobald er nicht mehr gezwungen ist, kehrt er in sein Gedankenschloß zurück und siedelt sich wieder im Unsichtbaren an, während die anderen Völker bedacht sind, sich ihre irdischen Paläste zu bauen. Darin sind wir dem Inder verwandt, der noch unpolitischer, noch ungeschichtlicher ist als wir, in solchem Maße, daß ihm selbst Alexanders Fußtapfen verwischt sind und daß er auch nach seinem eigenen Alexander, dem noch größeren Akbar, nicht mehr fragt. Noch mehr als uns ist ihm das Werdende nicht seiend, sondern schon vorüber. Als der unbesiegliche Held des Mahabharata, Ardschuna, auf dem mit weißen Hengsten bespannten Wagen stand und das Feindesheer angreifen sollte, da sank ihm das Herz, denn auf der Gegenseite erblickte er seine liebsten Freunde und Verwandten. Aber sein göttlicher Wagenlenker Krischna machte sein Auge für eine Sekunde göttlich sehend. Da erkannte er, wie diejenigen, die er schonen wollte, soeben schon in dem aufgesperrten Rachen der Zeit verschwanden. Und diese verschlingende Zeit war Krischna, sein Wagenlenker, selber, der unvergängliche Herr des Werdens und Vergehens. ›Vorwärts, tu deine Pflicht! Was zauderst du? Sieh her, sie sind vergänglich und darum so gut wie schon vergangen.‹

Mit solchem Schmerz, mit solcher Überwindung greift der deutsche Held zu den Waffen, wenn er muß, wenn ihn wie Ardschuna die Not der Seinen zwingt. Darum ist er wohl ein jauchzender Kämpfer, aber ein trauernder Sieger. Unser Roderich, der ebenso ungeschichtlich ist wie der geschichtsloseste Hindu, hat sich dessen gewiß nicht versehen, daß er uns ein Symbol gegeben hat in seinem Reiter, der ernst und schwer über zerschlagene Feindeswaffen und zerbrochene Standarten den Hügel des Morgenrots hinanreitet: das ist der deutsche Held, der trauert, wenn er gesiegt hat.

Verzeiht, daß ich heute so viel spreche, es ist vielleicht, weil ich so viel geschwiegen habe, da mußte es einmal heraus. Ihr werdet mich wohl kein zweites Mal so schwatzhaft finden. Heute aber möchte ich euch noch sagen, was ich von eurer Zukunft in den Sternen zu lesen glaube.

Mein ältester Sohn, mein Gunther, haftet mit allen Fasern im Heimatboden: Heimatlaute, Heimatsitte, Lieder und Überlieferungen seines Volks, das ist seine Welt, er wird auf der Vätererde wohnen und wachsen und, so Gott will, ein Baum werden, der den andern Früchte und Schatten gibt. Er ist deutsch und will deutsch sein, alles Fremde lehnt er ab.

Er hat eine Schwester, die schon in frühester Kindheit von Meeren und Inseln unter blauerem Himmel träumte. Solche Kinderträume sind wie ein blasses Rückerinnern an Vorausgewußtes und wieder Vergessenes. Sie wird, ich nehme es an, fremde Länder sehen und fremde Sprachen sprechen, aber ohne der eigenen untreu zu werden. Ihr sollt sie darum keine schlechtere Deutsche nennen, denn beides ist deutsche Art, das Wurzeln und das Schweifen. Unser Wotan ist ein wandernder Gott, unermüdlich streift er über die Erde, um den Geist des Alls zu befragen. Noch in unsern Kindermärchen erkennt ihr seine Spur, wo sie von der Wanderschaft des lieben Gottes erzählen. –

Und noch ein Symbol für deutsche Art will ich euch sagen. Wotan ist einäugig, er zieht den Schlapphut über das leere andere. Warum? Er hat ein Auge verpfänden müssen; um vertieftes Wissen von den ewigen Dingen hat er einen Teil seiner sinnlichen Kraft geopfert. So stehen auch wir im leichten Erfassen und Gestalten der irdischen Dinge hinter gewissen anderen Völkern zurück, die mit beiden Augen ins Diesseits schauen. Aber was Wotan aus dem Quell Mimes schöpft, das tränkt die Erde. Jedes Volk hat seinen ihm zugewiesenen Kreis, man braucht sich darum gegenseitig nicht zu schelten. Es gab nur ein Volk, das mit beiden Augen in die Welt sah und doch das Tiefste dachte, die Griechen, jetzt ist ihr Erbteil zwischen den neuen Völkern stückweise aufgeteilt. – Unser Bruno ist langsameren Geistes als die beiden älteren Geschwister, aber was er ergreift, das hält er. Er wird sich nicht in Geisteskämpfe stürzen, ihm wäre der Hammer Thors gerade handgerecht. Sein Hang zieht ihn zum Soldatenhandwerk, das es in der Familie Folkwang bisher noch nicht gab. Ich habe ihm keine Hindernisse in den Weg gelegt, auch der Soldatenstand muß sein in einer Welt, wie sie heute ist. Wir sind ein Volk, das von vielen beneidet, von allen gefürchtet ist, es können Gefahren kommen, denn man sieht uns als die zuletzt Erschienenen nicht gerne an der Tafel der Völker mitspeisen. Sollte er dann an der Spitze tapferer Kameraden ausziehen, um die Grenze zu schützen, so ist mein Segen mit ihm, ob ich es erlebe oder nicht. Nur soll er dann nicht glauben, für das Vaterland mehr getan zu haben als sein Bruder Gunther, der die deutsche Sprache hütet, die Sprache ist heiliger als die Grenze. Grenzen können wechseln, die Sprache bleibt. Sie ist der sicherste Schutzwall des Volkstums, sie ist die Wagenburg, wo man auch nach verlorener Schlacht geborgen ist und wieder hervorbrechen kann, um die Geschicke zu wenden. Solange ein Volk seine Sprache besitzt, ist es unverloren.

Von Roderich, der mir, wie er weiß, ein eigener Sohn geworden ist, kann ich vorerst die Zukunft noch nicht deutlich lesen. Er ist noch ein Chaos, von dem ich hoffe, daß es eine Welt gebären wird.

Was soll ich nun von den Jüngsten sagen, deren Linien noch nicht erkennbar gezogen sind? Nur dies, daß sie nicht anders als gut werden können, denn in meiner Art ist kein Falsch, und mütterlicherseits stammt ihr von den Göttern.«

Hier flog die Großmutter auf ihn zu und umschlang ihn mit ihrer ganzen Jugendlichkeit unter stürzenden Tränen, die auch den andern die Augen naß machten.

Als sich die Bewegung gelegt hatte, wandte Herr Folkwang das Wort an den jugendlichen Gast des Hauses:

»Du, Oskar, den ich gleichfalls zu den Meinen zähle, hast das beste Teil erwählt. Der Helfer ist überall, wo er erscheint, am rechten Platz. Wunden heilen steht höher als Wunden schlagen. Ihr Ärzte seid die wahren Soldaten der Menschheit, für die ihr rastlos und schlaflos mit Einsatz des eigenen Lebens zu kämpfen habt. Für den Kriegsmann kommt die Friedenszeit, für euch Soldaten des Menschenwohls kommt niemals Frieden, ihr tragt eure Waffen Stunde um Stunde. Deshalb soll man euch vor anderen ehren, wie es schon der alte Homer aussprach. Und wenn zu der tiefen Menschlichkeit, die euer Amt erfordert, sich eine höhere Bildung und künstlerischer Sinn gesellen, so ergibt das die edelste Menschenmischung. Dein Jahr Philosophie wird dir für deinen Beruf nicht verloren sein, Oskar, so wenig wie die Luft deines elterlichen Hauses!«

Noch nie war Vater Folkwang so aus sich herausgetreten wie an diesem Abend, seine Augen hatten einen seherischen Glanz. Fanny, der dieses Wesen ganz fremd an ihm war, brach plötzlich in Tränen aus, so daß sie das Zimmer verlassen mußte.

 

»Warum hast du am Sonnwendabend kein Wort mit Oskar gesprochen?«

Es war an einem sonnigen Februartag, daß die beiden Schwestern in ihrem zierlichen Maidenstübchen beisammensaßen und die schweigsame Jüngere diese Frage an die Ältere richtete. Das geschah nach einer längeren Gesprächspause, denn augenscheinlich kostete es sie einige Überwindung, den zarten Punkt zu berühren.

»Warum hat er kein Wort mit mir gesprochen?« gab jene zurück.

»Du weißt so gut wie ich«, sagte Estherchen, »daß seine Gedanken immer bei dir sind.«

»Er hat mich ja nicht einmal angesehen.«

»Ich glaube, er sieht dich auch mit geschlossenen Augen«, erwiderte das Kind. »Aber es muß etwas zwischen euch vorgefallen sein, das ihn verletzt hat. Jetzt ist er wieder über den Sonntag hier gewesen und hat uns nicht aufgesucht.«

»Woher weißt du, daß Oskar hier gewesen ist?« fragte Vanadis, den Kopf einen Augenblick von ihrer Arbeit erhebend. Sie hatte einen Karton auf dem Schoß, den sie gegen die Tischkante gelehnt hielt, und malte mit Wasserfarben an einem Blumenstück, wobei ihr die gefüllte Blumenschale als Anregung diente.

»Ich ging gestern morgen zufällig am Haus vorbei, da stand er am Fenster und rief mich an: er wollte wissen, wie es uns allen gehe«, antwortete das Kind errötend.

»Und woher weißt du, daß er wieder abgereist ist?«

»Ich weiß es, weil ich es weiß. Er bleibt nie länger als über den Sonntag.«

Die andere neigte sich wieder über den Karton und machte ein gleichgültiges Gesicht. Aber die Nachricht hatte ihr einen schmerzhaften Stich gegeben. Sie begriff das Betragen Oskars nicht. Gerade dieser eine, den sie stets bevorzugt hatte und der ihr manch liebes Mal in den Schwierigkeiten ihres jungen Lebens ein Vertrauter und Helfer gewesen war, entzog sich ihr, ohne daß sie den Grund nur ahnen konnte. Seit es so zwischen ihnen stand, bedeutete er ihr im stillen noch mehr, aber ihm nachzugehen und zu fragen: »Was hast du gegen mich?« widerstrebte ihr und hätte ihn vielleicht, da er nun einmal nicht reden wollte, noch mehr entfremdet. Und dennoch sagte ihr eine ganz leise Stimme aus dem Innersten, daß Esther recht habe. Es ging ihr zum erstenmal auf, wie unheimlich das Leben oft mit unserem besten Wollen spielt und wie all unser Tun und Sein nicht unser ist.

Auch Estherchen zeigte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen. Sie legte einen Arm um die Schwester und sagte zärtlich:

»Wie schön deine Blumen werden, noch schöner als die lebenden in der Schale. Du mußt doch sehr glücklich sein, daß dir alles, was du angreifst, gelingt.«

»Gar nichts gelingt mir, wie ich möchte, du liebes Schmeichelkätzchen«, sagte die Schwester. »Ich male, weil ich zur Zeit nichts Besseres zu tun weiß, und du, weil du mich liebhast, siehst in jeder Stümperei ein Meisterwerk wie in der da oben.«

Sie deutete nach einer Flußlandschaft mit nackten spielenden Kindern, einem ihrer ersten Versuche, von dem die kleine Schwester so entzückt war, daß sie ihn der Urheberin abgebettelt hatte, um ihn aus ihrer eigenen Sparbüchse äußerst prächtig einrahmen zu lassen und in ihrem gemeinsamen Stübchen aufzuhängen. Darüber hatte Vanadis als eine Art Memento für sich selber mit ein paar Reißnägeln den ihr geschenkten Holzschnitt Roderichs befestigt.

»Aber es ist doch ein so schönes Bild, Corinna selbst hat es gelobt«, antwortete das Kind betrübt . . .

»Corinna ist wie du, sie findet immer etwas an mir zu loben. Sie bildet sich ein, es stecke eine große Malerin in mir, die man nur herauszuholen brauche. Ich möchte wohl eine Form finden, in der ich mein Inneres ausdrücken könnte, aber mit dem Pinsel werde ich immer nur etwas von außen her machen. Das weiß ich ganz deutlich, seit ich Roderichs Blatt im Zimmer habe. Er kann mit Pinsel und Stichel sagen, was er in sich hat, für mich braucht es eine andere Form, und daß ich diese Form nicht finden kann, das verfolgt und quält mich. Wenn ich dichten könnte« –

»Aber du kannst ja, sobald du willst!«

»Verse machen zum Spaß und Spiel ist nicht dichten. Als ich ein Kind war und oben auf der Spitze von Schloß Tronje saß, da war ich viel reicher als jetzt mit meinen siebzehn Jahren. Da waren Wesen um mich, die niemand sehen konnte außer mir, sie gaben sich selber Namen, nie gehörte, aus den Namen wuchsen Geschichten heraus, die wie Wolkenbilder wechselten und sich verschoben; ich freute mich daran wie andere Kinder an Seifenblasen. Dann sagten die Großen, wenn sie etwas merkten: Sie wird eine Dichterin. Ich glaubte selber, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu halten. Damals spielten sie mit mir, jetzt, da ich es verstehen könnte, sind sie verschwunden, und ich weiß nicht recht, womit ich mein Glück verscherzt habe. Wenn du mich bisweilen fragst, warum ich traurig bin, das ist es, daß meine Unsichtbaren mir den Rücken drehen.«

»Daran ist niemand schuld als Märchen«, sagte das unbestechliche Kind. »Sie hat dir alles, was nicht in ihren kleinen Kram paßte, weggelacht und weggespottet. Es war überhaupt viel schöner bei uns, bevor sie ins Haus kam. Auch Gunther war anders und glücklicher.«

»Ach nein, bei mir begann das schon früher! Vielleicht hat man überhaupt nur in der Kindheit, da man nichts von sich selber weiß, die Fähigkeiten, die ich damals hatte. Später muß man um alles kämpfen. Wenn jetzt die Stimmen zu mir kommen, so haben sie mich zum besten, oder sie sind streng und herrisch. Sie wollen etwas von mir, das ich nicht vermag. Sie lassen mich fühlen, daß ich nichts bin, und helfen mir nicht, etwas zu werden. Sie geben mir Worte, Klänge, halbe Strophen ein und lassen mich umsonst Sinn und Zusammenhang suchen. Sie sagen mir Namen ins Ohr und lassen mich raten, was ich damit soll. Und aus Angst, um ihnen auszuweichen – male ich. Aber es nutzt mir nichts. Immerdar liegt mir eine Dichtung im Sinn, die ich gestalten möchte. Vielleicht habe ich überhaupt kein Talent, oder es ist, daß ich noch zu wenig vom Leben weiß.«

»Was soll darin vorgehen? Ist es eine Liebesgeschichte?« fragte das Kind begierig.

»Es ist die Geschichte von zwei Schwestern, die sich ähnlich und unähnlich sind, so wie wir beide. Sie heißen Perdita und Peregrina und sind Königstöchter, von der Insel Zypern oder einem anderen griechischen Gebiet, das im Mittelalter Venedig unterworfen war. Soviel haben die Stimmen mir gesagt. Bei einem Aufstand fällt ihr Vater . . .«

»Oh!« rief das empfindsame Kind.

». . . und die Mutter stirbt vor Leid. Die beiden Schwestern, denen nachgestellt wird, müssen fliehen und geraten ins Elend – ich weiß aber nicht, wohin ich sie versetzen kann –, Herr Wittich hat versprochen, mir Bücher zu bringen.«

»Was wird aus den Schwestern?«

»Das eben weiß ich noch nicht, und die Stimmen wollen mir's nicht sagen. Ich glaube, sie lieben den gleichen Mann.«

»Oh, nur das nicht!« rief Esther leidenschaftlich und schlug die Hände vors Gesicht.

»Aber was ist dir denn, Kind?« fragte die Ältere erstaunt.

»Es ist grausam«, flüsterte Esther.

»Ja, aber die Dichtung darf grausam sein, das macht sie schöner.«

Estherchen ließ die Hände sinken, sie war ganz blaß geworden.

»Dann muß eine von beiden sterben«, sagte sie leise.

»Ja«, antwortete die Schwester. »Vielleicht beide.«

»Nein, nicht beide!« rief das Kind, sie heftig umschlingend. »Nicht beide! Versprich mir das!«

»Nun, dann sollen sie beide leben«, entgegnete jene lächelnd, »wenn du es so haben willst. Es ist ja überhaupt noch nicht einmal ein Umriß. Ich muß warten, bis mir mehr gesagt wird.«

»Wer sagt es dir denn?«

»Etwas Inneres, das ich nicht kenne.

Ich bin sehr arm, weißt du«, fuhr sie fort. »Nach allen Seiten bin ich arm. Es ist, als hätte ich den Auftrag, etwas ganz Bestimmtes zu vollführen, aber das Leben selber ist mir im Weg mit allen meinen persönlichen Wünschen, die mich abziehen. Und wiederum kann ich den Weg in die Wirklichkeit nicht finden vor all dem Ungreifbaren, was ich um mich fühle. So habe ich weder das eine noch das andere.«

»Vielleicht hast du von beiden zuviel«, sagte Esther. »Ich verstehe dich wohl. Aber weißt du, ich glaube, eine begabte Frau müßte häßlich sein.«

»Warum häßlich?«

»Weil sie dann denkt: Mit der Liebe ist es doch nichts, dafür will ich etwas Großes werden. Und dann kommt vielleicht die bessere Liebe zu ihr, die gar nicht soviel nach dem Äußeren fragt. Weil alle sagen, daß du schön bist, und dir nachstarren, wo du vorübergehst, deshalb kannst du den Weg in dich selber nicht finden.«

»Esther!« rief Vanadis mit einer Art von Schrecken. »Was ist das mit dir? Du denkst Dinge, die niemand sonst denkt. Vor kurzem zogst du noch die Puppen aus und an.«

»Das tue ich noch«, lächelte Estherchen.

»Das tust du noch, aber zwischendurch redest du wie die Sibyllen und Propheten. Vielleicht ist etwas Wahres an dem, was du sagst. Aber wie kommt man in deinem Alter auf solche Wahrheiten? Ich staune, was ich für ein kluges Schwesterlein habe, das mich schon jetzt übersieht.«

»Oh, neben dir bin ich ein Garnichts, nur gut, um dir die Schleppe zu tragen, wie damals an deinem zehnten Geburtstag den Brautschleier, weißt du noch? Ich staunte dich an als meine Königin, und das bist du mir noch heute. Ich lebe auch meistens vor mich hin, ohne etwas zu denken, nur auf einmal wird es an irgendeiner Stelle hell für mich, während alles andere im Dunkel bleibt.«

»Es ist mir manchmal, als ob du gar nicht irdisch seist«, sagte die Schwester, sie besorgt anblickend.

»Vielleicht soll ich es auch nicht sein«, war die Antwort, »vielleicht kann ich dir anders besser helfen.«

Die große Schwester ließ ihr Malzeug fallen und schlang beide Arme um die kleinere.

»Was sind das wieder für Reden, Kind? Ich brauche keinen Seraph, der für mich betet, ich brauche ein gutes Schwesterlein hier auf der Erde.«

In diesem Augenblick riß Enzio die Tür auf und schrie heiser vor Erregung ins Zimmer:

»Wißt ihr noch nichts? Auf der Straße liegt Herr Wittich erschlagen!«

Herr Wittich war zur gewohnten Zeit, das heißt gleich nach Tisch, von Hause aufgebrochen, um seine Freistunde der ihm so treuen Schülerin zu widmen; die Bücher, um die sie ihn gebeten hatte, trug er unter dem Arm. Er hatte die Eigenheit, immer ganz nahe an den Häusern hinzugehen, heute empfahl sich diese Maßregel durch den großen Schmutz der in der Sonne plötzlich aufgetauten Straße. Als ein zerstreuter Mann, der er war, beachtete er nicht, daß es von allen Dächern auf ihn niedertropfte und daß auch dann und wann ein kleines Eisstück abschmolz und neben ihm herunterfiel. Er übersah im Geiste den Lehrstoff, den er für heute bereithielt, und schlug den kleinen Vortrag, den er seiner Schülerin zugedacht hatte, mit innerer Befriedigung zu Faden, wobei er im Gehen vor sich hin sprach. In der Waldhauser Straße, die vom Stadttor nach dem van der Mühlenschen Anwesen führte, war in den letzten Jahren eine lange Reihe neuer Häuser emporgestiegen, die nicht wie die alten in Gärten und Wiesen, sondern hart an der Straße standen. Unter diesen setzte Herr Wittich seinen Weg fort. Da löste sich von einem der steilen Dächer eine mächtige Eisscholle von der Größe und Schwere eines Backsteins ab und schmetterte gerade auf den Unglücklichen herunter, daß er mit zerklafftem Schädel zu Boden stürzte. Enzio, der eben seinen Ranzen zur Nachmittagsschule trug, hatte ihn noch inmitten eines großen Menschenauflaufs liegen sehen und war schleunigst zurückgerannt, die schreckliche Nachricht nach Hause zu bringen. Als die beiden Schwestern atemlos mit ihm an der Stelle anlangten, war der Verunglückte schon ins nächste Haus geschafft. Der Kreisarzt, an dessen Tür der flinke Enzio die Klingel fast herunterriß, war auch schnell zur Hand, aber er konnte nur den augenblicklich eingetretenen Tod feststellen.

Am Begräbnis, dem die ganze Folkwangsche Familie mit Ausnahme der Großmutter beiwohnte, wagte Vanadis die Augen kaum zu erheben, weil sie sich schuldlos die Schuld an dem Schrecklichen beimaß, und das Kollern der Erde auf den Sarg war ihr wie eine Anklage. Mit großer Schüchternheit näherte sie sich dem Sohne des Verstorbenen, um ihm die Hand zu drücken, und fand die gewohnte Zurückhaltung. Er schien aber auch seinerseits ganz verwirrt zu sein, denn statt wie üblich mit seinen Angehörigen den traurigen Ort zu verlassen, faßte er Esther bei der Hand und zog sie mit sich zum Kirchhof hinaus. Da stand bei der Tür ein alter Mann und weinte.

»Das ist mein Großvater. Er hat dem eigenen Sohn das Grab geschaufelt«, sagte Oskar.

Esther ging zu dem Alten hin und gab ihm stumm die Hand.

Am anderen Tage schrieb Vanadis in aller Stille einen Brief, dessen Inhalt die kleine Schwester ahnte; die Schreiberin trug ihn selber zur Post und wartete dann lange, daß Oskar seine unbegreifliche Haltung ablege und auf ihre Bitte um Verzeihung wegen des unschuldig veranlaßten furchtbaren Unglücks ihr eine Freundeshand entgegenstrecke. Antwort kam keine. Nur Wochen später, als er sie einmal zufällig am Grabe seines Vaters traf, bat er sie, ihn doch nicht für einen solchen Toren zu halten, daß er ihr die Freude, die sein Vater an ihrem Umgang genossen, und seinen Eifer, ihr hilfreich zu sein, verargen könnte. Das war ihr Abschied für lange Zeit, denn Oskar Wittich verließ die Landesuniversität und studierte an einer auswärtigen Hochschule weiter. Durch Gunther wußte man, daß ihm allgemein eine große wissenschaftliche Zukunft vorausgesagt wurde, aber welcher Mäzen ihm den Weg dazu ebnete, erfuhr man nicht.

*

Das Frühjahr brachte ein Ereignis von schwer fortwirkenden Folgen. Vater Folkwang hatte, um Gunthers Universitätsstudien und die Aufnahme Brunos in die Militärschule zu bestreiten, im Einverständnis mit Frau van der Mühlen die ganze noch übrige Waldung verkauft. Das war ein herber Verlust für die daheimgebliebene Jugend, besonders die weibliche; dem Häslein fehlte es ja nicht an anderen Tummelplätzchen. Auch das geliebte Bächlein floß jetzt außerhalb ihrer Besitzung, die nach dieser Seite neu eingefriedigt werden mußte. Beim Abschluß des Geschäfts hatte der junge Fabrikherr, der den Forst erstand, die erwachsene Tochter des Hauses gesehen und sogleich Feuer gefangen. Er machte als künftiger Nachbar seinen Besuch. Da er Vater Folkwang unzugänglich fand, der beim bloßen Verdacht, daß einer ihm die Tochter wegnehmen wolle, eine gesellschaftliche Mauer aufzurichten suchte, pirschte er sich vorsichtig an Großmutter und Tante heran. Herr Fehringer war von guter Erscheinung, sicher und weltgewandt, hatte fremde Länder gesehen und wußte Erlebtes geschickt in die Unterhaltung einzuflechten. Bei beiden Frauen, die anregenden Umgang vermißten, fand er freundliche Aufnahme. Trotz des Hausherrn ablehnender Kälte wurde er zu Tische geladen, und Frau van der Mühlen leistete der leisen Bewerbung ebenso leisen Vorschub. Im Wunsch, durch eine gute Heirat den äußeren Umständen der Familie aufzuhelfen, übersah sie, daß es kein geistig Ebenbürtiger war, der um die Enkelin freien kam. Gesellschaftlich gab er sich keine Blöße, aber daß man dies überhaupt bemerkte, statt es für selbstverständlich zu nehmen, war schon bedenklich. Kleine Entgleisungen, die ihm beim Gespräch zustießen, zeigten, daß es seiner Jugend an der feineren Geistespflege gefehlt hatte. In seinem Auftreten prägte sich jene damals neu aufkommende Mischung von kaufmännischer Welterfahrung, doch ohne patrizische Vergangenheit, mit einer im Dienst erlangten militärischen Straffheit aus, eine Mischung, die dem aus alter Kultur herstammenden Hanseatensprößling Folkwang wenig zusagte. Wenn Herr Fehringer das Haus betrat, so verließ er es ganz still auf der Rückseite und trat einen Spaziergang längs des Flusses an. Herr Fehringer kam schon nach wenigen Tagen mit einem kostbaren altvenezianischen Halsschmuck wieder, den er auf einer seiner Reisen erstanden hatte, bereits mit der Absicht, ihn demnächst einer schönen Braut um den Nacken zu legen. Die Großmutter, der er zuerst das Geschmeide vorwies, riet ihm dringend, es gleich wieder einzustecken, was er nicht begriff, weil Schmuck und Putz noch jedem jungen Mädchen, das er kannte, willkommen gewesen. Er gehorchte jedoch und entrollte statt dessen die Pläne der Villa, die er nebenan erstellen wollte. Damit fesselte er die Beachtung des jungen Mädchens, dem seine Absichten noch nicht aufgegangen waren und das sich freute, auf dem Schauplatz ihrer Jugendspiele, den man doch nicht hatte halten können, wenigstens etwas Schönes entstehen zu sehen. Er sprach von einer offenen Loggia nach Süden im italienischen Stil, von einem eigenen Musiksaal, dem sogar eine kleine Liebhaberbühne angegliedert werden könnte, und von der Inneneinrichtung entwarf er ihr Schilderungen, die auch der verwöhntesten Frau Lust machen mußten, in einem solchen Hause zu wohnen: Bäder, gleich mehrere, ein zu jener Zeit noch seltener Luxus, fließendes warmes Wasser und andere, eben aus Amerika gekommene Neuheiten. Allmählich schwante es ihr nun doch, daß diese häufigen Besuche sich irgendwie auf sie bezogen, aber ihre Neugier war in ein Netz angenehmer Vorstellungen eingesponnen, und solange sie nichts gefragt wurde, zerbrach sie sich auch nicht den Kopf, was sie zu antworten hätte.

Eines Tages sprach sie ihm von der großen Zeder, die eine so große Rolle in ihrer Kindheit gespielt hatte, um ihm ihre Erhaltung zu empfehlen. Er bat sie, ihm den Baum zu zeigen, und war entzückt von der Schönheit und Gleichmäßigkeit des edlen Gewächses, das soeben sein dunkles Winterkleid mit zartgrünen Sprossen behängte. Indem er den Baum von allen Seiten umging, erörterte er mit ihr die Absicht, ihn ringsum freizulegen, damit er sich von den Fenstern des oberen Stockwerks in seiner vollen Pracht überschauen lasse. Sie deutete in den Wipfel hinauf, um ihm den Sitz zu zeigen, wo sie als Kind ihre Zeit zu verbringen pflegte. Er hielt die Bewegung des aufgehobenen Arms, wodurch die Linien des jungen Körpers noch schöner hervortraten, für eine kokette Absicht, und seine Augen begannen plötzlich zu funkeln. In einer tollen Anwandlung riß er sie an sich und wollte ihr einen Kuß aufzwingen, der aber durch ihren empörten Widerstand fehlging und sie nur von der Seite traf. Sie stieß ihn zornflammend zurück, der Kuß brannte wie ein Schandmal auf ihrer Wange nach und enthüllte ihr auf einmal, wie sie innerlich zu ihm stand. Bei dem Funkeln seiner Augen war ihr aus ganz versunkener Tiefe das Bild jenes französischen Knaben wieder aufgestiegen, aus dessen Augen es ebenso roh und verletzend geflackert hatte. Maßloser Abscheu sprühte dem Beleidiger entgegen. Dieser war selber erschrocken über die Dummheit, die er begangen hatte, denn es blieb ihm nun nichts übrig, als seine Werbung zur Unzeit anzubringen, was sie noch mehr erzürnte, weil er ihr dabei, wenn auch bittend, die Hände festhielt, die nach ihm zuckten.

»Ich glaubte doch, daß Sie mir ein wenig gut wären«, entfuhr es ihm.

»Ich Ihnen gut, Sie Greuel? Verhaßt sind Sie mir und ganz unerträglich!«

Er verbiß ein ungläubiges Lächeln und flehte weiter um gutes Wetter. Er verlange nicht, daß sie ihn liebe, er wisse, daß sie noch zu jung sei für dieses Gefühl, sie möge ihm nur gestatten, um ihre Neigung zu werben.

»Jawohl, aus der Entfernung!« rief sie höhnisch, indem sie sich losriß.

Als er sich aufs neue abbittend nähern wollte, mißverstand sie die Bewegung und schrie außer sich:

»Augenblicklich verlassen Sie diesen Ort!«

Jetzt erwachte auch in ihm der Zorn.

»Sie vergessen, mein Fräulein, daß dieser Ort jetzt mir gehört.«

Verächtlich wandte sie ihm den Rücken und verließ die Lieblingsstätte ihrer Kindheit.

Der üble Ausgang dieser Brautwerbung zog eine lange Kette von Mißgeschick für die Familie Folkwang nach sich. Der Forst wurde jetzt ganz geschlagen, und auch die schöne Zeder fiel dem Groll des verschmähten Liebhabers zum Opfer, nur ein schmaler Waldstreifen, den die Großmutter beim Verkauf zurückbehalten hatte und der jetzt die neue Mauer innen umsäumte, blieb von der grünen, harzduftenden Herrlichkeit erhalten. Aber das war nur der Anfang eines tückischen Rachefeldzugs. Herr Fehringer hatte keine Lust, sich in einer Nachbarschaft niederzulassen, wo er so übel angekommen war. Er änderte seinen ursprünglichen Plan, kaufte am andern Stadtende ein neues Grundstück für die geplante Villa und fand auch gleich die rechte Frau dazu, denn er verlobte sich mit einem ebenso hübschen und reichen wie eitlen und einfältigen Mädchen. Die zwei ansehnlichen Gestalten erregten Aufsehen, wenn sie Arm in Arm durch die Stadt schritten. Herr Fehringer legte Wert darauf, mit seiner schönen Braut auch in der Waldhauser Straße gesehen zu werden, und führte sie ab und zu im Zweispänner am Folkwangschen Hause vorüber, um ihr den zur Zerstörung erworbenen Besitz zu zeigen. Als Corinna einmal mit Vanadis am Fenster ihres Rosenhäuschens stand und das Paar aus dem Wagen steigen sah, packte sie die junge Freundin triumphierend am Arm:

»Sagte ich dir's nicht? Das Grautier frißt, was ihm unter die Zähne kommt, seien es Rosen oder Disteln oder Gänseblümchen. Warum sollen die Rosen für das Grautier wachsen?«

Sie hatte den Werbungen Fehringers mit beklemmtem Herzen zugesehen und war erst wieder ruhig geworden, als sie aus den Umständen entnehmen konnte, daß der ungleiche Freier mit einem Korbe abgezogen war. Seitdem liebte sie ihre Schülerin noch mehr und bemühte sich noch leidenschaftlicher, sie für die Kunst zu gewinnen. Sie nahm sie auf Spaziergänge mit, lehrte sie in der Natur den künstlerischen Bildstoff sehen und suchte sie mit ihrer eigenen Begeisterung zu durchglühen.

Unterdessen vollzog sich für das Haus Folkwang das Verhängnis, das mit Herrn Fehringers Auftreten begonnen hatte. Auf dem ausgerodeten Waldgrund baute er jetzt eine Papierfabrik, die er sofort in Betrieb setzte. Als zum erstenmal die Erschütterungen des Kollergangs und das Schwirren der Räder und Riemen das Nachbarhaus zum Mitschwingen brachten, griff sich Vater Folkwang entsetzt an den Kopf und stürzte ins Freie. Herr Fehringer hatte in ausgesuchter Bosheit seine Fabrikgebäude, für die ihm Raum genug zur Verfügung stand, so nahe wie nur irgend gestattet an den noch übrigen Folkwangschen Besitz heranrücken lassen, denn es war versäumt worden, ihn beim Kaufvertrag durch eine einschlägige Bedingung zu binden. So konnte er seinem niedrigen Rachegefühl vollen Lauf lassen und den ehemaligen Grundherren ihren verbliebenen Besitz ebenso verleiden wie für einen künftigen Verkauf entwerten. An der Stelle des Märchenwaldes mit Schloß Tronje dröhnte und surrte die Hölle und hüllte die ganze Nachbarschaft mit in ihren Qualm. Lärmende Arbeitermassen strömten ein und aus und nahmen der ganzen ehemaligen Waldhauser Straße ihre vornehme Stille und Entlegenheit.

Der weltfremde Gelehrte, der mit Hilfe der ebenso unerfahrenen Großmutter den unglückseligen Verkauf abgeschlossen hatte, war in Verzweiflung. Seine Studien, seine Arbeit, seine Nerven, alles drohte zugrunde zu gehen, und nach ein paar Wochen stand es fest, daß gar keine Hoffnung war, sich an das Unerträgliche zu gewöhnen. Es blieb nichts übrig, als das Feld zu räumen. Haus und Park, wo seine Kinder groß geworden waren, wo er nach schwerem Leid Jahre des Friedens und fruchtbarer Arbeit verbracht hatte, mußten aufgegeben werden, und zwar so schnell wie möglich, wenn er nicht dem Wahnsinn verfallen sollte. Es fand sich ein Käufer für beides, der schließlich noch einen leidlichen Preis bot und auch auf die Bedingung einging, der Großmutter, die von keinem Wohnungswechsel wissen wollte, das oberste Stockwerk samt Mitbenutzung des Gartens auf Lebenszeit zu belassen.

Aber so leicht der Entschluß gefaßt war, einen zum Folterplatz gewordenen Wohnsitz aufzugeben, so schwer zeigte sich's, den richtigen Ersatz zu finden. Folkwang und seine Schwester liefen sich die Schuhsohlen ab, allein es fand sich kein Landhaus, das ihren Bedürfnissen nur halbwegs entsprochen hätte, und an eine Stadtwohnung war erst recht nicht zu denken, da Professor Folkwang den Straßenlärm nicht ertrug.

Am anderen Stadtende erhob sich ein überbauter Hügel, dessen Südhang in Terrassen geebnet und ganz mit herrschaftlichen Villen bedeckt war; auf der Nordseite, die noch von alters her den verhängnisvollen Namen »die Fehlhalde« führte, stand in einer abschüssigen, von der Sonne abgewendeten Straße das zweite Stockwerk eines großen Steinkastens leer. Nur als vorläufiger Notbehelf mieteten sie sich dort ein, um wenigstens ein Dach über dem Kopfe zu haben. Aber kaum war das Geschäft abgeschlossen, so stiegen in Heinrich Folkwang Zweifel auf, ob er sich nicht übereilt habe. Die Großmutter redete ihm seine Bedenken aus und verbarg die eigenen, denn sie pflegte nur zu warnen, solange es Zeit war, aus geschehenen Dingen aber stets das Gute herauszuholen. So beruhigte sich denn der Schwiegersohn wieder, um so mehr, als ihm der Lärm der Nachbarschaft gleich aufs neue bewies, daß an dieser Stätte seines Bleibens nicht mehr hätte sein können. Und als gleich darauf die Großmutter über eine Kleinigkeit hell und herzlich auflachte, sagte er:

»Du hast noch immer dein Götterlachen, Großmutter, worin dir Eugenie so ähnlich war: sie lachte Gold wie du, oft meine ich es noch zu hören. Auch Vanadis hat das von euch geerbt, nur ganz so sorglos klingt es nicht bei ihr. Ich fürchte, sie hat etwas von meiner Art in sich.«

»Laß gut sein, Heinrich, die Mischung ist gelungen«, war die Antwort. »Von dir hat sie das Geistige. Weder ich noch Eugenie hätten mögen alle die Weisheit schlucken, mit der sie gefüttert worden ist. Aber das Geblüt hat sie von uns, und das gibt den Ausschlag. Nur müssen wir sorgen, daß sie mehr unter Menschen kommt. Das Kind soll mir nicht auf der Fehlhalde verkümmern.«

Die Großmutter wußte wohl, warum sie das sagte und daß auch in der Enkelin ein Zug von jener Folkwangschen Schwermut war, die immer Gunthers schwankendes Gleichgewicht bedrohte. Aus halben Worten, die ihr entfuhren, hatte das Aufkeimen einer Furcht herausgeklungen, daß sie vielleicht geboren sei, den Menschen, die sie liebten, Unheil zu bringen. War doch der schwachsinnige Großvater verunglückt, als er sie im kindischen Brautstaat sehen wollte. Dann hatte den Freund und Lehrer auf dem Gang zu ihr der Tod getroffen. Und jetzt mußte ihr Nein, dem rohen Bewerber mit Abscheu ins Gesicht geschleudert, die ganze Familie einer geliebten Heimstätte berauben. Niemand konnte ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie einem plötzlichen, untrüglichen Warnungsruf ihres Innern gefolgt war; viel eher traf die Schuld, wenn eine da war, jene, die einen Menschen vom Schlage Fehringers in seinen Hoffnungen ermutigt hatten. Aber da war ein angstvoller Punkt in ihr, auf den es nun fort und fort von drüben, wo die Hölle los war, einbohrte und hämmerte. Darum hatte die Großmutter ihr eine Einladung in die Residenz verschafft zu einer Jugendfreundin, der Generalin von Leo, die ein selbsterbautes Landhaus am Stadtende bewohnte und eine große Stellung in der Gesellschaft einnahm. Sie war eine ungemein urwüchsige Frau, der von dem langen Garnisonleben her ein etwas lauter und befehlender Ton geblieben war, die aber das beste frauliche Herz besaß. Ihr hatte es dieses Mädchen, das so anders war als andere, schon angetan, als sie noch mit der Lumbell herumlief, und sie war ihrer Entwicklung mit Anteil gefolgt. Jetzt empfing sie den jungen Gast mit Wärme und lud ihr die beste Jugend des Landes ein, damit sie sich nicht nur zerstreue, sondern unter ihren Augen womöglich ein Band fürs Leben knüpfe. Allein Vanadis hatte im Theater nur Augen und Ohren für die Bühne, und im Ballsaal langweilte sie sich, denn sie gehörte zu denen, die laute Festlichkeiten traurig machen: sie fühlte, daß das nicht ihre Feste waren. So glitten die Wünsche, die ihr folgten, kraftlos wie an einem Kristall herunter, und es kam zu keiner Annäherung.

Am Tage ihrer Rückkehr war eben die Entscheidung über den neuen Wohnsitz gefallen. Als sie in Begleitung der Magd, die ihr Gepäck im Kinderwägelchen führte, zu Fuß vom Bahnhof nach Haus wanderte, lief ihr Enzio mit ganz verweintem Gesicht entgegen und rief schon von weitem: »Wir ziehen auf die Fehlhalde!«

Die Schwester stand entsetzt und sprachlos, Sie war nur zweimal in ihrem Leben durch die lange, düstere Straße mit den verkommenen alten und den kasernenartigen neuen Häusern gegangen und hatte die unerfreulichste Erinnerung daran bewahrt. Daß man aus dem Sonnenparadies ihrer Kindheit dorthin verschlagen werden konnte, war ihr gar nicht vorstellbar.

Unter der Haustür empfing sie Fanny mit einem »Weißt du schon?« – und nun folgte die traurige Bestätigung.

»Ist denn wenigstens ein Garten am Haus?« fragte sie.

»Nur ein paar Küchenrabatten«, war die Antwort, »aber die gehören den Mietern des unteren Stockwerks.«

Mit wachsendem Schrecken fragte die Angekommene: »Wo soll denn da das Pony untergebracht werden?«

»Das Pony?« lachte Fanny grell und bitter auf. »Sei froh, daß dein Vater eine Unterkunft hat. Für ihn ist ein Turmzimmer da, wo wenigstens die Sonne hereinscheint. Wir anderen müssen uns im Schatten behelfen. Da kann auf Pferde keine Rücksicht genommen werden.«

»Aber irgendwo muß das Tier doch sein«, antwortete das Mädchen beinahe weinend.

»Großmutter hat sich alle Mühe gegeben, daß die Käufer das Pony mit übernehmen sollten«, sagte Fanny. »Aber sie haben keine Verwendung für ein Pferd und brauchen den Stall für anderes. Und darum . . .«

»Und darum?« forschte Vanadis beängstigt.

»Und darum«, entgegnete Fanny, indem sie sich aus innerer Unsicherheit zu plötzlicher Schroffheit aufraffte, »darum waren wir gezwungen, das Pony zu verkaufen.«

Ihrer Nichte versagte das Wort im Munde.

»Das Pony?« brachte sie mit Mühe heraus. »Mein Eigentum – das Geschenk Egons – habt ihr – in meiner Abwesenheit . . .?«

»Ich wußte nicht, daß du schon heute kommen würdest, sonst hätte ich gewartet, aber an der Sachlage hätte das nichts geändert. Es sind keine Mittel mehr da, um dir ein Pferd zu halten.«

»Und ohne mich zu fragen!« sagte die Nichte, vor dem gewaltsamen Eingriff immer aufs neue staunend.

»Du bist noch nicht mündig, daß man dich fragen müßte, und von einem Raub an dir ist keine Rede, der Erlös ist dein, kein Pfennig davon soll dir vorenthalten bleiben.«

Vanadis zuckte wegwerfend die Achseln.

»Ich will das Geld nicht, ich will das Tier, es ist mein bester Freund, du weißt es wohl. Aber immer war ich die letzte in deinem Herzen. Weil ich ein Mädchen bin und du dein eigenes Geschlecht nicht liebst, darum muß ich leiden. Wenn das Pony Gunther gehörte, würdest du dich wohl vor einem solchen Streich gehütet haben.«

»Ich hätte auch Gunther nicht helfen können.«

»So warte wenigstens, daß ich an Egon schreibe. Er wird einen Ausweg finden, er wird nicht dulden, daß mir sein liebstes Geschenk mit Gewalt genommen wird.«

Tante Fanny begann sich zu erhitzen, und um so mehr, als ihr der Sachverhalt selber leid war; nur daß die Teilnahme bei ihr die Form des Ärgers annahm.

»Als ob du nicht wüßtest«, schrie sie mit schriller Stimme, »daß du frühestens in drei Monaten Antwort haben kannst! Wo sollte da das Pony mittlerweilen bleiben?«

Es war richtig: der Freund und Helfer befand sich außer Rufweite. Der unermüdliche Weltwanderer war schon bald nach dem letzten Besuch mit seinen beiden »Alten« nach dem Himalaja aufgebrochen, weil dort ein neuer Prophet und Heiliger erstanden sein sollte, nach dessen Wort und Angesicht die Geistesjünger, wie sie sich nannten, dürsteten. Seitdem hatte er nichts mehr verlauten lassen, was indes nicht auffallend war, denn Egon schrieb nicht gern Briefe. Zwar hatte auch diesmal sein Geschenk – es war eine in weiches Leder gebundene vollständige Goetheausgabe – auf dem Geburtstagstisch des Patenkindes nicht gefehlt, allein diese Aufmerksamkeit war schon vor der Abreise angeordnet und konnte nicht als unmittelbarer Gruß angesehen werden. Durch seine Bank blieb er zwar im Notfall erreichbar, doch was konnte das auf solche Entfernung nützen?

Die Tante rückte unterdessen im Wahn, daß die Nichte sich beruhigt habe, mit den Einzelheiten des Verkaufs hervor. Der Direktor einer Kunstreitergesellschaft, die sich seit einiger Zeit in der Nähe aufhielt und großen Zulauf genoß, hatte ein Auge auf das Pony geworfen und war gekommen, um es zu besichtigen, als er von dem bevorstehenden Auszug der Familie Folkwang hörte. Das Tier hatte ihm aus der Nähe noch besser gefallen, und er hoffte bei seiner großen Gelehrigkeit, es noch zu allerhand Kunststücken erziehen zu können. Am selben Tag, wo der Mietvertrag abgeschlossen wurde, war auch dieser Handel zustande gekommen, und am nächsten Morgen sollte ein Reitknecht aus dem Zirkus das Pony holen.

»Mir tut es selber leid um das gute, anhängliche Tier«, schloß die Tante, »aber so ist es doch besser untergebracht, als wenn es der Metzger erhandelt hätte, um seinen Fleischkarren zu ziehen.«

»Der Metzger? Ach, du bist sehr rücksichtsvoll.« – Vanadis lachte laut auf und lachte zu Fannys aufs neue einsetzenden Erklärungen immer heftiger, daß diese die Selbstbeherrschung verlor und zornig rief:

»Es lag nur an dir, Haus und Hof und Pferd zu erhalten und obendrein eine reiche Frau zu werden, die ihren Brüdern helfen könnte.«

»Du würdest mich freilich dem Satan überlassen, wenn das meinen Brüdern nützen könnte«, antwortete die Nichte kalt.

»Ich habe mich auch opfern müssen, als ich jung war«, entgegnete Fanny nun mit Würde. »Zu meiner Zeit fand man das selbstverständlich. Aber ihr jungen Mädchen von heute wollt nur für euch selber da sein.«

Vanadis warf Schirm und Handtasche zur Seite, und ohne nur zuvor das Haus zu betreten, stürzte sie nach dem Stall, wo das Pony traurig angebunden stand, denn niemand hatte sich in ihrer Abwesenheit mit ihm abgeben können.

»Falada, Falada!« rief sie ihm beim Eintreten zu. »Dich wollen sie mir nehmen. Dich wollen sie zu Kunststücken abrichten, mit Peitsche und Hunger, damit du dem Clown bei seinen Mätzchen hilfst.«

Das Pony wieherte laut auf, als ob es sie verstünde.

»Das wird nie geschehen! Nein! Nie! Nie!« sagte sie leidenschaftlich, sich gegen den Hals des Pferdes pressend. »Nun sollst du sehen, wie lieb ich dich gehabt habe.«

»Vanadis« rief es durchdringend vom Garten her.

Es war Esther, die voller Angst hergelaufen kam, blaß von der doppelten Erschütterung, dem bevorstehenden Auszug und dem Verkauf des Tieres.

»Ich soll dich zu der Großmutter rufen«, sagte sie, die Schwester umarmend, die sie im Stalle fand. »Sie ist heute unpäßlich und kommt nicht herunter, aber sie möchte dich noch sehen, ehe es zu Tisch geht.«

Vanadis band mit Streicheln und Koseworten das Pony los und ließ es im Garten frei. Dann folgte sie der Schwester.

Die Großmutter saß aufrecht wie immer im Lehnstuhl, wenn auch etwas blasser als sonst. Sie hatte durch eine Patience ihr ebenfalls erschüttertes Gleichgewicht wiederhergestellt.

»Ich kann euch nicht in die neue Wohnung begleiten«, sagte sie der vor ihr knienden Enkelin, die sie mit Heftigkeit umklammert hielt, und streichelte ihr den Kopf. »Es ist besser, daß ich euch diese Zuflucht erhalte. Euer Vater kann das Gehämmer nicht ertragen. Ihr habt junge Nerven, für euch macht das so viel nicht aus. Wer sich von euch danach sehnt, am Fenster in der Sonne zu sitzen oder drunten in der alten Laube, die auch noch mein ist, der kommt schnell auf ein paar Tage zu der alten Großmutter, die immer ein warmes Plätzchen für euch alle hat, Sommer und Winter. Und nun geht hinunter, beide, und seht, daß ihr eurem Vater das Herz nicht noch schwerer macht.«

Beim Essen wurden nur halblaute Worte gewechselt. Vanadis vermochte es nicht, den Vater zu küssen, jedes andere Gefühl war zurückgedrängt durch den Groll über das ihr angetane Leid, den sie doch im tiefsten Inneren selber als ungerecht empfinden mußte. Vater Folkwang litt sichtlich unter der herben Haltung seiner Tochter und sprach auch seinerseits kein Wort. Er war in den letzten Wochen gealtert, lange Furchen liefen seine Wangen herunter, und die weißen Stellen seines Schläfenhaars hatten sich ausgebreitet. Man sah ihm an, wie schwer ihm der Abschied vom Hause fiel, zumal des Sonntags, da wie heute der Lärm gemäßigt und ihm der ganze Wert des verlorenen glücklichen Zustands vor die Seele trat. Vanadis dagegen dachte nur an den Falada. Sie ließ ihre Teller unberührt, etwas Fremdes glomm in ihren Augen, das nur Esther wahrnahm, die von Zeit zu Zeit verstohlen einen bangen Blick auf die Schwester warf. Nach Tische verabschiedete sich diese kurz von den Anwesenden, indem sie einen Arm um die Jüngere legte:

»Komm, Esther, wir wollen zur Ruhe gehen. Ich habe heute einen langen Tag gehabt.«

Esther pflegte sonst immer schon fest zu schlafen, wenn Vanadis noch lang im Zimmer kramte und zauderte. Heute fand sie keinen Schlummer, bevor die Schwester das Licht löschte. Dann entschlief sie sogleich.

Als alles stille war, tastete sich Vanadis im Dunkeln in den Morgenüberwurf, der schon zurechtgelegt war. Barfuß glitt sie aus der vorsichtig geöffneten Tür und hinüber in Gunthers leerstehendes Zimmer, das beinahe taghell im Schein des vollen Mondes lag. Dort befand sich im obersten Fach eines Wandschranks, von allen vergessen, eine alte Pistole, die der Besitzer zurückgelassen hatte, weil ihm beim Abgang zur Hochschule ein schöner Revolver neuesten Systems von Egon geschenkt worden war. Eine Schachtel mit Zündhütchen lag daneben. Es war ein altmodisches Ding, mit dem sie ehedem selber nach der Scheibe geschossen hatte. Sie versuchte die Ladung und steckte eine Kapsel auf. Dann entriegelte sie die Haustür und lief rasch über den Kies des Gartens nach der taufeuchten Wiese, wo ihr gleich das Pony entgegensprang.

»Komm, wir wollen noch einmal miteinander glücklich sein«, sagte seine Herrin und reichte ihm eine Handvoll Zucker, den es Stück für Stück begierig fraß. Dann führte sie das treue Tier, das ihr auch ohne Gebiß und Zügel willig folgte, zu einem aus dem Grase ragenden Säulenstumpf, den sie zum Aufsteigen zu benutzen pflegte. Sie schwang sich rittlings auf den ungesattelten Rücken des Falada und gab sich den ausgelassenen Sprüngen seiner Fröhlichkeit hin, ihn mit Streicheln und Zuruf anfeuernd. Das Tier hatte mehrere Tage im Stall gestanden und wußte sich vor Übermut nicht zu lassen, blieb aber doch der gewohnten Stimme gehorsam, die ihn auch ohne Hilfe lenken konnte. Sie tollten zusammen, jagten die Gänge des Parks auf und nieder, dann im Kreis rund um die Wiese, und rasten sich in einen Rausch der Geschwindigkeit hinein, in dem der Reiterin die Gedanken untergingen. Ihr Gewand, das nur oben geheftet war, flog weit zurück und ließ die bloßen Schultern und die nackten Beine frei. So stürmte sie hin wie eine junge Amazone, ohne einen anderen Zuschauer als den Mond, der breit von oben niedersah. Endlich blieb das Tier stehen, sie glitt herab und schnell, um sich keine Zeit zur Besinnung zu lassen, griff sie nach der Waffe, die sie neben dem Säulenstumpf auf dem gestürzten Kapitell niedergelegt hatte. Noch einmal streichelte sie zärtlich seine Mähne.

»Jetzt zeige ich dir, wie lieb ich dich habe. – Um Gottes willen, Falada, verstehst du mich denn? Du blickst ja wie ein Mensch. Siehst du, es muß sein.« – Schnell erhob sie die Waffe, zielte mitten auf die Stirn und drückte ab. Das Tier fiel lautlos auf die Vorderfüße und blieb ohne Zuckung mit aufrechtem Hals liegen, wie es oft im Spiele tat. Nur ein Strom von Blut ergoß sich wie dunkler Wein auf den Boden und bildete eine schwärzliche, immer wachsende Lache. Vanadis kauerte an der Erde, sie war erst durch den Knall wieder zu sich gekommen und blickte unverwandt auf das treue Tier, das noch wie lebend schien.

»Sieh, so lieb hab' ich dich gehabt, Falada.«

Sie kniete lange im feuchten Tau und bemerkte es nicht, bis Schauder um Schauder sie überlief. Da erhob sie sich und holte zuerst die schwere Pferdedecke aus dem Stall, um den toten Falada dreinzuhüllen, ehe sie ihn im Garten allein ließ. Dann erst kroch sie fröstelnd in ihr Bett zurück und schlief lange erschöpft in den Tag hinein. Sie hörte nicht das Zusammenlaufen und Schreien der Leute im Garten. Aber als Esther bleich und zitternd vor ihrem Bett erschien, fühlte sie durch den Schlaf hindurch die Augen der Schwester und schlug die ihren auf.

»Der Falada ist tot«, sagte Esther leise.

»Ich weiß es.«

»Alle suchen nach dem Täter.«

»Ich kenne ihn. Hilf mir nur schnell in die Kleider.«

Sie wollte nach dem am Boden liegenden Morgengewand greifen, fuhr aber entsetzt zurück, denn es hatte Blut am Saum. Als sie die Haare aufgenestelt und einen frischen Hausrock übergeworfen hatte, ging sie in den Garten hinaus.

»Das Tier habe ich getötet, es war mein«, sagte sie zu dem Reitknecht, der gekommen war, das Pony zu holen. »Sagen Sie Ihrem Direktor, daß er seine Anzahlung zurückerhalten wird und daß ich mein Tier lieber unter dem Boden als in seinen Händen weiß.«

Damit schritt sie kalt an den Gaffern vorüber ins Haus zurück.


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